Christlicher Humanismus – Ende oder Aufbruch?

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Alfred Marek Wierzbicki
Christlicher Humanismus –
Ende oder Aufbruch?
Christentum und Humanismus sind untrennbar. Diese Wahrheit ist nicht immer
selbstverständlich, weder für die Christen selbst noch für diejenigen, die keine
Christen sind. Seit Beginn der Neuzeit bis in die manchmal als Postmoderne oder
sogar Post-Postmoderne bezeichnete Gegenwart fehlt es nicht an Anschuldigungen gegen das Christentum und insbesondere gegen die katholische Kirche, den
Humanismus verraten zu haben. In meinen Betrachtungen beabsichtige ich mich
jedoch nicht allzu ausführlich mit dieser – wie auch immer – weitreichenden und
vielschichtigen Polemik zu befassen, die sich übrigens auf allzu viele Voraussetzungen und Vorurteile stützt. Unsere Aufmerksamkeit müßte sich eher auf den
Versuch richten, zu verstehen, was christlicher Humanismus ist und wie sich
seine Kondition in Europa zum gegenwärtigen historischen Augenblick an der
Schwelle des Dritten Jahrtausends des Christentums gestaltet.
1. Vergötterung oder Vergöttlichung des Menschen?
Es scheint, daß der hl. Irenäus von Lyon das humanistische Novum des Christentums als erster in seiner ganzen Tiefe erfaßt hat. Diesen altchristlichen Bischof
aus dem 2. Jahrhundert können wir heute gleichsam als Symbol eines Europäers
ansehen, der in seiner geistigen Biographie eine Silhouette Europas verkörperte,
noch ehe dieses Europa als Resultat der historischen, eine Reihe von Jahrhunderten umfassenden Begegnung von Ost und West entstand. Im kleinasiatischen
Smyrna geboren, kam er als Missionar ins römische Gallien und wurde Bischof
von Lyon. Ihm verdanken wir die für die Entwicklung der Anthropologie unerhört fruchtbare Formulierung: Gloria Dei vivens homo. Die Ehre Gottes ist der
lebendige Mensch.
Was bedeutet das? Ganz gewiß muß die pantheistische Interpretation verworfen
werden, der zufolge Gottheit und Menschsein eine Einheit bilden. Die von Irenäus bekämpften gnostischen Ansichten kehrten mit dem Rationalismus und
Immanentismus der von Spinoza und Hegel als Absorbierung, Ersetzung und
letztendlich Überwindung der Religion entwickelten neuzeitlichen Philosophie in
zwar veränderter, nun aber gedanklich geschlossener Form wieder. Dieser im
Keim schon in der antiken Gnosis präsenten und von der neuzeitlichen Gnosis
dann systematisch entfalteten Denkrichtung gemäß existiert im Menschen ein
göttliches Element.
Prinzipiell vergöttlicht („divinisiert“) die den abstrakten Geist analysierende
frühe Moderne den Menschen und behandelt ihn gleichsam wie Gott, aber dieser
Denkprozeß wurde von Feuerbach umgekehrt, für den der Mensch dann selbst
der Gott des Menschen ist. Dies bedeutete bereits eine radikale Entgegenstellung
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von Humanismus und Christentum. Im Grunde genommen betrifft der Streit
zwischen Marx und Feuerbach nicht das atheistische Verständnis des Humanismus, das für beide außer Zweifel steht. Marx lehnt lediglich Feuerbachs idealistisches Verständnis des Menschen ab, das sich auf ein der Geschichte vorausgehendes ewiges menschliches Wesen beruft. Für Marx ist der humanistische
Atheismus ausschließlich eine Frage der Praxis, was bedeutet, daß sich der
Mensch, um völlig er selbst zu werden, davon befreien muß, über die menschlichen Dinge in religiösen Kategorien zu denken. Der sich von Descartes bis Marx
entwickelnde neuzeitliche Rationalismus hat seine Mäander, aber er kann als ein
Prozeß erfaßt werden, der mit der Affirmation des Göttlichen im Menschen beginnt und schließlich zur Entgegenstellung von Humanismus und Religion führt.
Dagegen verweist der hl. Irenäus mit seiner Formulierung Gloria Dei vivens
homo auf die Vergöttlichung (theosis) des Menschen. Dank der Wirkung der
göttlichen Gnade wird der Mensch durch Angleichung (Ähnlichwerdung) an
Jesus Christus zu einem Ort der Gegenwart und Ausstrahlung der göttlichen
Herrlichkeit. „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in
euch wohnt?“ (1 Kor 3, 16). Das Neue am Christentum beruht nicht nur auf der
Feststellung, daß der Mensch weder ein Tier noch Gott ist, sondern auch auf der
Anerkennung der realen, interpersonalen Beziehung zwischen dem Menschen
und Gott.
Das Christentum ist ein Ereignis in der Geschichte des Menschen und muß daher
auch als ein Ereignis auf dem Gebiet der Selbsterkenntnis des Menschen verstanden werden. Die griechische Anthropologie setzte auf die rationale Bemühung zur Erkenntnis des Menschseins; das Denken von Sokrates, Plato und Aristoteles wird von dem gemeinsamen intellektuellen Verlangen belebt, das Sokrates auf dem Architrav des Apollo-Heiligtuns in Delphi entzifferte: gnothi se
auton. Erkenne dich selbst! Das Christentum übernimmt dieses Bemühen um
Erkenntnis und fügt hinzu, daß die Erkenntnis des Menschen durch die Offenbarung Gottes im Menschen, durch die Inkarnation des Sohnes Gottes ihre ganze
Fülle erreicht.
