Konstruktive Dekonstruktion? Zur theologischen Rezeption Jacques Derridas im deutschsprachigen Raum INAUGURAL – DISSERTATION Zur Erlangung der Doktorwürde der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwig-Universität Freiburg im Breisgau vorgelegt von Hyok-Tae P. Kim Referent: Prof. Dr. Hansjürgen Verweyen Korreferent: PD Dr. Karlheinz Ruhstorfer Dekan: Prof. Dr. Hubert Irsigler Tag des Promotionsbeschlusses: 05. 02. 2004 Danksagung In einer Fremdsprache zu denken hieße, auf die Grenze zu stoßen. Mit einer fremden Sprache zu sprechen hieße, seine (Nicht)Identität bloßzustellen. Angesichts solcher Grenzsituationen wäre man auf die anderen Menschen angewiesen, um die unbekannten Wege zu erforschen und zu begehen. Die vorliegende Arbeit hätte nicht entstehen können, ohne die Unterstützungen und Wegweisungen anderer wohlwollender Menschen. Diesen Menschen, die mich auf den gegangenen Wegstrecken begleitet haben, habe ich zu danken. An erster Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Hansjürgen Verweyen danken, für seine ermutigende Offenheit und sein großes Entgegenkommen. Danken möchte ich Herrn Dr. Joachim Valentin für seine vielseitige und wertvolle Begleitung und Herrn PD Dr. Karlheinz Ruhstorfer für sein kritisches Zweitgutachten. Ebenso danke ich Frau Dr. Johanna Kopp, Dr. Alwin Letzkus und insbesondere Matthias Müller, die meine Arbeit gelesen und Korrekturen gemacht haben. Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Pfarrer Konrad Henn, Frau Ingrid Stadler und vor allem auch meinem guten Freund Christian Breunig, bei denen ich ein Stück deutsche Heimat erleben durfte. Schließlich möchte ich auch den Menschen der koreanischen katholischen Gemeinde in Freiburg danken, meinen Priesterkollegen Chang-Jun Lee, Hong-Ki Park, Chan-Wook Heo und vielen anderen, die sich einander im Glauben zu trösten wissen. Freiburg/Br., im Februar 2004 Hyok-Tae Peter Kim Inhaltsverzeichnis Einleitung Dekonstruktion, ein Denken der Postmoderne? ........................................................... 4 Teil I: Konstruktive Dekonstruktion? Derridas Denken an der Grenze und im Zwischen ............................................................................................ 9 1 1.1 1.2 1.3 1.4 Dekonstruktion destruktiv ........................................................................................... 10 Kritik des Phono- und Logozentrismus....................................................................... 10 Die Abgeschlossenheit der Metaphysik ...................................................................... 15 Dekonstruktion des Präsenzbegriffs............................................................................ 17 Die Nullpunkte ............................................................................................................ 25 2 2.1 2.2 2.3 2.4 Dekonstruktion konstruktiv......................................................................................... 31 Weder/noch und sowohl/als auch................................................................................ 31 Différance als Prinzip und Kraft der Dekonstruktion ................................................. 32 Das produktive Parasitäre............................................................................................ 38 Die Textualität des Textes........................................................................................... 43 Teil II: Zur theologischen Rezeption Jacques Derridas im deutschsprachigen Raum ................................................................................................ 51 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 Jüdisches Denken und Negative Theologie als Anders-Denken: Joachim Valentin... 53 Derrida und jüdisches Denken .................................................................................... 53 Judentum und christliche Theologie............................................................................ 53 Beschneidung als Enteignung des Selbst .................................................................... 55 Derridas Auseinandersetzung mit jüdischen Autoren ................................................. 57 Derridas Nähe zur talmudischen Lektüre.................................................................... 65 Negative Theologie und Derrida ................................................................................. 67 Zwischen Affirmation und Negation........................................................................... 67 Das alttestamentliche Bilderverbot ............................................................................. 68 Negative Theologie in der christlichen Tradition........................................................ 70 Derridas Texte der Negativen Theologie .................................................................... 72 Fazit ............................................................................................................................. 77 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5 Semiologische Analyse des Christentums: Johannes Hoff ......................................... 79 Derrida zur Universal- und zur Transzendentalpragmatik .......................................... 79 Glückliche Kohärenz versus jüdisches Erbe ............................................................... 79 Das sprachpragmatische Argument und das Hypersubjekt......................................... 84 Subjektivität an der Grenze ......................................................................................... 87 Derridas Religionsbegriff ............................................................................................ 90 Wiederkehr des Religiösen.......................................................................................... 90 Eine Ellipse der zwei Quellen ..................................................................................... 96 Semiologische Analyse des Christentums................................................................. 103 Materielle Vollzüge des Glaubens ............................................................................ 103 Semiologische Wende und christologische Aporien................................................. 106 Das satanische Böse als „double bind“ ..................................................................... 110 Die Ortlosigkeit der Theologie und ihre ekklesiologische Folge.............................. 112 Zum Möglichkeitsraum des theologischen Diskurses............................................... 112 Semiotische Rekonstruktion der Glaubensinstitutionen............................................ 115 Fazit ........................................................................................................................... 116 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 Eine Lektüre zwischen Kierkegaard und Derrida: Tilman Beyrich .......................... 118 Ein Buch schreiben?.................................................................................................. 118 Die Kunst der Mitteilung bei Kierkegaard ................................................................ 118 Die Wiederholung und die différance ....................................................................... 121 Eine Kierkegaardsche relecture von Derridas Kierkegaard-Lektüre ........................ 126 Unentbindbare Verantwortung und den Tod geben .................................................. 126 Die andere Ethik und ihre Provokationen ................................................................. 129 Das zu schweigende Geheimnis und das Christliche ................................................ 136 Derridas jüdische Anfrage an Kierkegaard als christlichen Denker ......................... 139 Fazit ........................................................................................................................... 143 6 Genealogische Lektüre der Texte Derridas zu einem philosophisch-theologischen Aufbruch: Peter Zeillinger.......................................... 145 Das Uneinholbare in alten Namen............................................................................. 145 Brüche der traditionellen Philosophie ....................................................................... 145 Die Bedeutung von „oder“ ........................................................................................ 149 Derridas Neologismen als Ausdrücke nachträglichen Denkens................................ 151 Konsequenzen aus den im Gesagten entlarvten Paradoxien ..................................... 154 Unmöglichkeit des Sprechens oder Möglichkeit des Nicht-Sprechens..................... 154 Die Möglichkeit des Unmöglichen............................................................................ 156 Die Notwendigkeit des Vielleicht ............................................................................. 158 Zu theologischen Aufbrüchen ................................................................................... 161 Das Verhältnis der Dekonstruktion zur Negativen Theologie .................................. 161 Positivität des dekonstruktiven Sprechens ................................................................ 163 Auf der Schwelle der Möglichkeit einer Theologie .................................................. 166 Fazit ........................................................................................................................... 169 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 7 7.1 7.2 7.3 Auf Grenzwegen: Dekonstruktion und Theologie .................................................... 171 Rückblick auf Derridas Dekonstruktion.................................................................... 171 Theologie nach Derrida? ........................................................................................... 174 Vier junge Autoren + 1.............................................................................................. 179 Teil III: Sakramentale Struktur und Dekonstruktion..................................................... 184 8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 Sakramentale Vermittlung und Struktur.................................................................... 186 Vermittlung als theologisches Problem..................................................................... 186 Unmittelbarkeit und Vermittlung .............................................................................. 186 Sendung als Vermittlung der Gottunmittelbarkeit bei Hans Urs von Balthasar ....... 189 Transzendental-kategoriale Vermittlung bei Karl Rahner ........................................ 194 Zur sakramentalen Struktur ....................................................................................... 201 Heilsvermittlung und sakramentale Struktur............................................................. 201 Das Verhältnis zwischen Vermittelndem und Vermitteltem..................................... 204 Sakramentales Zeichen und Symbolstruktur............................................................. 207 Exkurs: Der Symbolbegriff bei K. Rahner................................................................ 212 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 Dekonstruktivität in der sakramentalen Struktur....................................................... 218 Eine Bemerkung ........................................................................................................ 218 Begriffspaar Signifikat-Signifikant und die sakramentale Vergegenwärtigung ....... 220 Wort und Schrift........................................................................................................ 228 Ursprüngliche Quelle und Wiederholung.................................................................. 235 Das Göttliche und das Menschliche .......................................................................... 244 Abschluss: Ort des Anfangs .................................................................................................. 251 Literaturverzeichnis............................................................................................................... 254 4 Einleitung Dekonstruktion, ein Denken der Postmoderne? In den vergangenen Jahrzehnten galt die Postmoderne als Schlagwort, das in fast allen Bereichen kursierte. Es wurde über diesen Begriff oft heftig debattiert, teils schwärmerisch, weil man ihn als Anbruch einer neuen Epoche begrüßte, teils aber auch ablehnend, da man sie als Bedrohung für die aufklärerische Moderene betrachtete.1 Auch die christliche Theologie ist davon nicht unberührt geblieben und hat sich in der Folge mit diesem umstrittenen „Zeichen der Zeit“ ausführlich auseinandergesetzt.2 Inzwischen hat sich die Diskussionslage wieder beruhigt und der Terminus Postmoderne verliert deutlich an Faszination. Das Präfix „post“ gilt mittlerweile nicht mehr als Ende bzw. Anfang einer historischen Ära. Zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Postmoderne scheint zumindest darin Übereinstimmung zu bestehen, dass die Postmoderne nicht als ein eigenständiger Epochenbegriff verstanden werden soll. Was aber nicht bedeutet, dass die Postmoderne nur eine geschichtliche Strömung war und das postmoderne Denken schon wieder zur Vergangenheit gehört. Dies vorausgesetzt und angesichts unserer Thematik wäre also die Frage zu bedenken: Ist die Dekonstruktion ein Denken der Postmoderne? Und gilt Derrida überhaupt als Denker der Postmoderne? Zweifellos wird er in machen Abhandlungen als solcher bezeichnet, ja sogar als ein maßgeblicher Repräsentant der Postmoderne herausgestellt: „Einflussreich erwies sich die philosophische Postmoderne, wie sie vor allem durch französische Denker wie J. F. Lyotard oder Jacques Derrida repräsentiert wurde.“3 Es wäre deshalb nötig, einmal darauf einzu1 2 3 Vgl. dazu u. a. die folgenden Werke, auf die wir uns hier allgemein beziehen: A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1985; P. Koslowski/R. Spaemann/R. Löw (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Weinheim 1986; D. Kamper/W. van Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, Frankfurt a. M. 1987; R. Weimann/H. U. Gumbrecht (Hg.), Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt a. M. 1991; W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 21994; ders., Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 51997; P. V. Zima, Moderne/Postmoderne, Tübingen 1997. Vgl. dazu u. a.: H.-J. Höhn (HG.), Theologie, die an der Zeit ist, Paderborn u.a. 1992; W. Lesch/G. Schwind (Hg.), Das Ende der alten Gewißheiten, Mainz 1993; K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg-Basel-Wien 41994; H. J. Luibl (Hg.), Spurensuche im Grenzland, Wien 1996; J. Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft, Weinheim 1997; H. Schmidinger (Hg.), Religiosität am Ende der Moderne, Innsbruck-Wien 1999; M. Knapp/Th. Kobusch (Hg.), Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Text der Moderne/Postmoderne, Berlin-New York2001. J. M. Lochman, Glaube im Kontext der Postmoderne, 176. 5 gehen – wenn auch nur streiflichtartig, was die Anliegen und Inhalte der Postmoderne sind. Zumindest würde dadurch deutlich werden, inwieweit sich Derridas Dekonstruktion und die Postmoderne wechselseitig um- bzw. gegeneinander abgrenzen lassen. Allerdings beschränken wir uns hier allein auf die philosophische Postmoderne. Die Bereiche der Literatur, Kunst und Architektur oder Soziologie bleiben ausgeblendet, auch wenn sie in ihrem gegenseitigen Einfluss aufeinander für sie von großer Bedeutung sein mögen.4 Bekanntlich hat J. F. Lyotard 1979 in seinem Buch Das postmoderne Wissen den Postmodernebegriff in die philosophische Diskussion eingeführt. Er untersucht hier das postmoderne Wissen vor dem Hintergrund, dass „das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das sogenannte postindustrielle und die Kulturen in das sogenannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt. Dieser Übergang beginnt spätestens mit dem Beginn der fünfziger Jahre.“5 Als Merkmale eines sich verändernden Wissens angesichts der rasanten Entwicklungen in der hoch entwickelten Moderne samt ihrer Informationstechnologie diagnostiziert er in erster Linie das „Ende der Metaerzählungen“6 und die daraus resultierende unaufhebbare Heterogenität der Sprachspiele. Die großen Erzählungen der Aufklärung, welche die auf Zukunft hin orientierten Projekte der Moderne wie Emanzipation und Fortschritt legitimierten und vorantrieben, haben nach Lyotard ihre Glaubwürdigkeit verloren. Dieser Verlust ist für ihn aber keinesfalls zu bedauern, wird damit doch eine Vielfalt und Pluralität kleiner lokaler Erzählungen ermöglicht, die der Gewalt der Totalität entkommen und dadurch die Aufklärung der Gerechtigkeit näher bringen. Die Postmoderne verabschiedet sich von der Idee der Einheit und tritt entschieden für die Heterogenität der Sprachspiele in ihrer inkommensurablen Differenz ein. Lyotard, der als Wegbereiter der philosophischen Postmoderne gilt, ruft sogar zum Widerstreit gegen die übergeordnete Einheit und die umfassende Universalität auf: „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in der Tat umzusetzen. Die Antwort darauf 4 5 6 Zur Genese und Bandbreite der Postmoderne: Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 9-43. J. F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 19. Vgl. ebd., 14. Vgl. auch W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 32. 6 lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“ 7 Ist dieser Plädoyer für die Differenz, dieser Kampf gegen die Einheit aber das, worauf Derridas Dekonstruktion abzielt? Wetzt auch sie ihre Messer für diesen Kampf? Und steht auch sie ausschließlich für das Denken der Differenz? Darauf werden wir in den folgenden Kapiteln eingehen. Dem Gedanken der radikalen Pluralität liegt offenkundig eine Vernunftkritik zugrunde, die eine einheitliche allgemeinverbindliche Vernunft hinter sich lassen will. Mit der Pluralisierung der Vernunft versucht die Postmoderne dem Phänomen der Vielfalt der Kulturen, auf das sie nicht zuletzt durch die Globalisierung gestoßen wird, Rechnung zu tragen und den vorherrschenden Totalitarismus bzw. Zentralismus zu „korrigieren“. Sie nimmt also „die Vielfalt von Rationalitätstypen“ und „transversale Vernunft“8 als Merkmal unserer Zeit ernst und hat keine Sehnsucht nach einer Mitte oder einem Zentrum. Sie beharrt darauf, dass nur so allem Partikularen Gerechtigkeit wiederfahren kann. Denn die moderne Vernunft hat ihrer Ansicht nach um ihrer Selbstbezogenheit willen etwas preisgegeben: den Anderen bzw. das Andere. Aber noch auf ein weiteres Merkmal der Postmoderne wird in dieser Vernunftkritik angespielt, nämlich auf „den Tod des Subjekts“. Indem die moderne Erkenntnisphilosophie das Subjekt in die Position absoluter Autonomie erhebt, verstärkt sie, so die postmoderne Subjektkritik, den Dualismus von Subjekt und Objekt und begreift alles andere nur als den objektiven Gegenstand des Subjekts. Dies bedeutet aber „nichts anderes als das Ideal der totalen Präsenz und Verfügbarkeit seiner selbst, eine Selbst-Präsenz, die besonders im Akt des Sprechens zum Ausdruck kommt.“9 Die moderne Subjektivität generiert sich so als eine alles andere mit sich identifizierende Ausbeutung oder Unterdrückung und damit als Verdrängung des Anderen und hat dadurch häufig schon machtorientierte Ideologien bedient. Mit der Deklaration vom Tod des Subjekt will sich die Postmoderne von solchen Ideologisierungen verabschieden und das machtfreie Feld aller Diskurse offenhalten. Zu fragen wäre, ob damit letztlich nicht nur ein chaotischer Raum eröffnet worden ist, in dem jede Perspektive die Absolutheit für sich in Anspruch nehmen kann? Zu fragen wäre auch, ob damit nicht jeder archimedische Punkt verloren gegangen ist und Begriffe wie 7 8 9 J. F. Lyotard, Postmoderne für Kinder, 30f. Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 277-318. S. Wendel, Postmoderne Theologie? 196. 7 Ursprung oder Grund keinen Sinn mehr haben? Verdankt sich also, anders gefragt, die postmoderne Sicht auf den Tod des Subjekts nicht doch Derridas Dekonstruktion, die ja gerade die traditionellen Begriffe von Bewusstsein, Identität und (Re-)Präsenz ins Visier der Kritik nimmt? Auch auf diese Fragen werden wir in den nächsten zurückkommen. Auch die postmoderne Philosophie wurde, eben so wie die Literatur, Kunst, Architektur etc., von der Krise jener Moderne zur neuen Reflexion angestiftet, die durch technischszientifische Entwicklungen den Fortschritt der Menschheit in linearer Weise ins Werk setzen zu können glaubte. Aber die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat erkennen lassen, dass dieser gleichsam eschatologische Glaube fragwürdig ist, an ihm also nicht mehr ohne weiteres festgehalten werden kann. Angesichts dieser Erfahrung und angesichts der Transformation des Wissens wollen die so genannten Denker der Postmoderne eine Alternative aufzeigen, die einen Ausweg aus diese Krise aufweisen soll. Insgesamt kann man die Postmoderne durchaus positiv bestimmen, indem man sie wie folgt begreift: Sie will nichts anderes als die Reflexion der Moderne über sich selbst sein, das heißt eine Weiterführung bzw. Radikalisierung des kritischen Potenzials der Moderne selbst.10 Der Postmoderne wird allerdings häufig der Vorwurf gemacht, sie predige nur Beliebigkeit, Relativismus oder gar einen Irrationalismus. Ohne ihre Aussagen zu begründen, stütze sie sich nur auf die Kontingenz der unterschiedlichen Perspektiven und bewege sich letztlich nur in einer „Logik der Leere“.11 Derrida selbst aber würde sich von beiden Parteien distanzieren und sich entschieden dagegen verwehren, sein Denken als „postmodern“ zu bezeichnen. Auch wenn die Dekonstruktion die Tradition der abendländischen Philosophie im Visier hat, lässt sie sich nicht einfach auf die Alternative zwischen deren Affirmation oder Destruktion reduzieren. Sie schließt in sich beide Momente ein, und 10 11 Diesbezüglich spricht Lyotard von einer permanenten Geburt der Moderne in der Postmoderne: „Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“ (ders., Postmoderne für Kinder, 26). Vgl. E. Hanzig-Bätzing, Entgrenzung als Bedingung gelingenden Lebens in der Postmoderne, 297. J. Habermas, einer der Hauptkritiker der Postmoderne, spricht bezüglich der postmodernen Vernunftkritik von der Gattungslosigkeit ihrer Diskurse: „Die radikale Vernunftkritik entrichtet für die Verabschiedung der Moderne einen hohen Preis. Als erstes können und wollen diese Diskurse keine Rechenschaft ablegen über ihren eigenen Ort. Negative Dialektik, Genealogie und Dekonstruktion entziehen sich in ähnlicher Weise jenen Kategorien, nach denen sich das moderne Wissen keineswegs zufällig ausdifferenziert hat und die wir heute unserem Verständnis von Texten zugrundelegen. Sie lassen sich weder der Philosophie oder der Wissenschaft, noch der Moral- und Rechtstheorie, noch der Literatur und Kunst eindeutig zuordnen. Zugleich sträuben sie sich gegen eine Rückkehr zu den sei’s dogmatischen oder häretischen Formen des religiösen Denkens. So besteht auch eine Inkongruenz zwischen diesen ‚Theorien‘, die Geltungsansprüche nur erheben, um sie zu dementieren, und der Art ihrer Institutionalisierung im Wissenschaftsbetrieb.“ (J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 390). 8 geht noch darüber hinaus. Insofern entzieht sich die Dekonstruktion auch jedem Versuch, sie irgendeiner Kategorialisierung zu unterstellen.12 Was für einen Weg schlägt also das Denken Derridas ein? J. Kunstmann, der in seiner Dissertation Christentum in der Optionsgesellschaft. Postmoderne Perspektiven die postmoderne Philosophie als Perspektivierungshilfe für Theologie und Kirche in der veränderten Gesellschaft erläutert, bringt die Postmoderne in bemerkenswerter Weise auf den Begriff: „So hat sich unter anderem der Umgang der Postmoderne mit der Tradition verändert – sie wird neu wahrgenommen in der Form des Zitats, hierarchiefrei kombiniert und verschränkt mit Gegenwärtigem. Darum markiert Postmoderne einen neuen, oft spielerischen Umgang mit Wirklichkeit; einen neuen Zwischenbereich des Sowohl-als-Auch jenseits der modernen Denkgewohnheit, ‚alt‘ mit ‚veraltet‘, ‚neu‘ mit ‚gut‘ zu assoziieren. Ein ironisch verstandenes ‚tertium datur‘ könnte ihr Motto sein: die Wirklichkeit in ihrer Pluralität läßt 13 sich weder auf ein monistisches Prinzip hin ausrichten noch in Dichotomien fassen.“ Dieses „Jenseits“ und dieses „Zwischen“ zu erforschen und offenzulegen wäre die Dekonstruktion, und in diesem Sinne unterscheidet sie sich von allen herkömmlichen Denkfiguren, ist also in der Tat „post-modern“. Dennoch erschöpft sich Derridas Denken nicht darin. Auf subtile und subversive Weise ist die Dekonstruktion so in die bestehende Philosophie verflochten, dass sie nicht in Form einer epochalen Wende einen Neuanfang postuliert, aber dennoch in der Lage ist, einen Aufbruch des Neuen anheben zu lassen. Wir haben den Begriff der Postmoderne in beschränkter Form eingeführt, um einen Ausgangspunkt zu gewinnen bzw. um ihn gleich wieder hinter uns zu lassen und so einen Einstieg in Derridas Denken zu finden. Es ging darum, einen Anfang zu finden und einen ersten Überblick zu geben – Konturen zu umreißen und Zugänge zu eröffnen zu den Denkwegen, die auf den Spuren von Derrida nun weiter zu verfolgen sein werden. In diesen Spuren soll anschließend die theologische Reflexion, die das eigentliche Interesse dieser Arbeit beschreibt, durchgeführt werden. 12 13 Dies ist eine Grundvoraussetzung der Dekonstruktion, die Bennington folgenderweise erklärt: „‘Zeitgenosse‘, contemporaneus, cum tempus mit der Zeit. Derrida denkt mit der Zeit, im Laufe der Zeit – keineswegs aber, weil er der Vertreter irgendeines (angeblich ‚postmodernen‘ oder ‚post-philosophischen‘) Zeitgeistes wäre, sondern weil die von ihm gedachte Zeit jede Zeitgenossenschaft und Gleichzeitigkeit aus den Fugen bringt. Unglücklich, wer sich als sein eigener Zeitgenosse ausrufen wollte.“ (G. Bennington, Jacques Derrida, 15f). J. Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft, 26. TEIL I: KONSTRUKTIVE DEKONSTRUKTION? DERRIDAS DENKEN AN DER GRENZE UND IM ZWISCHEN Die Dekonstruktion stellt eines der charakteristischen Merkmale des Derridaschen Denkens dar und ist mit unterschiedlichen Akzentuierungen inzwischen in vielen wissenschaftlichen und kulturellen Bereichen verbreitet. Dennoch wird ihr oft der Vorwurf gemacht, sie sei letztlich Obskurantismus oder Nihilismus. Dies geht wohl zum großen Teil auf Derridas Weigerung zurück, die Dekonstruktion als Analyse oder Kritik, als Methode also aufzufassen. Sie schiebt jede Position auf die nächste auf und entzieht somit jeder Definition und Charakterisierung. Um sich an Derridas Denken anzunähern, ist es trotzdem geboten, die Frage zu umkreisen, wie Dekonstruktion zu verstehen ist, zumindest was ihre Prämissen und Implikationen angeht. Im Folgenden untersuchen wir, wogegen sich die Dekonstruktion richtet und was sie an Neuem anbieten will. Dabei handelt es sich aber weder um eine zerstörerische Invasion noch um eine Art der dialektische Aufhebung. Die Dekonstruktion ist weder Destruktion noch Konstruktion noch ist sie beides zugleich. Strategisch wird sich dennoch die folgende Arbeit zunächst mehr auf die destruktiven Seiten und erst anschließend auf die konstruktiven Seiten konzentrieren. Natürlich stellt sich hier die Frage, ob man „De“ und „Kon“ in Dekonstruktion überhaupt sinnvollerweise voneinander trennen kann. Bei der Dekonstruktion zielt eine Destruktion wiederum auf die Konstruktion, und eine Konstruktion auf die Destruktion. Destruktion und Konstruktion sind aufeinander angewiesen. Die eine lebt von der anderen. Die Dekonstruktion lässt sich nur in diesem komplexen Spiel zwischen „De-„ und „Kon-„ beschreiben. Und dies ist einer der ausschlaggebenden Gründe, weshalb Derrida strikt ablehnt, die Dekonstruktion schematisch zu definieren. Mit Rücksicht auf diese Schwierigkeiten versuchen wir nun im ersten Kapitel die Dekonstruktion als destruktiv, und im zweiten Kapitel als konstruktiv aufzugreifen. In diesem Teil wird sich die Dekonstruktion sämtlich als Denken an der Grenze und im Zwischen erweisen. Derridas Denken bewegt sich also an den schwankenden Rändern und Grenzwegen. Ist diese nomadische Position irgendwo zu finden? Nein, sie findet sich wohl nirgendwo. Sie findet sich zugleich überall, wo Denken geschrieben ist und geschrieben wird. 10 1 Dekonstruktion destruktiv 1.1 Kritik des Phono- und Logozentrismus Derridas Dekonstruktion findet vor allem als Metaphysikkritik statt und zeigt darin zunächst ihren destruktiven Zug. Im Vergleich mit J. F. Lyotard beschränkt Derrida seine Kritik nicht auf ein bestimmtes Zeitalter, sondern legt diese breiter an. Mit seiner semiologisch fundierten Metaphysikkritik richtet er sich nicht nur gegen die moderne Subjektphilosophie, sondern gegen die gesamte Tradition der abendländischen Geistesgeschichte. Für ihn ist die selbstbezogene Subjektphilosophie der Moderne „nur eine der Gestalten, welche die Metaphysik im Laufe ihrer Geschichte angenommen hat“ und insofern kann die Kritik, durch welche die postmodernen Denker die Beachtung der Differenz einklagen, „nur konsequent sein, wenn sie das Ganze der metaphysisch strukturierten Sprache in den Blick bekommt.“ 1 Derrida geht davon aus, dass die Tradition der abendländischen Geisteswissenschaften in ihren Denkbegriffen und -konzepten durch die Metaphysik geprägt ist, von der er allerdings nirgends eine eindeutige Definition gibt – was zweifellos auch der Dekonstruktion selbst widersprechen würde. Jedenfalls zielen vor allem seine frühen Werke darauf ab, diese metaphysisch strukturierten Bedingtheiten sowie deren Rahmen herauszustellen. Und damit lässt sich die metaphysische Struktur nach Derrida als hierarchischer Dualismus offenlegen. Es geht ihm also letztlich darum, das durch die Hierarchisierung der metaphysischen Begriffspaare Marginalisierte und Verdrängte zu markieren, es hervorzuheben und dadurch das Ganze in eine neue Perspektive zu bringen, auch wenn diese bei Derrida immer nur augenblicklich und vorübergehend zu fassen ist. Wie dieses Verfahren praktiziert wird, lässt sich grob in folgender Weise darstellen: Mit kritischer, transformierender, verdrehender, also dekonstruktiver Lektüre von Texten der abendländischen Metaphysik und sich so einem bestimmten Methodencharakter entziehend, tritt die Dekonstruktion überall dort auf den Plan, wo das Denken der Metaphysik auf wissenschaftlicher, ethischer, politischer und sozialer Ebene als ein geschlossenes System erscheint. Derrida hebt dabei hervor, dass dieses metaphysische System grundsätzlich dualistisch und 1 P. Engelmann, Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion, 17. 11 hierarchisch aufgebaut ist. Die Metaphysik wurzelt grundsätzlich in einer „binären Gegenüberstellung“ der Begriffspaare, wobei das eine als übergeordnet, fundierend oder wesentlich, das andere dagegen als untergeordnet, sekundär oder kontingent gedacht wird. Als Beispiel solcher kategorialen Oppositionsbildungen sind etwa folgende zu nenne: Seele/Körper, Natur/Kultur, Präsenz/Absenz, Phone/Schrift, Innen/Außen, Mann/Frau, Gut/Böse, geistig/sinnlich usw.2 Als solche dienen sie also der Metaphysik und ihrer hierarchischen Begründung. Nach Offenlegung dieser binär-hierarchischen Gegenüberstellungen gilt es dann im nächsten Schritt, diese einer Dekonstruktion zu unterziehen, das heißt sie umzukehren bzw. umzustürzen. Die Phase des destruktiven Umbruchs ist deshalb notwendig, weil die metaphysische Hierarchisierung stets eine totalisierende Gewalt impliziert: „Ich betone immer und unaufhörlich die Notwendigkeit dieser Umbruchphase, die man vielleicht zu rasch in Mißkredit zu bringen versucht hat. Dieser Notwendigkeit gerecht werden heißt anerkennen, daß man es bei einem klassischen philosophischen Gegensatz nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-Vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun hat. Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (axiologisch, logisch usw.) den anderen, steht über ihm. Eine Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im 3 gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen.“ Ein hervorragendes Beispiel eines solch umstürzenden Unternehmens bietet die Grammatologie, eines der Hauptwerke Derridas, in dem er sich mit der sprachlichen Zeichentheorie auseinandersetzt und daraus „eine Wissenschaft von der Schrift“ entwickelt. Hierbei stellt er vor allem das Begriffspaar phonetische Sprach/geschriebene Schrift heraus, mit dem er seine Metaphysikkritik zuspitzt. Für Derrida ist die abendländische Metaphysik ein Phonozentrismus. Die abendländische Tradition des metaphysischen Denkens von Platon bis zu Hegel ist stets mit dem Begriff der Stimme und deren Privilegierung verbunden, der gegenüber die Schrift 2 3 Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 19. Vgl. auch J. Culler, Dekonstruktion, 103. Zahlreiche weitere Beispiele lassen sich nennen, wie folgende Zusammenfassung zeigt: „Die amerikanische Philosophin I. Harvey hat eine Liste der in der Geschichte des abendländischen Denkens wichtigsten binär-hierarchischen Oppositionen zusammengestellt. Von links nach rechts gelesen, wird zunächst der vermeintliche Ursprung genannt, dann das Derivat, das auf diesen Ursprung zurückgeführt und ihm daher nachgeordnet werden soll: ‚Innen/Außen, Gut/Böse, Wesen/Erscheinung, Form/Inhalt, Original/Kopie, Eigen/Uneigen, Eindeutigkeit/Vieldeutigkeit, Anwesenheit/Abwesenheit, Geist/Körper, Natur/Kultur, Natur/Geschichte, Präsenz/Repräsentanz, Leben/Tod, Unendlich/Endlich, Bewußt/Unbewußt, Allgemeines/Besonderes, Ideal/Empirisch, Sinn/Unsinn, Signifikat/Signifikant, Philosophie/Mythologie, Sein/Nicht-Sein, Identität/Differenz, Wahrheit/Unwahrheit, Sichtbar/Unsichtbar, Sprechen/Schweigen, Vernunft/Wahnsinn, Episteme/Doxa, Gott/Mensch, Sprache/Schrift, Philosophie/Nicht-Philosophie‘.“ (U. Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 157). J. Derrida, Positionen, 87f. 12 als äußerlich, abgeleitet, sekundär und den Ursprung ansteckend vernachlässigt.4 Gerade hier an diesem Fixpunkt will Derrida – mit Hilfe der linguistischen Überlegungen von Ferdinand de Saussure, deren Widersprüche er zugleich aufdeckt – die Begriffsumstürzung oder verschiebung „von innen her“ geschehen lassen. Die traditionelle Zeichentheorie kann als Repräsentationstheorie bezeichnet werden, die die Zeichen als Repräsentation der ursprünglichen Bedeutungen begreift – die stoische und mittelalterliche Termini wieder aufgenommen verwendet hier Saussure Signifikanten und Signifikate. Jedenfalls ist die Sprache nach Auffassung von Saussures Linguistik gerade ein Zeichensystem, das allein aus dem arbiträren Spiel von Differenzen besteht. Erst dieses Spiel erzeugt Signifikat und Signifikant sowie deren Verhältnis zueinander. Die herkömmliche Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant, die als natürliche und daher notwendige betrachtet wurde, muss also in sich zusammen fallen. Die Sprache ist also nicht als Repräsentation einer ursprünglichen, selbst bestehenden Bedeutung zu verstehen. Saussure wendet aber nach Ansicht Derridas diese Repräsentationslogik, die er selbst in seiner Sprachwissenschaft erschüttert, weiter auf das Begriffspaar gesprochene Sprache/geschriebene Schrift an. So bleibt die Schrift auch für ihn der Sprache als einem inneren System gegenüber äußerlich und daher unnatürlich. Sie wäre als bloß sekundär und abgeleitet zu begreifen, während die Stimme aber unmittelbar die Bedeutung des inneren Bewusstseins zum Ausdruck bringen würde. Demnach gilt die Schrift als Repräsentation – ja sogar als verfälschtes Plagiat – der Stimme. Die Schrift maßt sich mehr und mehr die Hauptrolle der ursprünglichen gesprochenen Sprache an.5 Trotz seiner sprachwissenschaftlichen Verdienste, auf die sich später die zahlreichen (neo)strukturalistischen Denker stützen, ist also Saussure in der phonozentrischen Struktur der Metaphysik gefangen geblieben. Das Wesentliche der Sprache ist dagegen für Derrida die Arbitrarität des Zeichenspiels, das heißt das Spiel der Differenzen. Die Schrift beschreibt dann gerade das, was dieses Spiel der 4 5 Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 61ff. Vgl. ebd., 16-129. Vgl. auch Derridas Beschreibung des Phonozentrismus, dem auch Saussure noch verhaftet bleibt: „Eine Wissenschaft von der Sprache hätte demnach ein natürliches, das heißt einfaches und ursprüngliches Verhältnis zwischen dem gesprochenen Wort und der Schrift, und das wiederum heißt: zwischen einem Innen und einem Außen, wiederzufinden. Sie hätte wieder zu ihrer vollkommenen Jugend und ursprünglichen Reinheit zu finden, und zwar diesseits einer Geschichte und eines (Sünden-)Falls, die in der Folge das Verhältnis zwischen dem Draußen und dem Drinnen pervertieren. [...] Dieses natürliche Band zwischen Signifikat (Vorstellung, Begriff [concept] oder Sinn [sens]) und lautlichem Signifikanten gäbe dem natürlichen Verhältnis, das die Schrift (sichtbares Bild) dem gesprochenen Wort unterordnet, seine Beschaffenheit. Und dieses natürliche Verhältnis wäre durch die Erbsünde der Schrift ins Gegenteil verkehrt worden.“ (ebd., 62f). 13 Sprache konstituiert. Schrift ist also nicht mehr in dem Sinne, wie die traditionelle phonozentrische Metaphysik sie als „Signifkant des Signifikanten“, als eine „akzidentelle Verdopplung“ und „abgefallene Sekundarität“ fasste, zu verstehen: Die Schrift ist von Anfang an in der Sprache am Werk: „‘Signifikant des Signifikanten‘ beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht. Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert [...].“ 6 Die Schrift ist von Anfang an in der Sprache am Werk, oder anders gesagt: sie selbst ist der „Ursprung“ der Sprache – jedoch kein Ursprung im traditionellen Sinn.7 Diese Einsicht in das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant und der daraus gewonnene Begriff der „Schrift“ bzw. das damit angedeutete „Wirken der Spur“ ist auch für die Theologie von Bedeutung (darauf werden wir in Kapitel 9.2 und 9.3 dieser Arbeit näher eingehen). Doch ungeachtet dessen, bleibt daran festzuhalten, dass dieses destruktives „Ver-rücken“ alle metaphysischen Begriffspaare affizieren muss. Die phonozentrische Metaphysik ist für Derrida aber auch ein Logozentrismus. Denn im metaphysischen Denken steht die Stimme in einem unmittelbaren Verhältnis zum Logos oder der Vernunft: „absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Identität des Sinns.“8 Dieser Zusammenhang ist nach Derrida offensichtlich entscheidend für die Geschichte der Metaphysik: „Alle metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit, selbst jene, an die uns Heidegger, über die metaphysische Onto-Theologie hinaus, erinnert, sind mehr oder weniger unmittelbar nicht zu trennen von der Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft, wie immer man diesen Logos auch verstehen mag: im vorsokratischen oder im philosophischen Sinne, als unendlichen Verstand Gottes oder im anthropologischen Sinne, im vorhegelschen oder im nachhegelschen Sinne. In diesem Logos war die ursprüngliche 6 7 8 Ebd., 17. Vgl. ebd., 77. Ebd., 25. 14 und wesentliche Verbindung zur phone niemals unterbrochen, [...]. das Wesen der phone, wie es mehr oder weniger implizit bestimmt wurde, stünde unmittelbar dem nahe, was im ‚Denken‘ als Logos auf den ‚Sinn‘ bezogen ist, ihn erzeugt, empfängt, äußert und ‚versammelt‘.“ 9 Bei Aristoteles ist zum Beispiel „,das in der Stimme Verlautende (τὰ ε̉ν τη̃ φωνη̃) Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände (παθήµατα τη̃ς ψυχη̃ς) und das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende‘“, „weil die Stimme als Erzeuger der ersten Zeichen wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt ist. Als Erzeuger des ersten Signifikanten ist sie nicht bloß ein Signifikant unter anderen. Sie bezeichnet den ‚Seelenzustand‘“10. Auch bei Hegel gilt dieselbe Logik des Phono- und Logozentrismus. Für ihn steht das tönende Wort unmittelbar für den sich äußernden Ausdruck des sich selbst reflektierenden Geistes, die nicht-phonetische Schrift aber ist ein sekundäres Zeichen und als Mnemotechnik zugleich ein bedrohlicher Verrat, der die Geschichte des unendlichen Geistes und dessen substantielle Einheit in die Vergessenheit erniedrigt und steril macht.11 Derrida findet dieses logo- und phonozentrische Denken des weiteren auch im mittelalterlichen Verständnis der Welt als der Schrift Gottes, wobei hier die platonische Tradition christlich transformiert ist12, bei Rousseau, der die Schrift für ein gefährliches Supplement hält13, und auch bei Husserl, für den allein die Stimme, die sich selbst vernimmt, den im transzendentalen Bewusstsein zu erfassenden idealen Gegenstand präsentieren kann, während die Schrift das die reine Innerlichkeit bedrohende „Krisenmoment“ ist14. Wie man sieht, hängt diese Argumentation Derridas eng mit seinem Begriff der Schrift zusammen, der sich in dieser Phase zu dem zentralen und charakteristischen Merkmal seines Denkens entwickelt. Über diese Beobachtung hinaus stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Geschichte der abendländischen Metaphysik mit der Kritik an ihrem Logo- und Phonozentrismus zu Ende kommt, ob oder inwiefern Derrida diese Tradition als „Vergangenheit“ hinter sich lassen will. 9 10 11 12 13 14 Ebd., 24. Ebd. Vgl. ebd., 45-50. Vgl. ebd., 30-31. Vgl. ebd., 248-272. Vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 134f. 15 1.2 Die Abgeschlossenheit der Metaphysik Derridas Dekonstruktion läuft nicht nur darauf hinaus, die traditionelle Metaphysik als phonound logozentrisches Denken zu enthüllen, sondern er geht einen Schritt weiter und gelangt zu der Aussage, dass diese Metaphysik einmal zu Ende gebracht werden und ihre Geschichte zu einem Abschluss gelangen soll. Derrida besteht auf einer „Abgeschlossenheit“ (clôture) der Metaphysik.15 Wird damit aber ein endgültiger Abschied von der Metaphysik oder ihr Tod ausgerufen, wie es in der Rede von der Postmoderne anklingen könnte? Derrida geht nicht von einem chronologischen Ende aus, mittels dessen die Metaphysik letztendlich überwunden werden könne. In seiner Lektüre von Vorgängern wie Nietzsche, Freud oder Heidegger, die mit ihrem Denken der Tradition jeweils eine Wende gebracht haben und mehr oder weniger als „nicht- oder nachmetaphysiche“ Denker zu verstehen sind, findet Derrida bereits bestimmte dekonstruktive Züge der Metaphysik.16 Auch wenn man sagen könnte, dass Derrida diese Tradition in angeschärfter Form weiter treibt, besteht für ihn das Ziel gerade nicht darin, mit der Dekonstruktion die „Epoche“ der abendländischen Metaphysik für immer zu verabschieden und hinter sich zu lassen. Denn er weiß sehr genau um die metaphysische Bedingtheit jeder Denk- und Sprechweise: „Diese destruktiven Diskurse [von Nietzsche, Freud, Heidegger, H.K.] (und alles ihnen Entsprechende) sind aber allesamt in einer Art von Zirkel gefangen. Dieser Zirkel ist einzigartig; er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer Destruktion: es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Er17 fordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.“ Ausdrücklich unterscheidet Derrida deshalb zwischen Ende (fin) und Geschlossenheit (clôture)18, um aufmerksam zu machen darauf, dass die Epoche der Metaphysik niemals endet und doch bereits vollendet ist. Mit dieser etwas widersprüchlichen Grenzziehung will Derrida über 15 16 17 18 Ebd., 163. Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 422-442. Die Destruktivität ihres Denkens steht nach Derrida in einem wechselseitigen Verhältnis: „So haben beispielsweise Nietzsche, Freud und Heidegger mit den überlieferten Begriffen der Metaphysik gearbeitet. Da diese Begriffe aber keine Elemente, keine Atome sind, denn sie sind in einer Syntax und in einem System eingebunden, beschwört jede Anleihe die gesamte Metaphysik herauf. Infolgedessen können sich die genannten Destrukteure gegenseitig destruieren.“ (ebd., 426). Ebd., 425. Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 14. 16 die Möglichkeiten und Grenzen der Metaphysik reflektieren, ohne ihre Denkfiguren zu wiederholen. Die Geschlossenheit der Metaphysik schließt sich nicht zu einem Kreis, an dem man Innen und Außen unterscheiden, vom Außen ins Innen bzw. vom Innen ins Außen drehen könnte. Sie ist aber auch nicht mit dem Gedanken eines linearen und kontinuierlichen Fortschritts zu vergleichen, an dem sich ein Vorher und Nachher trennen und also ersteres mit letzterem verabschieden ließe.19 Beide Vorstellungen würden immer noch eine metaphysische Struktur aufweisen. Mit der Rede von der Geschlossenheit der Metaphysik will aber die Dekonstruktion ja gerade an jener „Offenheit an der Grenze“ festhalten, in der das umwälzende und zugleich unabschließbare Spiel stattfindet. Was also hat es mit dem „Umkippen“ der Metaphysik auf sich? Was bringt die Dekonstruktion mit und nach dieser Umbruchsphase hervor? Gehe es ihr also, wie bereits erwähnt, darum, das Marginale und Verdrängte der Wirklichkeit aufzudecken und diese verlorenen Reste in die Philosophie einzuführen? Oder geht es einfach darum, die dualistischen Begriffspaare umzukehren und den jeweils untergeordneten umgekehrt als Voraussetzung bzw. Bedingung des übergeordneten geltend zu machen? Ziel der Dekonstruktion ist jedoch keineswegs die bloße Umkehrung oder gar die erneute Aufwertung bzw. Abwertung von Begriffen. Und an die Stelle eines Umbruchs tritt auch nicht die bloße Ersetzung durch etwas völlig Neues. Die über die Grenze von Innen und Außen hinausgehende Bewegung der Dekonstruktion stellt vielmehr das immer schon Gewesene in ein neues Licht: „[...], wenn man sich auf diese Phase beschränkt, so bewegt man sich immer noch auf dem dekonstruierten Gebiet und im Innern des dekonstruierten Systems. Mit dieser doppelten, geradezu geschichteten, verschobenen und verschiebenden Schreibweise muß man außerdem den Abstand markieren zwischen der Inversion auf der einen Seite, die das Hohe herabzieht und ihre sublimierende oder idealisierende Genealogie dekonstruiert, und dem plötzlichen Auftauchen eines neuen ‚Begriffs‘ auf der anderen Seite; eines Begriffs dessen, was sich in der vorangegangenen Ordnung nicht mehr verstehen läßt, ja sich niemals verstehen hat lassen.“ 19 20 20 In einem Interview sagt Derrida: „Ich habe es vorgezogen, von einem ‚Abschluß der Metaphysik‘ zu sprechen. Der Abschuß ist nicht das Ende, er ist vielmehr die erzwungene Macht einer zugleich erschöpfenden und unermüdlichen Verbindung, die ihren Ausgangspunkt bei einem gewissen Hegelianismus findet. Dieser Abschuß ist nicht kreisförmig (für die Philosophie die Darstellung ihrer eigenen Grenze), und er hat auch nicht die Gestalt eines gradlinigen Rahmens, den man überspringen könnte, um nach Draußen, zum Beispiel zu einer endlich nicht mehr philosophischen ‚Praxis‘, zu gelangen! Die Grenze des Philosophischen hat eine eigenartige Beschaffenheit, man kann sie meiner Absicht nach nie ohne eine gewisse bedingungslose WiederBestätigung erfassen.“ P. Engelmann (Hg.), Philosophien. Gespräche mit Michel Foucault ..., 55f. J. Derrida, Positionen, 88f. 17 Wie der Begriff der Geschlossenheit bereits andeutet, geht es Derrida grundsätzlich darum, die Grenze der philosophischen Diskurse in Frage zu stellen und das Außerhalb möglichst radikal offenzuhalten, das über die positiven metaphysischen Differenzierungen hinausgeht, diesen jedoch immanent ist. Der Dekonstruktion geht es also um eine „ursprünglichere Differenz“ vor allen möglichen Konstituierungen und jenseits der ontologischen Differenz.21 Dies scheint ein passendes Argument dafür zu sein, Derrida treibe letztlich eine neue Ursprungsphilosophie.22 Dass diese Beurteilung Derrida aber begrifflich nicht trifft, wird im Zusammenhang theologischer Perspektiven in Kapitel 9.4 noch einmal deutlich werden. In jedem Fall muss man die praktische Seite der Dekonstruktion im Blick behalten, um Missverständnisse zu vermeiden. Die Dekonstruktion wird, sofern davon überhaupt noch die Rede sein kann, „methodisch“ im dekonstruktiven Schreiben und Lesen der Texte praktiziert, das heißt, in den dekonstruktiven Lektüren der verschiedenen klassischen Texte, wobei je nach Text jeweils verschiedene Methoden und wechselnde Ebenen als „Instrument“ eingesetzt werden. Diese Elemente werden wir unten in den Kapiteln „Das produktive Parasitäre“ und „Die Textualität des Textes“ zusammenfassen. Wir verweilen aber zunächst noch dort, wo die Dekonstruktion noch eine andere Seite der „Geschlossenheit“ eröffnet, die mit der abendländischen Metaphysik in einer unmittelbaren Verbindung steht. 1.3 Dekonstruktion des Präsenzbegriffs Die Dekonstruktion als Metaphysikkritik läuft schließlich auf das Denken der Präsenz hinaus. Denn die phono- und logozentrische Metaphysik geht nach Derrida grundsätzlich auf den Begriff der Präsenz zurück. Alles metaphysische Denken gründet letztlich in der Präsenz und richtet sich stets, sei es transzendentallogisch oder teleologisch, auf die Präsenz. Für Derrida ist Präsenz der Name und Begriff einer absoluten Selbstheit, welche das sich selbst vernehmende präsente Sein ist und die Andersheit als nicht-eigen und äußerlich begreift. Wie kommt Derrida zu diesem Befund, der die abendländische Denktradition als metaphysisch, das heißt binär-hierarchisch aufweist? Bevor wir uns mit dieser Frage beschäftigen, gilt festzuhalten, 21 22 Zur Auseinandersetzung Derridas mit Heidegger Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 26-28, 3639; D. Neu, Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion; A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion, 293-344. Zur Diskussion darüber vgl. H. Kimmerle, Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? 18 dass die Dekonstruktion des Präsenzbegriffs konsequent alle metaphysischen Konzepte und Bestimmungen betrifft, da für Derrida „alle Namen für Begründung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, telos, energeia, ousia [Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt], aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.“23 Schon aus diesem Grund muss deutlich werden, weshalb Derridas Präsenzkritik für die Dekonstruktion eine der zentralen Operationen darstellt. Die klassische Metaphysik als das Denken der Präsenz stellt Derrida schon in seinen frühen Werken heraus, in denen er sich mit der Husserls Phänomenologie auseinandersetzt und in denen fast alle wichtigen Gedankengänge und Begriffe seines Philosophierens schon mehr oder weniger explizit zu finden sind. Indem er in Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie und in Die Stimme und das Phänomen Husserls Versuche, die Philosophie aus dem transzendentalen Bewusstsein und im Hinblick auf ideale Gegenständlichkeit als strenge Wissenschaft zu begründen, „dekonstruiert“ – wenn auch noch nicht im vollen Sinne des Wortes, verweist er einerseits auf die Unmöglichkeit einer reinen absoluten Identität, und andererseits auf Begriffe wie Schrift, Spur oder Supplement u. a. Was die Präsenz in Husserls transzendentaler Phänomenologie bedeutet und inwiefern sie der Dekonstruktion ausgesetzt wird, lässt sich vor allem am Konzept des Zeichens, dem Hauptthema der Derridas Konfrontation mit Husserl, deutlich machen. Derrida setzt bei Husserls Unterscheidung zwischen Ausdruck und Anzeichen an und hebt diese Differenzierung des Zeichens als entscheidend und grundlegend für die Phänomenologie Husserls insgesamt hervor. Dies wird bereits aus der anfänglichen Bemerkung deutlich, die Derrida in der Einleitung zu Die Stimme und das Phänomen macht, ein Text, der den Untertitel Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls trägt. Er weist hier darauf hin, dass die Logischen Untersuchungen für die gesamte Phänomenologie einen ausschlaggebenden Durchbruch erzielt haben und dass in ihnen, was die angesprochene Problematik der Sprache anbelangt, „die Keimstruktur des gesamten Denkens Husserls“ bereits vorhanden ist. Dies wird besonders im Kapitel der ersten der Untersuchungen „Ausdruck und Bedeutung“ deutlich, „das den ‚wesentlichen Unterscheidungen‘ gilt, die alle folgenden Analysen in nicht zu unterschätzender Weise prägen.“24 Bereits dieser Anfang, nämlich mit einer der von Husserl selbst zwar nur beiläufig erwähnten, von Derrida aber als wesentlicher Motor 23 24 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 424. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 51. 19 des folgenden Unternehmens herausgestellten kleinen Passage auszugehen, ist typisch für die Dekonstruktion, die häufig dem Marginalen eine für das Ganze prägende Bedeutung zuspricht. Derrida will hier zeigen, dass Husserls Unterscheidung zwischen zwei Arten von Zeichen einer Logik der Präsenz verhaftet ist und dieses Konzept auch als metaphysisches, im oben erläuterten Sinne, „abgeschlossen“ werden soll.25 Husserl unterscheidet den Ausdruck vom anzeigenden Zeichen und schreibt allein ihm Bedeutung und Sinn zu: „Jedes Zeichen ist Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine ‚Bedeutung‘, einen ‚Sinn‘, der mit dem Zeichen ‚ausgedrückt‘ ist. In vielen Fällen kann man nicht einmal sagen, das Zeichen ‚bezeichne‘ das, wofür es ein Zeichen genannt wird. Und selbst wo diese Sprechweise statthaft ist, ist zu beobachten, daß das Bezeichnen nicht immer als jenes ‚Bedeuten‘ gelten will, welches die Ausdrücke charakterisiert. Nämlich Zeichen im Sinne von Anzeichen (Kennzeichen, Markzeichen u. dgl.) drücken nichts aus, es sei denn, daß sie neben der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen. [...] Das Bedeuten ist nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige.“26 „Von den anzeigenden Zeichen“, so Husserl mit einer klaren Aussage, „unterscheiden wir die bedeutsamen, die Ausdrücke.“ 27 Husserl versucht diese eindeutige Unterscheidung dann aufgrund der Bewusstseinsphilosophie zu verdeutlichen. Er reserviert den Ausdruck für den intentionalen Akt des Bewusstseins, der als unmittelbare Selbstäußerung allen Zeichen vorausgeht, während jedes Zeichen eine im Bewusstseinsakt konstituierte bestimmte Bedeutung oder einen bestimmten Sinn erst durch seine Äußerlichkeit bzw. Materialität vermittelt und transportiert. Diese zwei Momente differenziert Husserl wie folgt: „Zum gesprochenen Wort, zur mitteilenden Rede überhaupt wird die artikulierte Lautkomplexion (bzw. das hingeschriebene Schriftzeichen u. dgl.) erst dadurch, daß der Redende sie in der Absicht erzeugt, ‚sich‘ dadurch ‚über etwas zu äußern‘, mit anderen Wor25 26 27 „Jeder Schritt ist hier notwendigerweise zweischneidig. Und angenommen, man könnte der Metaphysik eines Tages einfach entkommen, was ich nicht glaube, so wird der Begriff des Zeichens in diesem Sinne zugleich als hemmende und als vorantreibende Kraft gewirkt haben. Denn obwohl er von seinem Ursprung und seinen Implikationen her durch und durch metaphysisch und auf systematische Weise mit den stoischen und mittelalterlichen Theologien engstens verwandt ist, haben doch die Verarbeitung und die Verschiebungen, denen er unterworfen – und für die er merkwürdigerweise auch das Werkzeug – war, ent-grenzende Wirkungen gehabt: Sie haben die Kritik an der metaphysischen Zugehörigkeit des Zeichenbegriffs ermöglicht, haben es erlaubt, die Grenzen, in denen dieser Begriff entstanden ist und zu wirken begonnen hat, gleicherweise zu markieren und zu lockern, um ihn somit bis zu einem gewissen Grad seinem angestammten Boden zu entreißen.“ (J. Derrida, Positionen, 52f). E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Bd. 1. T., 30. Ebd., 37. 20 ten, daß er ihr in gewissen psychischen Akten einen Sinn verleiht, den er dem Hörenden mitteilen will.“28 Auf dieses „in der Absicht erzeugen“ und „mitteilen wollen“ wirft Derrida einen besonderen Blick und legt es als Bedeutung, Sinn-verleihung des Bewusstseinsaktes oder als ein „Sichselbst-sagen-Wollen“ (vouloir-dire) aus.29 Der Aus-druck der Bedeutung meint also das selbstbezogene Verhältnis und Vorgehen des Bewusstseins. Diese Ausdrucksfunktion, in der rein psychischen Sphäre, im intentionalen Akt, sich über etwas zu äußern, kommt für Husserl den sprachlichen Zeichen nicht zu, die insofern Anzeigen sind, als sie der Bedeutung gegenüber eine nachgeordnete Funktionsstellung einnehmen. Die Ausdrücke der Bedeutung werden zu bloßen Anzeichen, sobald sie die bedeutungskonstitutive Innensphäre, „das transzendentale Bewusstsein“, verlassen. Aus demselben Grund bleibe auch das intersubjektive Gespräch oder die kommunikative Rede dem Bereich unmittelbarer Ausrücke außen vor. Wenn man in der Bedeutungskonstitution den funktionellen Zusammenhang zwischen einem innerlich vorausgehenden und einem äußerlich nachträglichen Moment in Augenschein nimmt, „erkennt man sofort, daß alle Ausdrücke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren.“30 Um der reinen Ausdrucksfunktion willen muss, so Derrida, „der Bezug zu anderen suspendiert werden.“31 Husserl reduziert die Anzeigen und beschränkt sein Zeichenkonzept auf sie. Damit schneidet er in der Tat die Ausdrücke aus dem Bereich des Zeichens heraus, wie Derrida feststellt, sodass letztlich „trotz der Eingangsunterscheidung von Anzeichen und Ausdruck für Husserl nur das Anzeichen tatsächlich als Zeichen gilt. Der erfüllte Ausdruck – d. h. [...] die erfüllte Intention des Be-deutens – geht nicht zusammen mit dem Begriff des Zeichens.“32 Für Husserl ist der Ausdruck kein bloßes Zeichen, weil er nicht nachträglich für etwas steht, sondern in ihm die Intention und die Bedeutung unmittelbar und gleichzeitig zur Erfüllung gelangen. Deswegen bezieht Husserl den bedeutenden Akt des intentionalen Bewusstseins lediglich auf das „einsame Seelenleben“. Die reine und formale Funktion des Ausdrucks vollzieht sich als ein zu sich selbst sprechender Monolog: 28 29 30 31 32 Ebd., 39. Vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 69; 84ff. E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Bd. 1. T., 40. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 94. Ebd., 96. 21 „In der monologischen Rede können uns die Worte doch nicht in der Funktion von Anzeichen für das Dasein psychischer Akte dienen, da solche Anzeige hier ganz zwecklos wäre. Die fraglichen Akte sind ja im selben Augenblick von uns selbst erlebt.“33 Damit wird deutlich, was für Husserl und in den Augen Derridas die Präsenz ist: die Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit von Bewusstseinsakt und dessen Erleben. In der Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit ist die Bedeutung der das Bewusstsein zwar überschreitenden aber intendierten Gegenständen „präsent“. Der Ausdruck der Bedeutung in der Innensphäre des Subjekts bedarf daher keiner Mitteilung, keiner Vermittlung und keiner Zeichen, unabhängig davon, ob die vermeintlichen Worte existieren oder nicht. Die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Anzeichen steht und fällt im Wesentlichen mit der Präsenz. Derrida interpretiert dies so: „Jeder Diskurs oder, besser, all das im Diskurs, was nicht unmittelbar die direkte Präsenz des bezeichneten Inhalts herstellt, ist un-ausdrücklich. Der reine Ausdruck aber ist die reine aktive Intention (Geist, Psyche, Leben, Wille) eines Bedeutens*, das einen Diskurs mit präsenter Bedeutung beseelt*. Präsent freilich nicht in der Natur – denn dort wie im Raum überhaupt kommt nur die Anzeige vor –, sondern im Bewußtsein, präsent also einer Intuition oder einer ‚inneren‘ Wahrnehmung, aber präsent nur derjenigen Intuition, die im Rahmen einer Mitteilung niemals die des anderen sein kann – wir haben den Grund dafür gesehen; präsent demnach nur dem Sich-selbst im Leben eines Präsenten, das sich noch nicht aus sich heraus in die Welt, den Raum und die Natur entlassen hat.“34 Mit dem Begriff der Präsenz kommen also die metaphysischen Strukturen, die Derrida als binär-oppositionell identifiziert – hier z. B. Innen/Außen, Geist/Natur, unmittelbar/vermittelt –, ins Spiel. Und es lässt sich leicht erkennen, dass dem Ausdruck allein die Stimme, die weder sprachliches noch schriftliches Zeichen ist, unmittelbar nahe steht. In den Blick kommt damit der Zusammenhang zwischen dem auf die Präsenz gerichteten Denken und dem oben erwähnten Merkmal der klassischen Metaphysik, dem Phonozentrismus. Die Präsenz ist die „Selbst-Affektion“ der sich im Sprechen selbst vernehmenden Stimme, in dem Sinne, dass „das sprechende Subjekt sich im Präsens vernimmt“, dass „der Sprecher sich vernimmt: daß er die sinnliche Form der Phoneme wahrnimmt und zugleich seine eigene Ausdrucksintention versteht.“35 Hinsichtlich dieser Selbstpräsenz stellen bei Husserl der Ausdruck, der Bewusstseinsakt und die Stimme dieselbe transzendentale Phänomenalität dar, die vor der „Mundani33 34 35 E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Bd. 1. T., 43. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 94. * im Original deutsch. Ebd., 135. 22 tät“ der Welt geschützt werden und universale Idealität bleiben soll.36 Die Geschichte der Präsenz, die allein auf die undifferenziert und unmittelbar sich ausdrückende, „phänomenologische Stimme“37 und auf „die absolute Reduktion des Raums“38 begründet ist, kommt nach Derrida dann zu ihrer „Abgeschlossenheit“, dass die Universalität der reinen Selbst-Affektion in der Stimme, das heißt die Absolutheit als ein „Sich-nahe-Sein des Wissens im Bewußtsein“39 in der Selbstpräsenz zugleich ihren eigenen Tod bedeutet: „Die Geschichte der Präsenz ist zum Abschluß gekommen. Denn ‚Geschichte‘ hat immer nur folgendes gemeint: ‚Gegenwärtigung‘ des Seins, Produktion und Sammlung des Seienden in der Präsenz als Wissen und als Herrschaft. Da die erfüllte Präsenz die Unendlichkeit als absolute Selbstpräsenz im Mit-Bewußtsein (con-science) zur Bestimmung (vocation) hat, ist die Vollendung des absoluten Wissens das Ende des Unendlichen, das allein die Einheit des Begriffs, des Logos und des Bewußtseins in einer differänzlosen Stimme sein kann. Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute Sich-sprechen-hören-Wollen. Und diese Geschichte gelangt zum Abschluß, wenn dieses unendliche Absolute sich als sein eigener Tod erscheint.40 Zu diesem ungewöhnlichen Resultat kommt Derrida dadurch, dass er Husserls Zeichenkonzept eine Wendung verleiht, die Unreduzierbarkeit des Zeichens als eine „Verflechtung* von Anzeichen und Ausdruck unwiderruflich irreduzibel und prinzipiell unentwirrbar“41 exponiert. Nach Husserls Unterscheidung des Zeichens ist die Präsenz dort nicht präsent, wo es sich um die Anzeige handelt. Umgekehrt zeigen die Zeichen nur an, wenn die Bedeutung als SagenWollen des Bewusstseins absent ist. Den konstituierten Sinn von der Intentionalität trennend, nehmen die Anzeichen den Bezug auf das fremde, andere Leben auf sich, wobei aber damit die Unmittelbarkeit der Selbstpräsenz eingeklammert wird. Anzeigen, oder für unsere Problematik genauer: die anzeigende Sprache, findt, so Derrida, „immer dann statt, wenn der sinnstiftende Akt, die beseelende Intention, die belebende Geistigkeit des Be-deutens nicht völlig präsent sind. Und tatsächlich ist, wenn ich dem anderen zuhöre, mir ‚persönlich‘ sein Erlebnis 36 37 38 39 40 41 Vgl. ebd., 136f. Ebd., 85. Als phänomenologische Stimme interpretiert Derrida die Husserls Lautsubstanz des Ausdrucks, weil sie keine physische Stimme ist, weil sie „sich als nicht-äußerlicher, nicht-weltlicher, also nicht-empirischer oder nicht-kontingenter Signifikant gibt“. (J. Derrida, Grammatologie, 19). J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 136. Ebd., 163. Ebd. Ebd., 79. * im Original deutsch. 23 nicht ursprünglich präsent.“42 Jeder Diskurs, in dem mein Erlebnis einem anderen kundgetan werden soll, wird durch die physische Materialität der Rede, durch anzeigende Zeichen, vermittelt, die notwendigerweise die Abwesenheit der Präsenz und also eine Nicht-Präsenz voraussetzen. Es gilt für Derrida gerade diese innere Struktur offenzulegen, um der Privilegierung der Präsenz den Boden zu entziehen. Dies aber bedeutet letztlich, dass jede Präsentation schon in sich eine Repräsentation und jede Präsenz eine Nichtpräsenz impliziert. Dies macht Derrida daran deutlich, dass er auf die Bezeichnetheit in jeder präsenten Bedeutung hinweist. Ausgehend von der Herabsetzung des Zeichens zu einer bloß vermittelnden Mitteilung, die anders als beim Erleben im einsamen Seelenleben keine unmittelbar präsente Bedeutung besitzt, unterscheidet Husserl weiter zwischen der vorgestellten Phone im phantasierten Selbstgespräch und den realen Zeichen bzw. Wörtern. Diese Unterscheidung wird aber erschüttert, wenn sich zeigen lässt, dass jedes Zeichen notwendigerweise eine ideale Identität besitzen muss. Derrida bezieht seine Argumentation auf den Begriff der Wiederholung, den er in Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie ausgeführt hat. Bedeutung und Zeichen sind nach Derrida untrennbar miteinander verbunden, denn jedes Zeichen setzt die Wiederholbarkeit voraus, um überhaupt als Zeichen zu fungieren. Damit aber diese Wiederholung als solche statthaben kann, das heißt damit das Zeichen als solches immer aufs Neue wieder erkannt werden kann, muss es sich stets in seiner idealen Identität hervorbringen und zugleich zerstören. Insofern ist die gegenwärtigen Präsentation der Bedeutung von Anfang an der Wiederholung, das heißt der Repräsentativität des Zeichens ausgeliefert, was aber zugleich eine Entfernung von der ursprünglichen Präsenz bedeutet. Die Idealität der Präsenz, die von jeder Kontingenz und Heterogenität ungetrübt im transzendentalen Bewusstsein hervorgebracht werden soll, ist unvermeidlich mit dem Zeichen verwickelt; die Präsenz geht notwendiger Weise mit der Nicht-Präsenz einher.43 Die Dekonstruktion wendet sich gleicherweise dem Präsenzbegriff im Zeitbewusstsein zu, sofern in ihm die Selbstpräsenz in einem Augenblick, das heißt in einem „Nu“ vollzogen wird. Hier bedeutet Präsenz eine Gleichzeitigkeit, in der mittels der Wahrnehmung die Punktualität eines Augenblicks gezeitigt wird, als eine Präsenz, die durch Vergegenwärtigung oder Präsentation des Vergangenen und des Zukünftigen (der Retention und der Protention) konstituiert wird. Doch die Einheit der augenblicklichen Vergegenwärtigung ist bereits in sich ge- 42 43 Ebd., 92. Vgl. ebd., 101ff. 24 spalten, weil der primären Erinnerung (Retention) schon eine sekundäre Erinnerung im Sinne einer vom jetzigen Augenblick verschiedenen Nicht-Wahrnehmung vorausgehen lassen muss. „In der Retention“, so Derrida, „trägt also die Wahrnehmung vermittelnde Präsentation ein Nicht-Präsentes, ein vergangenes und inaktuelles Präsens mit sich.“44 Diese unaufhebbare Beziehung zwischen der Nichtpräsenz und der Präsenz widersetzt sich Husserls Abwertung des Zeichens, die seine Trennung zwischen Ausdruck und Anziege impliziert. Die von ihm herausgestellte innige Vertrautheit mit sich selbst ist nach Derrida viel abgründiger und komplizierter als Husserl dies je zugestehen würde: „Wenn man einmal diese Kontinuität des Jetzt und des Nicht-Jetzt, der Wahrnehmung und der Nicht-Wahrnehmung in der Ursprungszone, in die sich die ursprüngliche Impression und die Retention teilen, zugesteht, so muß man auch dem anderen in der Selbstidentität des Augenblicks* stattgeben: der Nicht-Präsenz und der Inevidenz im Augenblick des Augenblicks (dans le clin d’oeil de l’instant). Im Augenblick waltet eine Dauer, die das Auge verschließt. Diese Andersheit ist die allen daraus sich möglicherweise ergebenden Dissoziationen vorausgehende Bedingung der Präsenz, der Präsentation und damit der Vorstellung* überhaupt.“45 Diese interne Bewegung, in der die Präsenz und die Nichtpräsenz differenzierend hervorgebracht wird und damit der Gedanke einer transzendentalen Bedingung überhaupt erst möglich wird, nennt Derrida die différance, die er an anderer Stelle folgendermaßen charakterisiert: „Die Bewegung der Differänz (des Aufschubs) kommt nicht zu einem transzendentalen Subjekt hinzu. Vielmehr erzeugt sie dieses erst. Die Selbst-Affektion ist keine Erfahrungsmodalität, die ein bereits zuvor als Selbst (autos) verfaßtes Seiendes charakterisierte. Sie bringt das Selbst als Beziehung zu sich in der Differenz mit sich, das Selbst als das Nicht-Identische hervor.“46 Es ist die différance, die das transzendentale Subjekt durch ihre differenzierende Bewegung erzeugt. Insofern ist die Aussage, die Nicht-Präsenz sei die Bedingung der Präsenz oder das Nicht-Identische die des Identischen, nur zum Teil richtig. Mit dieser Umkehrung – die nicht einer dialektischen Gegenüberstellung gleicht – wird das Husserlsche Zeichenkonzept von Innen heraus erschüttert, und damit auch die Geschichte der Metaphysik selbst, die hier noch einmal als Bewusstseins- und Präsenzphilosophie zu einem Höhepunkt gelangt. 44 45 46 Ebd., 119. Zur Erörterung dieser Problematik auch vgl. P. Völkner, Derrida und Husserl, 69-87. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomem, 120f. * im Original deutsch. Ebd., 140. 25 Wie Derridas Auseinandersetzung mit Husserls Zeichenkonzept exemplarisch zeigt, ist die Dekonstruktion eine interne Kritik, die aufgrund einer sehr subtilen und intensiven Rekonstruktion die gesamte Struktur eines geschlossenen Innenbereichs hinfällig macht. Die hierarchische Überordnung des Ausdrucks gegenüber der Anzeige destruierend, gelangt Derridas Dekonstruktion zu einem emphatischen Zeichenbegriff, den sie allerdings, vor allem in der Grammatologie selbst wieder ins Visier nimmt. In beiden Arbeiten greift Derrida auf die Errungenschaften semiologischer und phänomenologischer Forschungen zurück, die er aber selbst noch einmal dekonstruiert.47 1.4 Die Nullpunkte Die Dekonstruktion greift die Bastille der Metaphysik an, die darin die geheimnisvollen Schatzkammern des Sinns und des Signifkats zu bewahren glaubt. Ihre Gänge und Strukturen sind Derrida zufolge nach einer bestimmten Mechanik aufgebaut, die alle Zeichen und Signifikanten aufgrund ihrer Materialität als bloße Äußerlichkeit oder Derivation ihrer selbst herabsetzt, um sich derart in ihrer reinen Innerlichkeit zu schützten. Den geheimen Ort, das transzendentale Signifikat, an dem alles beginnt und von dem her alle Teile ihren Sinn gewinnen sollen, gibt es nicht, weil es nicht möglich ist, ihn zu erreichen und zu entbergen. Denn der Anfang ist bereits im Innersten durch eine differenzierende Bewegung geteilt und wird es immer gewesen sein. Nur die Spuren, das heißt nur die supplementären Remarkierungen leiten den Weg, der aber nicht einmal vorweggenommen werden kann. Das Denken der Präsenzmetaphysik, dem es auf die Suche nach dem Ursprung und Grund und auf die diese repräsentierenden Ordnungen ankommt, „stößt zwangsläufig darauf, daß es nicht so gekommen ist, wie es sollte.“48 47 48 Zwischen den beiden Arbeiten über den Husserlschen und Saussureschen Zeichenbegriff besteht eine Verwandtschaft, was auch in der jeweiligen Durchführung der Dekonstruktion deutlich wird: „Man könnte zeigen, daß die Metaphysik immer darin bestanden hat, der différance die Präsenz des Sinns unter diesem oder einem anderen Namen entreißen zu wollen; und jedesmal, wenn man vorgibt, ein Gebiet oder eine Schicht des reinen Sinns oder des reinen Signifikats exakt herauszuschneiden und zu isolieren, macht man denselben Schritt. Und wie konnte eine Semiotik – als solche – einfach ohne jeden Rückgriff auf die Identität des Signifikats auskommen? Man macht dann aus der Beziehung zwischen Sinn und Zeichen oder zwischen Signifikat und Signifikant eine Beziehung der Äußerlichkeit, genauer, dieses wird, wie bei Husserl, die Äußerung* oder der Ausdruck* von jenem. Die Sprache wird als Ausdruck bestimmt – hinausgeworfen aus der Intimität eines Drinnen – und man findet hier alle Schwierigkeiten und Voraussetzungen wieder, von denen vorhin im Zusammenhang mit Saussure die Rede war.“ (J. Derrida, Positionen, 74f). G. Bennington, Jacques Derrida, 23. 26 Wenn die Spaltung ursprünglicher ist, wenn ihr nichts vorausgeht, wäre es dann noch möglich, auf einen sichern Ausgang zurückzugreifen, von dem aus die weiteren Wege geführt werden könnten? Jeder Anfang bliebe dann dem Zufall überlassen. Ist somit die Dekonstruktion, deren Motto man mit „ohne Anfang, ohne Ende!“ umschreiben könnte, nur auf Fragmente angelegt, die jeweils zufällig sind? Jede Begründung von und Bestimmung zu einer einheitlichen Kohärenz scheint der teuflischen Spirale von Unbestimmtheit und Beliebigkeit nicht entkommen zu können, wie dies Z. Bauman bemerkt: „Das Vorurteil, gegen das Derrida die Waffen richtet, ist die Abneigung gegen den Zufall; der Schrecken vor dem Kontingenten, der den langen Marsch zur vollkommenen und unwandelbaren Ordnung ausgelöst und motiviert hat, zur gewaltsamen Herrschaft der Notwendigkeit und der kognitiven Transparenz der vorhandenen Welt [...], die alle ihren Kulminationspunkt in dem Planungs / Ordnungs / Gärtner-Ehrgeiz der Moderne haben. [...] Jede Bemühung um Bestimmung endet in mehr Unbestimmtheit; jeder Versuch zu kodieren, zu überkodieren, zu fixieren, muß gleichzeitig die Gesamtsumme (wenn man hier von Summe sprechen kann) des Zufalls und der Unbestimmtheit vermehren.“49 Doch die Dekonstruktion findet nicht zufällig und willkürlich statt. Irgendwo muss sie ansetzen, ihren Anfang nehmen, auch wenn „es unmöglich wäre, einen bestimmten Ausgangspunkt vor allen anderen zu rechtfertigen.“50 Ein absoluter Anfangspunkt ist nicht geben. Der Rekurs auf einen ursprünglichen Ausgang, von dem aus alle Ordnungen abgeleitet und rekonstruiert werden, erweist sich als unmöglich, denn die anfängliche Einheit und Kontinuität ist abgebrochen, aber dennoch muss der Anfang irgendwo angefangen haben. Und gerade in dieser Möglichkeit des Unmöglichen verbirgt sich ein verdoppelnder Vollzug. So schreibt Bennington: „Mit dem ‚Anfang‘ anfangend, haben wir aber gerade nicht mit dem Anfang angefangen: alles hatte bereits begonnen.“51 Stets irgendwo zu beginnen, ohne zu wissen, wo, zu antizipieren und zu programmieren, das ist die Notwendigkeit der Dekonstruktion. Aber dieses N/irgendwo ist kein bloßes oder beliebiges: „Der Einstieg in die Dekonstruktion, der weder willentliche Entscheidung noch absoluter Anfang ist, findet nicht irgendwo, aber auch nicht von einem absoluten Woanders her statt. Gerade als Einstieg hebt er sich nach den Kraftlinien und den zum Bruch tendierenden 49 50 51 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, 232. J. Derrida, Grammatologie, 281. G. Bennington, Jacques Derrida, 27. 27 Kräften, die innerhalb des zu dekonstruierenden Diskurses geortet werden können, heraus.“52 Diese Aufbrechung des dekonstruktiven Anfangs im bereits Begonnenen deutet S. Kofman in Derrida lesen als „Spiel aus Zufall und Notwendigkeit“. Ein Anfang in einem Diskurs bzw. in einem Text wird wie ein erster Würfelwurf gesetzt, und damit ist ein Spiel eröffnet, das Spiel der Schrift, das den Regeln einer strengen „Notwendigkeit“ gehorcht, „die eher von der Kraft assoziativer Anziehung als von der rationalen Logik abhängt. [...] Jeder Würfelwurf entwirft (construit) ein Spiel, das offen und geschlossen zugleich ist – eine Konstruktion, die nach Dekonstruktion und Konstruktion eines neuen Spiels in Unschuld verlangt. Weil der erste Ausdruck (terme) kein Keim (germe) ist, der potentiell das in sich trüge, was durch das Spiel zur Ausführung gelangte, sondern weil er seinen eigenen Tod einschließt, verlangt er immer schon das Supplement: Das Spiel ist ohne Grenze. Skandiert wird das Spiel von Schlägen (coups), von Gongschlägen, die den Auftakt einer neuen Konstruktion anzeigen; auf rhythmische Weise verbinden sich Schläge mit vorausgegangenen Schlägen, deren Echo sie bewahren.“53 Die Dekonstruktion verfolgt also die Notwendigkeit des ereignishaften Spiels, das sich nicht auf eine lineare Logik oder ein systematisches Bauen der Ordnungen, sondern auf eine Radikalität von vorausgegangenen und nachträglichen Schlägen einlässt. Jeder Signifikant, jeder Text und Diskurs arbeitet nur an den Spuren von Spuren. Also kann kein Anfang, kein Ende punktiert werden. Es wäre Wahnsinn. Auf diesem Weg gebe es für den nach dem vernünftigen Grund und Halt Suchenden nur ein „wahnsinnige(s) Umherirren“54. Für die weitere Erhellung dieser Verrücktheit liefert uns ein kleiner Text Derridas aufschlussreiche Aspekte: Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur. Dieser Text ist dem Architekten Bernard Tschumi und dessen Projekt der „Verrücktheiten“ (folies) im Park La Villette in Paris gewidmet. In dieser architektonischen Arbeit erkennt Derrida philosophische Ähnlichkeit mit der Dekonstruktion. Gewöhnlich und herkömmlich soll jede Architektur sinnhaft sein, das heißt, sie soll Sinn und Bedeutung repräsentieren. Sie folgt genau der Struktur des metaphysischen Denkens, sofern sie einem sinngemäßen Zweck unterstellt wird und dabei Innen und Außen klar unterscheidet. So kann man ohne weiteres in der dreidimensiona- 52 53 54 J. Derrida, Positionen, 154f. S. Kofman, Derrida lesen, 38f. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 93. 28 len Perspektive jenen Bezug deutlich in den Blick bekommen, der Signifikat und Signifikant, Zeichen und Bedeutung miteinander verbindet. Lebensnah und tief fundiert „ist der fundamentalste Begriff der Architektur konstruiert worden. Diese eingebürgerte Architektur ist uns überliefert, wir bewohnen sie, sie wohnt uns inne, wir denken, daß sie zur Wohnstatt bestimmt ist, und das ist für uns kein Gegenstand mehr.“55 Dieses tradierte und in Stein zementierte Konstruktum der Architektur ist nach Derrida vor allem auf vier Säulen der Unveränderlichkeit gebaut. Erstens sollte sich ein Werk der Architektur an der Ökonomie bemessen, die das Wohnen, die Präsenz der Menschen und der Götter bestimmt. Zweitens sollte die Organisation der Architektur auf die Anamnese des Ursprungs und die Schicht eines Grundes angewiesen werden, sodass sie als politisch-juridisches oder religiöses Gedächtnis die zentrierte Hierarchie im Stein oder im Holz errichtet haben wird. Drittens sollte sich die Architektur immer nach dem Prinzip der arch-hieratischen Ordnung richten. Sie sollte sich nach der Zweckmäßigkeit, nach der Teleologie der Wohnstatt in Betrieb oder in Dienst verfügen. Und viertens sollte diese ganze Ordnung letztlich dem Wert der Schönheit, Harmonie, Totalität unterliegen.56 Natürlich laufen alle diese vier Punkte, die die Fundamente der gut aufgerichteten Architektur bilden müssen, auf jenes Denken hin, nach dem ein Werk, ein Signifikant, Sinn und Bedeutung darstellen und repräsentieren soll, wobei zwischen dem Werk und dem Dargestellten bzw. Repräsentierten die Unterscheidung von Außen und Innen als architektonisches Prinzip fungiert. Der so konstruierte Begriff der Architektur könnte auch als Festung der Metaphysik bezeichnet werden, die es daher zu dekonstruieren gilt. Dieser metaphysischen Konfiguration leisten die dekonstruktiven Arbeiten des Architekten Widerstand. Eine dekonstruktive Architektur ist aber mehr als bloßes Zerstören, Fragmentieren und schließlich Nihilieren. Sie wird in einem Raster der unendlichen Punkte bewerkstelligt, die „einen metonymischen Bezug“ der Verräumlichung aufrecht halten und dennoch keine auf eine sich selbst präsentierende Innerlichkeit verweisende Anhaltspunkte liefern, wie die oben genannten. Sie sind – der Benennung des genannten Architekten zufolge – „Verrücktheiten“ (Folies), „Nullpunkte“ der Verrücktheit: „Unter diesem Eigennamen sind die ‚Verrücktheiten‘ in der Tat ein gemeinsamer Nenner, der ‚größte gemeinsame Nenner‘ dieser ‚programmatischen Dekonstruktion‘. Aber weiter 55 56 J. Derrida, Am Nullpunkt der Verrücktheit, 218. Ebd., 219-220. 29 noch, bleibt der rote Punkte jeder Verrücktheit seinerseits teilbar, Punkte ohne Punkte, in seiner gegliederten Struktur offen für kombinatorische Substitutionen oder Permutationen, die ihn ebenso auf andere Verrücktheiten wie auf seine eigenen Teile beziehen. Offene Punkte und geschlossene Punkte!“57 Im Raster dieser Nullpunkte der Verrücktheit ereignet sich ständig Zerstreuung und Versammlung zugleich, und diese unaufhörliche Serie des Ereignisses ist wie ein Spiel des Würfelwurfs, sind diese Punkte doch stets wie Würfel. Das räumliche Raster, das die in sich leeren und nicht zentrierten Nullpunkte bilden, bahnt den Weg und schafft Verräumlichung, in der sich jeder Punkt sich selbst negierend auf den anderen Punkt bezieht. Auf diesem Weg herrscht aber nur Umherirren und scheinbare Zufälligkeit, weil es keine vorhandenen Wege und Regeln gibt. Aber notwendigerweise liegen die Kräfte, Wege zu bahnen und Würfelspiele zu betreiben, darin, durch Ritzen durchzudringen, den Raum und die Zeit zu dissoziieren. Ein geradezu gewagtes Durchqueren und „Disjunktieren“ ist notwendig für alle kommenden, wenn auch unvorhersagbaren Möglichkeiten der „Architektur“. Die Bahn und das Gewebe ist, auch wenn es schon begonnen hat, nicht gegeben, sondern deren Struktur und Gesamtheit muss durch die jedes Kontinuum destabilisierenden Bruchmomente, „durch eine Serie von Unzeiten [contretemps], von rhythmisierten Anachronien oder aphoristischen Abschweifungen“58 erst erfunden werden. Eine Dekonstruktion der Architektur wäre also etwa folgendes: „Man kann aus einer einfachen Verschiebung [déplacement] oder dem bloßen Zufall [dislocation] kein Werk machen. Man muß also erfinden. Man muß eine Passage für eine andere Schrift bahnen. Ohne auf die dekonstruktive Affirmation zu verzichten, deren Notwendigkeit wir erprobt haben, um sie aufs Gegenteil zurückzuwerfen, hält diese Schrift das Dis-jungierte als solches aufrecht, verbindet sie das Dis-, indem sie die Abweichung aufrechterhält, versammelt sie die Differenz. Diese Versammlung wird singulär sein. Was die Gesamtheit aufrechterhält, hat nicht notwendigerweise die Form des Systems, es untersteht nicht immer dem Architektonischen und kann der Logik der Synthese oder der Ordnung einer Syntax auch nicht gehorchen. Das Jetzt [maintenant] der Architektur wäre die59 ses Manöver, um das Dis- einzuschreiben und daraus ein Werk als solches zu machen.“ So gesehen sind hier jene philosophische Gedanken in der architektonischen Perspektive ausgeführt, die Derridas Schrift- und Zeichenbegriffe beschreiben. Die Nullpunkte stehen jenem Augenblick des Augenblicks nahe, der als ein ab- und aufschließendes Just die Differenzen 57 58 59 Ebd., 217f. Ebd., 227. Ebd., 228. 30 hervorbringt, auf das die Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik hinweist. Nur sind hier die Züge der Verräumlichung noch deutlicher verfasst, als dies Derrida bereits in seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie ins Werk gesetzt hatte.60 Die Dekonstruktion destruiert intensiv und unnachgiebig Ordnung, Struktur, System, Wohnung, in denen Identität, Bedeutung, Wahrheit, Präsenz, ja transzendentales Signifikat vermeintlich zu Hause sind. Die Dekonstruktion ist aber mehr als ein Nihilismus.61 Was mit und nach der Dekonstruktion bleibt, ist nicht eine verwüstete Ruine. Sie lässt immer wieder, also unaufhörlich, die Nullpunkte supplementieren, die ein Raster bilden, in dem ein Text, ein Diskurs erst erfinderisch gewebt wird. Jeder Nullpunkt ist ein Bruchpunkt, ein verräumlichendes Trennungsmoment; aber nur eine solche Unterbrechung hält so zerstreuend die Versammlung, Kombination, Transformation und den Bezug zu anderen zusammen. Auf diese Art und Weise lassen die Nullpunkte eine offene Vielheit entstehen, die im metaphysischen Gebäude von Gut/Böse, Innerlichkeit/Äußerlichkeit, Möglichkeit/Unmöglichkeit, Totalität/Fragmente, Ursprung/Derivat usw. keinen Platz hat. Hier gibt es nur die Nullpunkte, deren Wesen und Funktion ein „double bind“62 ist, in dem eine Ökonomie des Unentscheidbaren waltet. Solches Denken dürfte nicht einmal an einem Ort sesshaft bleiben. Die Dekonstruktion beraubt jede Wohnstätte ihres Fundaments und führt sie in eine Wüste von Nullpunkten und verleiht damit dem Denken seine Lebendigkeit und Beweglichkeit. 60 61 62 Vgl. dazu K. Mai, Die Phänomenologie und ihre Überschreitungen, 231-297. Bezüglich Tschumis Arbeit bringt Derrida diese Sicht wie folgt zum Ausdruck: „Diese Verrücktheiten zerstören nicht. [...] Nichts findet sich hier von jener nihilistischen Geste, die im Gegenteil ein gewisses Motiv der Metaphysik erfüllte, kein Umsturz der Werte hinsichtlich einer unästhetischen, unbewohnbaren, unnützen, asymbolischen und bedeutungslosen Architektur, die einfach nur leerstehend wäre nach dem Rückzug der Götter und Menschen. Und die Verrücktheiten – wie die Verrücktheit im allgemeinen – sind alles andere als das Chaos einer Anarchie.“ (J. Derrida, Am Nullpunkt der Verrücktheit, 222f). Vgl. J. Derrida, Psyché, 162ff; ders., Glas, 76f; ders., Am Nullpunkt der Verrücktheit, 229-230. 31 2 Dekonstruktion konstruktiv 2.1 Weder/noch und sowohl/als auch Die Dekonstruktion verlangt nicht nach einer Beständigkeit der metaphysischen Präsenz. Sie träumt nicht mehr davon, um in dem oben verwendeten Bild zu bleiben, eine imposante Burg aus transzendentalen Signifikaten zu errichten und von ihrer Mitte her der Welt Sinn und Bedeutung zu verleihen. Die Dekonstruktion trägt eindeutig destruktive Züge, was sie vor allem an der Kritik der Präsenzmetaphysik zeigt. Und dennoch mündet Derridas Dekonstruktion nicht in einen reinen Nihilismus. Sie ist mehr als eine nihilistische Geste. „Die Dekonstruktionen wären“, so Derrida, „schwach, wenn sie negativ wären, wenn sie nicht konstruieren würden“1. Immer neu endet und beginnt die Dekonstruktion an „Nullpunkten“, an denen ständig Spuren auf die anderen Spuren verweisen und dadurch einen Raster bilden, in dem das Spiel der „Verräumlichung“ stattfindet. So gesehen ist die Dekonstruktion eine Konstruktion, die von den destruktiven Operationen generiert wird, auch wenn diese Konstruktion wiederum der Destruktion ausgesetzt wird, sobald sie sich in den Grenzen eines Diskurses festzusetzen droht. Wie am Anfang bereits betont, sind Destruktion und Konstruktion aufeinander angewiesen; die eine lebt von der anderen her und umgekehrt. Dies herausgestellt, soll es jetzt darum gehen, die konstruktiven Aspekte der Dekonstruktion zu sondieren. Dabei wird deutlich werden, dass Derridas Dekonstruktion weder auf eine Methode noch auf einen Inhalt verweist bzw. dass sie sowohl das eine als auch das andere ist. Sie ist beides zugleich, weil sie diesseits/jenseits einer solchen Grenzziehung operiert. Auf die Frage, auf welche Weise die Dekonstruktion tatsächlich wirksam ist, ließe sich wie folgt antworten: „Sie ist weder eine Attacke auf die etablierten, geschriebenen, befürworteten Systeme noch das Errichten solcher Systeme. Sie nimmt weder eine Position wie jene von Hegel ein, wo Systeme konstruiert werden, noch jene von Kierkegaard, wo Systeme unter Attacke gestellt werden. Die Dekonstruktion ist in dieser Hinsicht mehr wie analytische Philosophie, 1 J. Derrida, Am Nullpunkt der Verrücktheit, 226. 32 insofern als sie die Grenzen des wissenschaftlichen Wissens erkundet, ohne selbst vorzuschlagen, ein metaphysisches Ersatzschema anzubieten. Die Dekonstruktion liefert jedoch keine Untersuchung der Gültigkeit des propositionalen Inhalts. Sie legt vielmehr ihren Platz an der Verbindungsstelle von Attacke und Systemerrichtung fest, an dem Ort, wo ein metaphysisches Schema geboten wird und wo es sich selbst in der Schrift, in einem philo2 sophischen Text, in der Produktion von Textualität, begrenzt/definiert.” Die „Methode“ ist für Derrida ein metaphysischer Begriff, dem zufolge der Leser oder Wissenschaftler von einem außerhalb des Textes liegenden Standpunkt aus und mittels eines geradelinigen Verfahrens auf ein Ziel hin zu ordnen vermeint. Diese „Fiktion“ aber wird gerade durch die Dekonstruktion dekonstruiert3. Denn die Grenze, die die klassische Metaphysik zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu ziehen und also mittels einer Ausschließung des Äußeren zu sichern und zu kontrollieren versucht, „verläuft durch das Innere eines jeden Textes, und zwar auf eine für jeden Text spezifische Weise.