Bildungsaufgaben

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Bildungsaufgaben
Gute Physikaufgaben sind “friends with benefits”, d.h. sie sind attraktiv und haben einen Zusatznutzen. Das geht nicht immer wie im Film, aber ein wenig Mehrwert geht meistens.
Die Aufgabenstellung soll überraschend, lustig, aktuell, bildschön, sprachmächtig oder verheissungsvoll sein und nicht einfach aus dem Lehrbuch abgeschrieben werden.
Eine physikalische Bildungsaufgabe ist nicht fertig mit dem Zahlenresultat, sondern bedarf einer ausführlichen Diskussion: Warum haben wir das gerechnet? Was lernen wir daraus für den Alltag, die
Allgemeinbildung, das Studium? In welcher Situation treffen wir dieselben Überlegungen auch noch
an? Lassen sich die Näherungen verbessern?
Für die Kerngruppe Physik des Projekts HSGYM (Schnittstelle Hochschule - Gymnasium)
Martin Lieberherr
Status dieses Dokuments: Diskussionsgrundlage
Zürich, 11. Februar 2017
1. Alle kochen mit Wasser
a) Wie viel Wasser kann man mit einer Kilowattstunde von Null auf 100 Grad Celsius erhitzen?
b) Wie hoch kann man dieselbe Wassermenge mit dieser Energie heben?
c) Was sagt uns der Vergleich der Resultate?
1 kWh · 3.6 · 106 J/kWh
∆Q
=
= 8.60832 kg = 8.61 kg
a) ∆Q = cm∆ϑ ⇒ m =
c∆ϑ
4182 J/(kg K) · 100 °C
∆Q c∆ϑ 4182 J/(kg K) · 100 K
b) ∆Q = mgh ⇒ h =
=
=
= 42630 m = 42.6 km
mg
g
9.81 m/s2
c) Mit einer Kilowattstunde kann man nur Grössenordnung einen Topf Spaghetti kochen. Der
Vergleich zeigt drastisch, wo man beim Energiesparen im Haushalt ansetzen muss: Heizen,
Kochen, Backen, Waschen usw.
Teilaufgabe c) ist der Bildungsaspekt dieser Aufgabe. Die Schülerinnen und Schüler begreifen
ihn sofort. Er ist es wert, separat notiert zu werden. Der Bildungsaspekt tritt klar hervor, weil
die physikalische Rechnung, d.h. der Ausbildungsaspekt, ein überdeutliches Resultat liefert.
Diese Aufgabe soll auch zeigen, dass der Bildungs-Mehrwert einfach zu erreichen ist. Während
die langsameren in der Klasse erst Teilaufgabe a) fertig haben, sind die Schnelleren schon mit
der Zusatzaufgabe b) fertig. Der Zeitaufwand hält sich in Grenzen.
2. Folkloristische Kreisbewegung
Beim traditionellen Talerschwingen wird ein Taler (Fünfliber) in einer gestimmten, tönernen
Schale (“Becki”) auf einem horizontalen Kreis herum gerollt. Meist werden drei aufeinander
abgestimmte Becken verwendet, um ein Appenzeller Jodelchörli zu begleiten. Diskutieren Sie
die Kräfte auf die Münze, wenn sie gleichmässig auf einem horizontalen Kreis rollt.
Abbildung 1: Auf die Münze wirken nur die Normalkraft des Beckens sowie die
Gewichtskraft. Diese zwei Kräfte werden im Kräfteplan zur Resultierenden zusammengesetzt. Nach dem zweiten Newtonschen Axiom muss diese gleich dem
Produkt aus Münzmasse und Zentripetalbeschleunigung sein sowie horizontal
zum Kreiszentrum zeigen. Mit der Gewichtskraft FG und dem Neigungswinkel
des Beckenrands sind F N und Fres bestimmt.
Die Humanisten der Renaissance riefen: Ad fontes, (zurück) zu den Quellen! Wir sagen: Als
Hausaufgabe loggen Sie sich beim Standard-Videoportal ein, suchen Sie “Zäuerli mit Becki”
oder “Talerschwingen” und hören Sie hin! Heimatkunde gehört zur Kultur. (Und die Prüfungsfrage haben wir auch schon: Welche Farbe hat das “Brusttuch” der Appenzeller Männertracht?)