Das Wesen des Christentums liefert uns einen neuen Begriff von Gott und dem
Menschen. Kern der göttlichen Offenbarung ist das Begreifen Gottes als Liebe
sowie das Begreifen des Menschen als eines Abbildes und Kindes Gottes. Heute
besitzt der Begriff der Person selbst in der Umgangssprache noch seine durch
und durch christliche Genese, leider in einer recht banalisierten Version. Mehr
noch, ihr authentischer integraler Sinn wird immer verwaschener, ja er geht sogar verloren, wenn er vom historischen und existentiellen Kontext des Christentums als Ereignis losgelöst wird.
Es sei daran erinnert, daß der der Theatersprache entstammende Begriff der
Person, griechisch prosopon, Maske bedeutete. Er wurde zur Erklärung trinitarischer und christologischer Fragen verwendet, die im 4. und 5. Jahrhundert nach
Christus im Rahmen der Rezeption des christlichen Glaubens durch die griechische Kultur auftraten. Die antike griechische Philosophie verfügte nämlich über
keinen angemessenen Begriff, um die Wahrheit von Gott als Dreifaltigkeit sowie
die Wahrheit von der Vereinigung von Gottheit und Menschsein in Jesus Chris5
tus vollständig ausdrücken zu können. Daher stellte die Einführung der Kategorie „Person“ wahrlich eine intellektuelle Revolution dar.
Durch die jüdische Offenbarung hat die Menschheit den ethischen Monotheismus erhalten, und das Christentum stärkt diesen Monotheismus durch Enthüllung der Tatsache, daß dies ein personalistischer Monotheismus ist. Person sein
heißt, in Beziehung zum Anderen zu stehen. Das trinitarische Dogma lehrt, daß
Gott einer in drei Personen ist, und das christologische Dogma lehrt, daß Jesus
Christus eine völlig göttliche und völlig menschliche Person ist, ohne Vermischung der Naturen.
Der theologische Begriff der Person wurde zum Grundstein des christlichen
Humanismus. Der von Gott erschaffene und erlöste Mensch erkennt, daß er ein
Wesen ist, das zu den göttlichen Personen und zu den menschlichen Personen in
Beziehung steht. Was seine Existenz und sein tiefstes Wesen konstituiert, entstammt dem Anderen, ist sein Geschenk. Als Person gehört der Mensch von
seinem Wesen her zu Gott. Die Zugehörigkeit zu Gott, die Teilhabe an der Natur
Gottes, degradiert den Menschen nicht, weil Gott den Menschen erschafft und in
der tragischen Situation des von der Ursünde initiierten Sündenfalls den Menschen vor der Selbstzerstörung rettet. Die von christlichen Denkern oft behandelte Frage nach dem Grund der Menschwerdung – cur Deus homo – führt zur
Anerkennung der ontischen Zugehörigkeit des Menschen zu Gott. Die personale
Existenz des Menschen erweist sich als eine existentiell unselbständige und
offene „Pro-Existenz“. Diese Zugehörigkeit enthüllt unsere existentielle Kontingenz, denn unser Dasein ist nicht notwendig, und zugleich enthüllt sie die Möglichkeit der Erfüllung unseres Daseins in Gott.
Es muß unterstrichen werden, daß die Erfassung der menschlichen Existenz als
System von Beziehungen radikal antipersonalistische Konsequenzen haben kann,
wenn dieses System aus dem Kontext der realen Erfahrung des christlichen
Glaubens herausgelöst wird. Dies ist in der für die Gestaltung der neuzeitlichen
Welt außerordentlichen einflußreichen deutschen Philosophie der Fall, deren
Apogäum Hegel, Marx und Nietzsche bilden. Dieses Denken wurde zur theoretischen Grundlage des Totalitarismus und des Nihilismus. Sie versuchten, die
zwischenmenschliche Welt als ein dynamisches Netz von Spannungen und
Konflikten zu beschreiben. Eine neue, bessere Welt sollte auf dem Wege notwendiger Gewalt entstehen. Bei allen drei Denkern ist das Grundgesetz menschlicher Geschichte das Gesetz des Kampfes von Herr und Knecht. Die Proklamation des Atheismus erhielt den Charakter einer Proklamation der Befreiung
des Menschen von seiner Gottabhängigkeit.
Die Herr-Knecht-Beziehung läßt sich jedoch nicht auf die zwischen Vater und
Sohn zurückführen. Der Irrtum des neuzeitlichen Denkens liegt in der Gleichsetzung beider Beziehungstypen. Die für die Erfahrung des christlichen Humanismus konstitutive Vater-Sohn-Beziehung ist eine der Zugehörigkeit, die zwischen
Herr und Knecht dagegen, auf der der neuzeitliche atheistische Humanismus
basiert, eine Beziehung von Abhängigkeit und Befreiung. Die erste läßt sich von
der Logik der Liebe leiten, die zweite dagegen von der Logik des Kampfes und
der Zerstörung. Faktisch hat sich der Totalitarismus und Nihilismus in der zeit6
genössischen Geschichte Europas als ein schrecklicher Prozeß der Zerstörung
der traditionellen moralischen Werte geäußert, die eine wahrhaft menschliche
Gemeinschaft schaffen.
Die in der allen Menschen gemeinsamen Natur verankerte objektive Werteordnung als oberste Regel des sozialen Lebens wurde durch das kollektive Interesse
einer Klasse, einer Rasse, einer Nation oder durch das Interesse eines Einzelnen
ersetzt. Eine unüberwindbare Antinomie der Moderne besteht darin, daß die
europäische Aufklärung aus der Faszination vom Ideal der Brüderlichkeit erwächst und gleichzeitig in ihrer weiteren Entwicklung zu einer radikalen Negation der Brüderlichkeit führt. Auschwitz und der Archipel Gułag sind grauenhafte
Erfahrungen in der neuzeitlichen Geschichte des Menschen, für die es keinerlei
Analogien in der Vergangenheit gibt. Seit der Zeit von Kain und Abel hatte es
die Menschheit immer mit Brudermord zu tun, aber im 20. Jahrhundert wurde
der Brudermord zum politischen System, das sich zur Stärkung seiner Macht der
modernen Wissenschaft und Technologie bedient. Bezogen auf diese Geschehnisse scheint die Bezeichnung „anthropologische Katastrophe“ durchaus zutreffend zu sein.