“4 Das Spiel der Schrift, die différance, ist für Derrida in jeden Text eingeschrieben. 2.2 Différance als Prinzip und Kraft der Dekonstruktion Die „différance“ ist letztlich das, was die Dekonstruktion erzeugt und worauf sie verweist. Sie ist aber auch so etwas wie eine Kraft, die die Dekonstruktion von Innen her antreibt. Man könnte also die différance als Prinzip und Kraft der Dekonstruktion bezeichnen. Für Derrida „bündeln“ sich in der différance die verschiedenen Richtungen und Kraftlinien, auf die er in verschiedenen Texten Bezug genommen und mittels derer er sein Denken zu entfalten versucht hat. Er spricht hier bewusst von einem „Bündel“, „um zu verdeutlichen, daß die vorgeschlagene Zusammenfassung den Charakter eines Einflechtens, eines Webens, eines Überkreuzens hat, welches die unterschiedlichen Fäden und die unterschiedlichen Linien des Sinns – oder die Kraftlinien – wieder auseinanderlaufen läßt, als sei sie bereit, andere hineinzuknüpfen.“5 Dadurch, dass die différance die Differenzen hervorbringt und als eine solche generative Bewegung immer schon am Ursprung des Sinns zu Werke ist, steht sie grundsätzlich dem 2 3 4 5 H. J. Silverman, Textualitäten, 94f. Vgl. J. Derrida, Dissemination, 304. S. Kofman, Derrida lesen, 36. J. Derrida, Die différance, 32. 33 Schriftbegriff nahe. Aus demselben Grund kann die „Schrift“ selbst als différance bezeichnet werden, denn im Spiel der Differenzen geht es nicht zuletzt auch darum, „einen neuen Schriftbegriff zu schaffen. Man kann ihn gramma oder différance nennen.“6 Die différance als Name des neuen Schriftbegriffs lässt sich aber nicht in einer „Philosophie der Differenz“ erschöpfen. Unter diesem Aspekt stellt H. Kimmerle Derrida neben Philosophen wie Adorno, Heidegger, Deleuze, Lyotard, Irigaray und Kristeva, um deutlich zu machen, dass man sie mehr oder weniger in bestimmten gemeinsamen Ausgangspunkten und Linien zusammenschließen könnte.7 Er zeigt dabei auch, dass sich das „Denken der Differenz“ nicht einfach unter ein postmodernes Denken subsumieren lässt. Dies würde aber nicht bedeuten, dass sich der Begriff der différance als prominentes Beispiel für eine Philosophie der Differenz vereinnahmen lässt. Diesbezüglich macht H. Kimmerle selbst an anderer Stelle eine behutsame Annäherung zur Philosophie Derridas.8 Die différance steht also nicht einseitig für die Andersheit des Anderen und des Verschiedenen. Sie bezeichnet vielmehr eine ursprünglichere Bewegung und Kraft, die es im Folgenden etwas näher zu beleuchten gibt. Zunächst ist festzuhalten, dass die différance von jeder ontologischen Kategorie abweicht. Sie ist für Derrida weder Seiendes noch Sein, denn beides hat mit einer Vergegenwärtigung zu tun, die nach der aneignenden Erfüllung des Seins und somit des Sinns strebt. Insofern also die différance immer neu die glückliche Erfüllung der augenblicklichen Präsenz aufschiebt und also nichts anderes als dieses Spiel der Aufschiebungen ist, hat sie in sich keine Existenz und kein Wesen. Dies bringt Derrida in der kreuzweise durchgestrichenen Formel „ ist “ zum Ausdruck: „Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend, offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtig Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens des Anwesenden. Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das ‚ ist ‘ durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. [...] In jeder Exposition wäre 6 7 8 J. Derrida, Positionen, 66. Vgl. H. Kimmerle, Philosophien der Differenz. „Die Differenz denken, heißt danach: nicht identifizieren, das Andere und das Verschiedene nicht zurückführen auf dasselbe und das Gleichartige. Deshalb wäre es auch in sich widersinnig, das Differenzdenken als einheitliche, als solche anweisbare philosophische Strömung zu kennzeichnen. Das Denken der Differenz kann nur selbst different, differierend sein und nicht stets wieder dasselbe. Deshalb sprechen wir genauer von Derridas Philosophie der Differenz, die aber auch nicht dieselbe ist und bleibt, sondern nur als sich wandelnd ist, was sie ist.“ (H. Kimmerle, Jacques Derrida zur Einführung, 17). 34 sie dazu exponiert, als Verschwinden zu verschwinden. Sie liefe Gefahr zu erscheinen: zu 9 verschwinden.“ Es ist nicht schwer zu erkennen, dass hier auch Derridas Kritik der Präsenzmetaphysik wieder zum Vorschein kommt. Über die statische Einheit der auf sich selbst verweisenden Präsenz hinaus ist die différance jene Kraft und Bewegung des verweisenden Verschwindens, die erst Einheit und Differenz herstellt. Sie ist also nichts anderes als ein Spiel von Spuren. Um dies noch zu verdeutlichen, führt Derrida eine semiotische Analyse des Wortes „différance“ durch. Diese kann freilich nur „vorläufig“ und „approximativ“ sein , denn für ihn lässt sich die Beschreibung der différance „nicht einfach wie eine philosophische Rede entwickeln, die nach einem Prinzip, nach Postulaten, Axiomen oder Definitionen verfährt und sich entlang der diskursiven Linearität einer Ordnung von Begründungen verschiebt.“10 Eine Beschreibung der différance bedeutet unter diesen Bedingungen eine strukturell unüberwindliche Komplexität. Dieser Situation zum trotz unternimmt Derrida den „strategischen“ und „kühnen“ Versuch einer semantischen Analyse als „Zeichnung“ der différance.11 Wir fassen diese Analyse kurz zusammen: Sie bezieht sich zunächst auf den verbalen Ursprung der différance. Das Verb „différer“ (lateinisch differre) bedeutet zunächst, „etwas auf später verschieben“, „aufschieben“, „verzeitlichen“, was Derrida auch „Temporisation“ nennt. Im gewöhnlichen Sinn heißt es aber auch „differieren von“, „abweichen von“, „anders sein“, „erkennbar sein“ usw. Neben diesen polysemischen Bedeutungen verweist das a des Partizip Präsens „différant“, auf eine Aktivität des différer, noch bevor dabei überhaupt eine Unterscheidung oder Wirkung produziert wird. Und die Endung -ance (insbesondere im Französischen zum Beispiel „mouvance“ oder „résonance“) verweist auf ein Geschehen, das sich sowohl dem Aktiv als auch dem Passiv entzieht. Die différance ist „weder einfach aktiv noch passiv“, sie ist eher eine „mediale Form“, die „eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, [...], weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken lässt.“12 9 10 11 12 J. Derrida, Die différance, 34. Ebd., 35. „Alles in der Zeichnung der différance ist strategisch und kühn. Strategisch, weil keine transzendente und außerhalb des Feldes der Schrift gegenwärtige Wahrheit die Totalität des Feldes theologisch beherrschen kann. Kühn, weil diese Strategie keine einfache Strategie in jenem Sinne ist, in dem man sagt, die Strategie lenke die Taktik nach einem Endzweck, einem Telos oder dem Motiv einer Beherrschung, einer Herrschaft und einer endgültigen Wiederaneignung der Bewegung oder des Feldes. Eine Strategie schließlich ohne Finalität [...].“ (ebd., 35). Ebd., 37. 35 Dieser Deutung zufolge geht die différance also über Aktivität und Passivität hinaus und fungiert als Prinzip der Erzeugung dieser Differenz. Damit wird nochmals deutlich, dass es sich bei der différance nicht einfach um eine Umkehrung der oppositionellen Begriffe der Metaphysik wie aktiv/passiv, Subjekt/Objekt u. ä. handelt. Solche gegensätzliche Begriffspaare werden „unwesentlich“, „(a)n dem Punkt, wo der Begriff der différance – und alles, was mit ihm verkettet ist – ins Spiel kommt“13. Die différance wird also von Derrida wesentlich ursprünglicher gedacht als jeder transzendentale Begriff. Gleichwohl ist sie aber auch nicht ein in einer Linearität auf sich zurückführbarer Ursprung. Ihr kommt der Name „Ursprung“ nicht mehr zu, weil sie nicht ist. Sie ist kein in sich stehender und auf eine Äußerung wartender statischer Punkt, sondern sie kommt erst mit dem Spiel der Spuren – in ihm die Differenzen produzierend – in Bewegung. Obwohl die différance die Differenzen produziert, wirkt sie dennoch nicht wie eine Ursache. Diese Differenzen sind, so Derrida, „produzierte Effekte, deren Ursache nicht ein Subjekt oder eine Substanz, eine Sache im allgemeinen, ein irgendwo gegenwärtiges und selbst dem Spiel der différance entweichendes Seiendes ist.“14 Damit wird nicht nur das Privileg der Präsenz und deren Zuweisung an irgendeine transzendentale Größe, sondern auch die markierte Trennung von Aktivität und Passivität, von Ursache und Wirkung unterlaufen. Und an dieser Stelle treten dann die entscheidenden Momente der différance, nämlich „Verräumlichung“ und „Temporisation“ in Erscheinung. Mit diesen Begriffen versucht Derrida das zu verdeutlichen, was die différance ereignen lässt und wie sie als Prinzip und Kraft der differenzierenden Differenzierung wirkt. Die différance ist eine aufschiebende/aufgeschobene – Aktivität und Passivität zugleich – Bewegung, die durch diesen Aufschub das räumliche und zeitliche Intervall ermöglicht und dadurch die Differenzen als Effekte produziert. Die beiden Momente der Verräumlichung und Temporisation gehören dabei untrennbar zusammen. Derrida beschreibt diesen Komplex wie folgt: „Die différance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ‚gegenwärtige‘ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt, [...]. Ein Intervall muß es trennen, was es nicht ist, damit es selbst sei, aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst trennen und so mit der Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, das heißt, in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, be13 14 J. Derrida, Positionen, 71. J. Derrida, Die différance, 40. 36 sonders die Substanz oder das Subjekt. Dieses dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall ist es, was man Verräumlichung nennen kann, Raum-Werden der Zeit oder Zeit-Werden des Raumes (Temporisation). Ich schlage vor, diese Konstitution der Gegenwart, als ‚originäre‘, und in irreduzibler Weise nicht-einfache, [...], Urschrift, Urspur zu 15 nennen. Diese (ist) (zugleich) Verräumlichung (und) Temporisation.“ Im Hintergrund dieser Beschreibung steht bereits das, was Derrida in Die Stimme und das Phänomen eingehend ausgeführt hat. Deutlicher tritt uns hier allerdings der temporisierende und verräumlichende Aufschub entgegen, der anders als in einem herkömmlichen Denken der Differenz die „radikale Unterschiedenheit“ entstehen lässt. Nach dem Begriff der différance erscheinen nun das Eine und das Andere in Unterscheidung und Aufschub auf eine dekonstruktive Weise, und auf diese Weise können dann alle metaphysischen Begriffen wiederhergestellt werden: „das Intelligible als von dem Sinnlichen sich unterscheidend (différant), als aufgeschobenes Sinnliches (différé); der Begriff als unterschiedene/aufgeschobene – unterscheidende/aufschiebende Intuition (différée – différante); die Kultur als unterschiedene/aufgeschobene – unterscheidende/aufschiebende Natur (différée – différante); jedes andere der Physis – techne, nomos, thesis, Gesellschaft, Freiheit, Geschichte, Geist und so weiter – als aufgeschobene Physis (différée) oder als unterscheidende Physis (différante). Physis in différance.“16 Demnach könnte man sagen, dass auch die Subjektivität sowie die Objektivität Produkte und Effekte der différance sind. Und gleiches gilt natürlich auch für die Präsenz. So ist alles im Spiel der différance, der nichts vorausliegt.17 Mit diesen Kriterien – wenn man so sagen darf – geht Derrida in dem genannten Aufsatz auf seine philosophischen Vorgänger Hegel, Nietzsche, Freud und Lévinas, aber vor allem auch auf Heidegger ein, dessen Begriff der „ontologischen Differenz“ er in dekonstruktiver Weise bearbeitet. Die Seinsvergessenheit ist nach Heidegger die Vergessenheit des Unterschieds zwischen Sein und Seienden. Derrida aber geht weiter und sagt, dass nicht nur dieser Unterschied verschwunden ist, ohne eine Spur zu hinterlassen, sondern dass selbst die Spur des Unterschieds untergegangen ist. Denn im metaphysischen Text in seiner Gestalt des Anwesens ist der Unterschied geborgen, bewahrt, aber zugleich verschwunden. In ihm kann der Unterschied nicht als solcher zum Vorschein kommen. Die différance ist, wie gesagt, das Spiel der Spur, die nicht ist, die selbst nie auftritt, die als solche aber „sich unaufhörlich in 15 16 17 Ebd., 42. Ebd., 47. Vgl. j. Derrida, Positionen, 70. 37 eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst“18 und zu der darum das Erlöschen und Verschwinden als generative Kraft gehört. Deshalb gibt es für différance keinen Namen, sei es das Sein oder die Wahrheit oder auch andere metaphysische Namen. Denn als solche gehört sie nicht in den Horizont des Seins, ja sie sogar „‘älter‘ als die ontologische Differenz oder als die Wahrheit des Seins.“19 Gerade der Buchstabe a in différance, den Derrida an die Stelle von dem eigentlichen e eingeschrieben hat, zeigt deutlich diese Unbenennbarkeit der différance. Diese Veränderung, der Unterschied zwischen den beiden Wörter ist aber beim Aussprechen nicht hörbar, sondern nur erkennbar in der geschriebenen Schrift. Nicht die Phonè, sondern die Schrift macht die Differenz, und die différance als neuer Schriftbegriff läuft, auch wenn sie unbenennbar bleibt, deswegen dennoch nicht auf eine mystische Dunkelheit oder eine nihilistische Geste hinaus. Abgesehen davon, dass Derrida mit ihm über Saussuresche Überlegungen hinausgeht, zeigt das Kunstwort „différance“ deutlich die Dynamik und Eigentümlichkeit der dekonstruktiven Operation. Im Spiel der différance, in der wiederholenden Bewegung der Temporisation und Verräumlichung, werden die Differenzen hergestellt, und damit konstituiert sich je neu die Bedeutung, die aber niemals das Selbe oder der Ursprung selbst ist. Sie ist nichts als eine Spur, die durch Abweichungen, Verschiebungen und durch das Abwesendwerden gewesen sein wird. In ihrem Verstoß gegen die Orthographie schwankt sie als Relation von Identität und Differenz. Das rein graphische A, das doch die Differenz an sich nicht vernehmen lässt und darum von Anfang an keine Identität oder kein transzendentales Signifikat an sich präsent macht, steht als stumme Pyramide, als schweigendes Denkmal20 und verweist auf „die Ökonomie des Todes“21, auf die Spuren der Abwesenheit, auf das Spiel der différance, da jedoch keine zu erfüllende Leere, sondern die Kraft ist, „die das in seiner Zerstreuung versammelte System aufrechterhält“22. 18 19 20 21 22 J. Derrida, Die différance, 55. Ebd. 51. Zum Verhältnis zwischen der différance und der ontologischen Differenz bei Heidegger, vgl. ebd., 51-56. Ebd., 32. Ebd. G. Bennington, Jacques Derrida, 80. 38 2.3 Das produktive Parasitäre Es liegt auf der Hand, dass die Dekonstruktion sich jedem Versuch einer Definition entzieht und sich keiner bestimmten Methodologie verschreibt. Sie setzt sich dem ständigen Wechsel der Perspektiven und dem Weben der verschiedenen Elemente aus, ohne sich auf ein Programm oder bestimmtes Ziel festzulegen. Nur so wird die von Derrida häufig verwendete Formulierung verständlich, die Dekonstruktion sei weder dieses noch jenes oder gar in sich Nichts. Derridas Dekonstruktion zeigt ihren auffälligsten Charakter vor allem in dem, was man als „parasitäres Vorgehen“ bezeichnen kann. Dekonstruktion ist eine parasitäre Praxis, die nicht eine eigenständige Position einnimmt, sondern sich in anderen Diskursen bewegt und in ihnen lebt.23 Bevor wir die Begriffe „Parasit“ oder „Parasitäres“ an Hand von Texten näher zu erörtern versuchen, gilt zunächst festzuhalten, dass Derrida die Schrift selbst auch in Kontext des Parasitären begreift. Wie bereits gesehen wurde die Schrift innerhalb des präsenzmetaphysischen Logo- bzw. Phonozentrismus immer wieder als gefährliches Supplement, vatermörderischer Bastard, kontaminierendes Mittel oder auch unzulänglicher Parasit abgewertet. Und diese Abwertung der Schrift hat nach Derrida eine lange philosophische Tradition, die, von Platon an, auf einer dualen Logik von Innerlichkeit/Äußerlichkeit basiert. In einer Lektüre von Platons Phaidros fasst Derrida diese Logik in all ihren Aspekten wie folgt zusammen: „Die Reinheit des Drinnen kann daraufhin nur dadurch wiederhergestellt werden, daß unter der Kategorie eines unwesentlichen und nichtsdestoweniger dem Wesen schädlichen Supplements, eines Überschusses, der nicht hätte kommen und sich der unangeschnittenen Fülle des Drinnen hinzufügen müssen, die Äußerlichkeit angeklagt wird. Die Wiederherstellung der inneren Reinheit muß also das rekonstituieren, rezitieren, [...], dem das pharmakon sich nicht hätte, es so buchstäblich parasitierend, zusätzlich hinzufügen müssen: als Buchstabe, der sich im Inneren eines lebenden Organismus installiert, um ihm seine Nahrung zu nehmen und die reine Hörbarkeit einer Stimme zu stören. Solcher Art sind die Bezüge zwischen dem Schriftsupplement und dem logos-zōon. Um letzteren vom pharmakon zu heilen und den Parasiten zu vertreiben, muß man das Draußen an seinen Platz zurückversetzen. Das Draußen draußen halten. [...] Die Schrift muß also wieder zu dem werden, was 23 Vgl. J. D. Caputo, Mysticism and transgression, 30. 39 zu sein sie niemals hätte aufhören dürfen: ein Zusätzliches, ein Zufälliges, ein Überschießendes (un accessoire, un accident, un excédent).“ 24 In der platonischen Tradition wird also die Schrift als ein die innere Reinheit des Logos verstellende und bedrohende Operation mit einem Pharmakon verglichen, das in der Ambivalenz seiner Bedeutung sowohl für Heilmittel wie auch für Gift stehen kann. Die Schrift im Sinne eines Pharmakon ist als äußerliches Hilfsmittel der Sprache, der Ordnung der Stimme und des Logos gegenüber marginal und zerstörerisch. Und gleiches gilt für das, was man einen Parasiten nennt: derjenige, der neben und mit einem anderen mit-ißt und nur auf dessen Kosten lebt.25 Als Parasit ist die Schrift also etwas Abnormales, Unselbstständiges und Mißlungenes, und „die Ordnung der Schrift“ ist demzufolge eben „die Ordnung der Exteriorität, des zusätzlichen, des ‚nebensächlichen‘, des ‚nicht-eigenständigen Hilfsmittels‘“26. Um das pharmakon als parasitus auszutreiben, muss es sich aber schon im Innern eingenistet haben. Ein Parasitus, ein uneingeladener Gast, ist zwar immer unerwartet, er muss aber zugleich stets angekommen sein, um Mitessender zu sein. Derrida weist in einem nicht pejorativen Sinne darauf hin, dass ein Parasit „ein vom Staat, von den Geschenken der Stadt erhaltener Bürger“ ist oder auch „ein Priester sein kann, der den weihenden Priestern bei bestimmten Riten der Kirche hilft und sich zu ihren Mahlzeiten eingeladen sieht.“27 Damit ist auf eine wesentliche Seite seiner konstitutiven Struktur hingewiesen, nämlich dass das bedrohliche und darum abzuwehrende Äußerliche schon vom Inneren selbst Besitz ergriffen hat. Das eigenständig Innere hängt bereits von seiner Ergänzung, das heißt von dem, was als der ungebetene Gast draußen bleiben sollte. Die positive und negative Bedeutung des Parasiten lässt daher nicht mehr streng unterscheiden. Die Logik der Grenzziehung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Gutem und Bösem wird also unterminiert. Derrida schreibt: „(D)aß man den guten Parasiten und den schlechten Parasiten nicht in aller Strenge gegenüberstellen oder unterscheiden kann, wie man gerne möchte; noch zwischen Gut und Böse allgemein. Das Schlechte ist nicht das Gegenteil des Guten. Es ist sein supplementärer Parasit. Und wenn es Spiel und différance (mit a) beim Essen gibt, im Mit-Essen, im ‚mit‘ selbst, im para-, im ‚neben‘, dann parasitiert der Parasit sich selbst und ist total hybrid; alle Grenzen verwischend und zuvorderst die Grenze, die ihn von sich selbst trennt. Diese kann 24 25 26 27 J. Derrida, Dissemination, 144f. Zur Etymologie und Bedeutung des Parasiten in den verschiedenen Bereichen vgl. C. Jost, Die Logik des Parasitären, 3f und auch hier Anm. 1. J. Derrida, Grammatologie, 94. J. Derrida, Die Signatur aushöhlen – eine Theorie des Parasiten, 32. 40 daher den guten Parasiten nicht vom schlechten trennen, nicht den Freund vom Feind, kann den inneren Feind nicht vom äußeren Feind trennen et cetera. Mit der Grenze überschreitet der Parasit somit die Bedeutung. Er wirft Bedeutung selbst über den Haufen. Er verwirrt 28 die Einheit oder die universelle Identität der Bedeutung.“ Die parasitäre Äußerlichkeit ist die Bedingung der Innerlichkeit. Ähnlich wie bei anderen Begriffen wird auch hier der Begriff des Parasiten einer Sinnverschiebung ausgesetzt. Was für die Spur oder das Supplement gilt, gilt entsprechend für das Parasitäre. Und insofern ist das Parasitäre für Derrida auch ein wesentliches Merkmal der Schrift. Die herkömmliche Denkstruktur, welche die Schrift als Parasitäres herabsetzt, lässt sich nach Derrida auch in J. Austins Sprechakttheorie finden, mit der er sich vor allem in dem Text Signatur Ereignis Kontext auseinandersetzt. Nach Derrida betrachtet Austin Sprechakte vor allem als Akte der Kommunikation und macht nur jene performativen Sprechakte zum Gegenstand seiner sprachtheoretischen Analyse, die mit den Aussagen auch eine Handlung hervorbringen. Dabei schließe er aber alle jene Äußerungen als parasitär aus, die dem Mißlingen ausgesetzt sind bzw. keine geglückten Handlungen hervorbringen, wie zum Beispiel das Zitat auf der Bühne oder in einem Gedicht.29 Ungeachtet des Problems, dass Austins Sprechakttheorie in grundlegender Weise auch den Ideen der Intentionalität wie „Univozität des Ausgesagten“, „Selbstgegenwärtigkeit eines totalen Kontextes, Transparenz der Intentionen, Anwesenheit des Meinens in der absolut einzigartigen Einmaligkeit eines speech act und so weiter“30 verhaftet bleibt, stellt das Parasitäre für Derrida geradezu die innere Möglichkeitsbedingung des Gelingens des Sprechaktes dar. Denn ohne eine allgemeine Zitierbarkeit, ohne eine allgemeine Iterierbarkeit gäbe es auch keinen gelungenen performativen Sprechakt – also keine Möglichkeit von Sprache überhaupt –, und insofern bleibt die unauflösbare Verflochtenheit zwischen den eigentlichen performativen Äußerungen und den täuschenden parasitären Aussagen wesentlich für die Sprache. Das Äußere und Parasitäre spaltet von Innen her das Original und wohnt diesem inne. Und diese Kraft des Bruchs ist nach Derrida der Schrift eigentümlich, wie wir bereits in den Begriffen der Verräumlichung und der Temporisation gesehen haben. Diese Kraft des Aufschubs und des Bruchs ist, so Derrida, „kein akzidentelles Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst.“31 28 29 30 31 Ebd., 33. Vgl. J. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 340-345. Ebd., 345. Ebd., 335. 41 Derrida praktiziert das Gesetz des Parasitären, das heißt die Ökonomie der Schrift, in seinem Schreiben insgesamt. In diesem „parasitären Vorgehen“ innerhalb von Textgeweben liegt die produktive Seite der Dekonstruktion. Ausgehend von dem, was am Rande eines Textes liegt, dem Marginalen und Unscheinbaren, durchquert Derrida den Körper eines Texte, um dessen Innern nach Außen zu kehren. Auf diese Weise wird die gesamte Struktur, die dem Denken der klassischen Metaphysik zugrunde liegt, offengelegt. Dadurch lässt das parasitäre Vorgehen die vorhandenen Texte letztlich in einem anderen Kontext lesen und stellt folglich einen neuen, eigentümlichen Text her. Beeindruckende Beispiele dieser parasitären Vorgehensweise sind etwa in den Arbeiten Derridas zu Husserl, Saussure und Platon, wie wir oben bereits gesehen haben. Durch das Parasitäre dekonstruiert werden aber auch Texte von Eckhart, Descartes, Kant, Hegel, Nietzsche, Freud, Heidegger, Sartre, Lévinas, Foucault usw.32 Sind all diese Arbeiten Derridas aber nur als sekundäre Kommentare und in ihrer Eigenschaft des Parasitären daher nur als etwas Unvollständiges, Defizitäres, Ergänzendes oder gar Verfälschendes zu verstehen? Wie immer man diese Frage beantworten mag, unbestritten bleibt jedenfalls, dass im Verfahren der Dekonstruktion die Texte einer Subversion unterworfen werden, durch die sie in produktiver Weise neu gewoben werden. Die Dekonstruktion lässt sich daher als eine „konsequente Form produktiver Nicht-Eigenständigkeit“ beschreiben, die „weder Derridas enormen Einfluß verhindert, noch der Entstehung seiner Reputation als ausnehmend origineller Denker im Weg gestanden [hat].“33 Die alten metaphysischen Begriffe durch eine Sinnverschiebung zu dekonstruieren und die klassischen Texte mit Hilfe supplementärer Parasiten von Innen her neu zu weben, dies ist die konkrete Art und Weise, mit der Derridas Dekonstruktion voranschreitet. Diese Vorgehensweise entspricht weniger einer strenge Methode als vielmehr dem Modell einer Bastelei (bricolage), die sich Derrida in Anlehnung an Lévi-Strauss für seine Arbeit zu Nutzen macht. Es geht um die Nutzbarkeit und Grenze der (alten) Werkzeuge: „Der Bastler [...] ist derjenige, der ‚mit dem, was ihm zur Hand ist‘ werkelt. Diese Werkzeuge findet er in seiner Umgebung vor und kann sich ihrer sogleich bedienen, sie sind schon da, wenn sie auch nicht speziell für das Vorhaben entworfen wurden, für das sie jetzt verwendet werden und für das man sie behutsam zuzurichten versucht; man zögert nicht, sie, wenn nötig, auszuwechseln oder mehrere gleichzeitig auszuprobieren, auch wenn ihr 32 33 Vgl. H. Silverman (Hg.), Derrida and Deconstruction, New York – London, 1989. J. Lagemann, Dem Zeichen auf der Spur, 46. 42 Ursprung oder ihre Form einander fremd sind usf. Im Bild der Bastelei ist also eine Kritik der Sprache enthalten, und man hat sogar sagen können, daß die Bastelei die kritische Sprache [...] selbst sei. [...] Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe dem Text einer mehr oder weniger kohärenten oder zerfallenen Überlieferung entlehnen zu 34 müssen, dann muß man zugeben, daß jeder Diskurs Bastelei ist.“ Auf das Paradox, dass man sich der alten Werkzeuge bedienen muss, um neue zu erfinden, sind wir bereits in der Problematik bezüglich der „Abgeschlossenheit“ der Metaphysik gestoßen. Je nach dem zu behandelnden Stoff und je nach dem Text verwendet der Bastler jeweils verschiedene Werkzeuge, ja verschiedene Perspektiven, Begriffe, Methoden usw. Daher geht auch die Behauptung fehl, die Dekonstruktion ziele darauf hin, einfach das Alte durch Neues zu ersetzen oder mit einer zielgerichteten Methode innere Strukturen von außen her anzugreifen. „Die Dekonstruktion hat“, so Derrida, „notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen, und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, sich ihrer strukturell zu bedienen, daß heißt, ohne Atome und Elemente von ihr absondern zu können. Die Dekonstruktion wird immer auf bestimmte Weise durch ihre eigene Arbeit vorangetrieben.“35 Die Dekonstruktion ist in sich selbst Nichts, weder eine Methode noch irgendein bestimmbarer Inhalt. Sie entzieht jedem metaphysischen Namen. Und dennoch eine Art Produktion, die das Andere in seiner Differenz her- und darstellt. Für diese dekonstruktive Kraft und Bewegung ist nach Derrida unter den alten Begriffen allein der Begriff der Schrift angemessen, auch wenn dieser dabei immer einer Intervention und einer „Dissemination“ ausgesetzt bleiben muss. Mit einem ziemlich langen Zitat aus einem Text, den Derrida „mit seiner Signatur“36 auf die supplementierende Iteration und unendliche Pfropfung hin gesendet hat, schließen wir dieses Kapitel ab, um im nächsten Kapitel eine solche Sendung weiter zu bearbeiten: „Die Dekonstruktion kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmittelbar dazu übergeben: sie muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, ei34 35 36 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 431. J. Derrida, Grammatologie, 45. Die meistens mit einem Datum und einem Ort datierte Signatur markiert das vergangene Jetzt-Hier-Sein des unterschreibenden Augenblicks und somit die Abwesenheit des Autors. Um wiederholt zu werden, muss sie notwendig von dem Träger gelöst werden. Die Bedingung der Möglichkeit, „die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses“ in einer festgehaltenen Unterschriftsform reproduziert zu werden, ist gleichzeitig „die Bedingung ihrer Unmöglichkeit, der Unmöglichkeit ihrer strengen Reinheit. Um zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muß eine Unterzeichnung eine wiederholbare, iterierbare, nachahmbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion lösen können. Ihre Gleichheit ist es, die, indem sie Identität und Einmaligkeit verfälscht, das Siegel spaltet.“ (J. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 349) 43 ne doppelte Schrift eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken. Allein unter dieser Bedingung wird die Dekonstruktion sich die Mittel verschaffen, um in das Feld der Oppositionen, das sie kritisiert, und das auch ein Feld nicht-diskursiver Kräfte ist, eingreifen zu können. Jeder Begriff gehört andererseits zu einer systematischen Kette und konstruiert selbst ein System von Prädikaten. [...] Zum Beispiel umfaßt die Schrift als klassischer Begriff Prädikate, die von Kräften und nach Notwendigkeiten, die zu analysieren sind, subordiniert, ausgeschlossen oder einbehalten wurden. Diese Kräfte sind es [...], deren Kräfte der Generalität, der Generalisation und der Generativität befreit und auf einen ‚neuen‘ Schriftbegriff aufgepfropft wird, der ebenfalls dem entspricht, was stets gegen die alte Organisation der Kräfte resistiert hat, was stets den Rest konstituiert hat [...]. Diesem neuen Begriff den alten Namen Schrift zu lassen, heißt, die Struktur des Pfropfreises, den Übergang zu und das unerläßliche Festhal37 ten an einem wirksamen Eingriff in das konstituierte historische Feld zu bewahren.“ 2.4 Die Textualität des Textes Philosophieren heißt für Derrida in erster Linie einen Text oder eine Textfamilie dekonstruktiv weben. In der Dekonstruktion geht es also um Texte, nicht nur weil sich die meisten Vorträge Derridas auch auf tradierte Schriften beziehen, sondern weil sich sein Unternehmen überhaupt grundsätzlich auf Texte konzentriert. Auch wenn sich jeder Anfang immer in einer Spur befindet und daher kein absoluter Ausgangspunkt rechtfertigt werden kann, muss man irgendwo beginnen, „irgendwo“, „wo immer wir sind: schon in einem Text, in dem wir zu sein glauben.“38 Texte sind es, die vorliegen, zur Verfügung stehen und wieder zu neuen Texten führen. Daher sind auch die klassischen philosophischen Texte für Derrida nicht mehr im Sinne des Buches zu verstehen, das als ein vollendetes und einheitliches Werk in abgeschlossener Form vorliegt, sondern auch sie müssen als ein Text behandelt werden, der sich in seiner Textualität ständig weiter bewegt. Für Derrida, der nachdrücklich für das Ende des Buches und den Anfang der Schrift plädiert39, sprengt und öffnet der Begriff der Schrift die Geschlossenheit des Buches und damit auch die grundsätzliche Grenzziehung zwischen Philosophie und Literatur. 37 38 39 J. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 350f. J. Derrida, Grammatologie, 281. Vgl. ebd., 16ff. 44 Daher ist also der Text nicht mehr einfach mit dem Buch bzw. dem Werk gleichzustellen, sondern er steht vielmehr in seiner Textualität dem Begriff des Buches als eines zu interpretierenden Werkes entgegen. Die Textualität des Textes ist also ein weiteres entscheidendes Merkmal der Dekonstruktion, das es nun im folgenden näher zu untersuchen gibt. Es war vor allem Habermas, der Derrida vorgeworfen hatte, die Dekonstruktion reduziere die Philosophie auf Literatur. Habermas versteht die Dekonstruktion als einen postmodernen Versuch der Verabschiedung der Moderne und wirft ihr diskursive Ortlosigkeit und Einebnung der Gattungsunterschiede vor. Für ihn entzieht sich die Dekonstruktion wie auch die „Negative Dialektik“ und die „Genealogie“ „jenen Kategorien, nach denen sich das moderne Wissen keineswegs zufällig ausdifferenziert hat und die wir heute unserem Verständnis von Texten zugrundelegen“ und dabei werde „(d)as sperrige Gut“ „nur an einen anderen Platz verlagert, wenn wir das Bezugssystem wechseln und dieselben Diskurse nicht mehr als Wissenschaft oder Philosophie behandeln, sondern als ein Stück Literatur.“40 Abgesehen davon, dass sich Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Derrida im Kapitel VII und im Exkurs seines Der philosophische Diskurs der Moderne vorwiegend auf sekundäre Quellen stützt, ist sein Vorwurf auch inhaltlich nicht zutreffend und wurde von Derrida als verwirrendes Missverständnis zurückgewiesen. Derrida legt Wert darauf, dass er niemals von der Literatur im Allgemeinen und dass er keineswegs alles in einen homogenen Bereich verschmelzen will. Ihm gehe es vielmehr um die Grenze „in der kritischen Reflexion der Philosophie“41. Er schreibt: „Natürlich glaube ich, daß man die Rhetorik im philosophischen Diskurs analysieren muß, aber wenn man sich auf die Mythologie blanche oder andere philosophische Texte bezieht, so sieht man, daß ich niemals die Philosophie auf ein literarisches Genre reduzieren wollte. Was mich andererseits tatsächlich interessiert, das sind die Grenzen, die Probleme der Grenzen zwischen Philosophie und Literatur. Aber dieses Problem aufwerfen heißt nicht, die Philosophie auf eine Art Literatur zu reduzieren. Ich richte mich nicht mehr im Bereich der Literatur ein, als ich mich im Bereich der Philosophie eingerichtet habe. Im allgemeinen fehlt dem philosophischen Diskurs und besonderes dem von Habermas eine ausgear- 40 41 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 390. Dazu vgl. insbesondere seine direkte Auseinandersetzung mit Derrida im Kapitel „Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus“ und in dem „Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur“, 191-247. Vgl. J. Derrida, Positionen, 30. 45 beitete Aufmerksamkeit gegenüber der Schrift, gegenüber diesen so schwierigen Fragen 42 der Gattung und der Rhetorik.“ Bekanntlich hat Derridas Dekonstruktion einen großen Einfluss auf die Literaturtheorie bzw. Literaturwissenschaft vor allem im amerikanischen Raum ausgeübt, aus dem sich dann der so genannte literarische Dekonstruktivismus entwickelt hat.43 Dieser hat dann auch wesentlich zu Mißverständnissen und Verwirrungen über Derrida beigetragen, wie nicht zuletzt am Beispiel von Habermas zu sehen ist. Derrida aber distanziert sich von diesem amerikanischen Dekonstruktivismus und verwahrt sich dagegen, die Dekontruktion zu einer Methodologie der Lektüre oder der Interpretation zu machen: „Deconstruction is not a method and cannot be transformed into one. Especially if the technical and procedural significations of the words are stressed. It is true that in certain circle (university or cultural, especially in the United States) the technical and methodological ‚metaphor‘ that seems necessarily attached to the very word ‚deconstuction‘ has been able to seduce or lead astray. Hence the debate has developed in these circles: Can 44 deconstruction become a methodology for reading and for interpretation?“ Philosophische Schriften als Texte unter Texten zu behandeln wirft natürlich Probleme auf. Denn damit würden Rhetorik, Etymologie, Wortspiel, Metapher u. a. als wesentliche Elemente in den Vordergrund treten, was dann die Philosophie zu einer Form der Literatur machen würde. „Das Schockierendste an Derridas Arbeit“, so R. Rorty, „ist seine Verwendungen mehrsprachiger Wortspiele, scherzhafter Etymologien, aller möglichen Anspielungen und phonischer und typographischer Tricks“45. All diese genannte literarische Elemente wohnen aber nach Derrida den philosophischen Schriften als Texten inne und sind in ihnen als Parasiten bereits am Werk. Er geht davon aus, „daß es keinen literarischen Text gibt, der nicht ein philosophisches Element enthält, genausowenig wie es keinen philosophischen Text gibt, der nicht Schichten enthält, die der Rhetorik, der Fiktion, der Literatur zugeordnet sind“46. Die Schrift ist für ihn „der Begriff einer tex- 42 43 44 45 46 Ebd., 29f. Dazu vgl. vor allem U. Horstmann, Parakritik und Dekonstruktion. Eine Einführung in den amerikanischen Poststrukturalismus, Würzburg 1983; V. B. Leitch, Deconstruktive Criticism. An Advanced Introduction, New York 1983; P. V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel 1994. J. Derrida, Letter to a Japanese Friend, 3. R. Rorty, Philosophy as a Kind of Writing, 146/147. Zit. nach: J. Culler, Dekonstruktion, 159. J. Derrida, Positionen, 30. 46 tuellen différance“47, die in einem Text ständig Pfropfreise hervorbringt, alle Wortkeime an den Nullpunkten zugleich verbindet und zerstreut und letztlich den Text auf unendliche Lektüre sendet, das heißt disseminiert. Was so im und mit Text geschieht, ist für Derrida gerade die Bewegung der Schrift. In vielen philosophischen Texten sind literarische Elemente enthalten, die allerdings in der Tradition der Philosophie als sekundär und marginal behandelt wurden, für die Dekonstruktion aber oft wichtiger sind als die so genannten Philosopheme selbst. Zahlreiche Texte sind wie ein Mischgewebe, in dem ein Text auf den anderen Text oder so genannte marginale Passagen auf so genannte zentrale Passagen klassischer Texte aufgepfropft sind.48 Was Derrida als „Pfropfung“ bezeichnet, ist das, was die Logik und Praxis eines Textes, sei es ein philosophische oder literarischer Text, wesentlich ausmacht. „Schreiben heißt“ für Derrida „aufpfropfen (greffer).“49 Anders als das Buch ist der Text kein abgeschlossener und organischer Körper. Er ist aus einer Vielzahl von Pfropfreisen entstanden, die ihn von seinem Urheber lösen – vom Autor und seiner Signatur, aber auch von jedem bestimmten Kontext – und ihn offen machen wie ein unabschließbares Gewebe, in dem nicht mehr zu entscheiden ist, was das Texthaupt, was der Textrand und was vor oder außer dem Text ist. Die Logik des Textes entzieht sich der Unterscheidung zwischen Haupt und Glieder, Innen und Außen und entgleitet somit dem Rahmen der metaphysischen Logik. S. Kofman schreibt im Kapitel „Die Pfropf-Prozedur“ in Derrida lesen: „Der Text ist wie ein Leichentuch, in dem sich tausend Fäden verschiedener Herkunft kreuzen. Als Gewebe von Differenzen ist er immer heterogen. Dem platonischen Begriff des Korpus stellt Derrida einen aus Pfropfungen gebildeten Körper entgegen: ohne eigene 50 oder dominierende Teile, ohne Hauptkörper. Die Logik des Textes ist alogisch.“ Die alogische Praxis der textuellen Pfropfung zerstört also die Logik der traditionellen Metaphysik. Der Text lässt sich nicht mehr durch Unterscheidungen wie Autor/Leser, Sendung/Rezeption, Schreiben/Lesen usw. umkreisen, und daher ist auch nicht mehr zu entscheiden, was das Drinnen und was das Draußen eines Textes bzw. eines Kontextes ausmacht. Der Text knüpft sich an der Grenze zwischen Textinnerem und Textäußerem entlang und de47 48 49 50 Ebd. Exemplarisch sind für den ersten Fall Glas, „Die zweifache Séance“ in Dissemination, „Überleben“ in Gestade, für den zweiten Fall, vgl. aber auch „Ousia und gramme“ in Randgänge der Philosophie, „Cogito und Geschichte des Wahnsinns“ und „Freud und der Schauplatz der Schrift“ in Die Schrift und die Differenz. J. Derrida, Dissemination, 402. Zu Derridas semantischer Verbindung von greffe (Pfropfung) und graphe (Schriftzeichen) vgl. ebd., 226. S. Kofman, Derrida lesen, 15f. 47 konstruiert dabei ständig diese Grenze. An seinem Ursprung hat bereits „der Abgrund, der Un-Grund der unendlichen Vervielfältigung“ begonnen: „Das Andere ist im Selben.“51 Nun so wird verständlich, was Derrida meint, wenn er sagt, dass es kein Außerhalb des Textes gibt.52 Dies besagt also nicht nur, dass es kein transzendentales Signifikat gibt und alles nur ein Spiel der différance ist, sondern dass das Draußen schon im Drinnen ist und jeder Text durch die endlosen Pfropfungen geöffnet ist. Das Supplementäre und das Parasitäre sind nicht im Sinne eines Draußen des Drinnen zu verstehen, sondern sie sind vielmehr Pfropfreise im Inneren des Textes. Wo das Literarische anfängt und das Philosophische aufhört und umgekehrt, bleibt daher unentschieden. Die alogische Logik der textuellen Pfropfung ist keine andere als die der Supplemtarität. Ohne supplementäre Wiederholung, ohne wiederholendes Zitat, ohne textuelle Iteration, ohne weitere Pfropfungsprozedur ist ein Text kein Text. Die Verkettung und das Gewebe der Spuren ist „der Text, welcher nur aus der Transformation eines anderen Textes hervorgeht. Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.“53 Was einen Text in seiner Textualität ausmacht, sind Iterierbarkeit, Offenheit der Pfropfung, Unentscheidbarkeit, Supplementarität usw. H. Silverman, der innerhalb der Continental Philosophy verschiedene „Textualitäten“ – von Heidegger über Merleau-Ponty zu Derrida – in so unterschiedlichen Hinsichten wie der des Autobiographischen, des Photobiographischen, des Sichtbaren, des Skriptiven, des Philosophischen und des Institutionellen untersucht hat, bemerkt zu Dekonstruktion: 51 52 53 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 446. „Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine Anwesenheit noch eine Abwesenheit. Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes, der ohne Grenzen ist – ich habe deshalb gesagt, auch als scherzhafte Bemerkung, es gäbe kein Außerhalb des Textes –, folglich setzt dieser neue Begriff voraus, daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre, etwas, das nicht es selbst wäre, markiert durch textuelle différance, durch den Text als différance mit einem ‚a‘.“ (J. Derrida, Gespräch mit Peter Engelmann. Zit. nach: P. Engelmann, Einführung. Postmoderne und Dekonstruktion, 20f). J. Derrida, Positionen, 67. 48 „Der Text ist Schrift. Die Schrift ruft nach einer Lektüre. Die Lektüre erfordert eine Schrift, um einen eigenen Status zu haben. Die Schrift ist die Textualität des Textes. Schrift ist der an seine Grenzen gebrachte Text. Die Schrift ist weder der Produktionsakt eines Textes noch das Produzierte, sondern vielmehr das Geschehnis am Scharnier zwischen den zwei. Die Schrift ist der originäre Raum, in dem ein Text kommuniziert, disse54 miniert, entfaltet, inkorporiert, begrenzt, verwoben wird und so weiter.“ Die Dekonstruktion unterstellt sich notwendig einer – wenn auch alogischen – Logik der Textualität des Textes. Diese Textualität des Textes ist aber genau das, was Derrida mit dem Begriff der Schrift bezeichnen will. Die Textualität selbst gehört zur Struktur der Schrift. Die Schrift als différance, die in den Ursprung den Bruch und Raum bzw. die Verräumlichung einführt, ist die Bedingung und das Prinzip der Iteration, der Pfropfung und der Supplementierung im Text. Ein philosophischer Text, ja sogar jeder Text, ist eine Textur, ein Gewebe von Differenzen, Signaturen, Spuren, Pfropfreisen und Supplementen, die sich all in der Signifikantenkette der Schrift, das heißt in der différance, bewegen. Um dies deutlich zum Ausdruck zu bringen, verwendet Derrida den Begriff der „Dissemination“, den wir bereits oben an einigen Stellen verwendet haben. Der Begriff Dissemination, den Derrida von Mallarmé übernommen hat, bezeichnet die semantische Streuung des Zeichens, die Unmöglichkeit der Wiederaneignung der(selben) Identität, die Vielfältigkeit der Bedeutung usw. Die Dissemination ist die Streuung der Samen und Keime, die im unendlichen Spiel der différance ausgeworfen werden und jeweils neu als Sinn aufgehen, der aber zugleich gepfropft und supplementiert wird und somit nur eine Spur hinterlässt. In der Dissemination spricht sich die Schrift als différance aus. Der Text ist in das Feld der Schrift eingeschrieben und disseminiert sich in ihr. Darum ist die Dissemination, das Spiel der Schrift, mehr als ein Begriff und eine Polysemie, wie Derrida auf die Frage nach der Entwicklung dieses Begriffs betont: „Die dissémination, die différance der Samen (différance séminale) kann man deshalb nicht in ihrem begrifflichen Gehalt zusammenfassen, weil die Kraft und die Form ihrer Disruption den semantischen Horizont sprengen. Die Aufmerksamkeit, die der Polysemie oder dem Polythematismus geschenkt wird, stellt sicherlich einen Fortschritt gegenüber der Linearität dar, welche peinlich darauf bedacht ist, sich an dem bevormundenden Sinn, dem Hauptsignifikat des Textes oder auch an seinem wichtigsten Referenten festzuhalten. Trotzdem kommt die Polysemie als solche implizit im Hinblick auf eine einheitliche Wie54 H. J. Silverman, Textualitäten, 33. 