Und noch etwas für die Physiklehrkräfte: Der Begriff “Zentripetalkraft” ist, wie man gesehen
hat, vollkommen unnötig! (Und wenn man doch so etwas braucht, spricht man besser von zentripetaler und tangentialer Komponente der Resultierenden; sonst denken die Schülerinnen und
Schüler, dass auf die Münze die Gewichts-, Normal- und Zentripetalkraft wirkt.)
3. Spass oder Ernst?
Wie viele Pralinekugeln muss ein Sprinter (95 kg) essen, damit er bei einem Wirkungsgrad von
21 % eine Geschwindigkeit von 12.4 m/s erreichen kann? Eine Pralinekugel wiege 12.5 g und
habe einen Nährwert von 2430 kJ/100 g.
NmP Hη = 12 mS υ2 ⇒ N =
mS υ2
95 kg · (12.4 m/s)2
=
= 0.11
2ηmP H 2 · 0.21 · 12.5 g · 24.30 · 103 J/g
P.S. Die Daten sind ungefähr jene von Usain Bolt.
P.P.S. Ein 500 g Sack Pralinekugeln von Chocolat Frey AG (Migros) enthält 40 Pralinekugeln.
Ich habe sie eigenhändig abgezählt und nachgewogen (18. Dezember 2016, Lie.).
P.P.P.S. Die Rechnung kann nicht stimmen, denn selbst wenn ich (70 kg) den ganzen Sack
Pralinekugeln esse, bringe ich es nicht auf 10 m/s.
P.P.P.P.S. Kann man, wenn man eine dieser Kugeln isst, mehr als 12.5 g Speck ansetzen?
P.P.P.P.P.S. Was bedeuten die 21 % aus einem medizinischen Physiologiebuch?
...
Ein maltesischer Jäger schiesst mit Schrot auf wandernde Zugvögel. Eine Patrone enthalte 29 g
Schrot und 3.1 g Treibmittel mit Explosionswärme 6.1 MJ/kg. Das Schrot verlasse den Flintenlauf mit 390 m/s. Berechnen Sie den Wirkungsgrad des Gewehrs.
ηmT H = 12 mS υ2 ⇒ η =
mS υ2
29 · 10−3 kg · (390 m/s)2
=
= 12 %
2mT H 2 · 3.1 · 10−3 kg · 6.1 · 106 J/kg
Recherchieren Sie im Internet mit den Stichworten “Malta” und “Vogeljagd” den Hintergrund
dieser Aufgabe. Ist es wahr, dass das Treibmittel mit 6.1 MJ/kg weniger hat als Schokolade
(24.3 MJ/kg) oder Benzin (43.5 MJ/kg)? Was bedeuten diese Angaben überhaupt?
4. Physik ist umweltbewusst
Wie viel steigt der Benzinverbrauch, wenn man auf der Autobahn 10 % schneller fährt?
Die dominante Kraft bei schneller Fahrt auf horizontaler Strecke ist der Luftwiderstand. Der
Benzinverbrauch für eine bestimmte Strecke ist näherungsweise proportional zur Arbeit, welche
das Auto gegen den Luftwiderstand verrichten muss.
υ2
V2 υ22
= 2 =
VB ∝ Fw s ∝ υ ⇒
V1 υ 1
υ1
2
!2
= 1.102 = 1.21 = 100 %+21 %
Die Aussage “wer schneller fährt kommt früher ans Ziel und braucht weniger Benzin” stimmt
sicher nicht. Ein Indiz ist, dass die Abgasbelastung neben Strecken, auf denen höhere Geschwindigkeiten erlaubt sind, erhöht ist. Die implizite Annahme, dass z.B. der Wirkungsgrad
bei höherer Geschwindigkeit gleich bleibt, gefährdet den Schluss nicht.
Die Lösung zeigt, dass auch bei scheinbar zuwenig Angaben noch vernünftige Abschätzungen
möglich sind. Gute Physikaufgaben sind wie kleine Projekte: Die Antwort kann besser oder
schlechter ausfallen. Die Wertung richtig oder falsch ist zu simpel.
Mit Eleganz einen Dreisatz formal durchrechnen zu können ist eine Kompetenz, die jedem
Akademiker wohl ansteht. Die Proportionalität ist ja nichts anderes als der Dreisatz auf Hochschulstufe.
5. Physik ist philosophisch
“Was ist Zeit?