Allerdings wäre es falsch, die Moderne als Einbahnstraße eines zum Atheismus,
Totalitarismus und Nihilismus führenden laizistischen Humanismus zu betrachten. Jean Laporte und Augusto Del Noce bemerken in ihren Untersuchungen
über das Drama der Neuzeit, daß zwei Optionen an der Quelle der auseinanderstrebenden Wege der Neuzeit stehen. Sie lehnen eine dogmatische Sicht auf die
Entwicklung der Neuzeit ab, wie sie in der Überzeugung zum Ausdruck kommt,
es gäbe keinen Ausweg aus der Anthropologie von Descartes, Hegel, Marx und
schließlich Nietzsche. Del Noce bemerkt, daß bereits Descartes´ Denken eine
gewisse Ambivalenz besitzt, in deren Folge die Moderne in zwei verschiedene
Optionen zerfällt, je nach der angenommenen philosophischen Essenz. Prinzipiell handelt es sich um zwei Essenzen: den Rationalismus und das religiöse Denken. Problematisiert wird die Moderne, ihren beiden Entwicklungswegen entsprechend, schon bei Pascal. Bereits die Zweiteilung der Kapitel seiner „Gedanken über die Religion“ (Pensèes), betitelt als „Der Mensch mit Gott“ und „Der
Mensch ohne Gott“, verweist auf zwei einander ausschließende, im Grunde genommen optionale anthropologische Paradigmen.
Obwohl die rationalistische Tendenz oft den Anspruch auf Hegemonie erhebt
und sich für den ausschließlichen Schöpfer der Moderne hält, hat das religiöse
Denken auch in der Neuzeit nicht aufgehört, in der Philosophie und erst recht
weiten Bereichen der Kultur präsent zu sein. In seiner Interpretation der neuzeitlichen Philosophie stellt Del Noce ihre ausschließliche Gleichsetzung mit dem
Rationalismus in Frage und weist überzeugend nach, daß neben der Linie von
Descartes bis Hegel, in der der Rationalismus zum Ausdruck kommt, die neuzeitliche Philosophie sich auch auf dem Boden einer Synthese von Vernunft und
Glauben entwickelt hat, nämlich in der Strömung von Descartes bis Rosmini.
Über den zeitlichen Horizont von Descartes bis Hegel und von Descartes bis
Rosmini hinausgehend, wäre außerdem hinzuzufügen, daß es in der zeitgenössischen Philosophie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Belebung
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der philosophischen Reflexion kam, die mit dem Rationalismus als atheistische
Option brach, einer Reflexion, die oft an die Inhalte der göttlichen Offenbarung
anknüpfte. Davon zeugen so unterschiedliche Richtungen wie die Erneuerung
des Thomismus, die Phänomenologie, das russische Denken, die jüdische Philosophie des Dialogs oder einige Strömungen der analytischen Philosophie.
In all diesen Richtungen begegnen wir, unabhängig von ihren verschiedenen
Ausgangspunkten und den jeweils eigenen Methoden des philosophischen Diskurses, einem Verständnis der Religiosität des Menschen als einer anthropologischen Konstante, und die Anthropologie selbst verläßt die Sackgasse des Naturalismus, in die sie vom neuzeitlichen Rationalismus gedrängt wurde, der eine
apriorische, optionale Negation der Beziehung des Menschen zur übernatürlichen Wirklichkeit darstellt. Das bedeutet keineswegs, daß wir es in allen Strömungen der zeitgenössischen Anthropologie, die den Menschen als religiöses
Wesen erfaßt, d.h. als ein Wesen auf der Suche nach Gott, gleich mit einer ausdrücklichen Begegnung mit der christlichen Anthropologie zu tun haben. Denn
diese Anthropologie entsteht ja nicht ausschließlich auf dem Wege philosophischer Suche, sondern sie ist immer das Resultat der Begegnung mit Christus im
Glauben und der Kontemplation seines Antlitzes. Sie ist einzigartig und gleichzeitig fähig, alle Inhalte zu assimilieren, die der objektiven Wahrheit über den
Menschen entsprechen. Von ihrer Einzigartigkeit zeugt die Tatsache der Erkenntnis des Menschen durch die Begegnung mit dem Menschsein des menschgewordenen Gottes.
2. Johannes Paul II. als Erneuerer des christlichen Humanismus
Es ist unmöglich, vom zeitgenössischen Antlitz des christlichen Humanismus zu
sprechen, ohne den Beitrag von Johannes Paul II. zur Debatte über die menschlichen Fragen an der Wende des 20. und 21. Jahrhunderts zu berücksichtigen.
Gewiß kann die Bedeutung des Pontifikats dieses Papstes aus Polen nach verschiedenen Schlüsseln interpretiert werden. Während seines Pontifikats vollzogen sich epochale Veränderungen in Europa: der Untergang des Kommunismus,
die Wiedervereinigung Deutschlands und die Erweiterung der Europäischen
Union um neue Länder, die in ihrer Mehrheit vorher unter kommunistischer
Herrschaft gestanden hatten. Oft wird der Wojtyła-Papst als Architekt dieser
bedeutsamen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen in Europa
am Ende des 20. Jahrhunderts angesehen. Aber indem er die freiheitlichen und
antitotalitären Bestrebungen der Völker Ostmitteleuropas unterstützte, verhielt
sich Johannes Paul II. nicht als politischer Stratege, sondern vor allem als ein
um die moralische Dimension der Politik und Ökonomie besorgter Moralist und
Seelsorger. Er erkannte den anthropologischen Irrtum, der dem Kommunismus
zugrunde lag. In seiner Enzyklika Centesimus annus bezeichnete der Papst den
die Überwindung der Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen
anstrebenden Kommunismus als eine Arznei, die schlimmer sei als die Krankheit
selbst („daß der Kollektivismus die Entfremdung nicht beseitigt, sondern noch
steigert”).