49 derherstellung des Sinns, ja im Hinblick auf eine Dialektik zustande [...]. Die dissémination hingegen läßt sich, wenn sie eine nicht-endliche Anzahl von semantischen Effekten hervorbringt, weder auf eine Gegenwart einfachen Ursprungs [...] noch auf eine eschatologische Präsenz zurückzuführen. Sie bezeichnet eine irreduzible und generative Mannigfal55 tigkeit.“ Von daher ist die Dekonstruktion nicht einfach an die Seite der Hermeneutik zu stellen, die im Grunde „von einer teleologischen und totalisierenden Dialektik“ ausgeht, „die es zu einem gegebenen Zeitpunkt, und sei er auch noch so fern, ermöglichen soll, die Gesamtheit eines Textes als Wahrheit eines Sinns zusammenzufassen, was ihn als Ausdruck, als Illustration konstituiert und die offene und produktive Fortbewegung der Textkette lahmlegt.“56 Derridas Dekonstruktion und textuelle Arbeit steht eher „einer hermeneutischen Semiologie“ im Sinne einer „Juxtaposition“57 nahe, das heißt einer Position des Zwischen, die an den Grenzen einer unendlichen Kette semantischer Nullpunkte angesiedelt ist. Daher ist die Dekonstruktion auch nicht einfachhin mit einer poststrukuralistischen Position gleichzusetzen. Sie könnte eher als eine „Ontosemiologie“58 bezeichnet werden, die sich in ihrem Vorgehen immer auch noch auf dem Feld phänomenologischer Fragen angesiedelt wissen will. Derrida macht die Ergebnisse, die er aus seiner Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie gewonnen hat, zu einer wesentlichen Grundlage seiner Grammatologie, deren Ziel nicht zuletzt auch darin liegt, Saussure mit Husserl zu revidieren. Derrida gibt der Saussureschen Zeichentheorie eine „Husserlsche Korrektur“ bzw. er liest Saussure mit Husserl und Husserl mit Saussure und bewegt sich selbst in seiner „Position“ immer entlang der Grenze zwischen beiden. Um diese „Position“ zu verdeutlichen und zu umschreiben, verwendet Derrida immer wieder die unterschiedlichen Namen, die eigentlich keine Namen im metaphysischen Sinn sind, weil sie auch auf der Grenze des Weder-noch situieren: „(D)as Pharmakon ist weder das Heilmittel noch das Gift, weder das Gute noch das Böse, weder das Drinnen noch das Draußen, weder das gesprochene Wort noch die Schrift; das Supplement ist weder ein Mehr noch ein Weniger, weder ein Draußen noch die Ergänzung eines Drinnen, weder etwas Akzidentielles noch etwas Wesentliches usw.; das Hymen ist weder die Vereinigung noch die Trennung, weder die Identität noch die Differenz, weder der Vollzug noch die Unberührtheit, weder Hülle noch Enthüllung, weder Drinnen noch 55 56 57 58 J. Derrida, Positionen, 94f. Ebd. Zur Debatte zwischen der Hermeneutik und der Dekonstruktion vgl. Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation; T. Tholen, Erfahrung und Interpretation. H. J. Silverman, Textualitäten, 8. Vgl. J. Hörisch, „Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins“, das Vorwort seiner Übersetzung von J. Derridas Die Stimme und das Phänomen, 7-50. 50 Draußen usw.; das gramma ist weder ein Signifikant noch Signifikat, weder ein Zeichen noch ein Ding, weder eine Anwesenheit noch eine Abwesenheit, weder eine Position noch eine Negation usw.; die Verräumlichung ist weder Raum noch Zeit; der Anschnitt ist weder die [angegriffene] Integrität eines Anfangs oder eines einfachen Einschnitts noch einfache Nebensächlichkeit. Weder/noch heißt zugleich oder oder; die marque [Markierung, Zei59 chen] ist auch die marginale Grenze, die marche [Mark, Marsch, Stufe] usw.“ Als Position des Zwischen und als Weg der Grenzen ist die Dekonstruktion weder Destruktion noch Konstruktion und doch zugleich Destruktion als auch Konstruktion. Sie nimmt ihren „Ort“ an der Schnittstelle zwischen Abbruch und Verbindung, zwischen Abschluss und Öffnung ein. Sie ist aber keine von Außen her eindringende Attacke, sondern eine „subversive Immanenz“60. Sie lässt sich niemals von einer inhaltlichen oder methodischen Seite her bestimmen, weil sie in und von sich selbst her weder Inhalt noch Methode ist. Sie ist aber als Schrift schon geschrieben, bevor die Geschichte eines Namens anfängt, und überall am Werk, wo es Text gibt. 59 60 J. Derrida, Positionen, 90f. J. Lagemann, Dem Zeichen auf der Spur, 46. TEIL II: ZUR THEOLOGISCHEN REZEPTION JACQUES DERRIDAS IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM Im Folgenden gehen wir darauf ein, auf welche Weise eine theologische Rezeption des Derridaschen Denkens im deutschsprachigen Raum stattgefunden hat, wo Derridas Denken im Unterschied zum englischen Sprachraum erst mit einiger Verzögerung auf Beachtung gestoßen ist. Unter den Publikationen, die sich teilweise oder ausschließlich mit Derrida auseinandersetzen, beschränken wir uns hier auf die folgenden vier Monographien: Joachim Valentin, Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, Mainz 1997; Johannes Hoff, Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida, Paderborn u. a. 1999; Tilman Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin-New York 2001 und Peter Zeillinger, Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida, Münster 2002. Diese vier Monographien sind bisher die einzigen Arbeiten, die sich aus theologischer Perspektive vor allem mit Derridas Denken1 beschäftigt haben. Die beiden ersten Autoren erforschen die Möglichkeit und Tragweite der Rezeption J. Derridas vor dem Hintergrund der katholischen Theologie, der dritte Autor vor dem Hintergrund der evangelischen Theologie. Der vierte Autor macht seine konfessionelle Zugehörigkeit nicht explizit, sondern fragt am Ende nach der Möglichkeit von Theologie im allgemeinen. Einen Text hinsichtlich seiner Textualität zu bearbeiten ist für Derrida stets die naheliegendste Aufgabe seines Philosophierens. Die Dekonstruktion geht dabei, wie wir bereits gesehen haben, über die hermeneutische Interpretation und die bloße Rekonstruktion eines Textes hinaus. Jeder Versuch, sein Denken, das vornehmlich in Texten vorliegt, zu rezipieren, bekäme es notwendigerweise selbst mit der Dekonstruktion zu tun. Einer theologischen Rezeption muss es daher immer auch darum gehen, dieselbe erneut zu dekonstruieren. Das gilt ebenso 1 J. Hoff schließt auch Foucault mit ein. 52 für unsere nun folgende Untersuchung. Sie wird die Konzepte und Vorgehensweisen jener Arbeiten Schritt für Schritt verfolgen, sodass am Ende jedesmal eine Rekonstruktion vorliegt. Dieses Verfahren gleicht sich dem an, was im Derridaschen Sinne die „Supplementierung“ eines Textes genannt werden könnte. Es geht also darum, disseminierte Worte zu wiederholen, Textkörper aufzupfropfen und abermals eine (neue) Textur zu weben. 53 3 Jüdisches Denken und Negative Theologie als Anders-Denken: Joachim Valentin 3.1 Derrida und jüdisches Denken 3.1.1 Judentum und christliche Theologie Ausgehend von einer Darstellung der Person und der Anliegen Derridas untersucht Valentin im ersten Teil seiner Arbeit vor allem das frühe Denken Derridas, das sich ausschließlich der kritischen Lektüre von Texten aus der Geschichte der klassischen Metaphysik widmet und darin einen neuen Denkweg sucht. In dieser frühen Phase tritt Derridas Dekonstruktion in Form einer radikalen Metaphysikkritik auf, die sich auf Husserl, Nietzsche, Freud, Saussure und Heidegger bezieht. Diese besonders aufgrund der Begriffe der Schrift und des Schreibens (écriture) entfaltete Kritik an der traditionellen Metaphysik, an der auch die Theologie teilhat, zielt aber nicht auf die „Überwindung der Metaphysik, also ihre endgültige Beendigung“, sondern auf „ihre Verwindung.“2 Dies ist deutlich zu sehen, wenn Derrida Alternativen zum metaphysischen Denken als einem Ursprungsdenken und hierarchisch-oppositionalen System sucht. Derridas Angebote hierfür, die J. Hörisch, der Übersetzer von Derridas Die Stimme und das Phänomen, als „ontosemiologische Auswege“ bezeichnet, heißen Schrift, Spur, différance und werden aus der Auseinandersetzung mit der transzendentalen Phänomenologie Husserls und mit der hermeneutischen Tradition gewonnen. Valentin stellt fest, dass das (frühe) Philosophieren Derridas als „eine ‚Phänomenologie der Phänomenologie‘“ und als „eine Hermeneutik der Hermeneutik“3 bezeichnet werden kann. Vor dem Hintergrund des kurzen Überblicks über die frühe Philosophie Derridas erforscht Valentin im zweiten Hauptteil mögliche Herkünfte dieses Denkens, wobei er nicht nur auf Derridas jüdische Abstammung, sondern auch auf jüdisches Denken im allgemeinen eingeht. Derridas dekonstruktive Arbeiten weisen letztlich darauf hin, dass die entscheidende Frage der Philosophie die Frage nach dem Anderen ist. Diese wurde in der philosophischen Tradition oft dadurch vergessen und vernachlässigt, dass man die Frage nach der Identität hervorhob und diese vor allem im eignen Subjekt zu begründen versuchte. In unserer Zeit, in der einzel2 3 J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 28. Ebd., 64. 54 ne Machtinstanzen oder Denkströmungen immer leichter globalen Einfluss gewinnen ist die Frage nach dem Anderen im Anderen nicht abzuweisen. Sie dürfte vielmehr eines der letztgültigen Kriterien jeglichen Argumentierens sein. Die Dringlichkeit und die Tragweite dieser Frage als einer der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft ist aber vor allem von den Denkerinnen und Denkern entdeckt und ausgearbeitet worden, die in ihrem Denken mehr oder weniger auf die jüdische Tradition Bezug nehmen und zu denen auch J. Derrida gezählt wird.4 Inwieweit aber Derrida in der jüdischen Tradition steht und sein Denken für die christliche Theologie ein Erneuerungsmoment werden kann, untersucht Valentin auf sorgfältige und überzeugende Weise und mit der nötigen Vorsicht, weil er Derridas Denken charakteristisch „an der Grenze zwischen Judentum und – griechisch geprägtem – Christentum“5 situiert sieht. Nach der Schoa erkannte sich auch die christliche Theologie in neuer Weise mit dem Judentum konfrontiert, und daraus beginnt sich eine christliche Theologie des Judentums zu entwickeln.6 Gewiss kann christliche Theologie insofern am Judentum nicht vorbeikommen, als das Christentum seine Wurzeln in ihm hat. Abgesehen davon, dass die Geschichte, wie sie sich seit dem Trennungsprozess des Christentums vom Judentum entwickelt hat, verschiedene, schwerwiegende Belastungen aufweist, die sowohl die je eigene Position als auch den notwendigen gegenseitigen Dialog erschweren, ist es für das Christentum von großer Bedeutung, auf seine eigene Herkunft zu blicken. Die daraus folgende Theologie darf nicht zum Ziel haben, die Verschiedenheiten zwischen beiden Religionen abzuschaffen oder etwa das Wesen des Judentums von christlicher Sicht her zu definieren. Dennoch besteht immer noch die Gefahr, falsche Richtungen einzuschlagen und erneut versteckten Antisemitismen oder Antijudaismen zu verfallen. Nun ist aber zu beachten, dass jüdisches Denken und Judentum nicht deckungsgleich sind. Jüdisches Denken, um das es sich im Kontext philosophischer Erwägungen zunächst handelt, unterscheidet sich vom Judentum als geschichtlich-gesellschaftlicher Größe und kann auch aus dieser nicht einfach herausdestilliert werden. Ein philosophisch begründetes Denken scheint dem Judentum als einer Religion von Anfang an als nicht vergleichbar gegenüberzu4 5 6 Vgl. J. Valentin; S. Wendel (Hg.), Jüdische Tradition in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2000. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 72. Vgl. Art. „Judentum“ und „jüdisch-christlicher Dialog“ in: P. Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 3, 38-81. 55 stehen. Vielleicht äußert Derrida aus diesem Grund Bedenken gegenüber einem jüdischen Einfluss auf sein Denken.7 Trotz eines solchen Vorbehaltes könnte man vermuten, dass in Derridas Denken aufgrund seiner jüdischen Herkunft, seinem Aufwachsen im jüdischen Milieu, jüdische Momente durchaus zu finden sind und sein Denken somit jüdisch genannt werden kann. Solche Aspekte müssen aber konkret ermittelt werden. Valentin nennt hierfür vier Anhaltspunkte: Derridas Gedanken zur Beschneidung, seine Arbeiten zu E. Lévinas und P. Celan sowie Ähnlichkeiten der Dekonstruktion zu Talmudischen Techniken der Torainterpretation. Die Ergebnisse, die daraus folgen, machen deutlich, in welcher Hinsicht das Derridaschen Denken als jüdisch bezeichnet werden kann und welche spezifischen Herausforderungen für die christliche Theologie insofern hervortreten. 3.1.2 Beschneidung als Enteignung des Selbst Identität gewinnen heißt eine Grenze markieren – zunächst nicht im metaphysischen, sondern im soziologischen Sinne, sodass die Zugehörigkeit eines Individuums bzw. einer Gruppe zu einer Gemeinschaft abgesichert wird. Diese Grenzziehung ist meist mit einem Ritual verbunden, das als religiöses und soziologisches Phänomen zu einem Gegenstand der Religionswissenschaft wird.8 So ist auch die jüdische Beschneidung ein Akt, in dem der Beschnittene als dem einen Volk zugehörig akzeptiert wird und somit die Identitätsgewinnung eines Individuums sowie des einen Volkes vollzogen wird, und zwar an der Grenze zwischen Erwählten und Nicht-Erwählten. Diese Grenze liegt, territorial und geschichtlich gesehen, in der „Diaspora“, wo die Erwählten durch das Umgebensein von anderen Völkern und Kulturen immer wieder von Auflösung und Identitätskrisen bedroht sind. In der Tat traten im Exil die Beschneidung sowie das Sabbatgebot als neue Merkmale der jüdischen Identität hervor, und dadurch hat das Judentum als solches seinen Anfang genommen.9 Im Exil, in dem der verheißende Landbesitz verwehrt ist und in dem Juden deshalb wie Fremde leben müssen, entspricht dem Jude-Sein gerade ein Fremd-Sein. Die Zerstreuung, die Enteignung des Selbst wird hier geradezu zu einer Identitätsfundierung. Anders gesagt, geht der Identitätseignung eine Enteignung des Selbst vor. 7 8 9 Vgl. P. Engelmann (Hg.), Philosophien. Gespräche mit französischen Philosophen, 54f; E. Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, 68. Vgl. M. Eliade, Das Mysterium der Wiedergeburt. Vgl. K. Grünwaldt, Exil und Identität. 56 Eine solche Bedeutung steht auch Derridas Begriff der „Beschneidung“ nahe, den Derrida von der religiös-ritualen jüdischen Beschneidung her philosophisch entwickelt, in einer Weise, die vor diesem Hintergrund als jüdisches Denken bezeichnet werden könnte. Dieser Begriff ist aber bei Derrida subtiler als es zunächst erscheint. Denn das Jude-Sein überschreitet für ihn die exemplarische und somit universale Bedeutung des erwählten Volkes und kann nicht einer bestimmten Person und Gruppierung zugesagt werden: „Wenn die Identität des Juden oder des Judentums mit sich selbst in solcher Beispielhaftigkeit bestehen würde, das heißt in einer gewissen Nicht-Identität mit sich, denn ‚Ich bin dies‘ bedeutete, ‚ich bin dies und das Universelle‘, so wäre einer um so jüdischer, je mehr die Selbstidentität aufgelöst würde, je mehr er also sagte, ‚meine Identität besteht darin nicht mit mir identisch zu sein, fremd zu sein, nicht mit mir übereinzustimmen‘! [...] Jeder will dann das beste Beispiel der Identität (als Nicht-Identität mit sich selbst) und folglich ein exemplarischer Jude sein. Von diesem Gesichtspunkt aus wären die Juden – ich wage nicht zu sagen die ‚tatsächlichen‘ Juden, weil das überhaupt nichts mehr bedeutet – die Juden also, die sich auf eine tatsächlich stattgefundene Beschneidung, auf einen jüdischen Namen, eine jüdische Geburt, einen jüdischen Boden berufen, per definitionem in keiner besseren Position als andere, um im Namen des Judentums zu sprechen. Wer kann im Na10 men des Judentums sprechen?“ Hier ist Derridas Gedanke von der Unmöglichkeit der Aussage zu erkennen, verstanden als Aussage mit einer bestimmten Identität und Bedeutung, die es ermöglicht, die Wahrheit als ein Eigenes ‚einzuverleiben’. Die Beschneidung ist ein Beschnittensein an der unendlichen Wahrheit, auch an Gott selbst. Sie ist ein Zeichen der Verletzung an der Grenze zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen. Mit diesem Zeichen (oder Signifikant11) bleibt der Jude „jenem Unendlichen, das er nicht zu begreifen vermag, unterworfen und darum gänzlich ins Endliche, in die Materie eingelassen. Der Jude ist entfremdet, er steht nicht in Beziehung zu einer transzendenten Wahrheit, sondern zu einer Transzendenz, die die (formlose) Form des Befehls und des ungreifbaren Gesetzes annimmt, das als unbegreifliches nicht vernünftig sein kann: Er untersteht nicht dem Geist, sondern ohne Vermittlung dem Buchstaben des Gesetzes.“12 Wenn man sich hier daran erinnert, dass die Beschneidung mit der Namensgebung zusammenhängt, könnte man feststellen, dass das gesetzliche, auf den Tafeln eingeschriebene Verbot, den Namen Gottes auszusprechen, eine Kehrseite desselben Gedankens ist. 10 11 12 E. Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, 65f. Zu Lacans Interpretation vom Phallus als dem Signifikanten des Signifikanten und Derridas Kritik siehe auch diesen Abschnitt von J. Valentins Arbeit, insbesondere 76-80. J. Derrida, Glas, 62aff. Zit. Nach: G. Bennington, Jacques Derrida, 300f. 57 Der Gedankengang, der anhand der Beschneidung mitvollzogen, aber von Derrida mit neuen Dimensionen ausgeführt wird, beschneidet nach Derrida jenen abendländischen Subjektbegriff und entblößt dessen Verletzung, der die Identität durch die Benennung bzw. Beschreibung der Sprache im sprechenden Subjekt zu konstruieren glaubt. Ein beschnittener jüdischer Mensch ist der, der dem Unendlichen entzogen und nur jener Wahrheit unterworfen ist, die niemals präsent und niemals erreichbar ist, die nur in Spuren anwesender Abwesenheit vorübergehend ihr Gesicht erscheinen lässt. Seine Identität liegt im verworfenen Schicksal der ewigen Zerstreuung in die Fremdheit, im heimatlosen Umherirren durch die Wüste.13 Damit ist für Derrida wiederum, wie auch in seinem Schriftbegriff, das zentrale Anliegen der Dekonstruktion herausgestellt. Es ist nicht möglich, ein Signifikat als ein Vollkommenes in einen Signifikanten einzuschreiben, vom zerrissenen Gedächtnis her ein Denkmal wieder aufzustellen. Die vergessene Heimat, in der man seine verlorene Identität wieder finden und zu eigen machen könnte, hat es von Anfang an nicht gegeben, weil der suchende Mensch, auch in jedem Versuch einer Absicherung der Identität oder Gegenwart des Selbst beschnitten und darin einem Umherirren in Nicht-Identität ausgesetzt ist. 3.1.3 Derridas Auseinandersetzung mit jüdischen Autoren Die Frage, ob sich das Denken Derridas als jüdisches bezeichnen lässt, kann nach Valentin, nicht nur in dem Sinne positiv beantwortet werden, dass er selbst im biographischen Werk Circonfession seine Zugehörigkeit zum beschnittenen Volk bestätigt, sondern – dies ist noch entscheidender – dass er zu wichtigen Punkten seines Denkens gerade in der Auseinandersetzung mit jüdischen Autoren gelangt. Einer der bekanntesten jüdischen Philosophen des späten 20. Jahrhunderts, die sich nach der konkreten geschichtlichen Erfahrung der Schoa zu einem tiefgreifenden Umdenken herausgefordert sahen, ist E. Lévinas. Selbst von dieser immer wieder Rechenschaft fordernden Geschichte betroffen und davon zutiefst geprägt, hat er versucht, den zerstörerischen Charakter des autonomen Subjekts zu entlarven. In Lévinas‘ Werk treffen zwei Traditionen zusammen: zum einen die der abendländischen Philosophie und zum anderen die jüdische Tradition, 13 Vgl. J. Valentin, Der Talmud kennt mich. Jacques Derridas Judentum als Unmöglichkeit des Zu-sichKommens, in: ders/S. Wendel (Hg.), Jüdische Tradition in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, 289. 58 kurzum: „die Griechen und die Bibel“. Lévinas’ Hauptanliegen ist die Frage, wie der Andersheit des Anderen im Denken genüge getan werden kann. In seinem Aufsatz Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’ in Die Schrift und die Differenz hat sich Derrida intensiv mit E. Lévinas’ frühem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit auseinandergesetzt. Dabei bestätigt er, dass Lévinas’ Philosophie von der unvergleichlichen Andersheit des Anderen einen Bruch mit dem griechischen Logosbegriff inszeniert, Derrida stellt darüber hinaus aber die Frage, inwiefern dieses Denken vom Anderen ebenfalls der Tradition der Ontologie verhaftet bleibt. Bei Lévinas steht das Sein, so Derrida, wie eine kategoriale Bestimmung, die wieder „nachträglich einer bestimmten Beziehung (zum Beispiel dem ethischen Bezug) unterstellt und untergeordnet werden könnte“, denn „(j)ede Bestimmung setzt in der Tat das Denken des Seins voraus.“14 Selbst Lévinas’ Kritik an der traditionellen Ontologie nehme an dieser noch teil, sofern auch sie in der Sprache der Metaphysik verfasst werden müsse. Lévinas versucht in Totalität und Unendlichkeit den Ganz-Anderen in seiner radikalen Andersheit zu denken und diesen vor dem totalitarisch identifizierenden Denken der abendländischen Ontologie zu bewahren. In den Augen Derridas, für den die Dekonstruktion darin besteht, durch die Umkehrung den Rückfall in metaphysische Strukturen zu vermeiden, ist aber Lévinas’ Versuch der ethischen Begründung letztlich nicht nur ontologieverdächtig, sondern auch nicht frei von der binären Gegenüberstellung des unendlich Anderen einerseits und des Selben oder des Seins anderseits. So entpuppt sich Lévinas’ Unterscheidung zwischen Anderem und Selbem als ein metaphysischer Dualismus. Es ist eigentlich Lévinas’ Grundanliegen, eine Alternative zur „Egologie“15 zu bieten, die die Andersheit des Anderen auf die Identifizierung des Selbst reduziert, womit vornehmlich Husserls Intentionalitätslehre und Heideggers Seinsdenken gemeint sind. Lévinas’ Alternative ist eine Ethik des Anderen als erste Philosophie, eine Ethik, die der Ontologie vorausgeht und sie überschreitet. In der Begegnung mit dem Anderen bleibt der Andere absolut Anderer: „Das absolut Andere ist der Andere.“16 In der Begegnung mit mir konstituiert dieser Andere erst mich als moralisch Handelnden und zugleich wird diese Andersheit des Anderen nicht aufgehoben, was etwa in meiner Subjektivität geschehen könnte. Hier lässt sich also die Unendlichkeit - des Anderen - darstellen. 14 15 16 J. Derrida, Gewalt und Metaphysik, in : ders, Die Schrift und die Differenz, 213. E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 53. Ebd., 44. 59 Diese Gegebenheit wird charakteristisch in den Begriffen des „Antlitz“ sowie der „Sprache“ weiter aufgeschlüsselt. Der Andere begegnet mir leibhaft, und erscheint im Antlitz als ein Außerhalb meiner: „Im Antlitz teilt sich der Andere leibhaftig als Anderer mit, das heißt als das, was sich nicht offenbart, als das, was sich nicht thematisieren lässt.“17 So zeigt sich nun der Andere im Antlitz, im sprechenden, sich-ausdrückenden Gesicht. In der Begegnung mit dem Anderen ereignet sich also die Sprache und sie zeigt die absolute Andersheit des Anderen. Denn die „Beziehung der Sprache setzt die Transzendenz voraus, die radikale Trennung, die Fremdheit der Gesprächspartner“18, und die „Sprache realisiert eine Beziehung zwischen Termini, die die Einheit einer Gattung aufbrechen“, „die absolute Differenz“.19 Und diese unverzichtbare Andersheit, das mir gegenüber sich ausdrückende Gesicht des Anderen, verschafft mir die ethische - also nicht ontologische – Verpflichtung. In diesem Sinne könnte das fünfte Gebot des Alten Testaments gedeutet werden als „Du wirst mich nicht töten.“20 Dies also fordert Lévinas mit dem Primat der Ethik. Er versucht es nicht innerhalb einer Logik zu begründen, sondern von der absoluten Andersheit des Anderen her, also durch das Dritte außerhalb der reziproken Beziehung. „Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist“, so bemerkt Derrida, „daher für Lévinas ursprünglich nicht als das Gegenüber zweier gleicher und aufrechter Menschen bestimmt.“21 Derrida aber kritisiert nicht nur den dabei verborgenen ontologischen Klang, sondern er zweifelt auch an, diese Unendlichkeit „als unabhängig, als unbefleckt vom Prozeß einer sich immerfort selbst verwischenden Spur denken zu können.“22 In der Tat scheint die Lévinassche Unendlichkeit der konkreten Erfahrung des Menschen vorauszugehen, also präempirisch zu sein. Darin besteht für die Lévinassche Begründung der Unendlichkeit die Gefahr, im Namen der Transzendenz das „Spiel der Welt“23 einfach zu transzendieren. Für Derrida muss dagegen die Irreduzibilität meiner Verantwortung gegenüber dem Anderen grenzenlos, in radikaler Singularität, bestehen. Derrida weist auch kritisch darauf hin, dass Lévinas in Totalität und Unendlichkeit die Sprache als gesprochene Sprache versteht. Für 17 18 19 20 21 22 23 J. Derrida, Gewalt und Metaphysik, 158. E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 100. Ebd., 278. Ebd., 283f. J. Derrida, Gewalt und Metaphysik, 164. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 93. Ebd., 94. 60 Derrida ist die Sprache – die in den Zeichen sich differenzierende Differenzierung – die ursprüngliche Gewalt vor allen anderen Gewalten. Er versucht diesen Text von Lévinas so zu lesen, dass er einen de(kon)struktiven Charakter bekommt. In seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht entwickelt Lévinas einen Sprachbegriff, der die im Antlitz des Anderen sich ausdrückende Materialität stärker aufrecht erhält. Das Dritte, das die Ich-Du-Begegnung transzendiert, das eben im Antlitz wortlos sich ausdrückend mich anruft und meine Gegenwart zerreißt, weil es die Trennung schlechthin ist, ist nach Lévinas die „Sprache“. Die Sprache ist bei ihm das Außerhalb von Sein und Nicht-Sein, was auch der Titel seines zweiten Hauptwerk andeutet. Dafür geht er zunächst hinter die gesprochene Sprache zurück und unterscheidet das Sagen („dire“) von dem Gesagten (“dit“). Dieses Sagen geht jedem Gesagten, jedem wahrnehmbaren Äußerungs- und Kommunikationsausdruck voraus. Fällt Lévinas damit in den von Derrida so scharf verurteilten Repräsentationsgedanken zurück? Wie versteht er dieses jeder artikulierten Sprache vorausgedachte Sagen? „Auf dieses Diesseits gilt es zurückzugehen, von der Spur aus, die das Gesagte, in dem alles sich zeigt, von ihm behält. Der Rückgang auf das Sagen ist die phänomenologische Re24 duktion, in der das Unbeschreibbare beschreibbar wird.“ Lévinas beschreibt die phänomenologische Reduktion als Methode der Suche nach dem Ursprünglichen. Dieses Ursprüngliche wird aber nicht in einem Rückgriff auf das Sein oder das Sein des Seienden ermittelt, sondern in der Sprache. Im Antlitz des unendlich Anderen äußert sich ein Sagen, als bloßes Äußern, das sich in Spuren zeigt. Dieses Äußern vor allem Gesagten besagt das, was uneinholbar, unableitbar ist: Sich-Bedeuten des Antlitzes, das heißt, ich äußere mich als Bedeutung, „weil ich-für-den-Anderen-bin, weil ich Bedeutung bin – [...], Verantwortung, Besessenheit durch den Anderen, der-Eine-für-den-Anderen-sein: die eigentliche Entstehung der Bedeutung jenseits des Seins.“25 Während Lévinas sein Denken in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, wie soeben dargestellt, ausführlicher entfaltet hat, hat er auch die Arbeit Derridas nicht nur in dieses Werk, sondern auch bereits in seiner Abhandlung Tout Autrement. Jacques Derrida aufge24 25 E. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 129. Hier versucht Lévinas die Methode der Husserlschen Phänomenologie anzuwenden, ohne aber auf die intentionale Struktur von Noesis-Noema zurückzufallen. Ebd., 203. 61 nommen. Valentin weist darauf hin, dass Lévinas die Dekonstruktion der Metaphysik Derridas dabei als eine mögliche Version seines eigenen Anliegens versteht, die Ontologie umzustoßen.26 So könnte man von einer gewissen Übereinstimmung zwischen Lévinas’ Versuch einer Überwindung der Ontologie und Derridas Dekonstruktion sprechen. Insbesondere teilt Lévinas auch die Derridasche Kritik an jener Repräsentationsvorstellung der Sprache, die Derrida dezidiert der Dekonstruktion unterstellt: Ein sprachliches Zeichen sei ein sicheres Abbild eines ursprünglichen Signifikates oder Sprache sei gleichzeitige, kontinuierliche Repräsenz des Sinnes bzw. des Logos usw. Die zeit-räumlich differenzierende Verschiebung, die die Sprache als solche produziert, macht aber nach Derrida deutlich, warum es zu bestreiten ist, dass innerhalb dieser Vergegenwärtigung die Wahrheit ein kontinuierliches innerliches Moment darstelle und darum als ein durchweg unumwandelbares Identisches irgendwie wiederzufinden wäre. Dennoch befindet sich Lévinas auf einem eigenen Weg, wenn er vor dem Hintergrund der scharfen Kritik Derridas die ethische Bedeutung der Subjektivierung bevorzugt im Denken des Anderen zu begründen versucht. Für Lévinas ist das Sagen selbst unbeschreibbar, uneinholbar, auch vor-ursprünglich – so spricht er von einer „Diachronie des Unvereinbaren“27. Und aus dieser diachronen Dimension des Sagens, dessen Spur sich aber im Gesagten zeigen lässt, entsteht der Aufruf, der die Bedeutung des Ichs als Akkusativ bildet. In der anfanglosen, nicht in die Gegenwart einholbaren, darum nur auf die Spuren der Vergangenheit zurückzuschiebenden Zeit bin ich als „moi“ angeklagt, für den Anderen zu sein. Ein prophetischer Aufruf wie im Alten Testament! Die dabei hervorgerufene Aktivität, die ethische Praxis, wird also weder in mir begonnen noch durch mich konstituiert, sondern im Sich-Ereignis des unaussagbaren Sagens werde ich erst zum „Ich“ als „Sub-jektion“ unter den Anderen. Diese passive, weil substituierte ethische Aufforderung bzw. Verpflichtung ist auch nach Lévinas „an-archisch“, ohne Herrschaft.28 So ist die Sprache als Sagen bei Lévinas „Alterität“ des Anderen selbst, sie verweist auf die unerreichbare, unendliche Rekurrenz. Und darin spitzt sich ebenso wie bei Derrida die Subjekt- und Logoskritik zu. Während Lévinas mit Anspielung auf die Derridasche Dekonstruktion der Sprache das Ethische – eben auf das vorsprachliche Sagen zurückgehend – vertieft hat, hat sich Derrida inzwischen auch weiter mit Lévinasschen Gedanken beschäftigt. Dabei legt aber Derrida Nach26 27 28 Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 97f. E. Lévinas, Eigennamen, 72. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 100. 62 druck darauf, dass das Gesagte nicht immer dem Sagen, dem Grund des Gesagten, entspricht. Denn zwischen Sagen und Gesagtem erscheint die Spur, die das Verfehlen und den Aufschub zeigt, nach Derrida als die différance. Der darin zeitlich zerrissene Raum ist eine dynamische Bewegung, die niemals von einer Präsentierung erfasst wird, die Geschlossenheit eines Textes somit zur Lektüre aufsprengt und den Autor seines Werkes enteignet.29 Die différance erweist sich also als die dekonstruktive Dynamik im Lauf des Diskurses, des Gewebes der Textur, sie stellt immer wieder ein Zwischen, eine zeitlich-räumliche Kluft her, sodass von der Spur unendlich die andere Spur abgeschält wird. Derrida treibt die Dekonstruktion im Lévinasschen Denken noch an einem anderen Punkt voran, nämlich anhand der Geschlechterdifferenz, die den Strukturen der Andersheit bei Lévinas wesentlich innewohnt. Nach Derrida, der auch Lévinas’ Werke in der Praxis der Dekonstruktion liest, ist dem Anderen bei Lévinas vorgängig schon eine Männlichkeit zugeordnet, obwohl die Andersheit des Anderen immer als neutral im Dritten, in der geschlechtlosen Ursprünglichkeit gedacht werden sollte. Den Geschlechtsunterschied, den Derrida bei Lévinas als zweitrangig eingestuft sieht, thematisiert er weiter im Hinblick auf die différance.30 Aus den bisher dargestellten Überlegungen kann geschlossen werden, dass zwischen den jüdischen Denkern, E. Lévinas und J. Derrida, ein Annäherungsprozess stattfand, der aber zugleich Zustimmung und Distanzierung beinhaltet. J. Valentin gibt diesem Verhältnis den Titel: „Der verschwiegene Dialog“. Für Lévinas ist es ein wesentliches Problem, den Anderen anders zu denken, sodass man sein Denken kurzum als Denken des Anderen charakterisieren könnte. Es handelt sich um die Erfahrung der Andersheit, der Pluralität, die nicht auf die als ursprünglich gedachte Einheit zurückzuführen ist. Es geht darum, dies in einen philosophischen Diskurs angemessen einzuschreiben, ohne dabei in einen alles andere in sich vereinnahmenden totalitären Logos zurückzufallen. Es ist offenkundig, dass ein solches Unternehmen bei Lévinas der traditionellen Ontologie oder „Egologie“ gegenüber destruktiv sein muss. Gegen diese Denkweise erhebt Derrida keinen Einwand. Er sieht sich Lévinas’ Denken überhaupt sehr nahe und lehnt es ab, von Uneinigkeit zu sprechen.31 In seinem Nachruf hebt Der29 30 31 Vgl. ebd., 103. Vgl. ebd., 107. Auch Anm. 130 in 104. „Ich weiß nicht [...] angesichts eines Denkens wie dem von Lévinas habe ich niemals einen Einwand. Ich bin bereit, alles zu unterschreiben, was er sagt. Das heißt nicht, daß ich dieselben Sachen in der selben Weise 63 rida das Verdienst Lévinas’ hervor.32 Darin aber eine völlige Übereinstimmung zu behaupten, ist nicht zu rechtfertigen. Dies gilt zumal für den Duktus der Derridaschen Auseinandersetzung mit Lévinas wenn er in dekonstruktiver Lektüre und Schreiben gerade eine différance und nicht eine Übereinstimmung zwischen Text und Leser markiert. Dies gilt aber nicht nur für Lévinas sondern auch für andere Autoren mit denen er sich auseinandersetzt. Derrida, geht es zunächst um die Dekonstruktion eines binären Systems auch in seiner Auseinandersetzung mit Lévinas. Dabei gesteht er durchaus zu, dass der Lévinassche Versuch nicht auf eine solche dualistische Konstellation hinaus läuft. Er will Lévinas nicht nachweisen, dass er die herausgehobene Position, die zuvor dem autonomen Subjekt zugestanden wurde, nun mit dem Anderen besetzt würde. Vielmehr will Derrida die vorursprüngliche Rolle als différance beschreiben. Diese als ursprünglicher auch als die Lévinassche Beziehung von Anderem und Selbem, zu beschreiben, als dasjenige, was diese erst ermöglicht, ist der Impetus der Derridaschen Lévinasrezeption. Wenn aber Derrida später nachdrücklich von der irreduziblen „Singularität des Anderen“ und von der grenzenlosen Verantwortung des Ichs gegenüber dem Anderen spricht, kommt bei ihm eine „Lévinassche Wende“33 zur Geltung. So decken sich Lévinas und Derrida in der Erkenntnis, dass jegliche autonome Identifizierung zur alles Andere beraubenden Gewalt wird. Lévinas hat darüber hinaus die Ethik des Anderen als Erste Philosophie schlechthin grundgelegt, indem er zeigt, wie das Ich in der Verpflichtung auf den vorsprachlichen Anruf des Antlitzes des Anderen erst als das Sub-jekt konstituiert wird. Diese Passivität, diese Schwachheit ist passiver als jede Passivität, und daraus folgt unvermeidbare ethische Praxis. Diese Struktur ist der Derridaschen différance ähnlich, die weder Aktiv noch Passiv ist, vor und jenseits von beiden ist. Ist dann diese passive Öffnung, dieses Geöffnetsein zum Anderen hin die formale Bedingung für eine mögliche Begegnung des Ich mit dem Anderen, auch wenn dies durch die Transzendenz, die Andersheit des Anderen, vermittelt werden muss? Daraus ergibt sich die Frage, ob 32 33 denke; doch die Unterschiede sind da sehr schwierig zu bestimmen [...]. Ich habe versucht, während ich ihn las, Lévinas eine gewisse Anzahl von Fragen zu stellen, was zum Beispiel seinen Bezug zum griechischen Logos, seine Strategie, sein Denken über die Weiblichkeit angeht; doch das, was dort geschieht, gehört nicht in den Bereich von Uneinigkeit oder Distanz.“ (J. Derrida et Pierre-Jean Labarrière, Altérités, 74. Zit. nach J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 87, Anm. 67). „Man kann auch vertrauensvoll davon ausgehen, daß sich Jahrhunderte in Lektüren mit ihm auseinandersetzen werden. [...] der Widerhall dieses Denkens hat den Lauf der philosophischen Reflexion über die Philosophie verändert.“ (J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas, 11). J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 109. 64 in der Begegnung des Anderen die Bedingung, den Anderen als Anderen zu erkennen und aufzufassen, letztlich nicht im vor die Grenze am Anderen verpflichtend ausgelieferten Ich liegt. Diesbezüglich hat Derrida anhand der Husserlschen Intentionalität aus dem Antlitz bei Lévinas weitere Dimensionen herausgearbeitet, nämlich „Empfang“ (accueil) und „Gastlichkeit“, die im Antlitz schon vorbehalten sind und wohl ursprünglicher als dieses vollzogen werden, in denen die Selbstunterbrechung durch das Selbst als anderes geschieht.34 Die nicht in der Dialektik aufzuhebende unendliche Singularität des Anderen, die Derrida von Lévinas gelernt und dann weitergeführt hat, erörtert er auch in seiner Interpretation der Gedichte Paul Celans. Dabei kommt sein Textbegriff erneut zum Tragen. Nach Derrida schreibt der Dichter das Wort in die Einmaligkeit ein, indem er es markiert und so von anderen unterscheidet, das Wort also dessen beschneidet, was die Worte im Kontext einer Allgemeinheit bedeuten würden. Dem Autor sind aber durch die verändernde Begegnung seines Textes mit Anderen (in Form der Leser und Leserinnen) auch solche ursprünglich scheinenden Bedeutungen nicht zuhanden. Sie sind weiteren Verschiebungen ausgeliefert, die den unabgeschlossen bleibenden Text auf seinem weiteren ‚Werdegang’ erwarten. Der Text, die Intentionen und die Inhalte eines Autors sind sozusagen auf eine ewige Reise gesandt, auf der keine Begegnung mit einer der vorherigen identisch ist. An der Schwelle von „Singularität und Universalität“, „in einer aporetischen Spannung der différance“35 wahrt sich der nicht auszuschöpfende Rest der Bedeutung, der sich wie ein abwesendes Geheimnis jedesmal neu, also nicht ein für alle mal fixieren oder interpretieren lässt. In diesem Sinne könnte man sagen: „Alle Dichter sind Juden.“36 Durch die Beschneidung des Körpers, des Wortes, wird die Grenze markiert, an der sich die eingeschriebene Einmaligkeit zunächst als einer Identität zugehörig lesen lässt, dies aber zugleich die materiell (sprachlich) beschnittene Enteignung des Selbst bedeutet. Die Suche nach der Identität als Selbstenteignung findet an der Grenze zum Nicht-Sein, in Termini von Celan im „lautlosen Lied“ oder dem „singbaren Rest“ statt.37 J. Valentin stellt fest, dass hierin ein wesentliches Moment jüdischen Denkens liegt, das sich von dem vom griechischen Logos geprägten Identitätsdenken unterscheidet und somit für Derridas Arbeit der Dekonstruktion einen wichtigen Hintergrund darstellt. 34 35 36 37 Dazu vgl. J, Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas, 33-170. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 112. J. Derrida, Schibboleth, 106. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 115. 65 3.1.4 Derridas Nähe zur talmudischen Lektüre In der Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoren ist deutlich geworden, dass das Denken Derridas dem jüdischen nahe steht, wenn sich Judesein auf folgende Weise charakterisieren lässt: Der Jude ist an der Grenze von Identität und Andersheit beschnitten und er irrt in den namenlosen Spuren (der Vergangenheit) umher. Valentin untersucht weiter, wie sich dieses Denken bei Derrida im Verhältnis seines Schriftbegriffes zur jüdischen Torainterpretation darstellt. Es ergibt sich, dass zwischen beiden Denkweisen eine Ähnlichkeit besteht, obwohl sich Derridas Denken nicht aus der direkten Begegnung mit der rabbinischen Literatur her entwickelt. Der Schriftbegriff Derridas steht dem Judentum als Buchreligion, die auf dem Vorrang der schriftlichen Tora beharrt, nahe. Freilich kritisiert Derrida den Gedanken, dass nach der Schöpfung, also nach der Fertigstellung des Werkes, eine ursprüngliche Bedeutung und Intention des Schöpfers kontinuierlich anwesend bleibt und dass eine ein für alle mal gegründete Identität wiederholt und repräsentiert werden könnte. Nur durch die ungedämpfte Wahrung der Unmöglichkeit, die Mitte bzw. das Zentrum zu denken und es zu erreichen, wird nach Derrida dem ursprungslosen unauslotbaren Außerhalb im Text jene unbegrenzte Öffnung gewährleistet, die eine endgültige Aus- und Festlegung sterilisieren würde. Nur in der Verpflichtung auf den Text als Nicht-Präsenz ist in der Lektüre ein je neues Gesicht von jenem Außerhalb möglich. Kein umfassendes Ende der Wahrheit ist beschreibbar! Der Autor ist zum Judesein verurteilt, sodass er in der Wüste, im Gewebe des Textes umherirren muss und in der Singularität einer Begegnung auf ewig unterwegs ist. Das ist nach Jabès „die Überlieferung als Geschick.“38 Mit den Worten der Dekonstruktion gesagt, tritt die Verabschiebung ein, kaum dass etwas ankommt. Da gibt es nur die Spur der Wanderung, die Durchquerung des Textes. In der rabbinischen Lehre ist nicht nur der Text selbst wichtig, sondern die Interpretation ist ihm gleichursprünglich, sodass auffordernd gesagt wird: „Wende sie [die Tora] um und um, denn alles ist in ihr.“39 Diese Aufforderung beruht auf der Überzeugung, auch die mündliche Tora sei gleichzeitig mit der schriftlichen dem Mose auf dem Sinai von Gott geoffenbart worden. Die später im Talmud gesammelte und zusammengefasste mündliche Tradition bewahrt 38 39 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 104., Talmud, Traktat Abbot V, 22. Zit. nach J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 129. 66 verschiedene Interpretationsregeln und zeitgenössisch angepasste Methoden der Schriftinterpretation. Die von Anfang an bestehende Notwendigkeit des vielfältigen Kommentierens bei der Tradierung kann man nach J. Valentin mit dem Derridaschen Gedanken des „gleichursprünglichen Supplements“40 in Verbindung bringen, das auf die unweigerliche Zersplitterung am Ursprung bzw. Anfang41 und auf jene Unmöglichkeit hinweist, in die innerste Mitte des Textes einzutreten und sie repräsentierend vorzulegen. Darüber hinaus ist in der rabbinischen Lehre die Materialität der Schrift nicht im Sinne der Repräsentation gedacht. Die Tora wird als der Weltschöpfung präexistent betrachtet und die Schöpfung selbst und alle weltliche Ordnung sind auf sie als Text zurückzuführen. Insofern sind die Welt und ihre Wirklichkeit nicht auf ein verlorenes, ursprüngliches, geistiges Prinzip, sondern auf die einzelnen Buchstaben der Tora angewiesen, die „als vom Bewußtsein unabhängige Einschreibung von Materialität, Körperlichkeit und Zeitlichkeit“42 auf die endlose Lektüre und Interpretation hin angelegt sind. Valentin thematisiert weiterhin den jüdischen Gedanken des „Zimzum“ als Rückzugsbewegung des Schöpfergottes, um den Raum für Anderes zu schaffen und dementsprechend die Leerstelle im Text als den offenen Raum, in dem aufgrund der Abwesenheit des Autors und des differenzierenden Rückzugs des Lesers die neue Schöpfung, nämlich Interpretation, geschieht. Das Verhältnis Derridas zur talmudischen Interpretationstradition kann man mit Valentin folgendermaßen formulieren: „Die strukturalistische Variante des ‚linguistic turn‘, auf der auch das Denken Derridas aufruht, die Verabschiedung einer Vorstellung des subjektiven Bewußtseins als intentionalen Sprachschöpfers und die Annahme einer arbiträren, dem menschlichen Willen entzogenen Bedeutungskonstitution wird im talmudischen Judentum auf erstaunliche Weise vorweggenommen.