Entwicklung des Kindes aus entwicklungspsychologischer Perspektive im Kontext der „Kindeswohlgefährdung“ Kindeswohlgefährdung (Kinderschutzbund, 2007) als formales und sozialjuristisches Konstrukt ist eine andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeberechtigte oder sorgeverantwortliche Personen, welches zur Sicherstellung der seelischen und körperlichen Versorgung des Kindes notwendig wäre. Die durch Kindeswohlgefährdung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden und bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen. Kindeswohlgefährdung weist auf eine Beziehungsstörung zwischen Eltern und Kindern und individuellen Eignungen (Defizite, Mangel an Ressourcen, Erziehungskompetenzen) der Eltern hin. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 2 Passive Kindeswohlgefährdung ( jur. Unterlassung) entsteht aus mangelnder Einsicht, Nichterkennen von Bedarfssituationen oder unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der sorgeberechtigten Personen ( z.B. Alleinlassen des Kindes über eine unangemessen lange Zeit, Vergessen von notwendigen Versorgungsleistungen, unzureichende Pflege, Mangelernährung etc.). Aktive Kindeswohlgefährdung ist die wissentliche (jur. fahrlässig, vorsätzlich) Verweigerung von Handlungen, welche als nachvollziehbarer Bedarf für ein Kind erkannt wird (Verweigerung von Versorgung, Körperhygiene, Nahrung, Schutz etc.). Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 3 Möglichen Formen der Kindeswohlgefährdung 1. Kindesvernachlässigung/ Verwahrlosung 2. Kindesmisshandlung werden in der Regel allgemeine Bedürfniskategorien zugrunde gelegt, zum Beispiel : 7 Grundbedürfnisse von Kindern Greenspan und Brazelton (2002) • beständige und liebevolle Beziehungen • körperliche Unversehrtheit • individuelle Erfahrungen • entwicklungsgerechte Erfahrungen • Grenzen und Strukturen • stabile kulturelle Umfeldbedingungen • einer sichere Zukunft für die Menschheit Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 4 1. Kindesvernachlässigung/ Verwahrlosung Physische Versorgung Dem Kind werden materielle Grundbedürfnisse wie Hygiene, Nahrung, Kleidung, Schutz, Betreuung, gesundheitliche Fürsorge etc. nicht angemessen befriedigt (häufig gekoppelt an soziale Schichtabhängigkeit). Psychische Versorgung Dem Kind werden (immaterielle) insbesondere emotionale Grundbedürfnisse wie emotionale Fürsorge und Zuwendung , emotionales Beziehungsangebot, Liebe und Geborgenheit, emotionale Anregung und Unterstützung – Förderung, Struktur/Begrenzung nicht angemessen befriedigt (unabhängig von sozialer Schichtzugehörigkeit) Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 5 Eine Kindeswohlgefährdung im Sinne einer Vernachlässigung liegt nur dann vor, wenn über eine längere Zeit bestimmte Versorgungsleistungen materieller, emotionaler und kognitiver Art ausbleiben. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 6 Mögliche Anhaltspunkte für Kindesvernachlässigung: (physische Versorgung) – das Kind hat häufige, langandauernde, wiederkehrende Krankheiten, – das Kind wird unzureichend medizinisch versorgt (Ausschlag, Zustand der Zähne, etc.), − das Kind wirkt ungepflegt (extremer Körpergeruch, o.ä.), – das Kind ist schmutzig, ungepflegt und /oder nicht altersentsprechend oder witterungsentsprechend gekleidet, – das Kind zeigt Symptome der Über- oder Unterernährung, – das Kind wirkt übermüdet und/oder das Kind wird über einen unangemessen langen Zeitraum sich selbst überlassen. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 7 Mögliche Anhaltspunkte für Kindesvernachlässigung: (psychische Versorgung) ähneln Anhaltspunkten der emotionalen Kindesmisshandlung , zum Beispiel − das Kind ist sozial-emotional nicht altersadäquat entwickelt, – das Kind wirkt übermäßig gehemmt, distanzlos, verängstigt, aggressiv, autoaggressiv, isoliert, kontaktscheu, überangepasst, unsicher, apathisch, unruhig, machtvoll, schnell frustriert, provokant, – das Kind entwirft ein extrem liebenswertes oder ablehnendes Selbstbild von sich usw. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 8 2. Kindesmisshandlung – körperliche Misshandlung (Schläge, Tritte, Haare reißen, schütteln etc.), – sexuelle Misshandlung (Sexuelle Handlungen am Kind oder vom Kind gefordert, streicheln oder küssen wider Willen, fortgesetzte Verletzung der altersgerechten Intimität des Kindes etc.) − emotionale Misshandlung(Herabsetzung, Entwertung, Beschimpfung, Bindungs- und Beziehungsverweigerung etc.). Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 9 Mögliche Anhaltspunkte für körperliche Misshandlung: – das Kind weist häufiger Blutergüsse, Abschürfungen, Verbrennungen, Prellungen, Knochenbrüche etc. auf, – das Kind hat multiple und unterschiedlich alte Verletzungen, – das Kind oder die Erziehungsberechtigten geben widersprüchliche, unstimmige, zweifelhafte Begründungen für Verletzungen an, – das Kind nimmt nicht gerne am Sport- und Schwimmunterricht teil und/oder das Kind zieht sich nicht in Gegenwart anderer um – und ist selbst bei hohen Temperaturen am ganzen Körper mit Kleidung bedeckt. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 10 Mögliche Anhaltspunkte für sexuelle Misshandlung: – das Kind erzählt in sexualisierter Form, – das Kind verhält sich besonders distanzlos oder distanziert, – das Kind beschreibt sexuelle Handlungen , – das Kind erzählt von „geheimen“ Kontakten (Geheimnissen) und/oder das Kind spielt in altersuntypischer sexualisierter Form. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 11 Mögliche Anhaltspunkte für emotionale Misshandlung: – das Kind ist sozial-emotional nicht altersadäquat entwickelt, – das Kind wirkt übermäßig gehemmt, distanzlos, verängstigt, aggressiv, autoaggressiv, isoliert, kontaktscheu, überangepasst, unsicher, apathisch, unruhig, machtvoll, schnell frustriert, provokant, – das Kind entwirft ein extrem liebenswertes oder ablehnendes Selbstbild von sich, – das Kind berichtet von ständig wechselnden Bezugspersonen, – das Kind berichtet nicht von gemeinsamen Unternehmungen mit den Sorgeberechtigten, – das Kind verfügt nicht über altersentsprechendes Spielzeug und/oder das Kind hat keine Freunde. Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 12 entwicklungspsychologische und schlussendlich frühpädagogische Problemlage Kindeswohlgefährdung als formal sozial-juristisches (zudem real tatsächliches) Konstrukt definiert: • eine (kindliche) Bedarfslage (Nichtbefriedigung angenommener logischer und durchaus wissenschaftlich, empirisch gesicherter Bedürfnisse) • Ursachen, durch welche in der Regel durch (sorgeberechtigte) Personen diese Bedürfnisse in der Interaktion nicht befriedigt werden Erkennung der Kindeswohlgefährdung: • formalisierter Kriterienkatalog , der anhand von beobachtbaren Verhaltensbesonderheiten/äußeren Erscheinungsbild „funktioniert“ • formalisierter Kriterienkatalog , der anhand von beobachtbaren Verhaltensbesonderheiten/äußeren Erscheinungsbild verallgemeinert Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 13 Suggestionseffekt: Kriterienkatalog als Quasisymptomliste „auffälliger“ beobachtbarer Kriterien des Verhaltens /äußerer Erscheinung geht von einem „Normverständnis“ der Entwicklung von Kindern aus: Wie muss sich ein Kind in einem Altersabschnitt/einer Altersphase verhalten? Was muss ein Kind in einem Altersabschnitt/Altersphase bringen, über welche Entwicklungskompetenzen in unterschiedliche Funktionsbereichen muss es verfügen? Grundlage dieses Herangehens: ein Reifemodell der Entwicklung, welches von einer „linearen“ Entwicklung ausgeht, die intra- und interindividuelle Vergleiche möglich macht Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 14 Kindeswohlgefährdung im entwicklungspsychologischen (frühpädagogischen) Verständnis Kindeswohl: juristischer Begriff, der auf einem Rechtsgut basiert (Familienrecht) Risikofaktoren, welche die individuellen Entwicklung des Kindes (dessen Entwicklungswohl) beeinflussen, auf diese gefährdend (hemmend) wirken (Entwicklungsriskien, Entwicklungstraumatisierung - Qualität und Quantität, Dauer von „einwirkenden“ Faktoren) 1. durch äußere Einflüsse im Zeitverlauf, die Entwicklung mehr oder weniger stark „hemmend“ beeinflussen (Sozialisationsverständnis: intentionale Erziehung) 2. Prädisposition, d.h. durch innere Einflüsse im Zeitverlauf, die Entwicklung mehr oder weniger stark „hemmend“ beeinflussen (Genom, nichtintentionale Sozialisation, Enkulturation) Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 15 (klinisch) Entwicklungspsychologische Paradigmen (Srouf & Rutter, 1984) Äquifinalität: Trotzt verschiedener Rand- und Entwicklungsbedingungen, d.h. trotz unterschiedlicher Sozialisations- bzw. Familienbedingungen (primäre Sozialisationsinstanz) können ähnliche Prozesse der Reifung zu vergleichbaren Endergebnissen der Entwicklung (Störung) führen. Äquikausalität: Vergleichbare Risikofaktoren der Entwicklung (Sozialisations- bzw. Familienbedingungen) führen unter gleichen Rand- und Entwicklungsbedingungen zu unterschiedlichen Prozessen der Reifung und differentiellen Endergebnissen der Entwicklung (Störung). Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 16 „Obwohl ein Kind gefährdenden Sozialisations- bzw. Entwicklungsbedingungen ausgesetzt ist oder war, weicht es in seiner Entwicklung (Verhalten, beobachtbarer Erscheinung) nicht ab, fällt so gesehen nicht auf“ „Obwohl ein Kind keinen zwangsläufig gefährdenden Sozialisationsbzw. Entwicklungsbedingungen ausgesetzt ist oder war, weicht es in seiner Entwicklung (Verhalten, beobachtbarer Erscheinung) ab, reguliert so gesehen auffällig“ Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 17 Versuch der kurzen Darstellung einer komplexen (individuellen) Problemlage Professionelle Perspektiven Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 18 E n t w i c k l u n g s v e r l a u f 1. Multifaktorielles Entwicklungsverständnis Schutzfaktoren Risikofaktoren Individuelle Prädisposition Entwicklungsaufgaben Kritische Lebensereignisse Resilienz Vulnerabilität Äußere EntwicklungsSozialisationsbedingungen Risikofaktoren Schutzfaktoren Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 19 2. Bild vom Kind und Verständnis von Entwicklung der Individualität Genom-Umwelt-Varianz Mensch als bio-psycho-soziale Entität Persönlichkeit ist ein genetisch programmierter biologischer Organismus, der mit der Umwelt wechselseitig interagiert (Ross, 1987) Genotypen enthalten kein Programm für Verhalten an sich (Asendorpf, 2000) Verhalten „entsteht“ in der Transaktion Genotyp / Umwelt (Sozialisation/Erziehung) Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 20 Wie wirken exogene (von außen wirkender) Faktoren auf physische Dispositionen welche Reaktionen lösen sie aus konstitutionelle Dispositionen sind ausschlaggebend wie zum Beispiel ein Mensch reagiert (sich verhält) Wie schnell und wie stark wird ein (nicht oder sichtbares) Verhalten aktiviert (Reaktionsbereitschaft Vulnerabilität) zum Beispiel: endokrinologisch/physiologische Aktivierung durch Stresshormone (Adrenalin, Cortisol) ist individuell Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 21 Menschen, bei denen „schneller“ Stresshormone ausgeschüttet werden erleben schneller Situationen als bedrohlich (Asendorpf, 1994) (phylogenetisch: Kampf-Flucht-System sympathisches NS wird schneller aktiviert) Stresstyp A – kampforientierte (aktive) Verhaltensstrategien zur Bedrohungsabwehr dominieren dies löst auch bei anderen Personen spezifische Reaktionen aus (Unterwürfigkeit, Abneigung, Konkurrenz) Auswirkung auf den Sozialisationskontext (Interaktion) Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 22 2 . Bild vom Kind und Verständnis von Entwicklung der Individualität Kind als ein vor und nach der Geburt „aktives Wesen“ Wahrnehmungsgebundene pränatale Entwicklung • Akustisches Gedächtnis • Körpergedächtnis • „Stressgedächtnis“ ab der 20. SSW Engrammierung (Gedächtnisspuren, Schemata) von Sinneswahrnehmungen, implizites Gedächtnis Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 23 Frühe Bezugspersonen – Kind – Interaktion ist geprägt von bindungsorientierten Regulationen des Neugeborenen Aufbau einer frühen Bindungsorganisation bis ca. Alter von 3 Jahren angeborenes frühes Regulationssystem frühe freundliche Wachphasen Nachahmung des Neugeborenen (Spiegelneuronen) Bindungshierarchien Bindungs- Explorationssystem mit prospektiver Auswirkung auf die Entwicklung der Persönlichkeitsorganisation Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 24 Frühpädagogischer Bildungsbegriff (Bildungspläne): Wilhelm von Humboldt: das „Sich-Bilden“ der Persönlichkeit, Selbständigkeit • vielseitige geistige, soziokulturelle, moralische, emotionale, kommunikative und lebenspraktische Entfaltung oder Entwicklung der Fähigkeiten (Kompetenzen) • aus seinen Anlagen (aus - etwas heraus bilden) • angeregt und gesteuert durch seine Erziehung Der Begriff Bildung bezieht sich sowohl auf den Prozess (sich bilden) als auch auf den Zustand (gebildet sein). Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 25 Professionelle Perspektive und Handlungsmöglichkeit Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 26 Eingangs benannte kategoriale Perspektive muss zwangsläufig erweitert werden um den Blick auf das Individuelle Interindividuelle Vergleiche (Verhaltensauffälligkeiten) sind lediglich ein Anhaltspunkt jedoch kein zwangsläufiger Indikator für Entwicklungsgefährdung Unspezifität der Symptome Äußere Risikofaktoren: Belastete Familien (Alkohol, psychische Krankheit der Eltern), junge alleinerziehende Mutter mit sozialer Belastung, Armut (Schichtabhängigkeit), Migrationshintergrund sind (wertungs- und stigmatisierungsfrei) Innere Risikofaktoren: geistige Behinderung, umschriebene hirnorganisch bedingte Störungen, Erkrankungen des Gehirns Mangel an Schutzfaktoren: soziale Einbindung, Peers, Bezugspersonen, Problemfamilien tragen Hinweischarakter Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 27 Ausgehend vom Hinweischarakter und prinzipiell ist allein nur eine individualisierte Einzelfallarbeit der Entwicklungsbeobachtung notwendig (Einzelfall-) Verstehen als Professionelle Haltung Perspektive der Heterogenität und Diversität von Entwicklung betrifft nicht nur Kinder mit besonderem Förderbedarf Beobachten und Dokumentieren insbesondere in Kitas als Arbeitsgegenstand/Methode für die Früherkennung und Gefahrenabwehr nutzen Instrumente der Qualitätssicherung zu Bildungsprozessen: Entwicklungsbeobachtung und –dokumentation (Petermann et al., 2009; Cornelsen) Das Portfolio im Kindergarten (Ministerium für Bildung, Familie, Frauen du Kultur, Saarland, 2008; das netz) Bildungs- und Lerngeschichten (Leu et al., 2007; DJI, da netz) Beziehungsarbeit und Beobachten als Grundlage/Methode für die Früherkennung und Gefahrenabwehr nutzen: Die Erzieherin-Kind-Beziehung (Becker-Stoll&Textor, 2007; Cornelsen) Beziehungen zu Kindern gestalten (Friedrich, 2008; Cornelsen) Feinfühligkeit im Umgang mit Kindern (Remsperger, 2008; kita heute) Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 28 Prof. Dr. rer. nat. habil. Ronald Hofmann Fachpsychologe der Medizin Psychologischer Psychotherapeut für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Robert-Koch-Str. 18 08340 Schwarzenberg Tel.: 03774 22763 Fax: 03774 1801066 eMail: info@ psychotherapie-hofmann.com www.psychotherapie-hofmann.com Prof. Dr. R. Hofmann Entwicklung des Kindes PrävErz 29