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Der italienische liberale Denker Ferdinando Adornato bezeichnete Johannes
Paul etwas provokativ als „den einzigen Moralisten, den einzigen Humanisten
und den einzigen Philosophen Europas“ und fragte besorgt, ob er nicht vielleicht
schon der letzte Humanist auf unserem Kontinent sei. Es ist geradezu paradox,
daß Johannes Paul II. unzählige Menschenmassen anzog und faszinierte und
gleichzeitig in seinem Denken über den Menschen gegen den Strom der zeitgenössischen nihilistischen Mentalität schwamm, wobei er mehr als einmal mit
dieser kollidierte. Er selbst sagte gern von seinem Pastoralstil und insbesondere
von seinen Massenbegegnungen mit Jugendlichen, sie würden ein Laboratorium
der Kultur bilden.
In seiner Sicht auf den Menschen und seine Geschichte verband Johannes Paul
II. zwei Überzeugungen miteinander. Erstens ist ein Dialog mit der heutigen
Welt notwendig, und zweitens fungiert die Kirche in diesem Dialog nicht nur als
Schüler, sondern sie bringt der Welt die Erkenntnis des Menschen in Christus.
Aus seiner Predigt zum Amtsantritt wird meistens an die Worte erinnert: „Non
abbiate paura!“ Fürchtet euch nicht! Aber die Quellen dieses Mutes sind nicht
psychologischer oder kultureller Natur, sondern er resultiert aus der Tatsache des
Vertrauens und der gläubigen Hingabe an Jesus Christus, der, wie Johannes Paul
II. verkündete, „weiß, was im Menschen ist“.
Johannes Paul II. verlieh der Überzeugung Ausdruck, daß die christliche Vision
des Menschen keine veraltete Anthropologie enthält, sondern weiterhin imstande
ist, die Geschichte der gesamten Menschheitsfamilie, aller Kontinente, Nationen
und Einzelpersonen zu gestalten. Denn sie entspricht der fundamentalen Wahrheit über das menschliche Wesen, das den transzendenten Sinn seiner Existenz
sucht, welche verloren ist, solange sie nicht einer Liebe begegnet, die fähig ist,
die Wahrheit zu erkennen und sich von ihr in seinen individuellen und kollektiven Entscheidungen leiten zu lassen.
Als Philosoph konzentrierte Karol Wojtyła seine ganze Energie auf die Philosophie des Menschen und die Moralphilosophie. Er war der Ansicht, daß im zeitgenössischen Denken ein krasses Mißverhältnis zwischen der Erkenntnis der
Welt und der Erkenntnis des Menschen besteht, infolge dessen der Mensch ein
immer unbekannteres Wesen geworden ist. Aus seinem Erstaunen über die Außergewöhnlichkeit und Größe des Menschen entstanden die Bücher von Karol
Wojtyła über den Menschen als Person. Zu denken gab ihm auch, daß der
Mensch jemand ist und nicht etwas. Diese Subjektivität und ihr Erleben zeichnen
den Menschen unter allen anderen Wesen aus. Er besitzt ein inneres Leben, was
über seine personale Tiefe entscheidet, und partizipiert gleichzeitig am Menschsein anderer Menschen, was die Grundlage interpersonaler und sozialer Bindungen darstellt.
Person sein heißt, sich selbst in der Wahrheit überschreiten. Karol Wojtyła zufolge ist die Transzendenz ein anderer Name für die Person. Schon an der
Schwelle der Neuzeit betonte Pascal, daß der Mensch Unendlichkeit in sich trägt
und deshalb zur Überschreitung seiner selbst strebt. Karol Wojtyła sieht den
Menschen ähnlich: Er kann auf seine obere Grenze hin wachsen, die als Horizont
offen ist, aber er kann sich auch auf seine untere Grenze hin degradieren, unter9
halb derer sich geradezu eine menschliche Verkümmerung, eine Erniedrigung
seiner menschlichen Würde vollzieht. Der Mensch als Person findet nämlich
moralische Erfüllung durch seine Taten.
Das menschliche Leben hat den Charakter eines Dramas, in ihm vollzieht sich
ein Kampf um den Sinn der Freiheit. Die Freiheit ist ein Geschenk, eine Gabe –
und zugleich eine Aufgabe. Sie ist in die personale Konstitution des Menschen
eingeschrieben, sie gehört zum Wesen des Personseins, sie ist ein Grundmerkmal
menschlicher Existenz. Andererseits muß die Freiheit geschützt und gepflegt
werden; notwendig ist eine Kultur der Freiheit. Die Freiheit in der Wahrheit ist
das Fundament dieser Kultur der Freiheit. Selbstverständlich handelt es sich hier
um die Wahrheit, die der Mensch als Person selbst erkannt und der er innerlich
in seinem Gewissen zugestimmt hat. Dadurch gewinnt er als vernunftbegabtes
Wesen an Souveränität – sowohl gegenüber dem Druck seiner in den Instinkten
in Erscheinung tretenden biologischen Natur als auch gegenüber dem Druck der
in seinem sozialen Umfeld vorherrschenden Meinungen. Dieses Leben in der
Wahrheit bedarf selbstverständlich ständiger Bemühungen der Erkenntnis und
der Reflexion. Unerläßlich ist auch das kritische Hinterfragen der eigenen Ansichten. Die Autonomie der Person ist tief im Gehorsam gegenüber der Wahrheit
verwurzelt.