“43 Die Frage, ob diese Vorwegnahme, die „verrückte“ Interpretation des Judentums44 – abgesehen vom historischen Zusammenhang – in einem kritischen Gegenzug zur christlichen Tradition steht und somit als wiedergefundene jüdische Alternative im Selbstverständnis des Christentums betrachtet werden kann und wie sie mittels der Dekonstruktion Derridas in die christliche Theologie vermittelt werden könnte, ist unter dem Thema „Negative Theologie“ weiterzuführen. 40 41 42 43 44 J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 131. In dieser Hinsicht könnte mit Derrida auch „der Bruch der Tafeln“ auf dem Sinai (Ex 32,19) angedeutet werden. Vgl. ebd., 123. Ebd., 135f. Ebd., 135. Vgl. die Überschrift des Abschnittes bei Valentin, ebd. 128: „Die endlose und ‚verrückte‘ Interpretation der Rabbinen“. 67 3.2 Negative Theologie und Derrida 3.2.1 Zwischen Affirmation und Negation Bezüglich der Frage, was über Gott sagbar bzw. nicht sagbar ist, bestehen in der Theologie traditionell drei Vorgehensweisen: Bejahung (via affirmationis), Verneinung (via negationis) und analoge Sprechweise (via eminentiae). Die ersten beiden Wege sollen schließlich auf einen Einstieg in den dritten Weg hinaus laufen.45 Beim Sprechen von Gottes Sein und seinen Bestimmung ist die negative Theologie in der Theologiegeschichte eher am Rande behandelt worden, während die affirmative Theologie mit den sogenannten Gottesbeweisen meist als der Hauptweg galt. Freilich impliziert die Negative Theologie durch die Verneinungen von zuvor positiv gebildeten Aussagen konsequent auch eine Affirmation dessen, was zumindest von der Transzendenz Gottes ausgesagt werden darf. Insofern bleibt sie auf eine via affirmationis angewiesen, insofern sie selbst in der Form der Sprache verbleibt und im strengen Sinn die absolute Verneinung eo ipso sprachlich nicht möglich ist.46 Dennoch ist dieser affirmative Zug der Negativen Theologie nicht vorschnell als deren primäres Wesen und Ziel hervorzuheben, wie dies Valentin entgegen Hochstaffls Ansatz in seiner Arbeit Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs, bemerkt, ohne dessen für die Thematik aufschlussreichen Untersuchungen relativieren zu wollen.47 Die Negative Theologie markiert die Grenze im Sprechen von Gott. Insbesondere in einer Zeit, in der die Theologie mit der nietzscheanischen Klage des Todes Gottes sowie mit einem scharf skeptischem Ton der späten Moderne in eine Sackgasse geraten zu sein scheint, könnte sie einen Ausweg eröffnen, die Theologie zu erneuern und die absolute Transzendenz Gottes neu zu denken. Indem die in der Theologiegeschichte teilweise marginale und insofern für eine Neuentdeckung noch relativ unbefleckte Negative Theologie auf die Grenze aller affirmativen propositionalen Aussagen von Gott hinweist, kommt ihr im wissenschaftlichen Diskurs eine neue Position zu. Die Theologie als Wissenschaft könnte zur Sprache finden ohne in eine Dialektik zurückzufallen. Die Negative Theologie bildet einen kritischen Operationspunkt am Rande der Sprache zwischen Sagbarem und Unsagbarem, Darstellbarem und Undarstellbarem, zwischen Präsenz und Absenz. 45 46 47 Vgl. K. Kienzler, Gotteserkenntnis, in: P. Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, 301-311. In diesem Sinne hat auch der Atheismus einen positiven Charakter in der Gotteserkenntnis, sodass er und sein kritisches Potenzial im theologischen Diskurs nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 151f; 214-217. 68 Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, die Derridasche Negative Theologie zu erörtern, und zwar in der Hinsicht, ob möglicherweise in ihr ein erneuernder Faktor für das theologische Denken zu finden ist. Für diese Aufgabe wendet sich Valentin zunächst den jüdischen und christlichen Quellen der Negativen Theologie zu, nämlich dem ersttestamentlichen Bilderverbot und christlichen Denkern bzw. Mystikern wie Dionysios Areopagita und Meister Eckhart. 3.2.2 Das alttestamentliche Bilderverbot Zu den wichtigsten Quellen der Negativen Theologie zählt das alttestamentliche Bilderverbot, das u.a. einen Unterschied der israelitischen Religion zu ihrer altorientalischen Umwelt markiert. Religionswissenschaftlich gesehen, lässt sich das Verbot der bildlichen Darstellung Gottes zunächst als Warnung und Eliminierung lesen, die göttliche Wirklichkeit mit dem Dargestellten nicht zu identifizieren und aus dieser Indentifizierung etwa magische Kraft zu postulieren, was in vielen Kulturen üblich war und in manchen Regionen noch heute als Form der Verehrung oder Heilserwartung praktiziert wird. Hier wird schon die Spannung zwischen Aneignung und Differenz deutlich, und es wird verständlich, was mit dem Bilderverbot bewahrt werden soll, nämlich die Undarstellbarkeit der göttlichen Wirklichkeit, die Unverfügbarkeit Gottes. Neben diesem strikten Gesetz begegnen uns aber in der Bibel auch nicht wenige Stellen, die auf Kultwerke und ihre Erstellungen hinweisen. Daraus ergibt sich, dass das Bilderverbot nicht als Beweis für ein generelles Kunst- oder Vorstellungsverbot betrachtet werden darf.48 Dieses Mißverständnis steht hinter der immer wieder zu beobachtenden Tendenz, das Bilderverbot einseitig auf alle Kultbilder anzuwenden und daraus zerstörerische Kunstfeindlichkeit abzuleiten. Eine solche Interpretation schadet aber dem eigentlichen Sinn des Bildverbotes. Um die Bedeutung des alttestamentlichen Bildverbotes theologisch richtig zu verstehen, muss man seine lange Entwicklungsgeschichte berücksichtigen. Die biblische Wissenschaft weist darauf hin, dass die Radikalisierung dieses Gesetzes auf eine jüngere Zeit zurückgeht, nachdem sich das Volk Israel in einem Land niedergelassen hat, in dem es sich mit anderen Reli48 Vgl. ebd., Anm. 19 in 156. „Sowohl die vielfältigen Hinweise des AT auf Kunstwerke (vgl. Ex 25ff. 35ff.; 1Kön 6 u. ö.) als auch die entsprechenden Fundstücke der Palästinaarchäologie begründen die Frage nach der Bedeutung des Bildverbotes bzw. dem Umgang mit ihm. [...] Niemals ist das Bildverbot als Kunst- oder Vorstellungsverbot verstanden worden.“ (Chr. Dohmen, Art. „Bild“, in: 3LThK, Bd. I, 441). 69 gionen und ihren Kultdiensten auseinandersetzen musste. So stützt sich Valentin, auf Chr. Dohmens These, dass die ursprüngliche Motivation des Bildverbotes nicht philosophische Reflexion, sondern zunächst ein konservativer Versuch gewesen sei, die nomadische Tradition der (Kult-)Bildlosigkeit auch nach der Sesshaftwerdung aufrechtzuerhalten, und dass dessen Radikalisierung bezüglich einer zunehmend intoleranten Monolatrie allmählich mit dem zunehmenden Alleinvertretungsanspruch JHWHs durchgesetzt worden sei.49 Insgesamt handelt es sich hier um einen analogen Identifizierungs- bzw. Differenzierungsprozess, der oben mit jüdischem Denken der Beschneidung beschrieben wurde. Darüber hinaus scheint das im alten Orient einzigartige Phänomen des jüdischen Bilderverbotes unmittelbar mit jenem Selbstverständnis der jüdischen Religion in Beziehung zu stehen, dass Israel sich als das allein erwählte Volk Gottes verpflichtet weiß, die Offenbarung Gottes und die geschichtliche Erfahrung mit ihm insbesondere in der Form eines Buches, also nicht nur narrativ, sondern auch schriftlich, weiter zu tradieren. Die im Bilderverbot grundsätzlich ausgedrückte, in keinem Bild einholbare Andersartigkeit Gottes trotz seiner Nähe für die Menschen wurde philosophisch im Sinne einer Undarstellbarkeit Gottes und seiner absoluten Transzendenz, so bemerkt Valentin, im Judentum erst nach dem Kontakt mit dem Hellenismus reflektiert. Hierin sieht Valentin eine Beeinflussung durch die griechisch-philosophische Kritik an anthropomorphen Götterbildern wie zum Beispiel bei Xenophanes, deren Folge im Judentum eine Radikalisierung des Bildverbotes auf jegliches Kult- und Kunstbild hin gewesen sein mag.50 Obwohl viele Stellen im Alten Testament das Tun und Wirken Gottes auf menschliche Art darstellen, folgt aus dieser philosophischen Reflexion, dass diese keinesfalls direkt als Wesensanschauung Gottes betrachtet werden kann. Dieser Differenzierung werden die Texte der jüdischen Religion von Anfang an gerecht. Der biblische Anthropomorphismus ist aber durchaus eine Ausdrucksweise der konkreten Erfahrung und Geschichte, die Israel mit dem rettenden, sich offenbarten Gott gemacht hat und die nicht etwa aus philosophischer Abstraktion oder Begriffsbildung entsprungen ist. Solchem positiven Gehalt einer antropomorphen Gottesrede ist mit dem Bildverbot eine Grenze und Unzulänglichkeit eingeschrieben, eben um die oben genannte Gefahr zu verhindern. In dieser 49 50 Ebd., 157. Vgl. ebd., 156. Es wäre vielleicht ebenfalls zu bedenken, inwiefern eine Gegenbewegung gegen eine bedrohliche Einmischung des kultischen Hellenismus ebenfalls eine Radikalisierung des Bildverbotes angetrieben hat. Dieser funktionalisierte eine menschlich und visuell erfasste mythische Götterwelt für politische Herrschaftssicherung und verursachte so durchaus bis in die Zeit der römischen Besatzung hinein heftigen Aufstand des Judentums. 70 Spannung, in diesem „positiven“ Aspekt des ersttestamentlichen Bildverbotes wurzelt der eigentliche, unentbehrliche Sinn der Negativen Theologie. 3.2.3 Negative Theologie in der christlichen Tradition Neben dem ersttestamentlichen Bildverbot findet sich die terminologisch nur anfänglich entwickelte, aber theologisch deutlich reflektierte und in der Theologiegeschichte – wenn auch der via affirmationis gegenüber auffallend nachgestellt – einflussreiche Form der Negativen Theologie bei (Pseudo-) Dionysios Areopagita (um 500 n.Chr.). Für ein Verständnis dieser Tradition ist es wichtig zu berücksichtigen, auf welche Weise Dionysios von der Interpretation von Platons Grundbegriff der Unsagbarkeit des Einen und seiner Weiterentwicklung im Neuplatonismus und bei den in apologetischem Interesse formulierten negativ-theologischen Gedanken bei manchen Kirchenvätern geprägt wurde.51 Dennoch ist festzustellen, dass die Negative Theologie im Werk des Dionysios Areopagitas, vor allem in der Abhandlung De mystica theologia, ihre erste paradigmatische Entfaltung gewinnt. Der Begriff „Negative Theologie“ taucht als „Apophatische Theologie“, verneinende Rede von Gott, zum ersten Mal bei ihm auf. Ihr kommt im Verhältnis zur Kataphatischen Theologie als den positiven, affirmativen Aussagen über Gott ein hierarchischer Vorrang zu: „Im Hinblick auf das Göttliche sind die Verneinungen wahr und die Bejahungen unzurei52 chend ..., so daß das Göttliche durch die wahren Verneinungen geachtet wird.“ Die Apophatische Theologie verfasst sich zwar anbetend in „unähnlichen Gestaltungen“, muss sich als Erkenntnisweise darüber hinaus aber durch die Negationen aller propositionalen Aussagen, die als niedere unzureichende Erkenntnisweisen den Verneinung vorausgesetzt werden müssen, letztlich „auf eine fundamentale Bejahung Gottes in einer absoluten Transzendenz hin übersteigen, die jede Erkenntnis, ja selbst die Möglichkeit, zwischen Kataphase und Apophase zu unterscheiden, übersteigt“. Sie wird so eine „paradoxe Konstellation von Bejahung und Verneinung, Aufhebung aller Denktätigkeit“.53 Demzufolge ergibt sich für die Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott ein dreistufiger Aufstiegsweg: Reinigung (via purgati- 51 52 53 Vgl. J. Hochstaffl, Negative Theologie, 65-119. Dionysios Areopagita, De caelesti hierarchia II, 3. PG 3, 141. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 167. 71 va), Erleuchtung (via illuminativa) und Vereinigung (via unitiva), was der hierarchologischen Ordnung alles Seins und der Kirche entspricht.54 Damit ist die Theologie auf den Raum einer mystischen Erfahrung verwiesen, in dem der unerkennbare Gott nur im Dunkeln ein Gesicht gewinnt, das dennoch nicht ungebrochen affirmativ beschrieben werden kann. Die Negative Theologie operiert so an einem Ort, and dem alle Verneinungen überstiegen werden sollen und wo sich ein Jenseits der Sprache ereignen kann. Die Frage, wie die Theologie die absolute Transzendenz zum Ausdruck bringen kann, damit überhaupt ein Weg des Logos beginnt, bleibt bestehen. Die Via negationis beginnt jenseits von schon ergangenen Anfängen. Zum negativen Weg der Gotteserkenntnis setzt die Theologie bei anderen Aussagen an und diese voraus. Dieser Gedankengang wird im Hochmittelalter bei Meister Eckhart, der sowohl im Einfluss der Areopagitischen Negativen Theologie als auch aus der neuplatonischen Tradition sein Denken entfaltet, zugespitzt. In seiner theologischen Methode setzt er für die Auslegungen der Worte der Schrift andere Texte oder Kommentare voraus und richtet sich in der Predigtform auf Hörer aus. Darin kann eine „Strukturanalogie zur Dekonstruktion“, die Derrida als „parasitären Diskurs“ charakterisiert, gesehen werden: „Sie bedarf der fremden Texte und Diskurse und ist für sich selbst genommen nichts. Die Diskurse wiederum bedürfen der Dekonstruktion, um sich ihrer Endlichkeit und Unvoll55 kommenheit zu erinnern.“ Von dieser theologischen Methode Meister Eckharts her lassen sich all seine berühmten theologischen Sätze über die „Abgeschiedenheit“, die „Einheit zwischen Gott und Mensch“ und den „Seelengrund“ verstehen. Sie ist auch der Grund, weshalb seine Lehre zum Teil der Häresie verdächtigt wurde. Meister Eckhart ist also nicht nur der Mystiker sondern auch ein großer Denkmeister und liest und predigt als solcher in der Art der Dekonstruktion. Neben der thomistisch propositionalen Erkenntnisweise entwickelt er eine via theologiae negativae, die Gottes Sein und Erkennen für ihn adäquater zu umschreiben in der Lage ist. Vor diesem Hintergrund behandelt Valentin den Gottesbegriff und die Ethik der Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart. Gott wird erfahrbar im Erkennen des Übersteigens vom allem 54 55 Diese Stufenordnung wird bei J. Valentin noch kurz kosmologisch und ekklesiologisch entwickelt. Vgl. dazu ebd., 168-169. Ebd., 171. 72 Sein und der Mensch wird durch die volle Abgeschiedenheit/Gelassenheit von allen Dingen sowie jedem Wissen, Wollen oder Tun in seinem innersten Grund mit der ungreifbaren Wahrheit, mit Gott eins.56 Mit diesem Denken des Erkennens und Vollzugs der mystischen Einheit verlässt er nach Valentin das metaphysische Feld des Dualismus von Sein und Nichts und macht den Weg zur unmittelbaren persönlichen Gotteserfahrung frei. Bei Meister Eckhart wird damit der theologische Diskurs an der Grenze entblößt und bewegt sich im Derridaschen Sinne einer dekonstruktiven Praxis. In dieser Negativen Theologie in der Gestalt des Denkens von Meister Eckhart, findet man auf diese Weise „eine hochmittelalterliche Form der Dekonstruktion herrschaftlich mißbrauchbarer Theologien“57. 3.2.4 Derridas Texte der Negativen Theologie Derrida hat sich explizit in zwei Texten mit der Negativen Theologie beschäftigt. Valentin arbeitet an diesen Texten sorgfältig Derridas Position und Einsichten zu jenem Diskurs heraus. Im Aufsatz Wie nicht sprechen. Verneinungen (1987) behandelt Derrida die klassische Negative Theologie anhand von Äußerungen von Dionysios Areopagita und Meister Eckhart, aber auch Texte Martin Heideggers. Auf den ersten Blick scheint der Titel eine analytische Arbeit über die Negative Theologie anzuzeigen, näher betrachtet müssen aber, wie es bei Derrida oft vorkommt, Gemeinsamkeiten und Differenzen, Übereinstimmungen und Abgrenzungen zwischen Derridas Position und den von ihm kommentierten Texten in beständiger Überlagerung bestimmt werden. In der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Negativen Theologie und der Dekonstruktion betont Valentin zunächst eine „Familienähnlichkeit“. Nach ihm kommt Derrida letztlich „zu einem allgemeinen Begriff von ‚Negativer Theologie‘, der selbst von der Dekonstruktion kaum mehr unterschieden werden kann und die faktisch vorhandenen historischen Texte dieser Gattung theologischen Sprechens als einzelne mögliche Varianten eines wesentlich umfassenderen Phänomens – eben der Dekonstruktion – erscheinen läßt.“58 Die Gemeinsamkeit liegt vor allem darin, dass die Negative Theologie in verneinender Weise auf das Jenseits des Sprechens von Gott hinweist und sich die Derridasche Dekonstruktion in ähnlichem Duktus dualistischen Beschreibungen des Seins entzieht. Derrida weist in einer Anmerkung selbst auf 56 57 58 Vgl. ebd., 171-174. Ebd., 171. Ebd., 178. 73 eine Beschreibung der différance hin, die wenn auch kursorisch die Nähe zwischen différance und Negativer Theologie betont: „So daß die Umwege, die Perioden, die Syntax, auf die ich häufig werde rekurrieren müssen, denen der negativen Theologie manchmal zum Verwechseln ähnlich sehen. Bereits (déjà) ist es geboten gewesen zu vermerken, daß die différance nicht ist, nicht existiert, nicht ein Gegenwärtig-Seiendes (on) ist, was dies auch immer sei; und wir werden dahin geführt werden, auch alle zu vermerken, was sie nicht ist, das heißt alles, und daß sie folglich weder Existenz noch Wesen (essence) hat. Sie gehört in keine Kategorie des Seienden, 59 sei es anwesend oder abwesend.“ Dennoch distanziert sich Derrida im selben Abschnitt auch und betont, dass das, „was derart mit différance bezeichnet wird, nicht theologisch, nicht einmal im negativsten Sinne der negativen Theologie“60 ist. In welchem Verständnis der Negativen Theologie Derrida solche Abgrenzungen zieht, kommt in den Blick, wenn er das Konzept der „Hyper-Essentialität“ Gottes bei Dionysios und Meister Eckhart kritisch beleuchtet. Derrida will seine Arbeit insofern nicht als Negative Theologie bewerten lassen, als diese in einer ontologischen Überbietung der Hyper-Essentialität Gottes diesen als Sein jenseits des Seins oder als Seiendes über dem Sein erhöht.61 Denn Derrida bleibt der Unmöglichkeit, die Identität in göttlichen Namen oder in propositionalen Aussagen zu beschreiben, verpflichtet. Identität markiert keinen Ort innerhalb des metaphysischen Systems, sie liegt jenseits von Sein und Nicht-Sein. Dieser „ungeheuren Platz“62 muss letztlich unbesetzt bleiben, sodass er von ihm auch nicht als Gott, Gottes Name, Gottes Sein, Nicht-Sein oder Über-Sein gesprochen werden kann. In der Art und Weise, wie sie Aussagen und Texte durchqueren, zeigen die Negative Theologie und die Derridasche Dekonstruktion einige Übereinstimmung, doch Derrida distanziert sich von der Negativen Theologie, insofern dieser Diskurs einem ontologischen Horizont verpflichtet bleibt. Um die ontologische Variante der Negativen Theologie zu überwinden, hat er zunächst jenen Ort markiert, an dem ein Voraus vor kataphatischer und apophatischer Ausrede bewahrt bleibt. In diesem unbesetzten, gemäß der Negativen Theologie „geheimen Raum“, dem „Jenseits der Sprache“, teilt sich das Unausdrückbare als Spur mit, indem das Ausdrückbare durchkreuzt wird.63 Diese Bewegung der Kreuzung geht aber über die einfache 59 60 61 62 63 J. Derrida, Wie nicht sprechen, 113f. Vgl. auch ders., Die différance, 34. J. Derrida, Die différance, 34. Vgl. J. Derrida, Wie nicht sprechen, 16ff. Ebd., 94. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 183. 74 Verneinung von propositionalen, beweisorientierten Aussagen hinaus. Sie liegt der doppelten Bewegung von Kataphase und Apophase voraus und weist darauf hin, dass dieser Raum niemals vollkommen durchmessen werden kann, weder von kataphatischer noch von apophatischer Logik, noch von einer verschmelzenden Zusammensetzung der beiden. Dieser Vorgang erscheint „als niemals vervollständigbarer Prozeß, als endloser Verweis auf einen fundamentalen Mangel, der im Raum des Sprachlichen niemals gestillt werden kann.“64 Derridas Strategie, die er durchaus mit der Negativen Theologie eines Dionisios teilt, ist in diesem Sinn auf das eigene „Nicht-Sprechen-Wollen“ geworfen. Der unbesetzte Raum kann durch die Sprache nicht ermittelt und aufgeschlossen werden, obwohl sich alles Sprechen innerhalb dieses Raumes ereignet. Vielmehr ist er der Raum, der sowohl das Sprechen als auch das Schweigen erst ermöglicht, indem er den Ort des Sprachlichen von einer gegenwärtigen ‚Anwesenheit außerhalb des Seins‘ unterscheidet, immer schon verschiebt und durchstreicht. Dieser Gedankengang Derridas gelangt damit wiederum in die Nähe der différance. Als Voraus von Differenz und Identität lässt die différance die Sprache überhaupt stattfinden, als Spur ist die bereits vergangene Präsenz niemals zu vergegenwärtigen. Theologisch gesehen, kann Gott nicht an einem Ort, irgendwo in einer Anwesenheit gefangen oder ergriffen werden. Ort und Rede von Gott verschieben sich ständig, zerbrechen in jenem durch den Akt und die Bewegung der différance immer wieder zu dekonstruierenden Raum, in dem die Negative Theologie vor allem die apophatische Dynamik hervorgehoben hat. Derrida legt die umfassende Bewegung einer selbstreflexiven Negativen Theologie in ihrer Unabschließbarkeit offen. Insofern sprengt der Aussageraum der Negativen Theologie jede metaphysische Konstellation, die ihn vereinnahmen möchte. Derrida merkt an, dass andere Textgattungen, wie Literatur, Gebet usw., der Bewegung des Raumes angemessener und notwendig sind. Valentin skizziert, wie Derrida in seiner Untersuchung beispielhaft insbesondere das Gebet in den Blick nimmt. Das Gebet sprengt, insofern es an den Anderen oder an den Ruf des Anderen ausgerichtet ist, die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem. Die Auslieferung an den Anderen im Gebet ist eine Sprachbewegung, die den Anderen als Anderen außerhalb der Ordnung des Gesagten sein lässt und das Sprechen doch ermöglicht, sodass im wiederholten Text des Gebets die nicht objektivierbare Singularität des Anderen je vortritt. In der Iteration, die doch niemals das Eine wiederholt, bleibt jede Aussage unvollendet und die Unmöglichkeit ihrer Abschlie64 Ebd., 184. 75 ßung – sei es rückwärts zu einem reinen Anfang oder vorwärts zu einem erfüllten Ende – bewahrt.65 Eingehend bearbeitet Valentin anschließend Derridas zweiten Text zur Negativen Theologie: Post-Scriptum. Aporias, Ways and Voices (1992). Dieser erschien als eigener Beitrag Derridas in einer Aufsatzsammlung, die sich aus theologischer Perspektive mit Derridas Positionen zur Negativen Theologie beschäftigt. Hier setzt sich Derrida vor allem mit Äußerungen des Johannes Scheffler (Angelus Silesius) auseinander. Im Hintergrund steht wiederum die Lévinassche Einsicht, dass das, was Subjektivität ermöglicht und Sprache entstehen lässt, das Antlitz des Anderen und das Sich-Richten an den Anderen sind. Wie der Titel andeutet, begegnen sich in Derridas Text verschiedene Stimmen, es herrscht ein Polylog, der jedoch kein etwa in einer inneren Stimme artikuliertes inneres Bewusstsein oder kein autonom sprechendes Subjekt als Autor setzt. Ein solcher Dialog zwischen selbständigen Partnern lässt, wie Derrida betont, die hierarchische Struktur des platonischen Dialogs hinter sich.66 In der Adressierung an den Anderen und in der konsequenten Vielstimmigkeit eines Textes, in dem nicht eine Stimme auf einen inneren Ursprung zurückzuführen ist, gelingt Derrida die Beschreibung jenes Raums, den die Negative Theologie offen zu legen versucht. Die Leere dieses Raums kann nicht gefüllt werden. Jede Benennung wird hier durch die Verschiebung, Differenzierung, also in différance durchkreuzt und unzulänglich gemacht. Diese Bewegung kann nach Derrida nur mittels paradoxer, aporetischer Formulierungen zum Ausdruck gebracht werden, wie er sie bei Angelus Silesius findet, wenn dieser zum Beispiel schreibt: „Geh hin, wo du nicht kannst: sih, wo du sihest nicht: Hör wo nichts schallt und klingt, so bistu wo Gott spricht.“67 Es ist der Ort, an dem, nochmals betont, der Andere in seiner Andersheit unbeschädigt gelassen wird, an dem sich Gott als das Unnennbare, über den Namen anrufen lässt. In diesem Ereignis „den Namen einer wahren / gerechten / angemessenen Stimme zu hören“ liegt das Ziel der Negativen Theologie, sodass sie um dessentwillen „all die unangemessenen Attribute zu- 65 66 67 Vgl. ebd., 187-191. Valentin weist nochmals darauf hin, dass Derrida in diesem Gedankengang Lévinas nahe steht (vgl. ebd., 185), und stellt eine große Ähnlichkeit zwischen den literarischen Gattungen Gebet und Gedicht fest (vgl. ebd., 191). Vgl. ebd., 193. Zit. nach: J. Derrida, Post-Scriptum, 303. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, Anm. 190 in 207. 76 rückweist, verneint, ablehnt.“68 Die Stimme in dem zerrissenen Spalt des Ereignisses zu hören – dies findet nach Derrida immer im vielstimmig geflochtenen Text statt. Das erinnert an die Metapher der „Wüste“, ein Ort, wo jede Identifizierung an der Grenze beschnitten und das menschliche Dasein auf das Wandern angewiesen ist, wo aber die Spuren des gegangenen Weges sofort wieder von Sand und Wind verweht werden. Diese Metapher, die auch die Negative Theologie für den geheimen Ort des göttlichen Ereignisses verwendet, findet Derrida auch in einer Aussage des Angelus Silesius: „Man muß noch über Gott. . . . Wol sol ich dann nun hin? Jch muß noch über GOtt in eine wüste ziehn.“69 Derrida hat in Erörterungen zur Negativen Theologie diesen Diskurs als der Dekonstruktion verwandten Weg dargestellt, die Metaphysik zu „verwinden“. Für Derrida kommt es dabei vor allem darauf an, nicht durch die Negation einfach ein Gegenteil zu postulieren, sondern durch verschlingende Textbewegungen an der Grenze von Innen und Außen diese aufzusprengen.70 Damit weist die Derridasche Negative Theologie auf einen der apophatischen und kataphatischen Rede vorausgehenden Raum, „den nichtsprachlichen Ursprung der Sprache“71 hin. Die Gabe dieses Raumes ist wie das an der Grenze zwischen Zweien situierte Dritte, in dem die Oppositionen und ihre Aufhebung sowie auch etwas wiederum Anderes statthaben.72 Die Derridasche Negative Theologie ist insofern ein dekonstruktives Vorgehen, sie ist différance. Sie ist, mit Valentin, „prozessuales sprachimmanentes Geschehen, das dennoch als subtiler Hinweis auf die mit Vernunftgründen nicht qualifizierbare Existenz Gottes gelesen werden kann.“73 68 69 70 71 72 73 J. Derrida, Post-Scriptum, 310. Zit. nach: J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 203. Zit. nach: J. Derrida, Post-Scriptum, 298. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 197. Ebd., 213. Vgl. J. Derrida, Wie nicht sprechen, 64-71. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 214. 77 3.3 Fazit Nach einer knappen, aber die wesentlichen Brennpunkte überzeugend beschreibenden Darstellung vor allem der frühen Philosophie Jacques Derridas untersucht Valentin, wie gesehen, in den folgenden zwei Hauptteilen seiner Arbeit die Position Derridas zum jüdischen Denken und zur Negativen Theologie. Dabei ergeben sich Einsichten in verborgene Quellen für das Denken Derridas, auch wenn er sich manchmal distanziert zu ihnen äußert. Das jüdische Denken, das insbesondere anhand des Begriffs der Beschneidung und anhand rabbinischer Hermeneutik nachvollzogen wird, und die Beeinflussung durch zeitgenössische jüdische Autoren, vor allem E. Lévinas, bilden wichtige Hintergrundfolien für das Denken Derridas. Die Negative Theologie anhand von Denkern wie Dionysios Areopagita, Meister Eckhart und Angelus Silesius, die in der christlichen Tradition oft als Mystiker bezeichnet werden, stellen ebenfalls wichtige Einflüsse auf die Entwicklung von Derridas Philosophie dar und bieten einer christlich theologischen Auseinandersetzung mit Derrida der Theologiegeschichte inhärente Anknüpfungspunkte. Auf die Markierung und Reflexion von bleibender Distanz und Fremdheit zwischen Derrida und den aufgezeigten Einflüssen, sowie zwischen den untersuchten jüdischen und christlich mystischen Diskursen und einer christlich akademischen Theologie des 20. Jahrhunderts sei hingewiesen. An dieser Stelle können wir uns fragen, ob das bis hierher entwickelte Verständnis des Denkens Derridas als ein „Anders-Denken“ beschrieben werden kann, in dem Sinne, dass es Anliegen und Ziel seiner Philosophie ist, die Möglichkeiten des Diskurses, innerhalb der abendländischen Denkgeschichte Verdrängtes oder nicht Gedachtes ans Licht zu befördern und diesem Anderen entgegen der Geschichte nachzudenken. Dieses Anders-Denken wäre dann für die Theologie eine Herausforderung, insofern sie sich in einer „Theologie nach Jacques Derrida“ auch gegen ihre Geschichte wenden würde. Valentin bringt diesbezüglich im vierten und letzten Teil seiner Arbeit nicht nur einen Überblick über die theologische Rezeption Derridas im angloamerikanischen Raum, wo bereits seit langem in verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel in Architektur oder Literaturkritik die Derridasche Dekonstruktion debattiert worden ist.74 Noch direkter versucht er aber auch eigene Perspektiven anzubieten, was eine solche Umkehr der Theologie in manchen theologischen 74 Vgl. ebd., 219-242; J. Valentin, Das Echo Jacques Derridas in der angelsächsischen Theologie, in: Theologische Revue 97 (1/2001), 19-28; G. M. Hoff, Die präkere Identität des Christlichen, 355-421. 78 Disziplinen wie etwa in der Trinitätslehre, Christologie oder Sakramententheologie gemäß wichtigen Punkten des Derridaschen Denkens bedeuten könnte. Die Aufgabe, solche Theologie in weiteren Details durchzuführen, und so verschiedenen Bereichen der christlichen Theologie neue Wege der Gerechtigkeit zu eröffnen, bleibt bestehen. Auch wenn diese Wege aus Derridascher Sicht unabsehbar und immer unvollständig sein werden und für die Theologie vielleicht noch weitere erschütternde Herausforderungen bereithalten, darf Valentins Wagnis erster solchermaßen explizit theologischer Schritte nicht unterschätzt werden. Im 9. Kapitel unserer Arbeit werden wir auf manche der Punkte zurückkommen, die Valentin hier wegweisend erörtert. J. Valentin kommt das Verdienst zu, sich zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum theologisch explizit mit dem Denken Derridas auseinandergesetzt und dabei entscheidende Wegweiser aufgestellt zu haben. Wenn im folgenden weitere teilweise weitgehend unabhängig und gleichzeitig mit Valentin entstandene theologische Monographien zu Derrida in den Blick kommen, darf dabei die aus dieser Untersuchung gewonnene Einsicht nicht abhanden kommen, dass der Aufbau einer Theologie nach J. Derrida – möglicherweise jede Theologie als die Rede von Gott – unvollkommen bleiben wird. Sie ist mit jedem weiteren Schritt auf einem permanenten Pfad in fortwährendem Aufbruch und Umherirren verfasst. Denn Gott und die theologische Gottesrede ist in keiner Weise und an keinem Ort festzustellen. In diesem Sinne ist die Theologie bleibend an der Grenze zwischen Theismus und Atheismus situiert, in diesem Sinne vollzieht sie sich, wie der Titel von Valentins Arbeit formuliert, immer als „Atheismus in der Spur Gottes“. 79 4 Semiologische Analyse des Christentums: Johannes Hoff 4.1 Derrida zur Universal- und zur Transzendentalpragmatik 4.1.1 Glückliche Kohärenz versus jüdisches Erbe An Jacques Derrida, aber auch an Michel Foucault und andere Denker wie Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan und Michel de Certeau knüpfend, hat Johannes Hoff seine umfangreiche Studie vorgelegt, die zugleich auch nach der Struktur der klassischen fundamentaltheologischen Traktate konzipiert ist. Dass es sich hier aber um die theologische Rezeption des Denkens Derridas handelt und wir und daher, im folgenden sorgfältig aufgeteilt, nur auf die mehr oder weniger unmittelbar sich mit Derrida auseinandersetzenden Teile beziehen, würde die Anliegen des Autors – wohl – nicht verfehlen, selbst wenn er unter dem Gesichtspunkt der Machtkritik eine relevante „Verwandtschaft“ zwischen J. Derrida und M. Foucault sieht und somit seine Arbeit in „eine(r) komplementäre(n) Lesart“ ausführt.1 Da die argumentativen Grundlagen der Dekonstruktion nur indirekt, das heißt ex negativo, erforscht werden können2, versucht J. Hoff zunächst im ersten Hauptteil seiner Arbeit das Derridasche Denken mit den Rationalitätskonzepten der Universalpragmatik J. Habermas’ und der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels zu vergleichen, wobei er durch solche rekonstruierende Operation auch die Fundamente für den systematischen Aufbau seines folgenden theologischen Programms offen zulegen weiß. Der daraus resultierende Entwurf – nicht nur von philosophischen Ansätzen, sondern auch von innertheologischen Fragestellungen her paradoxerweise zugleich deren Grundlagen erschütternd – wird sich dann, wie J. Hoff von Anfang an zeigen kann, zwischen bzw. hinter der transzendentalphilosophisch angelegten Linie und der an der Phänomenologie orientierten Linie der Fundamentaltheologie situieren, mit dem Ziel: „den Möglichkeitsraum zu erforschen, innerhalb dessen sich die ‚Unmöglichkeit‘ einer Offenbarung ereignen ‚könnte‘.“3 1 2 3 Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 18, 22. Vgl. ebd., 33. Ebd., 30. Zu den zwei fundamentaltheologischen Linien, vgl. ebd. 28f. Hoff weist bereits darauf hin, dass bei diesem Verfahren mit gravierenden Verfremdungseffekten zu rechnen ist, weil eben die Dekonstruktion die Grenzziehung zwischen einer „innertheologischen“ und einer „außertheologischen“ Perspektive auf Glaubensfragen als problematisch erscheinen lässt (ebd., 18). 80 Die seit der Nachkriegszeit unterschiedlich verlaufenen Akzentuierungen des Philosophierens östlich und westlich des Rheins, also zwischen dem das Erbe der Aufklärung immer noch zeitgenössisch reformulierenden Versuch einerseits, und der in vielerlei Hinsicht auf eine hierarchische wissenschaftsbezogene Hegemonie zielende Metaphysik- bzw. Vernunftkritik andererseits, wird man gerade dort zugespitzt sehen, wo man das Projekt Habermas’ und die Dekonstruktion Derridas zum Vergleich heranzieht, wie es Hoff unternimmt. Obwohl zwischen beiden Denkwegen eine Gemeinsamkeit unter den macht- und herrschaftskritischen Ansätzen zu finden ist, zeigt er, wie schwerwiegend die Diskrepanz ist, die zwischen beiden sowohl auf philosophischer als auch auf politischer Ebene herrscht.4 Nun könnte man freilich all die quasi postmodernen Positionen, die Moderne sei überwunden oder ihr Projekt sei gescheitert, derjenigen von Habermas gegenüberstellen, der seine Aufgabe darin sieht, das Erbe der Moderne als „eines unvollendeten Projekts“ weiter zu verwalten und den universalistischen Anspruch der Vernunft gegenüber allerlei relativierenden Strömungen defensiv zu verteidigen. Interessanterweise stimmen zwar die beiden oben genannten Positionen zumindest in der Diagnose der Moderne überein, dass nämlich die Modernisierung durch eine einseitige Rationalisierung begleitet worden ist und daher die nunmehr scheinbar in eine Sackgasse geratene Moderne einer „kritischen“ Überprüfung unterzogen werden muss. Was den Weg heraus aus den Aporien der Moderne anbelangt, sind sie aber zu verschiedenen Ergebnissen gelangt und deutlich ist die Scheidelinie, wenn Habermas vor allem die nach den drei Kritiken Kants geläufig gewordenen partikularen Rationalitäten5 in eine neue Einheit zu vermitteln versucht. Wie er dies in seinem „Projekt der Universalpragmatik“ ausführt und dabei dennoch auf ein transzendentales Begründungsmodell verzichtet, zeigt sich in der Vermittlung von „Lebenswelt“ und Sprachanalyse. Das hypothetisch implizite Wissen, das sich in jedem einzelnen Handeln des Subjekts mit vollzieht und in diesem verankert ist, speist sich aus Ressourcen der Lebenswelt, die aus normativen Hintergrundüberzeugungen und kulturellen Selbstverständlichkeiten besteht6, sich allerdings im Ganzen niemals zugänglich macht.7 Die immer nur im Rücken bleibende Lebenswelt wird als selbstverständlich angenommen und leitet das Handeln an, solange es dabei 4 5 6 7 Vgl. ebd., 34. Deutlich werden auch die gegensätzlichen Positionen dort, wo Derrida bei Habermas einen Utopismus und dieser bei jenem einen Irrationalismus vermutet. (vgl. ebd.). Vgl. ebd., 39. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 107; Bd. 2, 190f. In diesen Sinne lehnt Habermas das Apelsche Letztbegründungsprogramm ab. Vgl. ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, 350. 81 zu keiner Problematisierung kommt. All dies wird aber gewissermaßen in der Sprache vermittelt, was soviel heißt, „daß ein Subjekt nur die Handlungen ausführen kann, deren Intention es grundsätzlich beschreiben kann. Die Grenzen des Handelns sind durch den Spielraum möglicher Beschreibungen bestimmt.“8 Insofern sind die Systeme des Handelns aus den Bedingungen der sprachlichen Kommunikation abzuleiten. Außerdem ist jeder Sprechakt interpersonal, das heißt, er stellt eine Interaktionsbeziehung zwischen mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten zugleich her und wirkt argumentativ, das heißt, er erhebt Geltungsansprüche. Kommunikative Handlungen müssen dabei auf eine gemeinsame Basis, auf einen Kontext von Handlungsnormen und Werten bezogen werden, denn ohne diese bliebe die einzelne Handlung unbestimmt.9 Die Kommunikation als sprachlich argumentativer Verständigungsprozess setzt also eine normative Basis voraus, die in der „Lebenswelt“ verwurzelt ist. Die sprachpragmatische Analyse von Habermas geht insgesamt davon aus, dass die Sprache die Lebenswelt repräsentiert, aber genau dies ist nach Ansicht des Neostrukturalismus problematisch. Derrida hat darauf hingewiesen, dass die im Sprachsystem liegende Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant niemals eingeholt und eingeebnet werden kann, ja dass dabei diese differenzierende Verschiebung selbst zum Wesen des sprachlichen Phänomens gehört. Mit Foucault bemerkt J. Hoff dazu, dass hier eine Zirkularität beachtet werden muss, um überhaupt aus dem impliziten Wissen der Alltagssprache so etwas wie eine kritische Instanz herausfiltern zu können: „Bevor die kritische Instanz des argumentativen Diskurses zwischen den Sinn verbürgenden Ressourcen und den zwanghaften Entstellungen unterscheiden kann, die sich unter dem Namen der ‚Lebenswelt‘ verbergen, muss sie selber von der zwielichtigen Sphäre ‚bloßer‘ Alltagspraktiken unterschieden werden, soll sie sich nicht dem Verdacht ausset10 zen, an deren Ambivalenz teilzuhaben.“ Habermas’ Position, eine normative Instanz frei von Ambivalenzen vorauszusetzen, bleibt an ein Ideal gebunden, von dem aus er seine Diskurstheorie weiter aufbaut. Gemäß seinen Ausführungen zu einer „idealen Sprechsituation“ sollen von einem argumentativen Diskurs alle Handlungszwänge ausgeschlossen und also die formalen Bedingungen erfüllt werden, durch 8 9 10 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 161. Vgl. J. Habermas, Was ist Universalpragmatik? 216f. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 37f. Habermas erörtert auch die Zirkularität, die zwischen der Lebenswelt als Wissensvorrat und Sinnhorizont und den daraus erwachsenen Systemen besteht. (vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 171-293.). 82 die sich am Ende nur das bessere Argument zwanglos durchzusetzen vermag.11 Die von Habermas genannten vier Bedingungen, nach denen alle Diskursteilnehmer die gleiche Chance haben müssen, Sprechakte kommunikativ, konstativ, repräsentativ und regulativ zu verwenden, sind insofern ideal, als sie zum einen im Sinne der hypothetischen Präsupposition für die Verständigung konstitutiv sind, zum anderen aber auch faktisch angestrebt werden müssen. Genau an der Frage, ob man der herrschaftsfreien Kommunikation, die das Ideal der Habermasschen Diskurstheorie darstellt, als Utopie oder als Verkürzung des Diskurses misstraut, oder ob man darin universale Kriterien für die Handlungen gefunden zu haben glaubt, liegt nun der Fluchtpunkt der gegensätzlichen Positionen zwischen der Universalpragmatik von Habermas und dem Denken Derridas. Während Habermas weiterhin nach einer universalen Einheit sucht, die alle Regeln und Normen konvergierend verknüpft und als Maßstab in jeder kommunikativen Handlung immer schon zugrunde legt, will die Dekonstruktion Derridas das zentrumslose Feld der Philosophie offen legen. Nach Habermas erhebt jeder Sprechakt mit dem Ziel der Verständigung drei Geltungsansprüche: Wahrheits-, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsanspruch.12 Als pragmatische Universalien sind diese Ansprüche unvermeidlich immer in jeder Sprechhandlung implizit oder explizit zugleich da, und wenn man sich verständigen will, begründen sie diese Ansprüche. Mit dem argumentativen Diskurs begründet Habermas nun das normative Fundament des kommunikativen Handelns und vertritt dabei einen unverkürzten Rationalitätsbegriff. Denn in evolutionärer Perspektive begreift er die Modernisierung als Ausdifferenzierungsprozess der drei Kantischen Vernunftssphären, die jeweils den drei genannten Geltungsansprüchen korrespondieren, wobei Kant die Vernunft insofern reduzierte, als er einzig die kognitiv-instrumentelle Rationalität in den Vordergrund rückte und andere Vernunftmomente in ihrer integrierende Funktion ausblendete.13 Nun „konvergieren“ nach Habermas die drei Geltungsansprüche der propositionalen Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der expressiven Wahrhaftigkeit „in einem einzigen: dem der Vernünftigkeit“14, und diese kommunikative Rationalität ist für ihn die einheitliche Vernunft. Als letzter Bezugspunkt hat sie also „den Charakter eines Vermittlungsverfahrens, das – gewollt oder ungewollt – alle gesellschaftlichen Interaktionsprozesse immer schon bestimmt.“15 Mit der Rekonstruktion der einheitlichen Vernunft sind für Habermas Übergänge und Medium der selektiven 11 12 13 14 15 Vgl. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 177f. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 439. Vgl. ebd., 72-113. In Anspielung auf das Rationalitätskonzept Max Webers versucht er diese These auszuweisen. Vgl. ebd., 225-368. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 104. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 38. 83 Rationalitäten gefunden und lässt sich von der glücklichen Kohärenz verschiedener theoretischer Fragmente der Vernunft erhoffen.16 Ist das, was Habermas erhofft – auch wenn er dies für kontrafaktisch hält – aber bloß eine unerfüllbare Sehnsucht nach der verlorenen Einheit, die nur noch in der vormodernen mystischen Welt ungeteilt bewahrt war, für die Zeit der späten Moderne jedoch nicht mehr zurückgeholt werden kann? Hoff zeigt, wie Habermas diesbezüglich die Rolle der Philosophie bzw. des Philosophen als Platzhalter – und eben nicht als Platzanweiser – neu zu bestimmen versucht hat17, und thematisiert weiter Habermas’ Verhältnis zu Heidegger: „Indem er (Habermas) sich die Rolle des ‚Platzhalters‘ zuweist, der auf eine ‚glückliche 18 Kohärenz‘ spekuliert, repetiert er ein Grundmotiv der Heideggerschen Ontologie.“ Im Horizont einer Ontologie des Anwesens spekuliert Heidegger auf den Zusammenhang von Fuge und Un-Fuge, in dem sich die Fuge notwendig aufgrund der Un-Fuge ereignet, und die Gerechtigkeit wäre es, in einem solchen Ereignis die Un-Fuge einer fragmentierten Welt zu einem glücklichen Einklang zu fügen.19 In dem Postulat, mit dem Habermas noch der Philosophie die Platzhalterschaft und koordinierende Rolle zuzuweisen versucht, steht dann seine Universalpragmatik dem Heideggerschen Stil nahe. In diesem Sinne trifft sein Vorwurf, Derrida repetiere unter jüdischen Vorzeichen die neuheidnische Mystik der Heideggerschen Ursprungsphilosophie20, dessen Anliegen allerdings nicht mehr. Die Fugenlosigkeit als einen „Bruch“, als eine „Anachronie“ auszutragen, ist für Derrida dagegen gerechter, als auf die sich in die Anwesenheit verfügende Fuge zu hoffen. Das von der Aufklärungsrationalität als Irrationales und Mystisches angegriffene und somit vertriebene jüdische Erbe, das wesentlich an einen „Messianismus der Wüste“ gebunden ist, lässt sich nach Derrida nicht mit einer wohlgefügten, antipizierbaren Versöhnung vermitteln. Es treibt nur in der Wüste herum, im dezentriert offen gelegten Raum, ohne bei einer identizierbaren Fixierung zu verweilen. Dass der Wille zur Vermittlung – der durchaus auch mit einem guten Willen gegen das Machtmonopol identisch sein kann – konsequent in eine Vereinnahmung und Verdrängung des Anderen zurückfällt, ist gerade das, was Derrida mit der Dekonstruktion verwinden will. 16 17 18 19 20 Vgl. ebd., 41. J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 9-28. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 43. Vgl. ebd., 44f. Ebd., 43. 84 Wenn aber das jüdische Erbe in jener messianischen Dimension an die Gerechtigkeit erinnert, welche im kontingenten Sprachspiel ohne Anfang und ohne Bleiben ist und stattdessen zu immer neuem Aufbruch mahnt, stellt sich dann hier nicht die Frage: Gibt es denn hier überhaupt noch einen fixierbaren Punkt und Sinn? 4.1.2 Das sprachpragmatische Argument und das Hypersubjekt Abgesehen davon, ob es Habermas gelungen ist, mit der kommunikativen Vernunft die fragmentierten Rationalitätssphären in eine glückliche Einheit zu vermitteln, ohne dabei andere Erbschaften wie Alterität oder Abwesenheit preiszugeben, setzt sich seine Theorie dem unausweichlichen Zwang aus, die normativen Prämissen zur kommunikativen Verständigung zu rechtfertigen. Hoff bemerkt: „Der philosophische Diskurs darf nicht nur zwischen den Sphären vermitteln: Er muss dem Denken ein unhintergehbares Kriterium zur Unterscheidung zwischen legitimen und illegi21 timen Vermittlungsansprüchen zur Verfügung stellen.“ Bekanntlich hat sich Karl-Otto Apel mit dieser Problematik beschäftigt. Als Freunde haben sich beide Denker, Habermas und Apel, gegenseitig beeinflusst und voneinander gelernt22, auseinander gehen sie aber an dem Punkt , wo es nach der Unhintergehbarkeit des normativen Kriteriums zu fragen gibt und ob dies überhaupt innerhalb einer Diskurstheorie zu leisten ist. Wie schon oben angesprochen, hält die Position Habermas’ zwar an dem Anspruch der universal-normativen Kriterien fest, sie findet sich aber insofern mit den empirischen Theorien ab, als er es für ausreichend hält, die Basis jener Kriterien in den lebensweltlichen Ressourcen aufzufinden. Auch wenn Habermas zugesteht, dass dieser lebensweltbezogene Diskurs des Alltags ständig der Trübungsgefahr ausgesetzt ist, sieht Apel darin eine folgenschwere Konsequenz, denn „damit würde man dem Umstand nicht gerecht, daß sie von jeder Konzeption empirisch falsifizierbarer Theorien schon als normative Bedingungen ihrer Möglichkeit vorausgesetzt werden müssen.“23 Es bleibt nach Apel also der Anspruch einer Letztbegründung, 21 22 23 Ebd., 49. Habermas’ Diskursethik etwa greift auf Apels Argumentationskonzepte zurück, mit denen dieser der linguistischen Wende Rechnung getragen hat, und von Habermas übernimmt Apel die Theorie der universalen Geltungsansprüche. K.-O. Apel, Warum transzendentale Sprachpragmatik? 22. 85 d. h. die Notwendigkeit, auf die nicht mehr geschichtlich zufälligen, sondern unbestreitbaren universalen Voraussetzungen der Verständigung bzw. Argumentation zurückzugehen. Apels Transzendentalpragmatik, eine Transformation der Transzendentalphilosophie in Bezug auf die Sprechakttheorie und intersubjektive Kommunikationsgemeinschaft, spekuliert demnach auf die Voraussetzungen jedes Sprechaktes, insbesondere des Argumentierens. Dabei spielt das Kriterium des „performativen Widerspruchs“ eine entscheidende Rolle. Im Sprechakt ist eine Aussage performativ in Widerspruch geraten, wenn der propositionale Gehalt der Aussage selbst mit ihrer illokutionären Kraft zusammenstößt.24 Somit bleiben nach Apel die Präsuppositionen unterstellt, die man als vorausgesetzt anerkennen muss, wenn man sich überhaupt auf einen Sprechakt einlassen will, ohne sich mit dem eigenen Aussagen selbst in einen Widerspruch zu verstricken. Um einen der performativen Selbstwidersprüche zu vermeiden, muss man gerade bei dem pragmatischen Sprechakt also Argumentationsregeln als letztbegründet anerkennen: „Wenn ich etwas nicht ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestreiten und zugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann, dann gehört es eben zu jenen transzendentalpragmatischen Voraussetzungen der Argumentation, die man immer schon anerkannt haben muß, wenn das Sprachspiel der Argumentation seinen Sinn behalten 25 soll.“ Der reflektierende Zirkel, der auf die Voraussetzungen der Argumentation zurückgreifen muss, und die Nichtverwerfbarkeit der Bedingungen, die den performativen Selbstwiderspruch ausschließen sollen, sind die grundsätzlichen Merkmale der Apelschen Letztbegründung. Er begründet daher sein Argument nicht in positiver Weise und bindet es darüber hinaus an eine sinnkritische Bedingung. Wer nämlich sinnvoll argumentieren will, muss die performativen Selbstwidersprüche ausschließen. Ist damit der Anspruch unerschütterlich gesichert, der das transzendentale Argument der performativen Selbstwidersprüche in seiner Geltung für unhintergehbar erklärt? Hoff erörtert dieses Problem vor einem bewusstseins- bzw. subjektphilosophischen Hintergrund und erklärt die Unhintergehbarkeit des performativen Widerspruchs für gescheitert. Denn es müsse dem sprachpragmatischen Argument darüber hinaus auch insofern Rechnung getragen werden, als 24 25 Zu einer beispielhaften Erklärung, vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 50-52. K.-O. Apel, Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik, 72f. Außerdem weist er darauf hin, dass dieser Begründungsbegriff anders als bei der logischen Deduktion ist. Vgl. ders., Fallibilismus, 196. 86 im Zusammenhang der Artikulation und dem sprechenden Ich selbst oder seiner Intention die Entsprechung oder Widersprüchlichkeit nur nachträglich konstatiert werden kann, was dazu führt, dass dabei die Sinnbedeutung nur durch eine zeitlich differenzierende Verschiebung zu sich kommt bzw. erst konstituiert werden kann. Nach Derridas Auffassung geht im Ereignis des Sprachspiels wesentlich die Diachronie der Synchronie vor, und dadurch kann die Selbstpräsenz sowie die gegenwärtige Intention nicht einmal als vorausgehende Bedingung eines Sprechaktes in Anspruch genommen werden. Es heißt vielmehr umgekehrt, wie J. Hoff bemerkt: „Nur wenn meine lebendige Gegenwart eine unwesentliche, kontingente Voraussetzung meines Sprechaktes ist, ist der Satz ‚ich bin‘ sinnvoll artikulierbar. Sein Bezug zu meiner Existenz muss ebenso wie der Bezug zu meiner unmittelbaren Intuition zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt werden können, damit er sich in einen idealen, d.h. losgelöst von seinem aktuellen Gebrauchskontext verständlichen Ausdruck verwandeln und erfolg26 reich artikuliert werden kann.“ Dieser Einwand gegen Apels transzendentalpragmatischen Anspruch stützt sich gewissermaßen auf die zeichentheoretische Untersuchung Derridas. Dieser zufolge ist die Iteration das wesentliche Moment, das das Phänomen der Sprache ermöglicht, und zwar in dem Sinne, dass ein Zeichen unabhängig von einer bestimmten aktuellen Situation jedesmal verständlich wiederholt werden kann. Selbst ein spezifisch einzigartiger Ausdrucksfall von „Ich“ muss sich noch dem Gesetz dieser Iteration unterstellen. Denn unabhängig von dem Bezug zu mir selbst muss der Sprachgebrauch von „Ich“ sinnvoll sein: „Unabhängig davon, ob ich eine aktuelle Intuition meiner selbst habe oder nicht, drücke 27 ‚ich‘ aus; und unabhängig davon, ob ich lebe oder nicht, ‚be-deutet‘ das ich bin.“ Nicht meine Gegenwart, sondern vielmehr meine Abwesenheit macht das Sprachereignis aus. Wesentlich ist also das differenzierende, zeitlich verschiebende, unterbrechende Ereignis, kurzum: Ent-eignis. Wie bereits oben betont, ist nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit, nicht die Fuge, sondern die Unfuge das entscheidende Element für den jeweiligen Identitätsvollzug. Bei Derrida ist die différance ursprünglicher als die transzendentalen Präsuppositionen: 26 27 J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 61. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 154. 87 „Die Bewegung, die vom Ich bin zur Bestimmung meines Seins als res cogitans (und also als Unsterblichkeit) führt, ist identisch mit der Bewegung, durch die hindurch sich der Ursprung der Präsenz und der Identität in der Präsenz und der Identität enthüllt, die er erst 28 ermöglicht.“ Damit ist gezeigt, dass die Transzendentalpragmatik bei Apel noch an die Präsenzmetaphysik gebunden bleibt, die eben für Derrida im Visier der Dekonstruktion steht. Sie sucht zwar nach einem unhintergehbaren Punkt, an dem sich der hermeneutischen Zirkel anhalten lässt, schwankt aber durch das Sprachspiel, dem sie selbst untersteht. Das, was die Sprache wesentlich ausmacht, sind nach Derrida Iteration und Zeitlichkeit, und beide gehen ihrem Wesen nach über das Subjekt hinaus. Diese Hypersubjektivität berührt also die Schwäche des sprachpragmatischen Arguments und lässt somit den Anspruch Apels als problematisch erkennen, nämlich unhintergehbare Präsupposition innerhalb performativer Selbstwidersprüche annehmen zu können. 4.1.3 Subjektivität an der Grenze Erübrigt sich mit der Einsicht, die uns Derrida mit seinen zeichentheoretischen Untersuchungen gewährt hat, die transzendentalphilosophische Frage, wird sie also damit letztlich beseitigt oder gar aufgehoben? Anders als man vorschnell annimmt, zielt die Dekonstruktion Derridas nicht auf die Zerstörung der Transzendentalphilosophie, bezieht er sich doch nachdrücklich auf die „Transzendentalität“, um eben nicht in einen „szientistischen Objektivismus“ zurückzufallen.29 Hinsichtlich der Frage, wie in dieser Problemlage die Position Derridas weiter bestimmt werden kann, stellt Hoff den Vergleich an zwischen der Apelschen Diskursethik und dem Descartes'chen Cogito, wobei der Widerstreit von Singulärem und Allgemeinem sich als ein Brennpunkt erweist. Ähnlich wie bei Habermas ist der Schwerpunkt der Diskursethik Apels im Begriff der „unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft“ angelegt. Wer sich auf die Argumentation einlässt, verpflichtet sich zum einen dazu, all jene Regeln anzuerkennen, welche sich eben nicht bestreiten lassen, ohne in einen performativen Widerspruch zu geraten. Zum anderen müssen die Diskursteilnehmer dabei die Möglichkeit haben, alle erhobenen oder virtuellen Ansprüche 28 29 Ebd., 109. Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 62. Vgl. ebd., 64f. 88 eben durch das Argumentieren rechtfertigen zu können. Als vorausgesetzt besteht hier aber auch eine Kommunikationsgemeinschaft, die sich um einen vernünftigen Konsens bemüht. Bei diesem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft unterscheidet Apel aber zwischen realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft und stellt sie in einem dialektischen Verhältnis dar: „Wer nämlich argumentiert, der setzt immer schon zwei Dinge gleichzeitig voraus: Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozeß geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Das Merkwürdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er gewissermaßen die ideale Gemeinschaft in der realen, nämlich als reale 30 Möglichkeit der realen Gesellschaft, voraussetzt [...].“ Nur mit der Unterstellung, dass die Bedingungen der idealen Diskurssituation gegeben sind, könnten alle wirklichen Diskurse ohne weiteres weitergeführt werden. Und zudem muss die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die zu der realen Kommunikationsgemeinschaft in einem „dialektischen Widerspruch“ steht, in dieser verwirklicht werden.31 In der Formalität der idealen Kommunikationsgemeinschaft, die sich gewissermaßen von dem einzelnen Individuum und von der aktuellen Situation ablöst, sind also die Kriterien zu begründen, die die realen Diskurse regeln und ihre Normen und alle möglichen Ansprüche prüfen. Ist es damit Apel gelungen, in dem widersprüchlich-dialektischen Verhältnis die oben dargestellte Hypersubjektivität mit den subjektiv-existenzialen Momenten zu vermitteln? Wie Hoff bemerkt, geht „Apels Versöhnungsprogramm“ mit einem Primat des Universalen vor dem Singulären einher, was weiterhin den Primat eines Hypersubjekts vor dem Leben sterblicher Einzelsubjekte unterstellt, weil man, von sprachphilosophischen Überzeugungen her gesehen, unterstellen muss, dass der Geltungsanspruch einer Aussage idealiter in jedem Kontext und in jeder Kultur identisch wiederholt werden kann.32 Als Hypersubjekt postuliert Apel dann eine „unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft“: 30 31 32 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, 429. Vgl. ebd., 430f. Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 66ff. 89 „Der Geltungsanspruch unserer Aussagen zwingt uns dazu, als transzendentales Subjekt des Verstehens intersubjektiv gültiger Bedeutung in einer transzendentalen Sprachpragma33 tik eine unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft endlicher Wesen zu postulieren.“ Es ist durchaus Apels unverzichtbares Anliegen, sich mit seinem Universalisierungspostulat dem Skeptizismus oder dem Relativismus entgegenzustellen. Indem er die Endlichkeit und die Idealität auf der transzendentalen Ebene der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zu integrieren versucht, steht aber Apel in Derridas Augen noch in der Tradition der Husserlschen Teleologie, was Derrida jedoch aporetisch erscheint. Denn die formal-ideale Kommunikationsgemeinschaft als Hypersubjekt bleibt an den Verständigungszweck der Argumentation und somit an die Konsensfähigkeit gebunden, was eben sowohl von theoretischer als auch von praktischer Seite her auf Kritik stößt.34 Aber noch deutlicher unterscheidet sich Derridas Position von der Apels, wenn es sich um die Auseinandersetzung mit dem Descartes'chen Cogito handelt. Für Apel ist mit der Evidenz des Ich-Bewusstseins zugleich ein Sprachspiel vorauszusetzen, durch welches mit dieser Evidenz zugleich eine Kommunikationsgemeinschaft vorausgesetzt wird, in der sich die Descartes'che Reflexion bestätigt.35 Indem Apel so die Evidenz der unmittelbaren Selbstgegebenheit des Cogito auf der Ebene der intersubjektiven Sprachpragmatik zu restaurieren versucht, führt er das Cogito auf „einen Anwendungsfall des sprachpragmatishen Arguments vom zu vermeidenden ‚performativen Widerspruchs‘“ und macht es „zum Ausgangspunkt der Aufhebung des Ich-Subjekts in das Hypersubjekt einer universalen Kommunikationsgemeinschaft“36. Es wurde aber schon oben gezeigt, dass das, was mich als das Subjekt meiner Sprachhandlung konstituiert, nicht die Einheit, sondern die Differenz und Trennung ist, die mich von der Kommunikationsgemeinschaft trennt. Wie Hoff betont, ist es damit Apel nicht gelungen, die ereignishafte Einmaligkeit und die begriffliche Allgemeinheit auf sprachpragmatischer Ebene zu vermitteln. In der Sprache kann Derrida zufolge die wesentliche Zeitdifferenz niemals eingeholt werden, und sei dies auch nachträglich, im Fall einer glücklichen Einheit. Die „Kluft zwischen der subjektiven Ereignishaftigkeit des Selbstbezugs und der Universalität von Begriffen“ sollte für Derrida vielmehr bewahrt bleiben, denn die augenblickliche Evidenz „einer unmittelbaren Selbstgegenbenheit“ sei „per se noch nicht dazu geeignet, dem Ich zu 33 34 35 36 K.-O. Apel, Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? 235. Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 70-71 und Anmerkungen. Vgl. K.-O. Apel, Das Problem der philosophischen Letztbegründung, 74. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 74. 90 einer begrifflich verallgemeinerbaren Form des Wissens über sich selbst zu verhelfen“37. Es gilt von vornherein also nicht als gesichert, dass die intuitive Gewissheit des Cogito ohne weiteres mit ihrer sprachlichen Artikulation deckungsgleich wäre, d. h. dass in jedem Ereignis dasselbe Moment des Bezugs zu mir selbst kontinuierlich unverfälscht wiederholt werden kann. Zwar leugnet Derrida nicht die Möglichkeit des Ereignisses des Cogito und der sich dabei manifestierenden Einheit, doch fallen für ihn die Bedingung der Möglichkeit und die der Unmöglichkeit, die Eignung und die Ent-eignung zusammen. Derridas Dekonstruktion bestreitet, dass diese Bewegung an irgendeinem Grund oder an einem präreflexiven Moment zum Stillstand zu bringen wäre. In diesem eine Vorentscheidung vermeidenden offenen Raum ist der Ruf eines Gesetzes zu verantworten, das uns der Spur der Andersheit unterstellt. Transzendentalphilosophisch gesagt ist dieses ambivalente Moment der bedingungslosen Verantwortlichkeit eben das, was das Subjekt erst konstituiert und was seine Möglichkeit erstehen lässt. In diesem Sinne stellt sich Derridas Dekonstruktion nicht in die Reihe der so genannten postmodernen Denker, die nur auf der Differenz der Differenzen bestehen. Die Dekonstruktion erforscht die Spur jenes Rufes und will zeigen, dass die Philosophie, „wenn es um die Frage nach den letzten Gründen und Abgründen geht, an eine unüberwindliche Grenze stößt“38. 4.2 Derridas Religionsbegriff 4.2.1 Wiederkehr des Religiösen Nach der Untersuchung der Derridaschen Position zu transzendentalphilosophischen Fragestellungen geht Hoff nun in den folgenden Teilen auf die theologischen Interessen ein, wobei er sich an den klassischen Traktaten der Fundamentaltheologie orientiert. Zunächst bezieht er sich dabei neben Foucaults Wissenschaftskritik auf den Religionsbegriff, wie er in einem erst jüngst publizierten Text von Derrida entfaltet worden ist. Ausgehend von Hoffs Arbeit, aber auch meiner eignen Lektüre dieses Textes, werden wir im Folgenden diesen Religionsbegriff Derridas zu rekonstruieren versuchen. 37 38 Ebd., 72. Ebd., 81f. Hoff zieht diese Folgerung auch aus der Erörterung der Subjektphilosophie von M. Frank, der angesichts der Vertrautheit des Subjekt mit sich selbst darauf besteht, dass der sprachlich vermittelten Reflexion auf mein Selbstsein ein Moment unmittelbarer Selbstvertrautheit vorausgehen muss. Indem Derrida dagegen die Subjektivität nicht im Sinne eines substantialisierten Faktums, sondern im zugespitzten Verantwortungsbegriff verstehen will, radikalisiert er folglich den nicht-ontologischen Zug des Kantischen Autonomiebegriffs. Vgl. ebd., 75-80. 91 Das Thema „Religion“ wurde von Derrida exklusiv auf einer Tagung behandelt, die er gemeinsam mit G. Vattimo 1994 auf der Insel Capri in Italien geleitet hat. Die dabei gehaltenen Vorträge wurden in einem „Buch“ Die Religion veröffentlicht, in dem sich auch Derridas Aufsatz mit dem Titel: Glaube und Wissen. Die beide Quellen der „Religion“ an den Grenzen der bloßen Vernunft findet. Dieser Titel spielt erstens auf Kants religionsphilosophisch bedeutenden Text Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und zweitens auf das Werk des großen jüdisch-christlichen Philosophen Bergson Die Beiden Quellen des Moral und der Religion (1932) an.39 Der Aufsatz enthält aber nicht nur jenen Vortrag, der auf Capri gehalten wurde, sondern auch ein so genanntes Postskriptum, das aus einer Reihe nachträglich beigefügter Bemerkungen besteht. Was hat den Philosophen der Dekonstruktion so zwingend veranlasst, dass er für das Thema des geplanten Treffens „Die Religion“ vorgeschlagen hat, ohne zu zögern, ja auf „maschinelle Weise“?40 Weshalb sind die Philosophen – die, wie Derrida betont, eben weder Theologen noch zuständige oder feindliche Vertreter der Religion sind – zu jenem Seminar zusammengekommen? Angesichts der Fragen: „Wie soll oder wie kann man ‚über Religion‘ reden? Wie soll oder wie kann man von der Religion handeln? Wie soll oder wie kann man heutzutage gerade von der Religion sprechen?“41 ist auch für Derrida die Rückkehr des Religiösen ein überraschendes Phänomen, dem man sich stellen muss. Sie ist ein entscheidender Ausgangspunkt für seine philosophische Analyse der Religion. Bei der Rückkehr der Religionen sind aber nach Derrida zunächst zwei Dinge zu beachten. Erstens handelt es sich dabei nicht um das Phänomen als solches, das man scheinbar hinter sich gelassen hat und nun wieder findet. Und zweitens muss man in Bezug auf die globale Vielfältigkeit dieses Phänomens, die man keinesfalls in die einheitliche Verfügung des Wortes „Religion“ stellen kann, dessen Umgrenzung bestimmen, d. h. fragen, was es heißt, von der Religion zu reden, heutzutage von Religion zu sprechen. Für die erste Bemerkung bezieht sich Derrida auf die Psychoanalyse und fragt: „Wie soll man einen Anspruch auf eine neue und neuartige Aufklärung erheben, von der man sich erhofft, daß sie die ‚Rückkehr des Religiösen‘ erklärt, ohne eine Logik des Unbewußten in die Untersuchung einzubringen?“42 Bei der rätselhaften Rückkehr des Religiösen handelt es sich nach 39 40 41 42 Vgl. J. Derrida, Glaube und Wissen, 67. Ebd., 64. Ebd., 9. Ebd., 88. 92 Derrida also um die Wiederkehr des Verdrängten. Nach Freud ist das, was das Leben treibt und bestimmt, das Unbewusste, das Untergetauchte, das Verdrängte. Und dies gilt auch für das Religiöse, und somit ist im Verdrängten zu untersuchen, was mit seiner Wiederholung und Rückkehr in Gang kommt. Auf der einen Seite ist dieses psychoanalytische Wissen untrennbar mit der „Frage nach dem radikal Bösen“, „die im Mittelpunkt des Freudschen Denkens steht“43, gebunden. Zudem markiert aber Derrida noch einen entscheidenderen Punkt, wenn er darauf hinweist, was in der Form der Iterabilität als Wiederaufkommendes vorausgesetzt werden muss, nämlich „das Technische, Maschinenhafte und Automatische“, das zwar dem Glauben eine Chance und Möglichkeit verschafft, zugleich aber mit der „Bedrohung des radikal Bösen“ einhergeht.44 Das maschinenhafte radikal Böse erscheint nach Derrida, wie er am Anfang seines Vortrags andeutet, in Gestalt all der Kräfte, die da wirken, wie z. B. „Entwurzelung, Entortung, Entkörperlichung, Formalisierung, verallgemeinernde Schematisierung, Objektivierung, Telekommunikation usw.“, kurzum: als Kräfte „der Abstraktion und der auflösenden Trennung“45. Auf der anderen Seite aber kann damit dem Glauben ein neuer Bereich des Zeugnishaften für sich erschlossen werden. Für seinen Religionsbegriff greift Derrida immer wieder auf diese Problematik zurück, die sich als „jüdische Frage“ aufweisen lässt. Darauf werden wir unten noch eingehen. Auf jeden Fall scheint es zu kurz gegriffen, wenn Hoff Derridas Frage nach den Bösen in die Tradition Charles Baudelaires stellt und bei der Rückkehr des Verdrängten eine „um so irrationalere Wiederkehr“ erkennen zu können glaubt.46 Welchen Weg Derrida aufgrund der aufgeworfenen Frage einschlagen wird, hat er gewissermaßen schon mit dem Titel angedeutet. Wenn man bereits hier auf den entscheidenden Satz der Schlussfolgerung vorgreifen darf, so ist für Derrida das Maschinenhafte, die Maschine, „die tele-technologische Transzendenz“47 geradezu der radikal bösartige Ort der Abstraktion, an dem die Frage nach der Religion beantwortet werden muss. Abgesehen davon, dass darin die Eigenartigkeit des Derridaschen Religionsbegriffes sowie seines Denkens verankert ist, kommt hier der hochtechnologische Verwandlungsprozess der spätmodernen Industriegesellschaft als ein beachtliches Phänomen zur Sprache, dessen weltumspannende Auswirkungen auch die Religion nicht ausweichen kann. Im Hinblick auf die Rückkehr des Religiösen analysiert Derrida darum auch den fern43 44 45 46 47 Ebd. Zudem erörtert Derrida unter dem Begriff „die Doppeltheit“ auch die phallische Bedeutung und den Fetischismus im Religiösen. Vgl. ebd., 78-86. Vgl. ebd., 77. Ebd., 11. Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 112. J. Derrida, Glaube und Wissen, 10. 93 technischen, politisch-kapitalistischen Globalisierungsprozess der heutigen Welt. Die Religion liegt heutzutage in diesen sich wandelnden Umständen, und auch deswegen kann das Wiederkehrende nicht gleich sein, dem, was es vorher war. Es geht also nicht einfachhin um eine neuartige Wiedererkennung oder um eine einfache Rückkehr: „Die fragliche ‚Rückkehr des Religiösen‘ das heißt: die brandende, sich aufbäumende und überschlagende Bewegung eines komplexen und überbestimmten Phänomens ist keine einfache Rückkehr, da ihr weltumspannender Charakter und ihre (tele-techno-mediaszientifischen, kapitalistischen und politisch-ökonomischen) Gestalten noch nie dagewesen 48 und deshalb ursprünglich, originell sind.“ Ein beispielhaftes Merkmal der religiösen Erscheinungen in den medien-informationellen, technisch-ökonomischen postmodernen Gesellschaften sieht Derrida in den Papstreisen. Papst Johannes Paul II ist wohl „der medienwirksamste, latinisierend-weltumspannendste, CDROM-hafteste Vertreter“49 der neuen religiösen Ordnung. Dies ist für Derrida ein merkwürdiges Zeichen dafür, dass mit dem Globalisierungsprozess auch zugleich abendländische Auffassungen über Religion und das Religiöse sich expandieren, was er kurz als „Latinisierung“ bezeichnet. Allein schon die Sprache „Religion“ ist lateinischer Herkunft und die Begriffe und Diskurse über das Religiöse sind christlich-lateinischen, europäischen Wesens: „Aus diesem Grund bezeichnet man heute ruhigen Gewissens (und gewaltsam) eine Vielzahl von Erscheinungen als ‚religiös‘, die dem, was das Wort ‚Religion‘ in seiner Geschichte benennt und sich gefügig macht, stets fremd geblieben sind und weiterhin fremd bleiben. Das gilt ebenfalls für eine Menge anderer Wörter, für den gesamten ‚religiösen Wortschatz‘, für die Wörter ‚Kult‘, ‚Glaube‘, ‚Gläubigkeit‘, ‚sakral‘, ‚heilig‘, ‚gerettet‘, ‚geborgen‘ usw.“ 50 Zudem fördert die hyperimperialistische Bemächtigung, die mit der Globalisierung weltweit über die kapitalistischen und politischen Gestalten hinaus geht, die Tendenz, heute religiöse Diskurse wesentlich westlich, das heißt christlich-lateinisch, zu prägen. Diese „Mundialatinisierung“51 oder Eurozentrik52 in Bezug auf die Religion und ihre Perspektive läuft im Namen des universalen Ökumenismus Gefahr, bemerkt Hoff kurz zusammenfassend, „geschichtlich 48 49 50 51 52 Ebd., 69. Ebd., 70. Ebd., 51. Ebd. Zur Eurozentrik der Kategorie des Religiösen und des Begriffs der Religion, Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, Anm. 4 in 114. 94 gewachsene Differenzen unter römisch-christlichen Vorzeichen einzuebnen“53 einerseits, sie bestimmt aber die Qualität der Religionskriege andererseits, die man heute angesichts der Rückkehr der Religionen nicht selten beobachtet und gutstellen muss. Die weltumspannenden, atemberaubenden Bewegungen, die zugleich sakrale und religiöse Gestalten annimmt, erzeugen also ein Klima, in dem manche besser atmen, manche aber ersticken. Darin erweist sich die Frage nach dem Religiösen nochmals als Sache einer Doppeltheit, in die die Frage nach dem Heil und nach dem Bösen zusammenfließen. Jene Bewegung eröffnet also konsequent einen Bereich, in dem die Religion und die Fernwissenschaftstechnik ein Bündnis schließen, in dem zugleich aber auch eine Gegenreaktion erzeugt wird als das „AutoImmune“ gegen das, was jene Bewegung zur Folge hat: Entreißen oder Entorten, die Religion „von all ihren angestammten Plätzen“ zu vertreiben, „von all den Orten, die ihr eigen sind, ja in Wahrheit vom Ort und der Stätte selbst, vom Statthaben oder Sich-Ereignen ihrer Wahrheit“54. Die maschinenhafte „Entkörperlichung“, das radikal Böse der Abstraktion, worum es von Anfang in der Fragestellung Derridas geht, erzwingt also zwar den „Bedeutungsverlust der Eigenkörperlichkeit“, stellt aber damit zugleich auch die Möglichkeit des (wahren) Religiösen dar. Hoff bemerkt: „Der Schatz, den die Religionen hüten, läßt sich nicht an beliebigen Orten vergraben; er verbindet sich stets mit dem Glauben an eine singuläre Geschichte, eine unverwechselbare Weise zu sprechen und zu leben, eine nicht-austauschbare Topologie des Heiligen usw. Es ist der Glaube, an einem idiomatischen Eigenkörper (corps propre), einem Korpus von unverwechselbare Schriften und Tradition teilzuhaben, der ihre Überlieferung als verbindlich erscheinen läßt und deren Gedächtnis an Stätten des Heiligen bindet, zu deren Vertei55 digung man wie Abraham bereit sein muß, alles zu opfern.“ Die Frage nach der Religion erweist sich als die nach dem Ort. Die Ortsfrage steht nach Derridas Einsicht unvermeidlich in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem aktuellen Phänomen des Religiösen. Angesichts dieser brennenden Frage hat Derrida deswegen schon in seinem Vortrag seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wo man sich befindet und wohin man den Blick lenken soll. Um heute von Religion zu sprechen, muss man also ihren Ort ausfindig machen, an dem sich ihre Frage stellt und die Antwort zu suchen ist. Er nennt drei Orte: die Insel, das Gelobte Land, die Wüste. Als Ort der aporetischen Abstraktion sind sie alle auf 53 54 55 Ebd., 121. J. Derrida, Glaube und Wissen, 76. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 122. Als Ort der Auto-Immunität des Heiligen nennt Derrida den Berg Moria, wo Abraham zur unbedingten Opfergabe seiner einzigen Nachfolge bereit sein musste. Dazu vgl. ebd. Anm. 2 in 122. Das Isaakopfer Abrahams erörtert Hof weiter im Zusammenhang von Ökumenismus. Vgl. ebd. 121-124. 95 irgendeine Weise abgesondert, bilden dadurch aber auch den Horizont, in dem das Reden von Religion sich ereignet. Der erste Ort: die Insel Capri, nicht weit von Rom, aber auch nicht in Rom. Da findet die Versammlung statt, zu der man zusammengekommen ist, aber nur Männer, Europäer und, wie oben bemerkt, Philosophen, die alle zu der christlichen Kultur und in den Sprachraum des Lateinischen gehören. Diese Einschränkung lässt gewissermaßen sowohl auf die Grenze des gerade beginnenden religiösen Gesprächs, aber auch auf die mit ihr ausgeschlossene Seite blicken. Für die Namen und Begriffe „Religion“ und ihre Perspektiven in diesem Sprechen geht es dennoch um das christlich-römische Wesen. Dies spiegelt gerade die Aktualität und Grenze der von Derrida hervorgehobenen Latinisierung wider. Über die Religion nachzudenken, ist aber zugleich auch an die Grenze der philosophischen Vernunft verwiesen, weil gerade hier die Philosophen im Hinblick auf die Rückkehr des Religiösen die Religion denken und im voraus bereit müssen, dass die Vernunft keinesfalls das Ende der Religion bedeutet.56 Das brennende Phänomen lässt sich nicht erklären, wenn man die Vernunft der Religion entgegensetzt. Derrida selbst hält an diesem Spannungsfeld fest, nämlich im Licht der Offenbarung und der Aufklärung über Religion zu reden, ja im Zeichen der bloßen Vernunft die Religion zu denken. Das bedeutet für ihn letztlich, sich mit der Epoche Kants auseinanderzusetzen, der die Religion „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu denken versucht hat. Der zweite Ort: das Gelobte Land. Das ist eine Gestalt, die das Versprechen eines Ortes an die Geschichtlichkeit knüpft. Nach Derrida ist der Name „Religion“, dessen Wesen eben römisch-abendländisch ist, untrennbar an die abrahamitischen Offenbarungen gebunden und diese sind „nicht bloße Ereignisse, da derartige Ereignisse nur dann und nur dort stattfinden, wo sie sich als sinnhaft und richtungsweisend erweisen, indem sie die Geschichtlichkeit der Geschichte und die Ereignishaftigkeit des Ereignisses als solches eröffnen und einbringen.“57 Das Gelobtes Land weist also auf den Ort hin, wo sich der messianische Horizont und jene Geschichtlichkeit kreuzen, wo die Kantische Bestimmung des reflektierenden Glaubens in Frage gestellt und damit das Verhältnis von der Offenbarkeit und der Offenbarung erörtert wird.58 56 57 58 Derrida führt seinen Aufsatz nicht zuletzt auch in dem Spannungsfeld von Vernunft und Religion aus, wie der Titel andeutet. Vgl. J. Derrida, Glaube und Wissen, insbesondere 18-30; 95-101. Ebd., 20. Vgl. ebd., 19-30. 96 Der dritte Ort: die Wüste. Viele oder gar alle Religionen gehen in der Wüste auf. Die Wüste gilt auch in der christlichen Tradition als Ort der religiösen Begegnungen und Ereignisse. Der dritte Ort bedeutet für Derrida aber mehr als der Anfang der Religion. Er ist mehr „als bloß vor-ursprünglich, anarchischer als alle anderen Orte“, denn er ist „eine Wüste in der Wüste, eine Wüste, welche die Wüste ermöglicht, eröffnet, gräbt, aushöhlt, ins Unendliche verlängert.“59 Hier denkt Derrida an die zweifache Wurzel des Begriffs religio (re-ligare und relegere, darauf werden wir noch eingehen) und weist auf die Bedingung der Religion zurück, die darin besteht, jedem Band und jeder Verbindung (religare), sei es ein gesellschaftliches Band oder eine bestimmte Gemeinschaft oder schon eine positive Religion, die Achtung oder Verhaltenheit des Versprechens, der Bejahung (relegere), „die sich an sich selbst bindet, um sich an den anderen zu binden“60 vorausgeht; eine Art der Verantwortung, der in der wiederholenden Entscheidung mit Zurückhaltung und Entzug stattgegeben wird, indem man sich in eine Wüste der verwüstenden Abstraktion zurückhält und damit sich entzieht. Nur dieser doppelte Zug macht jede Wiederholung möglich. Sich-Binden, eine Bestätigung des ursprünglichen Ja, also diesen Urhalt begreift Derrida als Iterabilität, ohne die kein Kommen der Zukunft möglich ist. Nur durch diese Wiederholung, die grundsätzlich die Kräfte der Abstraktion wie Entortung, Entkörperlichung usw. bedeutet, wird jedem Ereignis, auch jedem Wiederkehren des Religiösen, eine unverwechselbare Signatur verliehen. Die drei genannten Orte sind solche aporetischen Orte, die nicht einmal unter berechenbarem Programm oder geografischer Karte entworfen werden können. 4.2.2 Eine Ellipse der zwei Quellen Von der Religion zu sprechen, hat unweigerlich mit Begriffen zu tun, die jeweils eine unterschiedliche Wirkungsgeschichte haben können. Derrida gibt uns bereits in mancher Hinsicht seinen Religionsbegriff vor, indem er eine Umgrenzung der Orte der Frage unternimmt und dieser Umgrenzung haben wir bisher zu folgen versucht. Sein Religionsbegriff reicht darüber hinaus aber noch tiefer, wenn er die Religion als eine Ellipse von zwei Quellen versteht, eine Ellipse, die eine Doppeltheit oder ein „double bind“61 umfasst, die sich der vollständigen Um- 59 60 61 Ebd., 30. Ebd. Ebd., 85. 97 schreibung entzieht, weil man beide Quellen nicht ohne weiteres vermengen oder die eine auf die andere zurückführen darf. Der Ausgangspunkt für die zwei Quellen der Religion ist die zweifache etymologische Deutung des lateinischen Wortes religio. Zum einen wird „religio“ von „re-legere“ (sammeln, auflesen) abgeleitet, eine Tradition, die bis auf Cicero zurückgeht. In ihr ist die Religion als das sorgfältige Beachten der Kulte, als die zum Neubeginn notwendige Sammlung und die Frömmigkeit, die skrupulöse Aufmerksamkeit oder Zurückhaltung und Scheu vor dem Heiligen zu verstehen. Zum anderen deutet man „religio“ als „re-ligare“ (binden, verbinden). Diese vom Christentum eingeführte Tradition reicht bis zu Lactantius und Tertullian zurück, und nach ihr hat die Religion mit der Bindung zu tun, die dem Band und der Pflicht, die Menschen und Gott aneinander bindet. Mit dieser Unterscheidung kommen auch zwei grundsätzliche Dimensionen der religiösen Erfahrung zum Ausdruck: die Erfahrung der Vertrauens und die der Sakralität, der Heiligkeit. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Genealogien ist Anlass für einen lange währenden Streit um die richtige Lesart gewesen, der aber zur Religion gehört, wie Derrida betont, samt den zwei Dimensionen, und darum zeigt sich die Religion auch als eine Ellipse dieser zwei verschiedenen Quellen oder Heimstätten.62 Mit der etymologischen Untersuchung des Begriffs „Religion“ gelangt Derrida nun in die Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Kants, der die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu denken versucht hat. Ausdrücklich unterschiedet Kant zwei religiöse Quellen: einerseits Religion des bloßen Kultes, andererseits moralische Religion, das Handeln des Menschen im Sinne eines guten Lebenswandels bestimmen soll.63 Die Kantische Differenzierung liegt wirkungsgeschichtlich in einem größeren Zusammenhang, in dem die religiösen Diskurse der Moderne und die (abendländisch-)christliche Tradition aufeinander treffen, worauf auch Hoff hinweist: „Die Idee einer am Ideal der Aufklärung orientierten Verständigung über das Wesen der Religion steht in engster Beziehung zur (offenbarungs-)theologischen Tradition des abendländischen Christentums. Sie empfängt entscheidende Prägungen aus einer theologischen Vorgeschichte, die sich (über Derridas Analysen hinaus) zurückverfolgen läßt bis hin zu Augustinus und dem Bruch mit der mystisch-orthodoxen Tradition des Ostens: Einer Traditionslinie, deren leitmotivisch wiederkehrender Grundzug in dem liegt, was das westli- 62 63 Vgl. ebd., 30; 57f; 59-63. Vgl. ebd., 21. 98 che Christentum in den Augen orthodoxer Theologen als ‚moralisierend‘ erscheinen 64 läßt.“ In der Traditionslinie des lateinischen Christentums ist das, was die moralische Bestimmung des Menschen ausmacht, das Verhältnis zwischen Gott als dem Schöpfer und dem Menschen als dem Schuldigen, und insofern ist die Religion, so bei Augustinus, „als ‚Rückbindung‘ oder ‚Fesselung‘ des Menschen an einen unbedingten Grund“65 zu verstehen. Kant war der Überzeugung, dass das Christentum die einzig moralische Religion ist, der gegenüber der Religion des Kultes ein Primat zukommt, weil es bei dieser nicht eigentlich um die Verbesserung des Menschen geht. Bei ihm tritt die eine Dimension der Religion im Sinne von „relegere“ in den Hintergrund. Die Kantische These, dass die reine Moralität und das Christentum in ihren Wesen und Begriff unablösbar zusammengehören, hat nach Derridas Ansicht Konsequenzen. In diesem moralisierenden Zug der Religion nämlich liegt auch schon der Keim des abendländischen Atheismus. Um moralisch zu handeln, muss man sich so verhalten, als sei man restlos ganz auf sich angewiesen, als würde es Gott nicht geben oder als würde er sich nicht um unser Heil kümmern. Die einer unbedingten Verpflichtung unterworfene reine Sittlichkeit muss in sich also Gottes Abwesenheit tragen und seinen Tod aushalten.66 In der modernen Philosophie findet man nach Derrida bei Heidegger und bei Lévinas die jeweilige Differenzierungslinie der Quellen der Religion. Heidegger geht über jene Logik hinaus, welche die Moral und das Christentum zusammenschließt, wenn er in seiner Fundamentalontologie das Denken auf den vergessenen Ursprung hin denkt und darauf beharrt, „daß das ursprüngliche ‚Gewissen‘, das ursprüngliche ‚Schuldigsein‘ und die ursprüngliche ‚Bezeugung‘ vor-religiösen und vor-moralischen (oder vor-ethischen) Wesens sind“67. Heidegger, der sich selbst als „christlicher Theologe“ bezeichnet, unternimmt damit eine ontologischexistentiale Wiederholung der christlichen Motive, die aus einer vor-römischen Möglichkeit entstehen, ja aus der Erfahrung des Heiligen, Geborgenen, Geretteten.68 Dennoch ist es etwas 64 65 66 67 68 J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 114. Darin sieht Derrida den Grund der problematischen Wirkungsgeschichte: „Daß es kein Christentum ohne reine Moralität gibt, liegt dann daran, daß die christliche Offenbarung uns etwas wesentliches lehrt, etwas, das wesentlich mit der Idee der Moralität oder der Sittlichkeit als solcher zusammenhängt. Aus dieser Sicht ist der Gedanke einer reinen Moral, einer reinen Sittlichkeit, die nicht christlich ist, widersinnig. Er übersteigt Verstand und Vernunft und muß als ein Widerspruch in sich selbst abgetan werden.“ (J. Derrida, Glaube und Wissen, 22. Kursiv im Original). J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 127. Vgl. J. Derrida, Glaube und Wissen, 23f. Ebd., 24. Vgl. Ebd., 28f. An anderer Stelle bezeichnet Derrida die Heideggerschen Ontologie als den Versuch, „auf einer ontologischen Ebene christliche Themen und Texte entchristianisiert zu wiederholen.“ Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, Anm. 3 in 127. 99 gewaltsam, wenn er zwischen Denken und Glauben, zwischen Theologie und Philosophie eine radikale Trennung vornimmt, um zwischen Theo-logie als positiver Wissenschaft von Gott, dem Glauben oder der Offenbarung und Theio-logie als Diskurs über das Sein des Göttlichen, über dessen Wesen und die Göttlichkeit eine Unterscheidung vorzunehmen.69 Er besteht daher auf der Unmöglichkeit einer theoretischen bzw. wissenschaftlichen Übersetzung des Glaubens, ja behauptet sogar, dass der Glaube im Denken keinen Platz habe.70 Glaube heißt für ihn, sich dogmatisch einer äußeren Autorität zu unterwerfen. Der Glaube im allgemeinen bezieht sich aber nach Derrida auf eine Zusage oder ein Vertrauen, das jedem Denken voraus liegt. Entgegen der Behauptung Heideggers, dem Glauben das Denken scharfsinnig entgegenzusetzen, bleiben in Derridas Augen durchweg all die Motive der Existentialien, die Seinsfrage oder Begriffe wie zum Beispiel der des Faktums bei Heidegger durch den Gestus einer Zusage oder einer Bezeugung bestimmt. Hier handelt es sich wiederum um die zwei Quellen der Religion, die unterschiedlich sind, nämlich die Erfahrung der Heiligkeit, des Sakralen einerseits und die des Vertrauens und des Treuhänderischen andererseits. Derrida bemerkt: „Heidegger, der sich für die erste Erfahrung (in ihrer griechischen, hölderlinischen oder urchristlichen Überlieferung) empfänglicher zeigt, scheint der zweiten Erfahrung gegenüber mehr Widerstand geleistet zu haben; sie wird von ihm ständig auf Gestalten zurückgeführt und reduziert, die er unaufhörlich in Frage stellt, ja ‚destruiert‘ oder denunziert [...]“. 71 Lévinas repräsentiert die andere Linie der Quellen. Während Heideggers Akzentuierung auf der kultisch-sakralen Dimension, eben die abhaltende Verhaltenheit oder scheue Zurückhaltung in der Nähe des Heiligen, liegt, vernachlässigt Lévinas diese Dimension zugunsten der Konstituierung der ethischen Erfahrung des Heiligen, indem er „zwischen einem natürlich, ‚heidnisch‘, griechisch-christlich Sakralen und der Heiligkeit des (jüdischen) Gesetzes“72 streng unterscheidet. Wenn der Glaube das Verhältnis zum ganz anderen und die an ihn gerichtete Anrede ist, besteht er für Lévinas in der Heiligkeit des Gesetzes, im Sich-Unterwerfen unter die radikale Andersheit des Gesetzes und im redlichen Sich-Binden an diese Heiligkeit und ist also ohne Sakralität im Sinne des lateinischen Wortes. Die Ent-sakralisierung, Entzauberung ist also das, was für ihn die Quelle des Religiösen ausmacht. Insofern tritt bei 69 70 71 72 Vgl. J. Derrida, Glaube und Wissen, 28; 96. Vgl. ebd., 96. Ebd., 101. Ebd., 28. 100 Lévinas die ethische, moralisierende Tendenz in den Vordergrund. Derrida stellt also hinsichtlich des Begriffs der Religion und ihrer Quellen Heidegger und Lévinas gegenüber und bezeichnet jeden als einen extremen Fall. Damit zeigt er, inwieweit die zwei Quellen des Religiösen sich trennen und auseinanderlaufen können: „Ihre Teilung und Spaltung wiederum kann sich auf verschiedene Weise ereignen. Sie kann sich zunächst so ereignen, daß sie die Gestalt einer Alternative annimmt: zwischen einer Sakralität ohne Glaube (Anzeichen dieser Algebra: ‚Heidegger‘) und einer Heiligkeit ohne Sakralität, einer in Wahrheit ent-sakralisierenden Heiligkeit, die eine bestimmte Entzauberung zu ihrer eigentlichen Bedingung macht (Anzeichen: ‚Lévinas‘, vor allem als 73 Autor von Du sacré au saint [Vom Sakralen zum Heiligen] ).