So gab es denn keine Zeit, wo du noch nichts geschaffen hattest, da du die Zeit selbst geschaffen
hast. Und keine Zeiten sind gleichewig wie du, denn du bleibst. Aber wenn sie bleiben, wären’s
nicht Zeiten. Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer es denkend
erfassen, um es dann in Worten auszudrücken? Und doch – können wir ein Wort nennen, das
uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir
davon sprechen, verstehen’s auch, wenn wir einen anderen davon reden hören. Was also ist die
Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären,
weiss ich’s nicht. (..)”
Aurelius Augustinus, Bekenntnisse
cit. nach P.C. Aichelburg (Hrsg.), “Zeit im Wandel der Zeit”, Vieweg Verlag, 1988
“Es könnte scheinen, daß alle die Definition der “Zeit” betreffenden Schwierigkeiten dadurch
überwunden werden könnten, daß ich an Stelle der “Zeit” die “Stellung des kleinen Zeigers
meiner Uhr” setze. Eine solche Definition genügt in der Tat, (..) ”
A. Einstein, “Zur Elektrodynamik bewegter Körper”, Annalen der Physik 17/1905, Seite 893
Dieses Zitat wird meist verkürzt zu “Zeit ist das, was (m)eine Uhr anzeigt”.
Und was ist eine Uhr? Ein Zeitmesser?
Nein, so geht das nicht, denken reicht nicht: Wir bauen eine Uhr!
Beispiel: Sonnenuhr, Sanduhr, Balkenuhr, Räucherstäbchenuhr, Wasseruhr, Pendeluhr, elektronische Uhr
6. Aus unsinnigen Resultaten richtige Schlüsse ziehen
Wie stark ist die Coulombkraft zwischen zwei Punktladungen von je 1.00 C in 1.00 m Abstand?
Q1 Q2
1
1.00 C
1
· 2 =
·
FC =
−12
4πε0
r
4π · 8.854 · 10 A s/(V m) 1.00 m
!2
= 8.99 GN
a) Die Kraft ist riesig, weil 1 Coulomb eine grosse Ladungsmenge ist. Ein Gewitterblitz transportiert typisch 10 bis 30 C.
b) Die Anordnung ist unmöglich, weil es Entladungen geben würde, siehe a, respektive weil es
kein Material gibt, das stabil genug ist, um eine solche Ladung auf so kleinem Raum festzuhalten. Physik ist nicht Mathematik: Man kann formal korrekt Unsinn rechnen. Die Zahlenwerte
sind wichtig, weil man sonst den Anwendungbereich eines Gesetzes verlassen kann.
c) Das Resultat nennt den Zahlenwert des Vorfaktors: 1/(4πε0 ) = 8.99 · 109 N m2 /C2 .
d) Wir werden diese Rechnung noch einmal brauchen:
im Kapitel Gleichstrom:
(..)
Die Summe der in einen Knoten hinein fliessenden, elektrischen Ströme ist gleich der Summe
der abfliessenden Ströme (Kirchhoff’sche Knotenregel). Wenn z.B. 2 A hinein, aber nur 1 A
hinaus fliessen würden, hätten wir nach einer Sekunde bereits 1 C im Knoten gespeichert .. und
in der Elektrostatik haben wir ja gesehen, wie das tut ..
7. Ölsumpf
Angenommen, die auf die Erde eingestrahlte Sonnenenergie würde als gleichmässig dicker Ölfilm über den Globus verteilt, wie dick wäre dann diese Schicht nach einem Jahr?
JAt = mH
JS πr2 t = ρ4πr2 hH
h=
JS t
1366 W/m2 · 3.156 · 107 s
=
= 0.29 m
4ρH 4 · 0.86 · 103 kg/m3 · 42.7 · 106 J/kg
Die internationale Energieagentur beziffert die Ölförderung zu 15 Milliarden Liter täglich (2015).
Wenn wir das auf ein Jahr hochrechnen und über die Erdoberfläche verteilen, ergäbe das eine
gleichmässige Schicht von 11 Mikrometern Dicke.
“Wie schnell wächst diese Energie nach?”
Wir wollen abschätzen, mit welchem Wirkungsgrad Sonnenenergie in Biomasse umgesetzt
wird.
Riesen-Chinaschilf ist eine schnellwachsende C4-Pflanze. Ein Acker in Europa liefert z.B. 20 t
Trockenmasse mit einem Heizwert um 18 MJ/kg. Die jährliche Globalstrahlung im Schweizer
Mittelland beträgt Grössenordnung 1000 kWh/m2 .