In der humanistischen Lehre Johannes Pauls II. nehmen die Menschenrechte
einen besonderen Platz ein. Die Anwesenheit dieser Problematik erklärt sich
einerseits aus seiner Affirmation der Errungenschaften der neuzeitlichen Kultur,
der wir immerhin die Konzeption der Menschenrechte verdanken, und andererseits aus seiner Sensibilität für die in unserer Zeit häufigen Fälle der Antastung
oder geradezu Vergewaltigung der Menschenrechte. Im übrigen darf der theoretische Ansatz nicht von der praktischen Frage selbst getrennt werden. Die Verbreitung des Bewußtseins der Menschenrechte erachtete Johannes Paul II. für
eine auf dem Boden der europäischen Aufklärung gewachsene gute Frucht. Der
christliche Humanismus erkennt nicht nur die Existenz objektiver und universaler Menschenrechte an, sondern er schöpft aus der christlichen Anthropologie
tiefgründige Argumente zur Begründung der gesamten Ordnung der Menschenrechte. Die Doktrin der Menschenrechte in der Fassung von Johannes Paul II.
stellt keineswegs ein dem Wesen des Christentums gegenüber äußerliches Element dar, sondern sie ist ein Kernmoment des christlichen Humanismus. Denn in
ihr kommt der ethische Universalismus des Evangeliums zu Wort.
Zum Erneuerer des christlichen Humanismus wurde Johannes Paul II. nicht nur
wegen der Tiefe seiner Lehre, die in so wesentlichem Grade vom Personalismus
gekennzeichnet ist. Außer seiner unerhört stimmigen, phänomenologisch und
theologisch begründeten Argumentation spielte auch das Zeugnis seines Lebens
eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verbreitung des Humanismus durch
ihn. Bereits die reiche Fülle menschlicher Erfahrungen in der Biographie des
künftigen Papstes – als Dichter, Schauspieler, Arbeiter, Intellektueller, Sportler,
Patriot, Retter von Juden während des Holocaust, Freund der Familien sowie
Kamerad und Anführer der Jugend – bewirkte, daß sein humanistisches Denken
aus der Kenntnis verschiedenartiger Probleme des Menschen von heute erwuchs.
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Karol Wojtyła verlor sich aber nie in ausschließlich diesseitige Angelegenheiten,
sondern sein Denken war immer auf die Suche nach den fundamentalsten Wahrheiten über den Menschen ausgerichtet.
Es steht außer Zweifel, daß der feste Bezugspunkt in seiner Sicht auf den Menschen darin bestand, daß Jesus Christus dem Menschen den Menschen offenbart
hat. Als „Pilger des Absoluten“, wie Giovanni Reale Johannes Paul II. so schön
und so treffend genannt hat, hörte er nicht auf, die Wahrheit über den Menschen
auch mit dem wortlosen Zeugnis seines Leidens und Todes zu lehren. Die Erlebnisse der Tage seines Ablebens und seiner Beisetzung haben Millionen von
Menschen bewegt. Das war die stillste und ruhigste Lektion in Humanismus, die
wir in Zeiten fast allgemeinen Zweifelns am Menschen erlebt haben. Das war ein
offensichtlicher Schock, zu den es sich auch nach vielen Jahren noch lohnt zurückzukehren, wenn wir den Versuch einer Reflexion über die Kondition des
christlichen Humanismus heute unternehmen.
3. Zwischen Verlust und Wiederfinden der Identität Europas
Statt von einer Krise zu sprechen, die zum unvermeidlichen Ende des christlichen Humanismus führt, der Basis, auf der Europa seine kulturelle Identität errichtet hat, scheint es angemessener zu sein, die aktuelle Krise als einen Wendepunkt zu verstehen, aus der die Wiedergeburt eines Europas des Geistes resultieren kann. Zu solch einem Gesichtspunkt führt nicht etwa irgendein historiosophischer Optimismus, welcher die Fakten nicht berücksichtigt, sondern vielmehr
eine realistische Einschätzung des Beitrages, den der christliche Humanismus
zur Verwirklichung derjenigen Werte geleistet hat, die im – von der Säkularisierung und sogar Dechristianisierung tiefbetroffenen – heutigen Europa allgemein
akzeptiert werden. Der von den beiden letzten Päpsten – Johannes Paul II. und
Benedikt XVI. – oft wiederholte Appell: „Europa, sei du selbst!“ kann als Aufruf
zur schöpferischen Treue gegenüber der Tradition des christlichen Humanismus
verstanden werden, als Bedingung für die „Europäisierung“ von Europa selbst.
Sich auf die Würde der menschlichen Person beziehende personalistische Intuitionen liegen den charakteristischsten europäischen Institutionen zugrunde, zu
denen die Universität, das Parlament und die Medien gezählt werden müssen.
Ihren gemeinsamen Nenner bildet der Gedanke des Dienstes an der Freiheit in
der Wahrheit. Sie wurden aus dem Respekt für die Würde der Person und ihrer
Rechte geboren.
Die Universität ist ein Raum der gemeinschaftlichen und systematischen Suche
nach der Wahrheit in Freiheit. Die Autorität der Wahrheit und der Weisheit,
welcher alle Universitätsangehörigen – sowohl die Studenten als auch ihre Professoren – gleichermaßen gehorsam sein müssen, schützt vor einer autoritären
sozialen Struktur. Aber was geschieht, wenn diese Autorität der Wahrheit in
Frage gestellt wird? Wird die Universität dann nicht zu einem ähnlichen Unternehmen wie andere, in denen die Produktionseffektivität an erster Stelle steht?