“ Die zwei Quellen des Religiösen, auf der einen Seite die Quelle des Heilen (Geborgenheit, Immunität, Heiligkeit) und auf der anderen Seite die Quelle des Treuhänderischen (Zuverlässigkeit, Treue, Kredit, Vertrauen), trennen und spalten sich, sie fließen aber manchmal auch zusammen. Der Ort des Zusammenfließens ist nach Derrida die „Bezeugung“. Jenseits der semantischen, geschichtlichen oder kulturellen Ausdrücke und Gestalten gehört sie zur Erfahrung des Glaubens und hat eine über die Beweisbarkeit und das Wissen hinausreichende Tragweite: „In der Bezeugung wird die Wahrheit jenseits aller Beweisführung, aller Wahrnehmung, allen anschaulichen Zeigens versprochen. Selbst wenn ich lüge oder einen Meineid leiste (ja, vor allem in dem Augenblick, in dem ich es tue), verspreche ich die Wahrheit und ersuche den anderen, dem anderen zu glauben, der ich bin, in einem Bereich, in dem ich der einzige bin, der (davon ) Zeugnis ablegen kann und dieses elementar Treuhänderische, dieser versprochen oder erforderte ‚gute Glaube‘ sich niemals an die ungleichartige Ordnung 74 der Beweisführung oder der Anschauung zurückbinden läßt.“ In der Bezeugung konstituiert sich die Subjektion des Glaubenden, die an dem anderen, dem ganz anderen ausgerichtet ist. Wenn wir zurückblicken, bezieht sich diese Ausführung Derridas aber auch auf die Antwort für die von Anfang an aufgeworfene Frage, was die Religion ist. Die Antwort auf diese Fragen lautet: Die Religion ist die Antwort. Diese Antwort allerdings ist nicht möglich ohne das Prinzip der Verantwortung. Keine Antwort erfolgt ohne den Grundsatz der Verantwortung. Denn man muss dem anderen antworten und dem anderen, aber auch sich selbst, Rede und Antwort stehen. Die Antwort und Verantwortung gibt es aber 73 74 Ebd., 103. Ebd., 101f. 101 nicht ohne Bezeugung, ohne die geradezu oben zitierte Versicherung, d. h. ohne gelobte Treue.75 Dieses Prinzip betrifft die Religion, zugleich aber auch die Wissenschaft und die Philosophie. Wenn auch die Quellen der Religion am Ort der Bezeugung sich zusammenfügen und zusammenfließen, bleibt doch die Ellipse beider Quellen oder Stämme unvollständig. Sie schließt nicht aus, eine andere Quelle mit hineinfließen zu lassen. Sie bleibt damit ihrem Wesen nach in einer sich vermehrenden, wiederholenden Bewegung. Ohne das Prinzip dieser Iteration (Wiederholung) eröffnet sich kein Raum, in dem das Heilige, das Religiöse ermöglicht wird. Damit gelangt der Derridasche Religionsbegriff zu seinem entscheidenden Punkt. Aus dem Spalten, Zusammentreffen und -fließen der Quelle, aus ihrem Wiederholen ergibt sich eine Logik des „n + 1“. Gibt es Spaltung und Iterabilität der Quelle, so gibt es mehr als eine Quelle. Dieses Mehr-als-Ein(e)s erweist sich dann unmittelbar als ein Mehr-als-Zwei usw., und so stellt sich anscheinend die gesamte Bewegung als das n + Ein(e)s dar. Hier ist die Wiederholung strukturell ein dekonstruktives, aber gleichzeitig quasi-transzendentales Prinzip: die maschinenhafte und mechanische Trennung, die Möglichkeit des radikal Bösen, die das Religiöse zerstört und doch auch zugleich stiftet.76 Hoff greift mit Recht den Begriff der Iteration als ein quasi-transzendentales Prinzip auf, erklärt aber irritierenderweise, dass die darin mitgedachten Momente von Identität und Alterität jeweils einer der zwei klassischen Quellen der Religion entsprechen.77 Auch wenn Derrida von Entschädigung und Ermöglichung spricht, so ist damit aber auf die gesamte Bewegung der Quellen verwiesen, in der sich nicht das eine Moment auf die eine Dimension zurückführen lässt.78 Mit dem Begriff der Iteration, dem Prinzip von n + 1 wird die Frage der Religion letztlich zur Frage der Zahl, des Supplements, die nach Derrida jüdischen Wesens ist. Die Religion darf nicht in einer zählbaren begrenzten Summe von Namen, Gestalten, Begriffen oder auch Quellen ausgemacht werden. Nicht nur oder gerade nicht im Hinblick auf die zahlreichen Phänomenen der Wiederkehr des Religiösen ist keine einheitliche Umfassung der Religion verfügbar, auch in der quasi-transzendentalen Logik der Wiederholung gesehen wird „das Ein(e)s + 75 76 77 78 Vgl. ebd., 46. Vgl. ebd., 105. Vgl. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 129f. „Dieselbe einzigartige Quelle teilt sich maschinell, automatisch, und richtet sich in einem reaktiven Zug gegen sich selbst: daher der Gegensatz der beiden Quellen in der einen Quelle. Dieser reaktive Zug ist ein Prozeß opfernder Entschädigung, will sagen: er stellt den Versuch dar, das Heile und Heilige zu restaurieren, das er selbst gefährdet und bedroht. Er enthält die Möglichkeit der Zwei, des n + 1, die ebenfalls die Möglichkeit des deus ex machina der Bezeugung ist.“ (J. Derrida, Glaube und Wissen, 49). 102 n auf unberechenbare Weise all seine Supplemente“79 her- und darstellen, und zwar so, dass man dieser Bewegung der Entschädigung nicht einmal einen Zweck oder ein Ende vor- oder zuschreiben könnte. Der Glaube oder die Religion besteht darin, von diesem Unberechenbaren, Unkalkulierbaren Zeugnis abzulegen. Anders und mit Derrida gesagt, besteht die Religion darin, sich an jenes messianische Versprechen (fest)zuhalten und es zu bezeugen, welches in der Wüste der Wüste sich ereignet hat und ereignen wird, die man „ohne sicheren Weg oder Ausweg, ohne Route, ohne Ankunft, ohne Außen“80 durchqueren muss und in der man ohne Möglichkeit zur Antizipation die Verantwortung für das Kommen des Anderen zu tragen hat. Was ergibt sich zusammenfassend aus dieser ausführlicheren Lektüre von Glaube und Wissen? Insofern Derrida das Wesen der Religion in seiner reflexiven, sich selbst opfernden Entschädigung der Wiederholung bestimmt, deren Ursprung in einem aporetischen Ort sich nicht als solcher beschreiben lässt, steht sein Religionsbegriff der Negativen Theologie sehr nahe, mit der er sich an anderer Stelle auch explizit auseinandersetzt. Darüber hinaus schlägt er einen dritten Weg ein, die Religion zu denken. In Anspielung auf Kant, in dessen Religionsphilosophie eine radikale Trennung unvermeidbar ist, weil er die Möglichkeit des theoretischen Denkens über das Dasein Gottes negiert und die Theologie insofern auf das Postulat der praktischen Vernunft verweist, versucht Derrida an den Grenzen der theoretischen Vernunft auf das Vorausgehende, Vorursprüngliche zurückzugehen, d. h. auf das, was hinter dem Gegensatz von Glauben und Vernunft, Religion und Wissen, Sakralem und Profanem liegt. In diesem Sinne würde es die Radikalität des Derridaschen Religionsbegriff schwächen, wenn man, wie etwa Hoff, ausschließlich darauf besteht, „die prekäre Balance zwischen Kalkül und Überschreitung (oder ‚Überlistung‘) zu halten“81 und den dekonstruktiven Zug des radikal Bösen nur in den negativen Formen fundamentalistischer oder ökumenischer Kalküle, in Ritualen des Bösen oder gar einer spätmodernen Krise der Religionen zu begreifen versucht. Derridas Religionsbegriff lenkt unseren Blick vielmehr dorthin, wo das Vor-ursprüngliche des Religiösen sich wahrt. 79 80 81 Ebd., 106. Ebd., 17. Die Wüste in der Wüste bezeichnet Derrida auch als „chora“, ein allen möglichen Differenzierungen vorausgehender Ort, eine Matrix des unendlichen Widerstandes. Vgl. ebd., 34-40 und auch seine Anm. 15 in 35. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 131. 103 4.3 Semiologische Analyse des Christentums 4.3.1 Materielle Vollzüge des Glaubens Auf dem Hintergrund der universalen bzw. transzendentalen Fragestellung und Erörterung des Derridaschen Religionsbegriffs, was eben dem fundamentaltheologischen Traktat demonstratio religiosa entsprechen soll, geht J. Hoff nun auf die Analyse der Grundstrukturen christlicher Glaubensüberlieferung ein. Im Folgenden ist zu erarbeiten, wie er dadurch dem zweiten Teil der traditionellen Unterscheidung der Fundamentaltheologie demonstratio christiana Rechnung trägt. Als Ausgangspunkt stellt Hoff die Frage nach der Rolle der Experten in der spätmodernen Gesellschaft, in der allmählich die Funktion der Religion als Institution den Wissenschaften übertragen wird oder dies bereits in vielen Bereichen geschehen ist. Hinsichtlich des menschlichen Daseins sind heute die Experten diejenigen, die „Antworten“ geben, indem sie das spezifische partikulare Wissen in die Alltagssprache des wissenschaftlichen Laien übersetzen. Diese Antworten werden zum einen durch den Diskurs der Spezialisten symbolisch besetzt, zum anderen aber sind sie um so mehr darauf angewiesen, sich den Gesetzen des telemedialen Marktes anzupassen.82 Diesem Phänomen und dem mit den Globalisierungsmechanismen vorangetriebenen Prozess sind unvermeidlich auch kirchliche Handlungsvollzüge ausgesetzt, wenn sie sich verständlich und situationsgerecht präsentieren wollen. Exemplarisch zeigt sich diese Tendenz vor allem in der liturgischen Praxis der Kirche, wie Hoff, sich auf den marxistischen Psychoanalytiker Alfred Lorenzer gestützt, bemerkt: „Während das ‚Sinnlich-Heidnische‘ der Überlieferung einer historisch-kritischen oder dogmatisch-christozentrischen Evaluation unterzogen wird, werden geschichtlich gewachsene Rituale durch ad-hoc erfundene oder theologisch (re)konstruierte Zeichenhandlungen 83 ersetzt, deren Bedeutung sich am Maßstab ihrer ‚Verständlichkeit‘ bemißt.“ Dieser Anpassungsversuch im Sinne einer Verständigungsmaßnahme hat aber eine kontraproduktive Wirkung, insofern als er die liturgische Handlung als Tradierungsgeschehen ihrer geschichtlichen Bedeutungsverankerung beraubt. Dies hat dann nicht nur die Entkörperlichung des Sakralen, sondern auch einen Bedeutungsverlust zur Folge. Denn das, was liturgische Handlung als „Gedächtniskunst“ ausmacht, sind in erster Linie nicht ihre aufklärerischen verständlichen Merkmale, sondern vielmehr die „rhythmische Wiederkehr befremdlich82 83 Vgl. ebd., 132f. Ebd., 134. 104 unverständlicher Worte und Zeichen“84. Bedeutungskonstitutiv ist nicht die Bedeutung selbst, sondern eher die Formelhaftigkeit der Worte und Zeichen, wobei es „wiederholte und wiederholbare“ Formeln „auswendig zu lernen“ gilt, „ohne sie zu verstehen“, „jenseits des Sinns“85. Zudem müssen wir uns an Derridas radikale Einsicht erinnern, dass die Bedeutung eines Zeichens niemals in der Präsenz zur Erscheinung kommt, sondern immer nur in der Spur gewesen sein wird. So besteht die Möglichkeit der Weitergabe und der unaustauschbaren Bedeutungskonstitution wesentlich in der Formelhaftigkeit und Körperlichkeit, die die Wiederholung möglich macht, indem sie a priori die Unmöglichkeit der sinnvollen Erscheinung darstellt. Hingewiesen werden soll damit auf Derridas Untersuchung, in der es, anders als in der traditionellen Metaphysik, zu einer Umstellung des Materialen vor dem Geistigen, des Signifikanten vor dem Signifikat kommt. Mit der „Verweltanschaulichung“86, die als ein hermeneutischer Prozess der Moderne bezeichnet werden kann, in dem sich die Experten der Wissenschaften über all das, was zu beantworten und zu deuten ist, standardmäßig zu verständigen versuchen, geht aber die Körpergebundenheit verloren. Sofern diese Entkörperlichungstendenz durch die Technisierung und Ökonomisierung vorangetrieben wird – Derrida hat dieses Phänomen eben in dem Buch Die Religion ausführlich thematisiert – und auch die Religion und ihre Vollzüge von dieser Umwandlung nicht verschont bleiben, lohnt es sich, das neu sich entwickelnde Verhältnis zwischen Religion und Technik zu erörtern, wie dies Hoff im Abschnitt „Grundfragen der semiotischen Analyse religiöser Kulttechnologien“ unternimmt. Wie schon Derrida deutlich gemacht hat, ist das, was der Religion den durch die Zeit überdauernden Bestand verleiht, die Iterabilität, die sich in Gestalt einer ellipsenförmigen Bewegung wiederholt und dadurch immer neu die Bedingung der Konstituierung von Bedeutung und Sinn herstellt. Wenn aber diese maschinenhafte Wiederholung ihrem Wesen nach an die materielle und körperliche Gedächtnistechniken gebunden ist, stellt sich damit auch die Frage nach der Technik, ob diese nämlich zu einer transzendentalphilosophischen Ebene erhoben werden kann oder doch nur auf die instrumentale Dimension des Zeichengebrauchs beschränkt bleiben muss. Bei Derrida ist die auf unberechenbare Weise ihre Supplemente oder ihren Mehrwert erzeugende Wiederholung von quasi-transzendentaler Bedeutung. Fungiert 84 85 86 Ebd. J. Derrida, Den Tod geben, 423. J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 134; 139; 141. 105 dann die Technik als ein Mittel zu diesem Zweck? Hoff verfolgt diese Problematik weiter im Zusammenhang von Zweck und Mittel, mit der Fragestellung: „Ist die Technik nur ein Mittel, um von einem ‚Mehrwert‘ Zeugnis zu geben, oder hat sie den Charakter einer Produktivkraft, einer ‚machine à faire des dieux‘, die diesen Mehrwert generiert?“ 87 Derridas exemplarische Interpretationen über „Beschneidungswerkzeuge des Mohels“ in Zirkumfession oder über das Bedürfnis „gut zu essen“88 weisen nun aber gerade darauf hin, dass die Technik mehr als ein Mittel ist, d. h. mehr oder weniger fremden Zwecken dient. Dies ist noch deutlicher in den Kulttechniken zu sehen, die als materielle, zugleich aber auch geistige Produktivkräfte erscheinen und somit von quasi-sakramentalem Charakter sind. Auf die Technik trifft der Primat des Zwecks vor dem Mittel also nicht mehr zu. Hier muss es vielmehr eine Umkehrung geben. Das Modell der abendländischen Metaphysik über das Verhältnis von Zweck und Mittel muss dekonstruiert werden, wie dies Derridas grammatologische Kritik an anderen metaphysischen Modellen unternimmt, etwa bezogen auf Stimme und Schrift, Kultur und Natur, Geistiges und Körperliches, Signifikat und Signifikant usw. Hinsichtlich des Begriffs „Medium“ bewegt sich also Derridas Kritik des metaphysischen Phonozentrismus zwischen zwei Positionen: Auf der einen Seite dem „Rationalismus“, der „die anarchischen Züge technischer Medien“ vernachlässigt, „indem er ihr Existenzrecht an eine funktionale ‚Bestimmung‘ bindet“, und auf der anderen Seite dem „Mystizismus“, der sie „als äußerliches Heilmittel im Dienste der Innerlichkeit eines ‚lebendigen Logos‘“89 unterordnet. Die Kulttechniken als anamnetische Ereignisse gehen aber über die Grenze der funktionalen und instrumentalen Bestimmung hinaus, die nach den jeweils genannten Positionen darin besteht, sich der Verwirklichung der höheren Ordnung zu bedienen, wobei aber dieses Mediumsgeschehen in seiner Kontamination unterschätzt wird. Dies verdeutlicht Hoff nochmals im Hinblick auf die anamnetische Funktion der Schrift, anlehnend an Derridas semiotische Analyse des Zeichensystems. Die Möglichkeit, ein Zeichen trotz seiner Gebundenheit an die Kontexte jedesmal identisch zu gebrauchen, hängt von seiner Wiederholbarkeit ab. Der Iteration kommt das Konstitutionsprinzip zu, wobei aber zeitliche und räumliche Differenzierung für die Iteration notwendig ist. Abgesehen davon, dass darin das autonome transzendentale Moment des Materialisierungsprozesses in Schriftzeichen und das subjektive Moment der 87 88 89 Ebd., 144. Vgl. ebd., 145. Ebd., 147. 106 Bedeutungsintention in ihrer Ambivalenz aufrecht erhalten werden sollen90, kann man diese Temporisation und Verräumlichung als jenes maschinenähnliches Verfahren bezeichnen, das Derrida in seinem Aufsatz Glaube und Wissen radikalisiert hat. Jede (Kult)Technik hat diesen maschinenhaften Zug und stellt dadurch, dass sie wiederholt, auf unkalkulierbare Weise ihre Supplemente oder ihren Mehrwert her, weicht damit also jedem statischen Festkleben aus, das sich entweder in einer bloß äußerlich funktionalen oder nur rein geistigen Dimension erschöpft. Materielle und körperliche, ja technische Vollzüge des Glaubens stellen durch ihre „Verschriftlichung“ die Möglichkeit dar, von Transzendenzerfahrungen Zeugnis abzulegen und sie weiterzugeben, setzen sich aber mit ihrer Materialität oder „Buchstabengläubigkeit“ der Gefahr des „Fetischismus“ aus, „der sich in einer Welt toter Artefakte und Prothesen verliert“91. 4.3.2 Semiologische Wende und christologische Aporien Die Folgen aus der semiotischen Analyse kultischer Vollzüge der Religion wendet Hoff nun ausschließlich auf die Hauptthemen der demonstratio christiana an. Er versucht im Anschluß an E. Lévinas und J. Derrida die elementaren Basisaussagen und -vollzüge des Christentums zu erforschen, wobei vor allem das Messopfer als Gedächtnis des stellvertretenden Opfers Jesu Christi und das chalkedonische Dogma der hypostatischen Union erörtert werden. Derrida hat sich mit dem Lévinasschen Phänomenologie und dessen erstphilosophischer Grundlegung der Ethik des Anderen bereits in seinen frühen Arbeiten auseinandergesetzt und wurde gewiss davon stark beeinflusst. Seine kritische Lesart von Lévinas, die er vor allem in seinem Aufsatz Gewalt und Metaphysik dargelegt hat, stellt aber nicht die emphatischen, sondern die pragmatischen Züge der Lévinas-Ethik heraus, sodass man diese als eine „Pragrammatologie“ kennzeichnen kann, die auf die „pragmatische(n) Maxime der ‚geringstmöglichen Gewalt‘“92 angelegt ist. Nach Derrida gibt es eine Gewalt, die ursprünglicher, älter ist als die Gewalt, welche sich gegen den Anderen wendet: die Gewalt der Zeit, die das Antlitz des Anderen verblassen lässt. Um sich dieser entgegenzustellen, müssen Praktiken einer Gegengewalt eingeführt werden: also das gedächtnisstiftende Opfer, sich verneinend dem Tod zu geben. Nur durch diese „vorethische Gewalt“, die im dekonstruktiven Verfahren der Verneinung 90 91 92 Vgl. ebd., 150. Ebd., 153. Ebd., 159f. 107 impliziert ist, kann überhaupt die schlimmste Gewalt, die die Spuren der Andersheit des Anderen auslöscht, vermieden werden.93 Aber gerade aus diesem pragmatischen Zug der Derridaschen Gewaltökonomie erwächst für die Theologie der Anstoß, die christliche Botschaft von stellvertretenden Opfertod Christi religionsphilosophisch neu zu denken. Im Hinblick auf die Gedanken von „Stellvertretung“ und unbedingter Verantwortlichkeit dem Anderen gegenüber“ warnt Hoff davor, die Lévinassche Bedeutung der Stellvertretung einfachhin mit der christologischen gleichzusetzen. Denn die Schärfe der Lévinasschen Ethik bestehe darin, dass meine unendliche Verantwortung für den Anderen unteilbar und unvertretbar ist. Nur in der absoluten Verantwortung, die durch die Nähe des Anderen hervorgerufen worden ist und mir zur Last gelegt wird, bin ich ein Subjekt, das allein stellvertretend von diesem Unendlichen Zeugnis geben kann. Diese Unteilbarkeit meiner Verantwortung, meiner Schuld für den Anderen lässt sich mit dem theologischen Sinn der Stellvertretung Jesu Christi nicht vereinbaren. So macht Hoff eine klare Unterscheidung zwischen „dem, was Lévinas als ‚Stellvertretung‘ bezeichnet“ und „dem, was nach Lévinas die christliche Tradition unter ‚Stellvertretung‘ versteht“94. Im Lévinasschen Sinne kann meine absolute Stellvertretung für den Anderen von niemandem übernommen werden, sodass sich allein in mich das Unendliche inkarniert, indem es mich in die absolute Verantwortung für den Anderen als Zeugen des Unendlichen ruft. Dies führt dazu, dass die irreduzible Position der Stellvertretung Jesu Christi und seine soteriologische Bedeutung für die christlichen Theologie relativiert wird: „Jedem Menschen als von Gott erwähltem Geschöpf ist [...] die Bürde der ‚Verantwortung‘ für das Heil des Anderen auferlegt. Eine darüber hinausgehende Privilegierung eines be95 stimmen Menschen steht für Lévinas nicht zur Debatte.“ Dieser christologischen Aporie wird mit Derridas Einsicht in die vorethische Gewalt, die mich zur Geisel des Anderen werden und den Anderen als Opfer erscheinen lässt, Rechnung getragen. Diese Gewalt liegt als Bedingung der Verantwortung aller ethischen Gewalt voraus und eröffnet damit die Möglichkeit meiner unteilbaren Stellvertretung für den Anderen. Der Ursprung, der sich als transzendentale Bedingung ohne Unterlass opfert und damit die unendliche Verantwortung allererst erzeugt, ist nach Derrida aber nicht bestimmbar, sodass all die 93 94 95 Vgl. ebd. Ebd., 164. Th. Freyer, Emmanuel Lévinas‘ Vorstellung vom Gott-Menschen – eine Herausforderung für die Christologie? 58. 108 daraus entspringenden Stellvertretungen Supplemente sind und einen Entschädigungsort des Opfers markieren. Hoff zieht daraus für die Christologie eine Konsequenz, die uns erneut an die Negative Theologie erinnert: „Das Verbot, den Namen Christi in einem univoken Sinne zu deuten oder ihn als hermeneutisch sinnvoll zu rechtfertigen, erwächst aus einer ethischen Unmöglichkeit: Der Sinn der Stellvertretung Christi darf nicht gerechtfertigt werden. Jeder Versuch, dies zu tun, hätte sich an ethischen Maßstäben zu messen: Er müßte erweisen, daß es verantwortbar ist, 96 sich durch einen Dritten vertreten zu lassen.“ Ein Aus- bzw. Zugang ist nur über den Gedanken der Supplemente zu gewinnen, die sich – wie oben gezeigt wurde – materiell und technisch repräsentieren, wobei das Bezeichnete, d. h. das Ursprüngliche, nur in Spuren von Spuren erscheint, sich aber selbst niemals unmittelbar in seiner Präsenz aufweisen lässt. Diese Tatsache ist folgenreich für die christliche Theologie, denn nun stellt sich hier unweigerlich die Frage nach dem Opfertod Jesu und der Darbringung des Opfers von der Kirche, also nach der Tradition kirchlicher Dogmen überhaupt. „Semiologisch“ gesehen geht das Opfer der Kirche dem einmaligen Opfer Jesu Christi voraus, und nur die Wiederholung dieses kirchlichen Opfers kann das Gedächtnis des wahren Leibes Christi bewahren, weil dieser niemals in eine synchronische Einheit mit seinem Supplement gebracht werden kann. Ein wiederkehrendes Supplement schiebt das vorliegende Supplement auf und eröffnet damit überhaupt erst den Raum, in dem die Einmaligkeit und Unteilbarkeit des Opfers Jesu Christi wiederholt vollzogen werden kann.97 Auf der einen Seite kommt den Vollzügen des kirchlichen Opfers eine irreduzible Qualität zu, auf der anderen Seite aber werden dadurch die historische Frage nach dem Christusereignis und die dogmatische Definition von Chalkedon Relativierungen unterzogen. Vor diesem Hintergrund blickt Hoff auf zwei Aporien, die zwischen dem in der absoluten Transzendenz stehenden Gott und dem menschgewordenen Jesus, sowie zwischen diesem und mir als Verantwortungsträger bestehen. Gemäß dem Lévinasschen Grundsatz der unendlichen Alterität könne erstens, das Subjektsein Jesu als Supplement, sekundär erscheinen, auch wenn sein Dasein auf einen unvordenklichen Anfang zurückgehe (Praeexistenz Christi). Und auch seine Menschwerdung könne demnach nicht mehr aus der unmittelbaren Einheit mit Gott verstanden werden. Zweitens gebe es prinzipiell keine Unterscheidung zwischen der Begegnung mit Jesus und der mit einem Anderen, mag sich auch in meiner unendlichen Verantwortung 96 97 J. Hoff, Spiritualität und Sprachverlust, 167. Vgl. ebd., 169. 109 das Antlitz Jesu offenbaren oder inkarnieren. Sich als Spur aufschiebend ist er ganz Anderer, doch das ist auch jeder Andere.98 Aus dieser Hinsicht könnte es keine theologische Perspektive rechtfertigen, Jesus als einen privilegierten Vermittler zwischen Göttlichem und Menschlichem zu qualifizieren. Aber gerade wegen dieser Abgründe, dieser Diachronie und Nachträglichkeit bleibt ein Rest, der sich durch keine positive oder negative Definition und Auslegung aufheben lässt. Er bleibt immer dieses „Mehr“, das Derrida als ein „n + 1“ beschrieben hat. Gott ist im Antlitz Jesu immer noch ein ganz Anderer. Er wird hier zumindest gegenwärtig gewesen sein. Als menschgewordenes Wort ist er in seinen supplementären Vollzügen, vor allem im eucharistischen Opfer der Kirche, noch ein ganz Anderer. Es wird immerhin schon gesprochen worden und gewesen sein. Es widerfährt nur im „Nachhinein“ einen Vorübergang, als Spur der Vergangenheit. Das Antlitz des ganz Anderen bietet sich nur in den vordrängenden Wellen von Spuren dar, in denen jeweils die Spur die Spur vertilgt und diese so als bereits vorübergegangene erweist: als eine ursprünglichere Gewalt, die zugleich aber den Möglichkeitsraum der Begegnung mit dem Anderen überhaupt erst eröffnet. Lévinas’ Verantwortungsethik und der Derridas Semiologie kehren die traditionelle Hierarchie zwischen Signifikat und Signifikant um. Der Akzent verlagert sich auf die materiellen supplementären Vollzüge der Kirche, sodass Hoff sagen kann: „Ohne das wiederholende Opfer der Kirche bliebe das eine Opfer Christi bedeutungslos.“99 Sind damit aber die christologischen Aporien aufgelöst, die Hoff selber aufgestellt und ins Licht einer hermeneutischen Wende zu bringen versucht hat? Jesus als eschatologischer Vermittler und die Einmaligkeit und Irreduzibilität des Christusereignisses wären damit also auf die Praktiken der Kirche angewiesen, in der aber nicht nur das Heilige, sondern – Derrida hat genau darauf aufmerksam gemacht – auch das Böse seine Supplemente erzeugt. 98 99 Vgl. ebd., 171. Ebd., 174. 110 4.3.3 Das satanische Böse als „double bind“ Die Wiederholung des eucharistischen Opfers erschließt den Raum, in dem sich wiederholt, wenn auch nur nachträglich, das Christusereignis ereignet dadurch, dass sich der Leib Christi zum Essen gibt und die Gewaltsamkeit dieser supplementären Vertilgung die Erinnerung an ihn bewahren lässt. Wie Derridas Kritik gezeigt hat, gibt es aber zu beachten, dass die Wurzeln des Irrationalismus auch in den kultischen Vollzügen liegen. Im Kapitel Das „satanische Böse“ als Spur eines Geltungsmangels erörtert Hoff diese Problematik im Hinblick auf eine systemlogische Aporie der (Un)Möglichkeit, zwischen Gut und Böse eine Unterscheidung zu treffen. Nach Lévinas liegt die Begegnung mit dem Anderen jedem Kalkül, jeder kritischen Reflexion voraus. Und auch Derrida betont, dass die Achtung vor dem Anderen, nämlich ihn als Anderen sein zu lassen, sich dem Bereich der Erkenntnis entzieht. Darin liegt vielmehr eine Anerkennung, in der ich mich darauf verlasse, die Andersheit des Anderen vor jeder Begründung zu achten. Würde ich so tun, als wäre ich dazu nur bedingt verpflichtet oder damit nicht vertraut, so wäre dies die schlimmste Gewalt gegenüber dem Anderen. Wenn der Glaube wesentlich darin besteht, von dem Absoluten, d. h. von dem unbedingt Anderen, Zeugnis abzulegen und Vertrauen (Kredit) zu schenken, muss man mit der damit berührten Grundlage anfangen, die noch vor und diesseits der Differenz zwischen Heiligem und Säkularem, Reinem und Unreinem liegt: „Die Suche nach Ritualen des Sich-vertraut-Machens hat mit Asymmetrien zu rechnen, die die Kreditwürdigkeit der Dialektik von ‚Fremdheit‘ und ‚Vertrautheit‘, ‚Achtung‘ und ‚Verbrüderung‘ untergraben und damit auch die Hoffnung verunsichern, eindeutig zwi100 schen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Formen von Alterität zu unterscheiden.“ Vor diesem Hintergrund fordert Hoff, „dem Begriff des ‚satanisch Bösen‘ einen Ort im Möglichkeitsraum christlicher Spiritualität zuzuweisen“ und „seine Bedeutung als Problemindikator im Kontext einer ‚Ökonomie der Gewalt‘ systematisch einzugrenzen“.101 Denn die Moderne unterdrückt und vernachlässigt das satanische Böse, sofern es das Irrationale in Bezug auf die Entkörperlichung betrifft. Hoff untersucht diese Tradition in ihrem engen Zusammenhang mit der christlich-abendländischen Anthropozentrik der Moderne, insbesondere der Kantischen Philosophie, und wie Derrida das genießerische Essen (Il faut bien manger) und die „internalisierenden“ Rituale des Tieropfers auf jenen Zusammenhang hin analysiert.102 Indem 100 101 102 Ebd., 186. Ebd., 182. Vgl. ebd., 184-191. 111 die Moderne das Irrationale, das Unheimliche, das Tierische dem Glauben an das autonome Subjekt unterordnet und diese Fremdheit ausschließlich der Gestalt des satanischen Bösen zuordnet, begründet sie die ethisch-hierarchische Privilegierung des Menschen. Diese basiert letztlich auf der Differenzierung von Gut und Böse, welche aber nicht eindeutig entscheidbar ist: „Keine Kreatur könnte diese Differenz aussprechen, ohne durch die Spur der Ahnung verunsichert zu werden, daß eine allem Sprechen zuvorkommende unheimliche Entstellung 103 ihm den Blick auf das Gute bereits unmerklich verstellt hat.“ Mit der vorethischen Gewalt der Differenzierung würde nicht nur das Gute, sondern auch die Spur des Unbedingten verhüllt, die mich zur unentscheidbaren Vertrautheit beruft. Als Spur der vorethischen Unentscheidbarkeit wird das satanische Böse immer wieder zurückkehren. Gerade an diesem Punkt, den man mit Derrida „double bind“ nennen kann, verunsichert das satanische Böse jene ethische Differenzierung, welche die Andersheit und Fremdheit diskriminiert, und stellt das darauf begründete System als unglaubwürdig bloß. Der Satan könnte immer schon durch die Ritzen der Fundamente des Glaubens in das Innerste seiner Heiligtümer eindringen.104 Die Auseinandersetzung mit dem satanischen Böse stellt abermals das Unkalkulierbare in den kultischen Techniken und Ritualen in den Vordergrund, wie Derrida dies schon bezüglich der Quellen der Religion ausgeführt hat. Damit wird jenes Feld freigelegt, das kein philosophischer oder theologischer Diskurs in Beschlag nehmen kann und in dem hinsichtlich der Ökonomie der Gewalt auch mit dem Krieg der machtorientierten Gewalt zu rechen ist. Diese mahnende Tatsache gilt für alle Religionen und ihre Vollzüge, aber vor allem für das Christentum, das den Anspruch erhebt, „im Evangelium von der Menschwerdung das Gedächtnis eines ‚letztgültigen Sinnes‘ zu tradieren“.105 Bis zu dem nicht vorwegnehmbaren, wohl eschatologischen Punkt wäre jeder religiöse Diskurs „epochal“. Das irrationale satanische Moment in den Basisvollzügen des Glaubens und seiner materialen Bedingungen verbietet es der Theologie geradezu, einer Auseinandersetzung mit diesem dekonstruktiven Grundgesetz auszuweichen. 103 104 105 Ebd., 191f. Vgl. ebd., 193. Ebd. 112 4.4 Die Ortlosigkeit der Theologie und ihre ekklesiologische Folge 4.4.1 Zum Möglichkeitsraum des theologischen Diskurses Da Hoff seine Arbeit nach den Aufteilungen der klassisch-fundamentaltheologischen Traktaten konzipiert hat, muss er nun den Ort betreten, wo der demonstratio catholica Rechnung getragen werden soll. Um diesem Ort aber einen religionsphilosophischen Zugang zu verschaffen, geht er zuerst nochmals auf die erkenntnistheoretische Problemlage ein, die er mit Hilfe der Arbeiten von Foucault und Certeau analysiert. Er glaubt, dass hier die Antworten auf jenes Krisenphänomen zu finden sind, das insbesondere durch die Humanwissenschaften der Moderne hervorgerufen worden ist und das, wie Derrida exemplarisch im Hinblick auf die Tendenz der Entkörperlichung gezeigt hat, weder die Religion im allgemeinen noch die Kirche im besonderen verschont. Da Foucault seine späte machtkritische Genealogie vor allem auf die Körpertechniken und die Mikroebene des Alltags fokussiert, versucht Hoff die dabei gewonnenen Grundeinsichten im Anschluß an Certeau und Lacan auf die Institutionenstrukturen hin zu erweitern. Mit der Feststellung, dass die Theologie die Spielräume „auf der Ebene von Ritualen und non-verbalen Praktiken“ zu erschließen hat, „die Möglichkeitsräume von Transzendenz offenhalten, gerade weil sie sich nicht als klar definierte ‚Antworten‘ fixieren lassen“106, wird damit der Zusammenhang von Wissenschaft, Institutionalisierung und Macht erschlossen.107 Vor diesem Hintergrund ist Derridas Dekonstruktion von eminenter Bedeutung, sofern auch sie sich machtkritisch den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen oder religiösen Glaubensinstitutionen zuwendet. Das dekonstruktive Verfahren selbst lebt, wie bereits gesagt, aus einer zweifachen Bewegung: einer destruktiven und einer konstruktiven. Für die erstere bezieht sich Hoff auf die Negative Theologie und bringt das Ergebnis ihrer Ortlosigkeit exemplarisch in eine Auseinandersetzung mit der anthropologischen Verortung des theologischen Diskurses beim frühen Karl Rahner. Und für die letztere versucht er die Bedeutung und Funktion der Glaubensinstitutionen dadurch zu rekonstruieren, dass er ihnen die Platzhalterschaft eines ortlosen Diskurses zuzuweisen versucht. Wie bereits Valentins Arbeit gezeigt hat, findet man die für die Theologie relevanten Anknüpfungspunkte bei Derrida in den Texten, in denen er sich mit der Negativen Theologie von 106 107 Ebd., 234. Vgl. ebd., 238-279. 113 Pseudo-Dionysios, Meister Eckhart und Angelus Silesius auseinandersetzt. Der Weg des apophatischen Diskurses und Derridas Einsicht in die Negative Theologie zeigen letztlich, dass das Ungedachte, das Absolute an kein partikulares Diskursgenre zurückgebunden bleiben darf, dass also der Name Gottes keinen Ort hat. Diese Ortlosigkeit bleibt jedem theologischen oder (religions)philosophischen Diskurs antinomisch, insofern sie auch durch die Affirmationen oder Verneinungen oder gar durch das Verschweigen einen Ort der Gottesrede zu bestimmen versuchen. Daher und abgesehen davon, dass dies uns nochmals an die oben schon ausgearbeitete Aporie der Unentscheidbarkeit von Gut und Böse erinnert, sieht Hoff den Versuch des frühen Rahner, religionsphilosophisch bzw. anthropologisch diesen Ort zu begründen, als gescheitert an, wobei diese Bewertung im Wesentlichen auch dem Ergebnis seiner im ersten Teil vorgenommenen Auseinandersetzung mit den sprachpragmatischen Begründungsstrategien von Apel und Habermas entspricht. Rahners Theologie bewegt sich bekanntlich zwischen zwei Ebenen, einer transzendentalen und einer geschichtlich-kategorialen Ebene. Sie ist gnadentheologisch auf dem Grundsatz aufgebaut, dass die Selbstmitteilung Gottes wirklich und überall als übernatürliches Existential angeboten und, sei es positiv oder negativ, vernommen wird. Wie einige kritische Bemerkungen gezeigt haben108, läuft aber diese transzendentaltheologische Reflexion über die rein religionsphilosophische Grundlegung der Potentia oboedientialis hinaus, die er anfangs vor allem in Geist in Welt und in der ersten Auflage von Hörer des Wortes unternommen hat. In diesen frühen Werken versucht er einen Möglichkeitsraum zu erschließen, in dem ein wissenschaftlicher Diskurs über das Unbedingte geführt werden kann. Dies wird zunächst anthropologisch begründet, indem er behauptet, dass der Mensch mit der Bejahung seiner Kontingenz, seiner Endlichkeit das dabei ermangelte Moment der Unbedingtheit „mit“ bejaht, und dann wird diese Tatsache dialektisch so ausgeführt, dass die Bestreitung dieser Mitbejahung implizit auch schon die Möglichkeit einer auf das Nichts gestellten Transzendenz ausschließen muss.109 Aus dem Blickwinkel der Negativen Theologie und Derridas Analyse trifft aber Rahners Begründungsstrategie, der Transzendenz des Unbedingten einen anthropologischen Ort zuzuweisen, eine Vorentscheidung über die Ortlosigkeit des theo-logischen Diskurses. Folgt man Lévinas’ und Derridas Linie, jenes zweifache Ja als die Antwort auf den Ruf des Anderen zu deuten, muss man doch unterstellen, dass es nicht „im vorhinein“ verortet werden 108 109 Vgl. ebd., 300. Und hier Anm. 4. Vgl. ebd., 289; 294f. 114 kann, „von woher der Ruf ergeht“110, wenn auch das erste Ja einen transzendentalen Status hat. Um der Singularität und radikalen Alterität willen lässt sich der Ruf des Anderen an keinem apriorischen Ort festmachen, denn er erscheint jeweils ganz anders in den Spuren des Verlöschens von Spuren. Von daher auch Hoffs Bewertung der anthropologischen Verortung beim frühen Rahner: „Die transzendentalanthropologische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Offenbarung scheitert an ihren eigenen Prämissen: Die Anthropologie ist keine zuverlässige Instanz zur Entfaltung der Frage der Potentia oboedientialis des Menschen. Und so bleibt die Transzendentalsemiologische Einsicht unhintergehbar, daß der Möglichkeitsraum, in dem sich eine Offenbarung ereignen könnte, nur dann gewahrt bleibt, wenn er mit dem Unmöglichkeitsraum von Offenbarung zusammenfällt: Wenn die Bejahung meiner Endlichkeit den Charakter ihrer Unbedingtheit bewahren soll, wird sie nur dann möglich sein, wenn sie nicht als eine anthropologische Möglichkeit antizipiert werden kann. Denn 111 die Erfahrung meiner Endlichkeit hat den Charakter eines singulären Ereignisses.“ Diese Bewertung und Grenzziehung Hoffs überrascht nicht, sieht man dahinter, dass er Derridas Position gegenüber dem transzendentalen Diskurs im Auge hat: „eine Zwischenposition zwischen klassisch-transzendentalphilosophischen Ansätzen und einer Ethik Lévinasschen Stils“112. Mit dieser Position geht Hoff dann zum nächsten Schritt über. Denn mit der bisherigen Untersuchung ist der institutionenbedingte Rahmen der theologischen Gottesrede noch nicht erschlossen, welcher der demonstratio catholica entsprechen soll. Der Hinweis auf Derridas radikale Grundhaltung, den theo-logischen Diskurs ortlos in der Schwebe zu halten und sich mit einer Platzhalterschaft für das zentrumslose Feld, für den durch keine diskursive oder institutionalisierte Macht vertretbaren Rest zufrieden zu geben, zeigt schon die Richtung, in welcher die Institutionenfrage gestellt und untersucht werden soll. 110 111 112 Ebd., 293. Ebd., 298. Ebd., 301. 115 4.4.2 Semiotische Rekonstruktion der Glaubensinstitutionen Derridas Dekonstruktion zielt nicht auf eine Destruktion schlechthin. Wenn sie auch explizit nicht auf eine neue Rekonstruktion besteht, so eröffnet sie doch einen Horizont, im dem das der Dekonstruktion Ausgesetzte zumindest von den hierarchischen Verstrickungen der metaphysischen Tradition befreit wird. Insofern geht diese Bewegung mit einer machtkritischen Operation einher, durch die auch der Sinn der Glaubensinstitutionen neu rekonstruktiert werden könnte. Da die Dekonstruktion Derridas aber nicht direkt auf die Institutionenproblematik eingeht, bezieht sich Hoff für eine machkritische Ekklesiologie vor allem auf Slavoj Žižek und Michel de Certeau. Und als Ergebnis dieser Forschung unter dem Kapitel „Das apostolische Amt als Platzhalter eines ortlosen Diskurses“ stellt er die Unhintergehbarkeit apostolischer Autoritätsstrukturen fest: „Denn die Rolle von Institutionen erschöpft sich keineswegs in ihrer ‚herrschaftsstabilisierenden‘ Funktion: Sie tragen zur Stabilisierung von Machtsystemen bei, bergen aber zu113 gleich ein emanzipatorisches Potential.“ Der Einsicht der Lacanschen Psychoanalytik folgend, kann man neben einer solchen vorbehaltlichen Einschätzung dem hierarchischen Amt und den Institutionen letztlich die Rolle eines Nullsignifikanten sprechen, „dessen Signifikanz nicht auf dem beruht, was er bedeutet, sondern auf der Tatsache, daß er etwas zu deuten gibt – einen Signifikanten, der das Begehren nach Deutung erwachen läßt, indem er die Bedeutsamkeit des gesamten symbolischen Feldes markiert.“114 Hier klingt nochmals das semiotische Plädoyer für die Platzhalterschaft des zentrumslosen Feldes an, das von keinem Diskurs und keiner Institution besetzt werden kann. Die Theologie und die Kirche sind als Repräsentanten des Anderen in ihrer Gedächtnisökonomie zur Bewahrung jener unendlichen Alterität aufgerufen, haben also ihr konstitutives Moment nicht darin, eine historische Präsenz, das fleischgewordene Wort identisch zu wiederholen, sondern die Spuren seiner Anwesenheit zu bewahren und sich an die Erfahrung dieses Fortgehens, des Todes und der Himmelfahrt, zu erinnern. Ein Entzug, ein Bruch stiftet den Glauben und eröffnet den Spielraum, in dem das Gesetz der Alterität bewahrt wird und ihre Spur nicht ins Vergessen gerät.115 Die Bedingungen der Möglichkeit fallen mit den Bedingungen der Un113 114 115 Ebd., 279. Ebd., 314. Vgl. ebd., 324. 116 möglichkeit zusammen. Mit diesem von Hoff in seiner Arbeit durchweg betonten erkenntnistheoretischen Hinweis gelangen wir zu seinem abschließenden bemerkenswerten Satz: „Die Wahrheit des Glaubens liegt jenseits der Mauern, in deren Schutz die Wächter des Evangeliums ihr Werk verrichten. Denn seine Spur hat keinen bleibenden Ort. Der Weg nach draußen wird stets unter dem Blick eines Wächters enden. Bloßgestellt vor den Augen der Welt, wird er den Idiotus des Glaubens zu der schmerzhaften Einsicht führen, daß 116 der Grund seiner Liebe verschwunden ist.“ 4.5 Fazit Foucault und Derrida rezipierend legt Hoff eine ausführlich angelegte Arbeit vor, die darauf zielt, zu einer nach-hermeneutischen Theologie zu gelangen. Wie der Titel „Spiritualität und Sprachverlust“ schon deutlich zeigt, ist auch die Theologie heute der semiologischen Wende ausgeliefert, deren Markierung man kurzum als „Sprachverlust“ bezeichnen kann, und sie hat somit einen Ort ausfindig zu machen, an dem ihre Spiritualität in einem neuen Licht aufblühen kann. Für diese Leistung muss man aber ständig die erkenntnistheoretischen Grundsätze im Auge behalten, d. h. die Unentscheidbarkeit, die darin liegt, das Kriterium zwischen Böse und Gut zu benennen oder es transzendental begründen zu wollen, und die Ortlosigkeit des theo-logischen Diskurses, wie sie sich eben in der Tradition der negativen Theologie herausgebildet hat. So in der Schwebe bleibend, zeigt sich ein Ausweg aus jenen Grenzen der aufklärerischen Moderne, die vor allem mit der Diagnose der Unzulänglichkeit der verbalen Diskurse und der machtkritisch bedachten Unredlichkeit der Expertendiskurse konstatiert werden kann. Dass der Zugang zu der sich in Spuren verlierenden Wahrheit nun allein in nondiskursiven Praktiken und Alltagssprache zu suchen ist, dem könnte man teilweise zustimmen, denn auch diese Umorientierung würde auf die oben genannte Grundsätze stoßen. Es scheint aber doch immer noch notwendig zu sein, die Geister unterscheiden zu lernen – und zwar mit gutem Willen –, auch wenn dabei die Frage nach dem Heil mit der nach dem satanischen Böse zusammengehen muss, wie Derrida mahnend herausgestellt hat. 116 Ebd., 326. 117 Hoff macht deutlich, dass seine Arbeit nach den Traktaten der klassischen Fundamentaltheologie konzipiert ist. Dementsprechend stellt er in den drei Teilen sehr verschiedene Perspektiven vor, die einer Diskussion wert sind. Sein Schwerpunkt liegt zwar darin, sich mit der transzendentalen Problemstellung auseinanderzusetzen und vor allem rituelle Vollzüge vor einem semiologischen Hintergrund zu analysieren. Es scheint damit aber dem zweiten und dem dritten Traktat zu wenig Rechnung getragen worden zu sein, insbesondere der für die demonstratio catholica zentralen Frage nach dem Wesen der Kirche. Der Grund dafür lässt sich wohl auf die Tatsache zurückführen, dass Derrida, jenseits seiner explizit philosophischen Fragen nach der Religion und der Negativen Theologie, oft über die Grenzen genuin theologischer Themenbereiche hinausführt, sodass Hoff für seine theologische Rezeption auch andere Autoren als Referenzen heranziehen muss. Man darf daher gespannt sein, wie Hoff seinen Entwurf im Hinblick auf Einzelfragen der Fundamentaltheologie weiter entwickeln wird. 118 5 Eine Lektüre zwischen Kierkegaard und Derrida: Tilman Beyrich 5.1 Ein Buch schreiben? 5.1.1 Die Kunst der Mitteilung bei Kierkegaard In seiner Dissertation Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard erforscht Tilman Beyrich, inwieweit beide Denker in ihren Diskursen aufeinander verwiesen werden können. Aus seiner Perspektive erinnert Derrida an Kierkegaard. Dieser könne als einer von dessen Vorläufern betrachtet werden. Daraus lasse sich eine exemplarische Lektüre von Donner la mort, einem Text, in dem die explizite Auseinandersetzung Derridas mit Kierkegaard zu finden ist, ableiten. In der Gegenüberstellung beider Denker könne gezeigt werden, was es heißt, aus der Sicht Derridas Kierkegaard und umgekehrt aus der Sicht Kierkegaards Derrida zu lesen. Damit entstehe eine Chance, die Beziehung zwischen Kierkegaards existentiellreligiösem Verständnis und Derridas Denken für ein theologisches Interesse fruchtbar zu machen und damit auch eine Antwort zu geben, auf „die Frage der Möglichkeit der Aneignung der jüdisch-christlichen Glaubensüberlieferung“1 für die Spätmoderne. Beyrich als guter Leser im Sinne eines explizierenden Kommentators geht von der Frage aus, was denn „Schreiben“ oder „Schriftstellerei“ eigentlich bedeutet. Kierkegaards religiöse Schriftstellerei teilt jedenfalls schon im Wesentlichen den Schriftbegriff Derridas. Dies zeigt sich vor allem in dem, was Kierkegaard als „Kunst der Mitteilung“ versteht und wie er ihr gemäß das eigene Schreiben ansetzt. Anders als im herkömmlichen Verständnis von der Schrift, nach dem Inhalt und Form qualitativ zu differenzieren und in ein Innen-AußenSchema einzuordnen sind, macht Kierkegaard den Stil zum wesentlichen Faktor des Schreibens, was dazu führt, im Bezug auf die Sache selbst auch Anderes zu denken. So will er nicht ein Philosoph sein, sondern „ein Extraschreiber, der weder das System schreibt noch Versprechungen eines Systems, der sich weder beim System noch dem System verschreibt.