20 · 103 kg · 18 MJ/kg
mH
=
= 1.0 %
η=
EA 1000 kWh/m2 · 3.6 MJ/kWh · 104 m2
Bei der jährlichen Globalstrahlung sind die Wintermonate dabei. Im folgenden Beispiel beschränken wir die Rechnung auf die sommerliche Wachstumsphase.
Die Weinbaufläche der Schweiz betrug 2015 genau 14 793 ha und der Ertrag 85 Millionen Liter.
Die mittlere Globalstrahlung auf einen horizontalen Quadratmeter in Neuchâtel vom 1. Mai bis
30. September beträgt 2.1 GJ (meteoschweiz.ch). Schätzen Sie den Wirkungsgrad der Umsetzung von Sonnen- in Alkoholenergie ab.
η=
f VρH 12 % · 85 · 106 L · 0.789 kg/L · 26.7 MJ/kg
EAlkohol
=
=
= 6.9 · 10−4
ESonne
ES
2100 MJ/m2 · 14 793 · 104 m2
Solche Aufgaben werden “Fermi-Aufgaben” genannt und haben eine lange Tradition in der
Physik. Es ist erwünscht, dass vernünftige – auch grobe – Annahmen getroffen werden. Im
Gegenzug sollte die Genauigkeit des Resultats vernünftig eingeschätzt oder diskutiert werden.
8. Physik ist schön
Abbildung 2 eignet sich als Übergang vom Brechungsgesetz zu den Abbildungsgesetzen.
Abbildung 2: Kaustik in einem Wasserbrunnen
a) Was ist eine Kaustik? Wie entsteht sie?
b) Welche Bedingung muss erfüllt sein, damit das
Sonnenlicht in einem Punkt gebündelt wird?
c) Wo kann man Kaustiken auch noch sehen?
a) Als Kaustik (von altgriechisch kaustos, verbrannt), auch Brennlinie oder Brennfläche, bezeichnet man in der Optik einen Bereich, in dem Lichtstrahlen gebündelt werden. (wikipedia)
Derselbe Wortstamm tritt auch im Holokaust (Brandopfer) und kaustischem Humor (brennend,
scharf, ätzend) auf.
b) Die Kaustik schrumpft bei Linsen (Diakaustik) oder Brennspiegeln (Katakaustik) zu einem
Punkt zusammen. Beispielsweise muss die Oberfläche eines Spiegels bei parallelem Lichteinfall
parabolische Form haben. Bei sphärischen Spiegeln hat die Kaustik eine Spitze im Brennpunkt
im Abstand r/2 von der Spiegeloberfläche. Beschränkt man den Strahlengang auf den zentralen
Teil des Spiegels, wird fast alles Licht zum Brennpunkt gelenkt.
c) Eine Kaustik kann beobachtet werden, wenn Sonnenlicht in eine glatte Teetasse oder auf ein
Wasserglas fällt. Der Regenbogen ist auch eine Kaustik.
9. Ich sehe was, das Du nicht siehst
Physik weist über das mit den Sinnen oder der Logik Erfassbare hinaus.
Abbildung 3: Wärmebild-Selfie
Wie kann man Wärmestrahlung messen?
Wie viel strahlt die Stirn ab?
Das erste Wärmestrahlungsmessgerät war ein Thermometer mit geschwärzter Spitze, mit dem
William Herschel um 1800 das Infrarot im Sonnenlicht entdeckte.
“Wie viel” von was? Erwartet wird wohl eine Antwort, die etwas mit Wärmestrahlung zu tun
hat. Da die gesuchte Grösse nicht präzise genannt wird, wollen wir dies ausnützen und die
Rechnung so einfach wie möglich gestalten: Wir berechnen die Wärmeflussdichte durch Wärmestrahlung nach dem Gesetz von Stefan und Boltzmann.
J = σT 4 = 5.67 · 10−8 W/(m2 K4 ) · (273.15 + 30)4 K4 = 0.48 kW/m2
Ein Mensch darf im relevanten Wellenlängenbereich als schwarzer Körper betrachtet werden,
d.h. er sieht aus wie glühende Kohle, vergleiche Abbildung 3.
Ein altes Sprichwort sagt: Wenn Du kalte Füsse hast, setzt deinen Hut auf! Der Kopf ist relativ
gut durchblutet und strahlt viel Wärme ab. Im Winter sollen Kinder draussen eine Kappe tragen.
