Die folgenden Erfahrungsberichte von Teilnehmern dieser Programme verdeutlichen das Potenzial einer gezielten Kultivierung des Mitgefühls sowie des seelischen Gleichgewichts bei Lehrern, die eine so entscheidende Rolle für die Entwicklung unserer Kinder spielen. Die beiden hier zu Wort kommenden Lehrer konnten ihr Mitgefühl selbst auf schwierigste Schüler ausdehnen – mit erstaunlichen und beachtlichen Ergebnissen. Ihre Schilderungen repräsentieren zudem die Art des Wandels, der sich in diesen Seminaren regelmäßig vollzieht. Um die Privatsphäre der beteiligten Lehrer zu schützen, wurden die Geschichten leicht verändert. Mary „Mary” unterrichtete zehn- und elfjährige Schülerinnen und Schüler an einer öffentlichen Schule im wohlhabenden Marin County nahe San Francisco. Sie war eine Frau der leisen Töne, jung, hübsch, idealistisch und enorm engagiert. Eines Morgens wurde sie in der Schule von einem Jungen mit einem Messer bedroht. Dieses Ereignis passierte eine Woche, nachdem wir im Seminar das Konzept der „Refraktärphase“ vorgestellt hatten (siehe Box II]. Diese von Paul Ekman geprägte Vorstellung war durchweg hilfreich für die Lehrer, zeigt sie doch, wie Körper und Geist „vorprogrammiert“ sind und in bestimmter Weise reagieren, wenn sie in den Bann eines Gefühls geraten. Als Mary uns diese Geschichte im Seminar erzählte, war sie in Tränen aufgelöst und noch immer sichtlich schockiert. Der Junge wurde zwar der Schule verwiesen. Aber seine Freunde rotteten sich jetzt regelmäßig im hinteren Teil des Klassenzimmers zusammen und provozierten sie. Bisher war ein solches Ereignis in vielerlei Hinsicht einfach „unvorstellbar“ gewesen: nicht im Marin County, nicht gegenüber Mary und nicht von so jungen Schülern. An diesem Abend beschäftigten wir uns in unserem Seminar mit Güte und Mitgefühl. Als Hausaufgabe baten wir die Lehrer, ihr Empfinden im Rahmen einer geleiteten, täglichen Güte-Meditation auf einen schwierigen Schüler auszudehnen. Margaret Cullen "Kindness" 17:37 min Eine Woche später teilte uns Mary begeistert mit, wie sie die Situation umdrehen konnte, indem sie das, was sie über ihre eigenen Gefühle gelernt hatte, anwandte und Güte und Mitgefühl praktizierte. Zunächst nahm sie wahr, wie ärgerlich sie wurde, sobald sie auch nur an den der Schule verwiesenen Jungen oder seine Freunde, die sie tyrannisierten, dachte. Sie erinnerte sich daran, dass sie in der Refraktärphase des Ärgers nur das wahrnehmen konnte, was ihren Ärger bestätigte. Damit vergegenwärtigte sie sich die Verhaltensweisen, die sie wütend und erzürnt machten, und vergaß alle guten Qualitäten, die die Jungen zu anderen Zeiten gezeigt hatten. Vor dem Hintergrund der formellen Güte-Meditation war sie in der Lage, darüber nachzudenken, wie das Verhalten der Schüler als „tragischer Ausdruck nicht erfüllter Bedürfnisse“ verstanden werden kann (siehe Video-Kapitel Gewaltfreie Kommunikation in diesem Buch) und sie, wie jeder andere Mensch auch, glücklich und geliebt sein wollen, aber nicht immer wissen, was sie tun können, damit ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Als sie die Schüler mit „den Augen des Herzens“ betrachten konnte, erinnerte sie sich auch an Momente, in denen sie witzig oder liebenswert waren. Und sie war in der Lage, ihnen aufrichtig Wohlergehen zu wünschen – und wenn auch nur für einige wenige Momente während der Meditation. 56