Die Verwerfung der Idee der Wahrheit bewirkt, daß die gesamte Forschungsanstrengung der Mehrung und Stärkung der menschlichen Macht über die Welt
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zugeordnet wird. Das Wissen wird dann zu einem Instrument der Dominanz der
Stärkeren über die Schwächeren. Dazu kommt noch eine Fragmentarisierung des
Wissens, welche nicht nur eine Folge der weit fortgeschrittenen Spezialisierung
ist, sondern vor allem aus der Loslösung der verschiedenen Phänomene von
ihren Fundamenten resultiert. Der Verlust des Sinns führt zur Entfremdung,
einem Zustand geistiger Störung, in dem keinerlei Wertehierarchie mehr erkennbar ist. In der Praxis kommt es dann manchmal zu Verhaltensweisen, die dem
gesunden Menschenverstand widersprechen. Ich persönlich kenne Wissenschaftler und Akademiker, für die das Rauchen an öffentlichen Orten das schlimmste
Übel darstellt, während Abtreibung und Euthanasie keinerlei moralisches Problem für sie darstellen.
Trotz ernstlicher Befürchtungen hinsichtlich der humanistischen Kondition der
heutigen Universität müssen wir dem vertrauen, was der hl. Thomas von Aquin
als natürliche Neigung zum Erkennen der zutiefst in die Struktur des menschlichen Geistes eingeschriebenen Wahrheit bezeichnet hat. Dieser Hunger nach
Wahrheit äußert sich vor allem dann, wenn man sich nicht fürchtet, Fragen zu
stellen. Eric Voegelin und Augusto Del Noce zufolge gehört das Verbot, Fragen
zu stellen, zum Wesen jeglicher Form des Totalitarismus. Neben dem Frageverbot kommt es auch dazu, daß bestimmten Fragen ausgewichen wird. Dieses
Ausweichen wirkt sich für die Kultur eines Lebens in der Wahrheit genauso
destruktiv aus. Von einem Untergang jeglichen Humanismus, von seinem tatsächlichen Ende, dürfte wohl erst dann gesprochen werden, wenn das menschliche Interesse an der Wahrheit vollständig erloschen wäre. Zum Glück stößt der
zynische Verstand auf natürlichen Widerstand, oft von jugendlicher Frische, der
es nicht an Erstaunen und Neugier fehlt. Roman Ingarden sagte einmal völlig im
Ernst, die wichtigsten Fragen hätten ihm immer die Studenten des ersten Studienjahres gestellt, da das die Fragen der großen Philosophen seien, von denen
sie selbst noch gar nichts wußten.
Der Stolz der politischen Kultur Europas, die sich nicht ohne Einfluß des Christentums herausgebildet hat, ist das Parlament. Was ist es in seinem Wesen? Ist es
nur ein Ort des Aufeinanderstoßens miteinander konkurrierender Kräfte, wo der
Stärkere siegt? Die Demokratie braucht einen Rückhalt im Fundament der Werte, ansonsten droht ihr die totalitäre Entartung. Der Gedanke des Rechts setzt das
Vorhandensein einer objektiven sittlichen Ordnung voraus. Wenn der rationale
Charakter der Strittigkeiten in der Demokratie und das Verständnis des Kompromisses als Entscheidung für das Gemeinwohl verworfen wird, d.h. als vernünftige Selbstbeschränkung eines bestimmten Teils der politischen Gemeinschaft,
dann wird das Parlament auf einen Ort des Kampfes gegensätzlicher Interessen
reduziert. Es muß daran erinnert werden, daß der neuzeitliche Liberalismus, auf
dessen theoretischem Boden sich die Demokratie in Europa und Amerika entwickelt hat, keineswegs nihilistischen und relativistischen Charakter besaß. Das
Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum waren für
ihn unantastbar. Der für den Liberalismus charakteristische axiologische Minimalismus darf auch nicht mit dem Relativismus verwechselt werden. Die Krise
der Demokratie beginnt mit der Anerkennung des Nihilismus als Philosophie der
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Demokratie. In einer auf dem Relativismus basierenden Demokratie schützt das
Recht dann nicht mehr die objektiven Güter für die menschliche Person, ja es
kann sogar das Wohl der Person selbst verletzen, weil es der Befriedigung jedes
subjektiven Bedürfnisses, meistens mit hedonistischem Charakter, untergeordnet
wird.
Deshalb muß die Demokratie selbst, als politisches System, welches eine axiologische Sicht des Menschseins voraussetzt, von der Kultur unterschieden werden,
die ihre Interpretation bildet. Die zeitgenössische Krise der Demokratie besitzt
vor allem Merkmale einer kulturellen Krise, die aus dem Verlust der Idee einer
objektiven sittlichen Ordnung als Grundlage der politischen Pragmatik resultiert.
Die zeitgenössischen Strittigkeiten über bioethische Fragen sowie über den Ort
der Religion und der Moral im öffentlichen Leben nur in Kategorien wie fortschrittlich oder konservativ zu beschreiben, ist nicht ausreichend. All diesen
Kontroversen liegt nämlich die Frage nach dem Guten (dem Wohl) und dem
Humanismus zugrunde. Und der Niedergang der gemeinsamen moralischen
Sprache bildet die ernsthafteste Gefahr für die Beständigkeit der Demokratie.
In der gegenwärtigen Debatte über die Quellen der demokratischen Ordnung sind
bedeutsame Symptome einer intellektuellen Überwindung der Krise erkennbar,
durch die neue Horizonte enthüllt werden. Zwei hervorragende deutsche Intellektuelle, die zwei Traditionen repräsentieren – die katholische und die liberale –,
haben im Januar 2004 in München über die sittlichen und vorpolitischen Fundamente des liberalen Staates diskutiert. Einer von ihnen war der damalige Präfekt
der Glaubenskongregation, Kardinal Josef Ratzinger, der ein Jahr später zum
Papst gewählt wurde, der andere Jürgen Habermas, ein Philosoph, der in Anknüpfung an die Philosophie Kants heute das Denken der Aufklärung kontinuiert.