Die Wärmestrahlung der Stirn ist im Sommer von ähnlicher Grösse wie oben abgeschätzt.
Warum frieren wir dann nicht?
Die Stirn sendet nicht nur Wärme aus, sondern empfängt auch Strahlung aus der Umgebung:
Die Differenz ist das, was uns vor einer kalten Wand frösteln lässt. Die kalte Wand sendet zuwenig thermische Strahlung aus.
10. Physik ist genau
Die Mathematik kennt mehrere hundert Beweise für den Satz von Pythagoras. Gilt er in unserer
Welt? Wenn ja, warum, wenn nein, wie falsch ist er?
Der Satz von Pythagoras ist eine Aussage, die im Rahmen der euklidischen Geometrie gilt.
Im Jahr 1916 hat Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht und ein paar Jahre
später hat Eddington diese experimentell bestätigen können. Der Raum in unserer Welt ist also
gekrümmt (nicht euklidisch) und der Satz von Pythagoras ist falsch.
Eddington und spätere Forscher haben nachgemessen, dass ein Lichtstrahl, der streifend an der
Sonne vorbeiläuft, 1.75 Bogensekunden abgelenkt wird. Wenn wir mit Satelliten ein grosses
Dreieck im Weltraum bilden und eine Seite die Sonne berührt, so ist die Winkelsumme im
Dreieck ungefähr 180°+ 1.75”. In der euklidischen Geometrie wären es genau 180°.
Trotzdem: Der Satz von Pythagoras ist in den meisten Fällen eine exzellente Näherung!
Solche und ähnliche Beispiele zeigen die Unterschiede zwischen Mathematik – einer Geisteswissenschaft – und Physik, einer quantitativen Naturwissenschaft. Ein zentraler Bildungsinhalt
der Physik ist eine skeptische Grundhaltung gegen jede Form von Vorurteilen, hier z.B. in Form
von mathematischen Sätzen. Erst das (quantitative) Experiment (und seine Wiederholungen)
schaffen tragfähige Fakten. Und keine Messung ist gut, solange man nicht weiss, wie gut sie ist.
11. Physik analysiert Texte
Untersuchen Sie folgende Zitate.
Was ist falsch/unglücklich formuliert? Was ist wohl gemeint? Wie könnte man es besser sagen?
a) “ Mit Hundeschlitten in Yukon unterwegs
(..) Das Thermometer zeigte minus 15 Grad, fast mild in einer Region, in der die Quecksilbersäule nicht selten auf minus 40, minus 50 Grad fällt.” (NZZ, 16. Nov. 2000)
b) “Stabile Planetenbahn: Zentrifugalkraft = Anziehung durch die Sonne
(..) Die Zentrifugalkraft wirkt umso stärker, je schneller sich der Körper bewegt, und deren
Betrag nimmt zu, wenn der Radius der Bahn abnimmt. (..)
Die Zentrifugalkraft berechnet sich aus
FZentrifugalkraft =
mυ2
r
wobei r der Bahnradius, m die Masse und υ die Geschwindigkeit ist. ”
(Faszination Astronomie – Ein topaktueller Einstieg für alle naturwissenschaftlich Interessierten”, 2. Auflage 2016, Springer Spektrum, Seite 4)
a) Welche Grad sind wohl gemeint? Zum Glück Grad Celsius, denn Yukon ist nicht in der
Nähe der US-amerikanischen Grenze, wo manchmal auch die Fahrenheitskala verwendet wird.
Eine Quecksilbersäule kann nicht auf -50 °C fallen, denn Quecksilber erstarrt bei -39 °C. Der
Journalist hätte von Alkoholsäule schreiben oder diese Routine-Metapher vermeiden müssen.
Verbesserungsvorschlag: Das Thermometer zeigte minus 15 Grad Celsius, fast mild in einer
Region, in er die Temperatur nicht selten auf -40 bis -50 °C fällt.