Ein Dialog zwischen Immanuel Kant mit dem damaligen Papst Benedikt XIV.
wäre nur schwer vorstellbar, obwohl doch beide hervorragende Humanisten
derselben Epoche und gleichermaßen vom Menschen fasziniert waren. Erst 200
Jahre später konnte Wirklichkeit werden, was damals zu Beginn der Aufklärung
unmöglich war. Die gegenseitigen Anschuldigungen und die Rivalisierung um
den menschlichen Geist wurden durch einen Dialog ersetzt, der darauf beruht,
dem Gesprächspartner aufmerksam zuzuhören und allen Spannungen und Teilungen zum Trotz verbindende Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Die Diskussion zwischen Ratzinger und Habermas betraf die Rolle und den
Stellenwert der Religion im öffentlichen Leben. Sehr interessant ist, wie sich
Habermas´ Standpunkt in den nächsten Jahren nach der Münchner Begegnung
des Philosophen mit dem vatikanischen Theologen entwickelt hat. Noch 2004
vertrat Habermas während der Diskussion mit Ratzinger die typisch aufklärerische Ansicht, der zufolge der moderne weltliche Staat keinerlei äußerer, der
Religion entstammender Begründungen bedarf und sich auf keine andere Tradition zu berufen braucht außer der Tradition der Aufklärung selbst, welche von
Kant ja als Ausdruck der intellektuellen Reife des Menschengeschlechts verstanden wurde. Diese Selbstgenügsamkeit der Vernunft, die zur Konstituierung der
sittlichen Ordnung ausreichen soll, garantiert den Zusammenhalt des modernen
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Staates. Säkularisierung und Moderne bedingen einander gegenseitig. Und die
Religion soll völlig in der Privatsphäre verbleiben.
In der weiteren Entwicklung seines Denkens berücksichtigt Habermas dann aber
die neueste Religionssoziologie, die den Mythos von der unvermeidlichen Säkularisierung in den Gesellschaften des Westens entkräftet. Die Tatsache der Beständigkeit der Religion in einer Epoche, in der es zum Untergang sogar der
rationalen Metaphysik gekommen ist, erlaubt Habermas die Anerkennung der
Möglichkeit, positive Inspirationen aus den religiösen Traditionen schöpfen zu
können, um die Demokratie als Rechtsstaat zu untermauern. Dies öffnet Raum
für einen neuen Dialog von Vernunft und Glauben. Habermas zufolge sollten
sich die christlichen und die weltlichen Kreise mehr als bisher füreinander interessieren und tiefe Motive gegenseitiger Wertschätzung finden. Er fügt hinzu, daß
es nicht genüge, bei der bloßen Achtung füreinander stehenzubleiben, da die
Philosophie ihre inneren Gründe dafür besitzt, sich der Religion auch mit der
Bereitschaft zum Lernen zu nähern. Die postsäkuläre Gesellschaft ist gekennzeichnet durch ein Abgehen von der Säkularisierung als einem eindeutig positiven, von den intellektuellen Eliten bewußt gesteuerten Prozeß. Anstelle der Säkularisierung sollte es zu einem „doppelten Lernprozeß“ kommen. Habermas
zufolge verpflichtet dieser sowohl die Tradition der Aufklärung als auch die
christliche Tradition zum Nachdenken über die jeweils eigenen Beschränkungen
und gleichzeitig zur Entdeckung einer gemeinsamen, wenn auch in vielen Aspekten verschiedenen, Lektion des Humanismus.
Wir wollen unsere Aufmerksamkeit noch auf das Phänomen der Medien als einer
Frucht des europäischen Humanismus richten. Zweifellos sind die heutigen Medien ein Abkömmling der Entwicklung der Kommunikationstechnologie. Aber
die bloße Technologie ist nicht imstande, das Wesen der Medien zu erklären. Sie
sind ein wesentliches Element des europäischen Geistes; sie werden geboren, um
dem Bedürfnis der Suche nach der Wahrheit und ihrer Weitergabe als Garant der
Freiheit gerecht zu werden. Die Philosophie der Medien erwächst also aus der
Philosophie des Menschen, und die Krise der Philosophie des Menschen wird
gleichzeitig zur Krise der Philosophie der Medien. Der Bruch mit dem Prinzip
der Wahrheit als Fundament der Medienphilosophie führt dazu, daß die Medien
dann nur noch in Kategorien der Logik der Macht, des Marktes und der Unterhaltung verstanden werden.
Die postmoderne Welt hat aufgehört, die Säkularisierung als eine axiologisch
positive, eindeutig fortschrittliche und zutiefst humanistische Erscheinung zu
betrachten. Das Projekt der Aufklärung hat sich eigentlich verkehrt herum erfüllt,
denn in einer Situation, wenn Gott zum „großen Abwesenden“ wird, muß auch
der Mensch zum „großen Abwesenden“ werden. Bereits im letzten Viertel des
20. Jahrhunderts bemerkten die Soziologen ein Zusammenbrechen der Welle der
Säkularisierung und eine Rückkehr der Religion. Man sprach geradezu von einem Metatrend zur Spiritualität. Dieses Phänomen ist nicht homogen, sondern es
bildet geradezu einen Schmelztiegel existentieller Suchbewegungen, die vielleicht höchstens die Enttäuschung von einer Welt ohne transzendente Werte
sowie eine diffuse Suche nach Gott verbindet.
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Paul Zulehner bezeichnet diese recht zahlreiche Gruppe von Menschen, die neu
nach ihrer Religion suchen, als „religiöse Komponisten“. Sie schöpfen eklektisch
aus Elementen asiatischer und europäischer Spiritualität, um sich daraus ihre
private Religion zusammenzubasteln. Als grundlegende Technik ihrer religiösen
Komposition erweist sich die Improvisation. Genauere Untersuchungen der
Gruppe dieser „Religionskomponisten“ ermöglichen, neben Erscheinungsformen
mit sektiererischem Charakter und Phänomenen, welche auf oberflächlicher
Rezeption asiatischer Spiritualität beruhen, auch ein tieferes Interesse an der
katholischen Spiritualität zu erkennen. Hierbei handelt es sich zwar nicht um
einen dominierenden Trend, aber man kann durchaus schon bemerken, wie diese
religiösen Improvisatoren auch Zugang zur Klassik finden. Wertvoll an diesen
Erfahrungen sind die eigene Suche und das Erleben des „Glaubens aus eigener
Wahl“. Wie sehr ähnelt dieser Weg doch dem geistigen Ringen des hl. Augustinus, der ebenfalls alle in der Spätantike möglichen Sekten ausprobiert hat, um
die Wahrheit dann schließlich in der Gemeinschaft der Kirche zu finden. Dieser
Individualist stand am Beginn einer geistigen Tradition, von der sich die Kirche
und Europa danach 15 Jahrhunderte lang nährten.
Das Christentum an der Schwelle des neuen Jahrtausends steht vor der Herausforderung der Neuevangelisierung. Die erste Evangelisierung Europas, welche
mehrere Phasen umfaßte, war eine Evangelisierung der Völker und Nationen.
Eigentlich begannen sich die Nationen Europas im Mittelalter erst mit ihrer Taufe herauszubilden. Es scheint, daß die heutige Evangelisierung nur durch die
Person geschehen kann. Falsch wäre jedoch ein individualistisches, auf die Privatsphäre beschränktes Modell der Evangelisierung. Außerhalb der Gemeinschaft der Kirche kann es kein Christentum geben. Sondern es geht um ein entsprechend tiefes, engagiertes und verantwortliches Niveau der Teilnahme der
Christen als Personen an der Evangelisierungsmission der Kirche. Die Sensibilität für die Außergewöhnlichkeit jeder Person, für ihre existentielle und axiologische Einmaligkeit, die auch in der heutigen dechristianisierten Kultur vorhanden
ist, bildet schließlich die Frucht jahrhundertelanger Einwirkung des Christentums
auf die Denkweise vom Menschen.
Ähnlich wie die Kirchenväter bemüht waren, die in der heidnischen Kultur vorhandenen Körnchen der Wahrheit über den Menschen zu retten, um darauf den
christlichen Humanismus zu errichten, dürfen auch heute die Körnchen nicht
ignoriert werden, die das Christentum selbst in der Seele des Europäers hinterlassen hat, der kein Christ mehr ist. Millionen Europäer machen sich heute überhaupt keine Gedanken mehr über die Spannungen zwischen dem Verlust und der
Wiedergewinnung ihrer kulturellen Identität. Diese Sache beschäftigt nur noch
einige wenige Intellektuelle. Aber jeder Mann und jede Frau macht sich Gedanken über sein bzw. ihr Glück, und eine solche Reflexion, wie unfertig sie auch
sein mag, kann sich als ein Spalt erweisen, durch den das Licht des Evangeliums
und seine menschliche Schönheit eindringen kann.
In dieser Reflexion über die Neuevangelisierung wollen wir zum Schluß die
Gestalt des hl. Benedikt erwähnen – des Patrons Europas. Denn seine Erfahrung
wirft auch Licht auf unsere Fragen. Wie wir in der vom hl. Gregor dem Großen
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verfaßten Vita des hl. Benedikt lesen, brach er zu Beginn seines neuen Weges mit
dem Lebensstil, der damals für Menschen in seiner hohen sozialen Stellung obligatorisch war. Er brach seine Schulbildung ab und blieb ganz bewußt ein ungebildeter Mensch. Dies tat er nicht aus Verachtung für die Wissenschaft, sondern
aus Enttäuschung über die Oberflächlichkeit der literarischen Kultur, die mit
dem tatsächlichen Verlangen des menschlichen Herzens so wenig gemein hatte.
Am Ende seiner geistigen Entwicklung erhielt er eine zusammenfassende Vision
der ganzen Welt, die in einem kleinen Sonnenstrahl enthalten war. Notwendig
war der Bruch mit der Kultur eines Fragments menschlicher Erfahrung, um zu
ihrer Fülle zu gelangen. Dieser benediktinische Humanismus von Gebet und
Arbeit vermochte dank seiner Fähigkeit zur Synthese von Vernunft und Glauben,
zur Synthese von Kultur und Gnade – in einer Zeit, als die antike Welt bereits in
Trümmern lag und eine neue erst im Entstehen begriffen war –, die vorzüglichsten Werke der antiken Philosophie und Literatur zu bewahren, welche Benedikt
beschlossen hatte, zwar nicht selbst zu studieren, aber sie der Menschheit weiterzuvermitteln.
In gewisser Weise befinden sich heute alle Christen in der Situation des hl. Benedikt von Nursia. Unsere Verantwortung für die Welt von heute – für all das,
was die Größe des Menschen ausmacht, was den Geist der Freiheit in der Wahrheit ausdrückt und was heute so wie nie zuvor ungewiß und schwankend scheint
– erfordert ein radikales „Hinausfahren auf den See“ (Duc in altum – Lk 5, 4)
und die Betrachtung des Antlitzes Christi, nach den Worten Johannes Pauls II.
in seinem Apostolischen Schreiben Tertio millenio ineunte über die Sendung der
Christen im dritten Jahrtausend. Notwendig ist eine neue Energie des Glaubens,
aber nicht in Form dieses oder jenen Aktivismus. Notwendig ist die Überwindung der Entmutigung und Verzagtheit. Grundlage für eine vernünftige Hoffnung kann nicht die Erwartung des Erfolgs sein, sondern die Erwartung des
Heils.
* Dem Aufsatz liegt eine Rede zugrunde, die Alfred Wierzbicki kürzlich in Kloster Marienthal gehalten hat. Aus dem Polnischen übersetzt von Herbert Ulrich.
Professor Dr. Alfred Wierzbicki ist Professor an der Katholischen Universität
Lublin (KUL) und Direktor des dortigen Johannes-Paul-II-Instituts, Herausgeber der Schriften Wojtylas (in polnischer Sprache) und Mitherausgeber der geplanten deutschen Ausgabe.
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