b) Die Darstellung vermischt zwei Bezugssysteme: In einem Inertialsystem bewegt sich der
Planet auf einer Kreisbahn um die Sonne, denn die Gravitationskraft der Sonne auf den Planeten wird nicht kompensiert. In einem geeignet mitdrehenden Bezugssystem wird die Anziehungskraft der Sonne durch die Zentrifugalkraft kompensiert und der Planet ist in Ruhe. Die
Zentrifugalkraft berechnet sich zu FZF = mrΩ2 , wobei Ω die Winkelgeschwindigkeit des beschleunigten Bezugssystems relativ zu einem geeigneten Inertialsystem darstellt. Der Zusammenhang mit dem Abstand bedarf noch einer schlüssigen Erklärung. Wenn sich ein Planet mit
Geschwindigkeit υ in einem rotierenden Bezugssystem bewegt, müsste auch eine Corioliskraft
vorhanden sein. In einem Inertialsystem ist die Erklärung einfacher:
Auf den Planeten wirkt nur die Anziehungskraft der Sonne. Diese Gravitationskraft ist also die
resultierende Kraft. Die resultierende Kraft beschleunigt den Planeten. Die Beschleunigung bei
einer gleichmässigen Kreisbewegung ist die Zentripetalbeschleunigung.
Fres = ma
GMm mυ2
=
r2
r
Die Beschreibung im Zitat steckt geistig in der Zeit zwischen Huygens (1658, Zentrifugalkraft
mυ2 /r) und Newton (1665, Zentripetalkraft Fres = maz ) fest.
12. Physik ist im Quartier verankert
Folgende, berühmte Aufgabe motiviert die Einführung von Tempo-30-Zonen:
"Die Gründe, die für Tempo 30 sprechen, lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: erhöhte Verkehrssicherheit und reduzierte Umweltbelastung. (..) Sehen Sie beispielsweise aus 13
Metern Distanz bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h plötzlich ein Kind vor Ihnen auf der
Fahrbahn, kommt Ihr Fahrzeug bei normaler Reaktion und Bremsung gerade noch rechtzeitig
zum Stillstand. Sind sie jedoch in der gleichen Situation mit 50 km/h unterwegs, prallen Sie
mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Kind. Ihr Fahrzeug ist erst 20 Meter nach dem
Aufprall völlig abgebremst.” (Beilage Zürich Express, Fr. 10. Sept. 1999)
( kürzeres Zitat ähnlichen Inhalts: Tempo 30 halbiert den Anhalteweg gegenüber Tempo 50 von
26 auf 13 Meter – und rettet Leben!” Brochure zur VCS-Initiative “Strassen für alle” (2. März
2001). Diese Initiative forderte innerorts Tempo 30 für Wohngebiete und Gefahrenstellen. )
Wir wollen die Zahlen im Zitat kontrollieren. Rechnen Sie mit einer Reaktionszeit von 1.0
Sekunden und gleicher, konstanter Bremsverzögerung.
Der Reaktionsweg für das langsamere Auto ist s1 = tR υ1 = 1.0 s · 30 m/3.6 s = 8.3 m. Mit
υ2 = υ20 + 2a(s − s0 ) ergibt sich die Bremsverzögerung (Beschleunigung)
υ21
υ21
(30 m/3.6 s)2
=
=
= 7.440 m/s2 = 7.4 m/s2
aB =
2(s − s1 ) 2(s − tR υ1 ) 2 · (13 m − 1.0 s · 30 m/3.6 s)
Für Pneu auf trockener Asphaltstrasse findet man in DMK/DPK/DCK “Formeln Tabellen Begriffe” Orell Füssli, 5. Auflage, den Gleitreibungskoeffizienten µG = 0.65 und den Haftreibungskoeffizienten µH = 0.85. Aus dem Gleitreibungsgesetz kann eine Bremsverzögerung von
µg g und aus dem Haftreibungsgesetz eine maximale Verzögerung von µH g hergeleitet werden.
Glaubt man dieser Begründung, so wäre eine Bremsverzögerung von 7.4 m/s2 nur mit ABS
oder viel Fahrtraining erreichbar.
Das schnellere Auto beginnt erst nach dem Reaktionsweg s2 = tR υ2 = 1.0 s · 50 m/3.6 s =
13.89 m = 14 m zu bremsen. Das schnellere Auto prallt tatsächlich ungebremst gegen das Kind.
Der Bremsweg beträgt
sB =
υ22
(50 m/3.6 s)2
=
= 12.96 m = 13 m
2aB 2 · 7.440 m/s2
Der Anhalteweg für das schnellere Auto ist sA = s2 + sB = 13.89 m+12.96 m = 26.85 m = 27 m.
Das schnellere Auto kommt “schon” 12 m nach dem Aufprall zu stehen. Der Anhalteweg hat
sich gegenüber dem langsameren Auto mehr als verdoppelt.
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