“2 Vor diesem Hintergrund wendet sich Beyrich jenen Texten zu, in denen Kierkegaard im Voraus bereits der Versuchung auszuweichen versucht, seine Schriften in irgendeine Art pa1 2 T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 20. S. Kierkegaard, Furcht und Zittern, 5. 119 ragraphischer Systematisierung einzuordnen. Dies gilt vor allem für seine Vorworte. Sie gehören nicht zu der klassischen Gattung des Vorwortes, der gemäß dem Leser hier schon angekündigt werden soll, was sich der Autor im folgenden Buch eigentlich vornimmt: Absicht, Ziel, wichtige Perspektiven, Sinn und Gang des Verfahrens etc. In seinen Vorworten will Kierkegaard also die allgemein übliche Aufteilung und Klassifizierung von Vorwort und Buch unterlaufen, um damit die Erwartungshaltung des Lesers sowie seinen Glauben zu erschüttern, hier etwa eine autoritative Lesart finden zu können. In seinem Vorwort behandelt er also die Sache selbst, und wenn seine Schriften etwas zu behandeln scheinen, sei dies nur „ein Schein und eine vorgetäuschte Bewegung“3. Im Unterschied zum Hegelschem Verständnis dessen, was „ein Buch schreiben“ heißt, lassen sich nach Beyrich die Eigentümlichkeiten des Kierkegaardschen „emanzipierten Vorworts“ folgendermaßen zusammenfassen: „Die Frage nach dem Status eines Vorworts führt von daher ins Zentrum der Kierkegaardschen Schriftstellerei. Denn das Vorwort ist eine Seite dessen, was die Philosophie zu neutralisieren, zu limitieren und zu überwinden versucht: Es steht für alles Idiomatische, Parti4 kuläre, Kontextuelle, Kontingente und der ‚Sache‘ nur ‚Äußerliche‘.“ Das Vorwort dürfte in diesem Fall also kein Ende haben. Es verweist auf die Grenze des abschließenden oder abschließbaren Systems, denn es wird ja niemals fertig und sein Ende wäre am Ende doch noch nicht zu Ende. Wider alles Versprechen, dass es irgendeinmal nichts mehr zu schreiben gibt, erinnert das Vorwort ständig daran, dass weiter geschrieben werden muss. Es ruft und fordert einer Reihe von Nachschriften eines Werkes auf. Insofern ist das Vorwort die Nach-Schrift, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass es üblicherweise meistens am Schluss des Buches geschrieben wird, sondern dass es kein Ende finden kann und nach einer Nachschrift verlangt. Und diese Tatsache betrifft jeden Text. Jeder Text ist weiteren Nachschriften ausgesetzt und wird selbst zur Nachschrift eines anderen.5 Schreibt man Kierkegaards Schriftstellerei „den Charakter weit ausgreifender ‚Vorworte‘ zu niemals geschriebenen ‚Büchern‘“6 zu, so meint dies nicht nur, dass sie durch eine solch spezifische Strategie das Idiomatische, das Partikuläre, das Marginalisierte, ja das Andere ins Denken zu bringen versucht. Dies weist auch auf ihre nachschriftliche Implikation hin. Sie wird ihrem Wesen nach nie abgeschlossen und teilt das Schicksal der unendlichen Offenheit 3 4 5 6 S. Kierkegaard, Vorworte, 175. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 27f. Vgl. ebd., 34. Ebd., 28. 120 auf das Lesen und Interpretieren hin. Hier könnte man bereits jene texttheoretische Einsicht der linguistischen Wende anführen, die auf die Autonomie des Textes oder den Tod des Autors verweist. Als „Extraschreiber“ betrachtet Kierkegaard sich selbst als dritte Person, d. h. als einen Leser seiner Bücher und nicht als deren Verfasser.7 Ein Buch schreiben heißt für ihn, es widerrufen und wiederholt ein Nachwort zu schreiben, „welches es widerruft: als Buch bzw. als Lehre widerruft und einschreibt in eine Kette erneuter Versuche ‚in derselben Richtung‘“8. Damit bringt Beyrich die Schriftstellerei Kierkegaards nicht nur in eine Nähe zum Schriftbegriff Derridas, sondern er spielt damit auch auf ihre Aktualität im Sinne einer Vorwegnahme der Postmoderne: Kierkegaard als Sokrates der Postmoderne. Kierkegaards Stil und seine Art des Schreibens haben einen destruktiven Zug, weil sie die gängige Bedeutung dessen, was „ein Buch schreiben“ heißt, verfallen lassen. Worauf damit abgezielt und aufmerksam gemacht werden soll, diese rekonstruktive Frage ist nun weiter zu stellen. Dabei wird Kierkegaard mit Sokrates verglichen. Kierkegaard hat sich bezüglich der Kunst der Mitteilung Sokrates zum Vorbild eines existentiellen Denkers genommen, zu dem er selbst für seine Zeit werden wollte. Sokrates’ negative Mäeutik zielt darauf ab, den einzelnen Dialogpartner nicht auf Urteile und Theorien festzulegen, sondern ihn vom Trug zu befreien und zu sich selbst kommen zu lassen. Damit das einzelne Individuum in einer existentiellen Geburt zu sich selbst finden kann, muss der Mäeutiker oder der fragende Lehrer zurücktreten und darauf verzichten, den Gebärenden in einer allgemeinen autoritären Lehre zu unterweisen.9 Abgesehen davon, dass in diesem Zusammenhang Kierkegaards „Pseudonyme“ untersucht werden könnten, ist sein Schreiben geradezu auf diese existentielle Mäeutik angelegt, auf die die Sokratische Kunst der Mitteilung zielt: „In Kierkegaards Terminologie bedeutet das, dem anderen dazu verhelfen, ein Selbst zu werden.“10 Und dies geschieht jedesmal singulär, ist in keinerlei Weise verallgemeinerbar und teilt sich vor allem nicht unmittelbar mit. Die mäeutische Aufgabe besteht ausschließlich darin, „nicht nur die Wahrheit mitzuteilen, sondern mit List in sie ‚hineinzutäuschen‘“11. Deshalb spielen in Kierkegaards Schriftstellerei Ironie und Metapher eine entscheidende Rolle. Denn für Kierkegaard bringt genau die Ironie des Sokrates jenes wissenschaftliche Gewissen in die 7 8 9 10 11 Vgl. ebd., 41. Ebd., 37. Diese Selbstzurücknahme erinnert an den rabbinischen Gedanken des „Zimzum“, den J. Valentin hinsichtlich der Nähe des Derridaschen Schriftbegriff zur Torainterpretation dargestellt hat. Vgl. dazu ders., Atheismus in der Spur Gottes, 132-135. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 45. Ebd. 121 Schwebe, welches an die objektive und direkte Mitteilung von Ergebnissen und Informationen glaubt. Diese Ironie steht bei Kierkegaard in Verbindung mit Metaphern, insbesondere mit der Metapher „Falschgeld“, die in Kierkegaards Texten ständig vorkommt.12 Nach einem ausführlichen Zitieren einer Tagebuchnotiz Kierkegaards stellt Beyrich die semiotische Tragweite der Metapher „Falschmünzen“ wie folgt heraus: „Es geht Kierkegaard um einen Umbau des unser Denken prägenden Begriffsapparates bei gleichzeitiger ‚Verwendung‘ dieser unbrauchbar gewordenen Münzen. Es geht um eine Benutzung der Begriffe, die zugleich ihre Unbenutzbarkeit deutlich werden läßt. Ein Sinnentrug läßt sich nicht dadurch beheben, daß etwas anderes ‚dagegen gesetzt wird‘ [...], sondern nur durch ein geschicktes, ‚durchtriebenes‘ Agieren mit ‚Falschgeld‘, durch eine 13 Sprache, die im Inneren ihres eigenen Systems Irritationen verursacht.“ Daraus ist nur unschwer zu erkennen, dass die Metapher der Falschmünzen vom Schriftbegriff Derridas nicht weit entfernt ist. Die falschen Münzen sind keine Repräsentanten, die auf ursprüngliche Bedeutungen und Werte zurückzuführen sind, sondern sie sind „nur Verweisungen auf andere Zeichen, deren ‚innerer Wert‘ und Äquivalent nirgends deponiert ist.“14 Sie sind Zeichen des Widerspruchs. Der Kierkegaardsche Schriftsteller ist demnach ein Revisor, dessen Arbeit dem bereits Bestehenden nur supplementär, ergänzend ist. Es handelt sich um eine immerwährende Revision der alten Begriffe. Die daraus sich erschließende ethischreligiöse, vor allem christologische Folgerung15 ist für die schriftstellerische Tätigkeit Kierkegaards entscheidend, da es ihm letztlich um die Revision, um die „Wiederholung“ der eigentlichen Christenheit geht. Mit der Feststellung der erstaunliche Nähe des Kierkegaardschen Schreibens zur Derridaschen Dekonstruktion gehen wir aber bereits zum zweiten Kapitel über, in dem Beyrich Derridas Begriffe „Schrift“ bzw. „Text“ untersucht. 5.1.2 Die Wiederholung und die différance Im Kapitel „Der Schriftgelehrte: Schreiben nach Derrida“ setzt Beyrich Kierkegaards Verständnis der Schriftstellerei nun ausführlich mit dem Schrift- und Textbegriff Derridas in Beziehung. Die im ersten Kapitel unternommene Untersuchung hat bereits einige Kernpunkte 12 13 14 15 Vgl. ebd., 47. Auch hier Anm. 44. Ebd., 48f. Ebd., 50. Vgl. ebd., 52-60. 122 herausgestellt, wie nahe hier zwei Denker zueinander stehen. Ähnlich wie die Metapher „Falschmünze“ steht auch die„Schrift“ bei Derrida nicht für die Deponierung und Verweisung eines ursprünglich zu vergegenwärtigenden Sinnes. Beachtet werden muss bei diesem Schriftbegriff freilich die zeichentheoretische Bestimmung des Verhältnisses von Signifikat und Signifikanten und insbesondere auch die Begriffe der „Spur“ und „différance“. Ähnlich wie im Stil der Kierkegaardschen Schriftstellerei, in der er das, was ein Buch schreiben ist, in die Schwebe gesetzt wird, sollen in Derridas Texte die Typologie und Teleologie des Buches erschüttert werden. Dies zeigt sich etwa darin, dass das „Buch“ Dissemination mit dem Satz beginnt: „Dies hier also wird kein Buch gewesen sein.“16 Offensichtlich vollzieht sich Derridas dekonstruktive Arbeit in der Weise, dass sie in der Lektüre anderer Texte und Autoren das sich aufschiebend-aufgeschobene Andere – Supplemente – hervorbringt und sein Schreiben sich dadurch der klassischen Bestimmungen von Form, Begriffsgefüge, Genre usw. entzieht. Von dieser Logik des Supplements und der Dissemination ausgehend, versucht Beyrich Kierkegaard neu zu lesen und zu zeigen, dass Kierkegaards Wiederholungsbegriff und Derridas différance in derselbe Weise am Werk sind. In Bezug auf das existentielle Dasein des Menschen ist die Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung für Kierkegaard eine entscheidende und zentrale Frage. Dabei wird der Wiederholungsbegriff zu einer existentiellen Kategorie17, mit der er die unterschiedlichen Probleme neu zu denken versucht: das Verhältnis von Identität-Realität, die Identität des Bewusstseins, die Zeit u. a., aber auch viele christliche Themen.18 Für diese „neuere Philosophie“19 der Wiederholung nimmt Kierkegaard die Ansätze der platonischen Anamnesis-Problematik wieder auf, wobei die Wiederholung der Erinnerung entgegengesetzt wird: „W i e d e r h o l u n g ist ein entscheidender Ausdruck für das, was ‚E r i n n e r u n g ‘ bei den Griechen gewesen ist. Gleich wie diese also gelehrt haben, daß alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist [...]. Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert. Daher macht die Wiederholung, falls sie möglich ist, den Menschen glücklich, indessen die 16 17 18 19 Vgl. ebd., 64. Hier muss man aber berücksichtigen, dass es dem „Text-Außerhalb“ Derridas nicht um die (Un)Möglichkeit der Transzendenz oder die transzendentallogische Frage, sondern vielmehr um ihre Grenze geht. Vgl. S. Kierkegaard, Die Wiederholung, 22. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 80. Ebd., 79. 123 Erinnerung ihn unglücklich macht, unter der Voraussetzung nämlich, daß er sich Zeit nimmt zu leben und nicht schnurstracks in seiner Geburtsstunde einen Vorwand zu finden trachtet, sich aus dem Leben wieder davon zu stehlen, z. B. weil er etwas vergessen ha20 be.“ Der Widerspruch, der darin besteht, dass der existentielle Mensch in jedem Augenblick, in dem er sich zu etwas, das ist, ins Verhältnis setzt und in diesem Verhältnis das Selbe zugleich als das Andere erfährt, verändert den Begriff der Wiederholung. Wiederholung kann nun nicht mehr bedeuten, dass das Bewusstsein sich auf eine in der Vergangenheit liegende Wirklichkeit zurückmeint, sondern meint nun den in die Zukunft gerichteten Vollzug einer Verdoppelung des Vergangenen im Sinne eines Neuen, in dem das existentielle Leben fortgeführt wird.21 In diesem Sinne ist die Wiederholung keine Erkenntnisbestimmung, sondern eben eine existentielle Kategorie. Insofern es also dem Kierkegaardschen Wiederholungsbegriff nicht um eine Repräsentation der Vergangenheit, sondern um eine sich in die Zukunft versetzend wiederholende Vergangenheit geht, steht er Derridas Begriff der Spur sehr nahe, welche niemals präsent, sondern immer nur gewesen sein wird. Die Bewegung des zeitlichen Abstandes und des Entzugs der Wiederholung ließe sich von daher als die Dynamik der différance verstehen. So wie sich Kierkegaard auf Platon bezieht, so setzt sich Derridas Schriftbegriff mit dem Platonischen Phonozentrismus auseinander, der auf einer Idealisierung der Stimme vor der Schrift beruht und damit Derrida zufolge der abendländischen Metaphysik die entscheidende Ausrichtung gibt. Auf die Frage, ob beide Denker damit in je eigener Weise zum selben Ziel gelangt sind, nämlich die Grenze der Platonischen Metaphysik zu überwinden, kann folglich positiv beantwortet werden. Beyrich formuliert diese Überzeugung zurückhaltend, wenn er schreibt, dass darin die Logik der Wiederholung ganz ähnlich zu funktionieren scheint wie Derridas Logik der différance22, und wenn er die Parallelen der beiden Denker in den drei Gesichtspunkten von „Verfehlung“ bzw. „Entzug“, „Verantwortung“ und „Textbegriff“ zusammenfasst.23 Eine vorschnelle direkte Beziehung ist aber zu vermeiden, denn es muss genauer erörtert werden, 20 21 22 23 S. Kierkegaard, Die Wiederholung, 3. „Wenn die Identität und die Realität einander berühren, so tritt die Wiederholung in Erscheinung. Indem ich da im Moment z. B. etwas sehe, tritt die Identität hinzu und will erklären, es sei eine Wiederholung. Hier ist der Widerspruch; denn das, was ist , ist zugleich auf eine andere Weise. Daß das Äußere ist, das sehe ich, aber im gleichen Augenblick setze ich es ins Verhältnis zu etwas, das auch ist, etwas, welches das Selbe ist und das zugleich erklären will, daß das andere das Selbe sei. Hier ist eine Verdoppelung, hier ist die Frage nach einer Wiederholung.“ (S. Kierkegaard, Philosophische Brocken, 158). Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 80. Vgl. ebd., 80-86. 124 in welchem Zusammenhang des Derridaschen Denkens selbst die Wiederholung und die différance stehen, auch wenn Beyrich dies vorher bereits ausführlich behandelt hat.24 Ob als anamnetische Rückkehr zum vergangenen Original oder als transzendentalphilosophischer Rekurs auf den Ursprung – beide Denker bzw. Schriftsteller lassen diese rückkehrende Bewegung der Zirkulation dadurch zerfallen, dass sie das Anders-Denken in einer anderen Logik als der des Platonismus oder des Hegelianismus25 in ihrem Schreiben praktizieren. In einem weiteren rekonstruktiven Schritt dieses Durchbruchs beschäftigt sich Beyrich dann mit der Frage, was ein Text (zu lesen) gebe, wobei Text oder Schrift als „Gabe“ und „Sendung“ begriffen wird. Dabei ist zunächst eine radikale Einsicht des Derridaschen Textbegriffs zu beachten. In Anlehnung an die Lévinassche Unterscheidung zwischen „Sagen“ und „Gesagtem“ dreht Derrida das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem Autor und dem Adressaten um, sodass gilt: „Ich frage mich, woher es kommt, daß ich mich an dich richten muß, um das zu sagen. [...] ich werde deinen Namen nicht aussprechen, [...] aber du bist nicht anonym, in eben diesem Moment, da ich dir dies hier sage (ou me voici), [...] in dem Moment, da ich mir von dir 26 diktieren lasse, was ich dir von mir selbst geben wollte.“ Und hierbei teilt Derrida vor allem zwei Gesichtspunkte mit Lévinas. Zum einen die Öffnung gegenüber der Andersheit des Adressaten, der mir im Rücken stehend diktiert und darum in gewisser Weise darüber entscheidet, was im Text passiert, was in dem Ereignis des Sagens stattfindet. Zum anderen die Ökonomie der Gewalt des Sagens, dessen Einschreibung in das Gesagte, in die Sprache, also nur durch die Einwürfe des Anderen und folglich Unterbrechungen des Gewebes der Sprache zustande kommt.27 In diesem Ereignis gelangt aber das Sagen selbst niemals in seine volle und endgültige Erscheinung. Was es zu sagen und zu lesen gibt, tritt nie in seiner Gegenwärtigkeit, sondern nur als Spur auf, die, kaum dass die zerrissende Einschreibung stattfindet, sich entzieht und im Gesagten nur ihre vorübergegangene Nachträglichkeit ver-merken lässt. Der Text stellt sich wie eine „Gabe“ dar, weil er radikal dem Einbruch des Anderen ausgeliefert ist. Der Schreibende, der Autor kann weder das, was er im Schreiben gegeben hat, kon24 25 26 27 Vgl. ebd., 64-77. Um deutlich abzuheben, was Schreiben bei Kierkegaard und Derrida bedeutet, setzt Beyrich dort an, wo sich die beiden Denker mit Hegel auseinandersetzen. Vgl. dazu ebd., 24-25; 64-67. J. Derrida, Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich, 45. Zit. nach: Ebd., 88f. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 88-91. 125 trollieren noch vom Adressaten etwas verlangen. Eine Gabe ist nur dann gegeben, wenn keine Gegenleistung erwartet und nicht auf eine Rückerstattung insistiert wird. Sonst wäre sie keine Gabe mehr. Jeder Text steht als eine Gabe so zur freien Verfügung, dass zu seinem Vater – dem Verfasser – zurückzukehren unmöglich ist. Jeder Text ist zur unendlichen Wiederholung „disseminiert“ und ausgesendet: „Jeder Text eine Sendung – wie eine Postkarte, deren Empfänger und Absender nicht mehr zu entziffern sind, die nur also umherirrt, von allen lesbar und deutbar, ohne daß jemand 28 dem Absender irgendwie dafür danken könnte.“ Nachdem Beyrich diese Grundsätze und auch die Bedingung der Gabe anhand von Derridas Buch Falschgeld. Zeit geben 1 weiter ausgeführt hat29, wendet er sich schließlich Baudelaires kurzer Erzählung La fausse monnaie / Das falsche Geldstück zu, in der vom Almosengeben eines Freundes berichtet wird und die Derrida exemplarisch nach dem Begriff der Gabe gut analysieren kann. Und Derrida stellt aus dieser Geschichte eine zentrale Frage heraus, die sich dem Erzähler bzw. dem Leser stellt, nämlich ob es sich bei der Münze, die jener Freund dem Bettler gegeben hat, um echtes oder falsches Geld handelt. Hier macht die prekäre Unentscheidbarkeit das Wesen der Gabe aus und dies hat unmittelbar mit dem Kredit (Vertrauen oder Glauben) zu tun, der nicht gedeckt sein kann. Bei der „Gabe“ muss es nichts geben, damit sie wirklich eine Gabe wird, außer dem Geben selbst, das sich jeder Berechnung, jeder Anerkennung, ja jeder Ent-schuldigung entzieht. Unter diesem Gesichtspunkt kann man nun jeden Text, jedes Begriffsgefüge aufgreifen. Hier findet Beyrich nochmals einen deutlichen Anknüpfungspunkt zu Kierkegaard, der seine schriftliche Aufgabe als Revision von abgegriffenen Münzen versteht.30 Und zudem begreift Kierkegaard sein Schreiben auch als eine Aussendung und Gabe, die wie eine Bote in der Weise geschickt wird, dass man ihm „Adieu“ sagt und dieser nie wieder heimkehrt. Beyrich resümiert: „Schreiben heißt für Kierkegaard aussenden: eine Gabe, die nichts gibt, außer dem Geben selbst, die sich hingibt in den Tod des Buchstabens, der als solcher lebendig macht so wie alle gute Gabe, die von oben herab kommt.“ 28 29 30 31 Ebd., 95. Vgl. ebd., 96-106. Vgl. ebd., 109. Ebd., 112. 31 126 Lassen sich so mit Beyrich durchaus hinreichend Gemeinsamkeiten über den Schrift- und Textbegriff zwischen Kierkegaard und Derrida aufzeigen, so bleibt die Frage, ob sich beide letztlich nicht doch wieder unterscheiden. Denn Kierkegaard gilt als christlich-religiöser Schriftsteller, während sich Derrida mit der Dekonstruktion explizit der abendländischen Tradition zuwendet, von der auch die christliche Theologie ein untrennbar Teil ist. Dies fordere noch mehr dazu auf, Kierkegaard nach Derrida und Derrida nach Kierkegaard weiter zu lesen. 5.2 Eine Kierkegaardsche relecture von Derridas Kierkegaard-Lektüre 5.2.1 Unentbindbare Verantwortung und den Tod geben Aufgrund des ersten einführenden Teils, in dem Kierkegaards und Derridas Schrift- und Textbegriff nebeneinandergestellt werden, wendet sich Beyrich nun im zweiten zentralen Teil seiner Arbeit einer exemplarischen Lektüre von Derridas Text Den Tod geben zu. Bei diesen Versuch gilt es natürlich von vornherein zu bedenken, dass Derridas Text nicht der klassischen Vorgehensweise eines systematischen Textkommentars gleicht, sondern in gewisser Hinsicht ein Gewebe aus verschiedenen Texten darstellt. So „sieht man auf den ersten Blick nicht, mit welcher Absicht die verschiedenen Texte ins Spiel gebracht werden. Derrida gibt dem Leser diese Texte zu lesen. Anstatt zu ‚kommentieren‘, unterstreicht er nur gewisse Themen und Begriffe, öffnet sie auf andere Kontexte hin. Er schiebt diese Kontexte ineinander. Oder besser: Er läßt sie sich aufeinander hin öffnen.“32 Trotz dieser Schwierigkeit versucht Beyrich das ganze Denkprojekt Derridas mit diesem Text möglichst zusammenhängend herauszuarbeiten. Im ersten Kapitel von Den Tod geben „Die Geheimnisse der europäischen Verantwortung“ soll die Stimmung und die Problematik von Furcht und Zittern samt dem Todesbegriff bei Kierkegaard in einen Kontext gestellt werden. In dem Beziehungsgeflecht zu den verschiedenen Autoren wie E. Lévinas, M. Heidegger, C. Schmitt, J. Baudelaire und auch F. Nietzsche will Beyrich so der eigentlichen Kierkegaardlektüre Derridas näher kommen, wenn auch „weniger in der Geradlinigkeit einer ‚Argumentation‘, sondern in seiner geschickten Weise, ‚die Dinge von der Seite anzugehen‘“33. 32 33 Ebd., 131. Ebd., 132. 127 Derrida setzt etwa unmittelbar mit dem Text Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte des tschechischen Philosophen J. Patočka ein, der ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem „Geheimnis“ und der „Verantwortung“ die Genealogie der europäischen Moral analysiert. Nach Patočka ist der spezifisch europäische Bergriff der Verantwortung entscheidend von zwei geschichtlichen Wenden geprägt, nämlich zwei „Konversionen“, die das Geheimnis des Heiligen in die menschlichen Verantwortung einverleiben: Zunächst die Konversion des Platonismus, der die vorplatonischen orgiastischen Mysterien in das neue Mysterium der Seele aufhebt und somit den Inhalt der Verantwortung auf die seelische Einsicht in das Gute, auf die Ideenschau begründet, dann die Konversion des Christentums, das diese platonische Konversion nun an das mysterium tremendum bindet und somit die ewige Verantwortung in dem abgründigen Verhältnis zum unzugänglichen göttlichen Gegenüber verankert.34 Sich an diese Genealogie der Verantwortung anschließend betont Derrida jedoch die Unmöglichkeit, die Verantwortung in einem Begriff ohne weiteres adäquat zu erfassen. Der Diskurs über die Verantwortung selbst enthält also in sich eine Aporie und ein Paradox, „daß eine gewisse Unverantwortlichkeit sich überall einschleicht, wo Verantwortung verlangt wird, ohne daß hinreichend auf den Begriff gebracht und thematisch gedacht worden ist, was Verantwortung heißt: das heißt überall“, „daß die Thematisierung des Begriffs Verantwortung nicht nur stets unzureichend ist, vielmehr dies stets sein wird, weil sie es sein muß“35. Beyrich weist auf diese von Derrida aufgezeigte aporetische und paradoxe Gegebenheit im Begriff der Verantwortung hin, verfolgt aber nicht die wichtigere Frage, woher und warum diese Aporie und dieses Paradox aufscheinen muss, d. h. die Frage, wem in der Verantwortung zu antworten ist. Derrida bezieht sich in seiner Lektüre auf das Geheimnis, genauer auf die Bindung der Verantwortung an das Geheimnis, worauf Patočkas Essay aufmerksam gemacht habe. Genau diese Bindung macht nach Derrida das Wesen und den Inhalt der Verantwortung aus, „die gemäß der überzeugtesten und überzeugendsten doxa darin besteht, zu antworten, sprich: dem Anderen zu antworten, vor (gegenüber) dem Anderen und vor (gegenüber) dem Gesetz“36. Näher betrachtet ist dieses dem Blick des Anderen Ausgesetztsein und die darin bestehende abgründige Assymmetrie geradezu das Geheimnis, das mich niemals von der (Ver)Antwortung entbindet und somit den Begriff und die Ausübung der Verantwortung unvermeidlich in eine Aporie und ein Paradox führen muss: 34 35 36 Vgl. ebd., 132-135. J. Derrida, Den Tod geben, 354f. Ebd., 355. 128 „Es scheint [...] so zu sein, daß gerade das Thema der Thematisierung, das zuweilen phänomenologische Motiv des thematischen Bewußtseins wenn nicht verworfen, so doch zumindest in seiner Relevanz strikt begrenzt wird durch diese andere Radikalform der Verantwortung, die mich dissymmetrisch dem Blick des Anderen aussetzt und dabei nicht länger meinen Blick – jeweils für das, was mich anblickt oder angeht (regarde) – zum Maß aller Dinge macht. [...] Dissymmetrie im Blick: diese Disproportion, die mich in dem, was mich anblickt oder angeht (regarde), auf einen Blick bezieht, den ich nicht sehe und der sich vor mir geheim hält, während er über mich gebietet, ist genau das furchterregende, das 37 schreckliche mysterium tremendum, [...].“ Es ist nicht schwer zu erkennen, dass hier Lévinas’ Phänomenologie des Anderen im Spiel ist. Derrida verfolgt seine weitere Lektüre mit Blick auf Heidegger und Lévinas, und er versucht dabei den Tod bzw. die Ethik der Verantwortung ausgehend von der Erfahrung des Todes zu bedenken. Wieder von Patočkas Genealogie der Verantwortung ausgehend, ihr aber zugleich einen anderen Ton überschreibend38, interpretiert Derrida die zweite Konversion von Platonismus zum Christentum als eine Wende angesichts des Todes. In und vor jenem mysterium tremendum, das für Derrida nicht nur christlich ist, sondern die Verantwortung schlechthin ankündigt, „erfasse der Mensch seine Unvertretbarkeit, erfahre er jenen Anruf, auf den er und nur er antworten muß, ereignet sich das, was nun (christliche) Verantwortung heißt. Was in diesem Anruf gegeben wird, wäre also vor allem die unvertretbare Einzigartigkeit der Person. Niemand kann an meiner Stelle antworten, d.h. sterben. Die Erfahrung der Unvertretbarkeit liefe darauf hinaus, sich den Tod zu geben“39. Die sowohl unentbindbare als auch unvertretbare Verantwortung wird also vom Tod erweckt, verliehen und gegeben. Den Hintergrund bildet bei dieser Deutung des Todes das Lévinassche Denken, vor allem seine Meditation über den Tod sowie die damit verbundene Kritik an Heidegger. Besagter Text Derridas wird, wie schon angedeutet, im Grunde als eine überschreibende Lektüre der Lévinasschen Interpretation des Todes gelesen, deren Schwerpunkt darin besteht, Heidegger vom jüdischen Denken her zu befragen und gegen ihn einzuwenden, er habe die Bedeutung des Anderen für die Jemeinigkeit des Todes, für die Erfahrung des eigenen Todes unterschla37 38 39 Ebd., 356. Diesbezüglich zieht Beyrich folgende Zwischenbilanz: „Es scheint zum Wesen der Verantwortung zu gehören, an (ein) Geheimnis(se) gebunden zu sein. Während man bei Patočka jedoch ein Bemühen herauslesen kann, diese Beziehung der Verantwortung auf das Geheimnis zu kontrollieren, ihm seinen adäquaten Ort zuzuweisen, ist Derridas Lektüre Patočkas – und dann vor allem seine Kierkegaardlektüre – davon geprägt, dieser Bindung der Verantwortung ans Geheimnis ihr Recht einzuräumen, sie gewissermaßen zu rehabilitieren.“ (T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 135). T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 140. 129 gen.40 Der Tod wird vom Anderen gegeben und gerade in der Verantwortung kommt es angesichts der unendlichen Andersheit des Anderen darauf an, sich den Tod zu geben. Die von Derrida verwendetet Begriffe der Verantwortung und des Todes knüpft Beyrich nun mit dem Denken Kierkegaards zusammen. Mit der vorsichtige Vermutung, dass zwischen der Lektüre von Patočka und Kierkegaards „Frucht und Zittern“ eine gewisse Nähe bestehe41, wirft er den Blick auf den Text Kierkegaards und fasst dessen Stimmung und Problematik zusammen. Und darüber hinaus erforscht er auch den Tod im Denken Kierkegaards, wobei gerade Kierkegaards Denken als eine Weise, sich den Tod zu geben, gelesen werden könne.42 Dabei zählt er einige Motive auf, die Derridas Text Den Tod geben ausmachen, die aber auch bei Kierkegaard wiedergefunden werden: die große Störung, Trauerarbeit oder auch Vernunft und Opfer. Auf jeden Fall gelangt er zu folgendem Ergebnis: „Kierkegaards Denken steht – wie dasjenige Derridas – unter dem Leitmotiv der Subversion bzw. Dekonstruktion einer von wirklicher Erfahrung abgekapselten, selbstsicheren und lehrhaften Verfestigung des Denkens, das die Verwirrung durch d.(den/die/das) Andere(n) nicht mehr gelten läßt. Und dies hat bei beiden mit bestimmten Weisen, sich den Tod zu 43 geben, zu tun.“ So sind insgesamt die Kontexte gewissermaßen herausgestellt, in denen sich die verschiedenen Texte gegenseitig oder aufeinander durchdringen. Und daraus ergeben sich letztlich folgende Fragen: Was heißt denn Verantwortung vor dem nächsten Menschen als dem Anderen und vor Gott als dem ganz Anderen? Gerade an dieser Stelle des Fragens entfaltet sich Derridas Lektüre weiter, die direkt und explizit auf Kierkegaard gerichtet ist. Beyrich bearbeitet diese Textur nun unter den Stichworten „das Ethische“ und „das Religiöse“. 5.2.2 Die andere Ethik und ihre Provokationen Beim Ethischen geht es darum, was zwischen Mensch und Mensch gilt. Dies läuft letztlich darauf hinaus, wie die Geschichte der Opferung Isaaks auf dem Berg Moria zu deuten ist, jene Geschichte, nach welcher Abraham seinen Sohn Isaak opfern und also den Tod geben und 40 41 42 43 Vgl. ebd., 142. Besonders hier auch Anm. 19. Vgl. ebd., 144. Besonders hier auch Anm. 20. Vgl. ebd., 153. Ebd., 162. 130 dadurch gegenüber Gott seinen Gehorsam zeigen musste. Die Deutung dieser Abrahamsgeschichte ist gerade eines der Hauptthemen in Kierkegaards Frucht und Zittern und daran schließt Derrida seine Lektüre direkt an. Die Geschichte vom Opfer Isaaks betrifft genau das, was der bislang untersuchte Begriff der Verantwortung bedeutet. Nach der Logik der Bindung, die im Geheimnis und in der Verantwortung liegt, kann Abraham seine unheimliche Berufung, Isaak zu töten, also das Geheimnis schlechthin, niemandem anvertrauen und niemanden darüber verständigen, sondern er allein muss „in Furcht und Zittern“ und schweigend diese unteilbare Verantwortung vor Gott auf sich nehmen. Die Ungeheuerlichkeit der Abrahamsgeschichte zeigt, dass hier die Verantwortung auf keine verallgemeinerbare Normen und öffentlich anerkannte Rechte zu begründen ist, dass sie über das für jedermann und in jeden Augenblick gültige Allgemeine hinausgeht. Sie verpflichtet wesentlich „zu einem Schritt jenseits der öffentlichen Moral bzw. des ‚Rechts‘“ und hat es insofern nach Kierkegaard „notwendig mit einem Paradox und der Aporie zu tun“44. Kierkegaards Deutung der „Bindung Isaaks“45 geht eigentlich auf seine Differenzierung zwischen dem Religiösen und dem Ethischen als dem Allgemeinen und auf die „Suspension“ des Allgemeinen zurück, und Beyrich legt genau diese Hinsicht dem Hauptteil seiner Arbeit zugrunde: „Auch wenn Kierkegaards ‚Ethik‘ keineswegs sich in dem erschöpft, was Johannes de Silentio hier (in Furcht und Zittern) als ‚das Ethische‘ einführt, so steht diese Differenz doch für eine entscheidende Grenzziehung innerhalb des Kierkegaardschen Denkens. Sie ist das, was Entscheidung überhaupt nötig macht: den Sprung in das vom Denken NichtBeherrschbare, Nicht-Vorhersehbare, eben Nicht-Verallgemeinerbare. Sie entscheidet über die Grenzen zwischen ‚Philosophie‘ und Theologie‘. Und vor allem scheidet sie zwischen dem ,was zunächst und zumeist zwischen Mensch und Mensch gilt, und dem, was diese Sphäre wesentlich übersteigt (und dadurch problematisiert): der Beziehung zwischen 46 Mensch und Gott, dem ganz Anderen.“ Interessanterweise bringt Beyrich diese Unterscheidung Kierkegaards und die Unterordnung der ethischen Bedeutung der Verantwortung gegenüber der Gottesbeziehung in eine Nähe zur 44 45 46 Ebd., 164. Vgl. ebd., 171. Auch hier Anm. 15. Ebd., 163. 131 jüdischen Frage, wie sie von Lévinas aufgeworfen wurde. Hier handelt es sich wiederum um die Interpretation der Abrahamsgeschichte. In Lévinas’ grundsätzlicher Kritik an Kierkegaards Deutung kommt es auf den folgenden Satz an: „Daß Abraham der ersten Stimme gehorsam war, ist verwunderlich; daß er im Hinblick auf diesen Gehorsam genügend Distanz hatte, auf die zweite Stimme zu hören – das ist das 47 Wesentliche.“ Während Kierkegaard für die Selbstwerdung des Subjekts auf die Suspension des Allgemeinen und somit die Überschreitung des Ethischen besteht, hält Lévinas an der ethischen Bedeutung des Anderen vorbehaltlos fest. Was also die Frage der Opferung Isaaks betrifft, so ist für Lévinas entscheidend und wesentlich, dass Abraham der zweiten Stimme gehorcht und dadurch die ethische Verantwortung gegenüber dem Anderen, hier Isaak, erfüllt. Nach der Lévinasschen Lesart bewährt sich die unendliche Verantwortung also in der Verwiesenheit auf Isaak. Die ethische Entscheidung gegenüber dem Anderen, die Verantwortung auf den Ruf des Anderen, das sei ja das eigentliche Moment der Subjektwerdung. Abraham werde Abraham, indem er (auf) die zweite Stimme (ver)antwortet.48 Dass natürlich Kierkegaard der zweiten Stimme gegenüber nicht blind war und also die Einsicht des oben zitierten Satzes von Lévinas gewissermaßen auch bei ihm wiederzufinden ist, macht Beyrich mit den beiden meditativen Variationen der Abrahamsgeschichte von Kierkegaard deutlich49, und doch bleibe die Voranstellung des Religiösen vor dem Ethischen bei Kierkegaard unverändert. Zwischen beiden Denkern könnte man Derrida eine Zwischenposition zuschreiben, vor allem in Bezug darauf, wie er im Text Den Tod geben vorgeht. Oder besser gesagt: er unterstreicht jede Position und durchkreuzt sie zugleich. Auf der einen Seite problematisiert Derrida, wie Beyrich zu Recht betont, Kierkegaards Unterscheidung zwischen dem Religiösen und dem Ethischen und schreibt die religiöse Bedeutung der absoluten Verantwortung Abrahams vor Gott gleich auch dem ethischen Grundgesetz zu, das mich vor den Nächsten als Anderen verpflichtet und mich aus dieser Verpflichtung nie entlässt: „Die Pointe von Derridas Lektüre dieser Kierkegaardschen Auslegung des Verantwortungsbegriffs liegt nun allerdings darin, daß diese ‚außerordentliche‘ Verantwortung Abra47 48 49 E. Lévinas, Noms propres, 90. Zit. nach: ebd., 171. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 171f. Vgl. ebd., 172-178. 132 hams vor Gott für Derrida unsere alltägliche Situation beschreibe. [...] Was Johannes de Silentio schreibt, könnte eben nicht nur für die Ausnahmesituation des ‚Religiösen‘ gelten, 50 sondern eben für jede Verantwortung, d.h. für das ‚Ethische‘ selbst.“ Damit nähert sich Derrida dem Lévinasschen Einwand gegen Kierkegaard. Auf der anderen Seite aber bindet Derrida Lévinas’ Auslegung der Abrahamsgeschichte an Kierkegaards Einsicht zurück. Dabei verschärft er den Ton für die unvermeidliche paradoxe Gegebenheit des Ethischen und die Äquivokation des Anderen. Dies fasst Beyrich wie folgt zusammen: „(D)as ‚Ethische‘ ist gerade nicht ‚als solches das Allgemeine‘. Aber andererseits ist das Ethische bleibend vom ‚Paradox Abrahams‘ gekennzeichnet! Nicht nur vorübergehend, wie es Levinas’ Vorlegung des ‚Höhepunktes‘ der Geschichte in den zweiten Anruf glauben machen könnte. Jede absolute Verantwortung hat es mit dem ganz Anderen (der bei Kierkegaard den Namen Gottes trägt) und dem anderen (Isaak) zu tun. Im selben Augenblick! Auch wenn Levinas diesen Konflikt zugunsten Isaaks auszugleichen scheint, bleibt das Paradox der Verantwortung nicht davon frei, es immer mit mehreren (ganz) anderen zu tun zu haben, bzw. mit einer in sich gespaltenen Verantwortung gegenüber dem A/anderen.“ 51 In der Frage des Ethischen, mit der sich Beyrich befasst, hebt Derrida weder Kierkegaards noch Lévinas’ Lesart einfach ineinander auf, sondern bekräftigt vielmehr etwas Wesentlicheres, nämlich zum einen das Paradox Abrahams, auf das in unheimlicher Weise jede (sowohl ethische als auch religiöse) Verantwortung stößt, zum anderen die Äquivokation des Anderen, die Derrida folgendermaßen ausdrückt: „Jeder Andere ist ganz anders.“(Tout autre est tout autre.) All dies zeigt letztlich, wie verhängnisvoll die Verantwortung fundamental an das Absurde gebunden ist, das jede Entscheidung der Antwort jeglichem Begreifen entzieht und sie in jedem Augenblick in diesen absurden Abgrund fallen lässt. Folglich entscheidet sich die Ethik des ganz Anderen daran, wie zu opfern und der Tod zu geben ist.52 Der Berg Moria ist die alltägliche Situation der (ethischen, politischen, religiösen usw.) Verantwortung. 50 51 52 Ebd., 164. Ebd., 178. Beyrich beschäftigt sich kurz mit diesem Thema im Abschnitt „Verantwortung und Opfer“ (vgl. ebd. 180183), Johannes Hoff dagegen hat es eingehender erörtert, worauf wir oben bereits eingegangen sind. 133 Ausgehend von Lévinas und Kierkegaard und beide zu einer neuen Textur verknüpfend konzipiert Derrida eine Ethik der Verantwortung jenseits der Grenzziehung zwischen dem Ethischen und dem Religiösen. Indem Kierkegaard das Ethische auf das Allgemeine reduziert und dieses suspendiert, zieht er ihm zwar das Religiöse vor, gleichzeitig aber überwindet er diese Gegenüberstellung, wenn er eine zweite, andere Ethik plädiert.53 Was mit dieser anderen Ethik angesprochen sei, so Beyrich, ließe sich an die Seite von Derridas Dekonstruktion stellen. Dies zeigt sich vor allem in den Begriffen der Entscheidung und der Gerechtigkeit. Für Kierkegaard wird die Konstitution des wahren Selbst ausschließlich vom Augenblick der verantwortlichen Entscheidung her bestimmt. Wie immer auch die Relation zwischen der Beziehung mit dem Anderen als dem Nächsten und der mit Gott als dem ganz Anderen bestimmt sein mag, der Grundakt des Ethischen ist dann zerstört, wenn am Beginn des Handelns dessen Ende bereits vorausschauend antizipiert werden kann: „Sofern der, welcher handeln soll, sich beurteilen will nach dem, wie es ausgeht, kommt er niemals dazu, anzufangen. Mag auch der Ausgang eine Freude sein für die ganze Welt, dem Helden hilft das schlechterdings nichts; denn den Ausgang hat er erst zu wissen bekommen, nachdem das Ganze vorbei war, und nicht damit wurde er zum Helden, sondern 54 ist es damit gewesen, daß er anfing.“ Kierkegaards Kritik zielt auf eine Zweckrationalität, die den Sinn von Handlungen ausschließlich von ihren Folgen her zu bestimmen versucht. Die ethische Entscheidung, d. h. die Verantwortung aber kennt keinen Erfolg, kein Kalkül oder Programm, keinen Vergleich oder Austausch, wie dies Derrida am Begriff der Gabe aufgezeigt hat. Sie wagt sich kraft des Absurden in das Unbedingte. Kierkegaard begründet die Unbedingtheit des ethischen Handelns mit der Ausschließung jeder möglichen Reziprozität und fordert damit die klassische Ethik vor allem in Form eines strengen Kantianismus heraus. Kierkegaard gehe es in Furcht und Zittern vor allem um den Versuch, so Beyrich, die moralische Autonomie der Vernunft zu untergraben.55 Diese Problematik aber führt Beyrich dann anhand von Kierkegaards Liebesbegriff näher aus. Denn das, was gerade diese andere Ethik provozierte, ließe sich im Begriff der Liebe genauer verdeutli- 53 54 55 Vgl. ebd., 184f. Insbesondere hier Anm. 39. S. Kierkegaard, Furcht und Zittern, 68. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 188. 134 chen. Die Konsequenz, die sich daraus ergebe, sei nicht nur für eine Theorie des diskursiven Konsenses beträchtlich, sondern auch von unmittelbar politischer Bedeutung.56 Kierkegaards andere Ethik, die sowohl die „Kantische“ als auch die „Hegelsche“ Ethik herausfordert und die man kurz „Verantwortungsethik“57 nennen könnte, tendiert in Richtung dessen, was Derridas Begriff der Gerechtigkeit intendiert. Beyrich versucht dies anhand von Derridas Textes Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ zu verdeutlichen und zwar mit Hilfe eines Kommentars zu dem hier angeführten zentralen Satz: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit.“ Derrida wendet sich zunächst der rechtsphilosophischen Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gewalt zu. Es geht ihm dabei nicht nur darum, zu zeigen, dass jede Anwendung und Durchsetzung des Rechts mit einer gewissen Gewalt verbunden ist, sondern auch darum, aufzuweisen, dass es hier um eine ursprüngliche Gewalt geht, die bereits darin besteht, den singulären Fall unter eine allgemeine Regel zu zwingen. In der Frage nach der Gerechtigkeit kommt es aber gerade darauf an, „dem anderen, Singulären, nicht Verallgemeinerbaren ‚gerecht‘ zu werden.“58 Dem scheinbaren Gegensatz von Recht und Gerechtigkeit liegt aber nach Derrida eine noch viel komplexere Struktur zugrunde, die sich auf der pragmatischen Ebene der Rechtsprechung als aporetisch erweist. Denn in der richterlichen Entscheidung des einzelnen Falles müssen zunächst die Rechtsvorschriften eingeklammert und zugleich um der Gerechtigkeit des Singulären willen neu interpretiert und angewendet werden. Im Moment der Entscheidung sieht es so aus, als würde das Gesetz nicht existieren, sondern als müsste es neu erfunden werden, ähnlich wie im Fall der Kierkegaardschen Suspension des Allgemeinen. Insofern bleibt das, was in einer bestimmten Situation gerecht ist, unberechenbar, unentscheidbar. Und gerade auf das Fehlen der absichernden Norminierung, d. h. diese Unentscheidbarkeit begründet sich der Begriff der Gerechtigkeit, denn sonst würde die Entscheidung ungerecht unter eine verallgemeinernde, die Andersheit des Anderen aufhebende Regel fallen. Aufgrund dieser Aporien, die an der unendlichen Öffnung gegenüber dem Singulären des Anderen festhalten, ereignet sich jede Entscheidung wie ein Abbruch, unerwartet, überstürzend, alle Vorwegnahmen über- 56 57 58 Dazu vgl. ebd., 190-196. Ebd., 196. Ebd., 199. 135 steigend, jeden Horizont sprengend und die Zeit zerreißend. Jeder Augenblick der gerechten Entscheidung ist also nach Derrida ein „Wahn“.59 Ausgehend von einer juristischen Perspektive gelangt Derrida zum Begriff der Gerechtigkeit und in ihm lässt sich auch das eigentliche Wesen der Dekonstruktion erkennen: „Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Gerechtigkeit ist sie wahnsinnig. Dieses Gerechtigkeitsverlangen macht sie verrückt.“60 Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit. Was im Begriff der Gerechtigkeit zur Erscheinung kommt, ist nichts anderes als die Bewegung der Dekonstruktion selbst. Und bevor sie sich als Diskurs manifestiert, ist sie bereits „im Recht oder in der Geschichte des Rechts am Werk, in der politischen Geschichte und in der Geschichte überhaupt“61; sie findet schon statt, oder besser, sie wird schon immer stattgefunden haben. Wie der Begriff der Gerechtigkeit aufweist, besteht aber Derridas Ethik der Dekonstruktion nicht darin, einfach alles auseinanderzulegen und zu annullieren. Sie richtet sich vielmehr gegen die Homogenität und Herrschaft der philosophischen, politischen und kulturellen Diskurse, die nach ihrem Maßstab und Kriterium die Andersheit des Anderen vermessen und sie in ihnen verschwinden lassen. Sie ist „einer doppelten Verantwortung“ verpflichtet: die Grenzen aller Begriffe und Diskurse „ins Gedächtnis zurückzurufen“ einerseits, dieses Gedächtnis das Denken diktieren zu lassen andererseits.62 Insofern als auch Kierkegaard die Üblichkeit und Normalität der Diskurse herausfordert, steht die Ethik der Dekonstruktion nicht weit entfernt von Kierkegaards anderer Ethik, auch wenn bei ihm die ethische Bedeutung der Nächstenliebe, die Ethik zwischen Mensch und Mensch überhaupt, sich letztlich nun im Zusammenhang der Gottesbeziehung verstehen lässt.63 59 60 61 62 63 Vgl. ebd., 197-204. J. Derrida, Gesetzeskraft, 52. Wie Beyrich kurz bemerkt, wäre es hier wohl angebracht, sich auf den Foucaults Analyse der Ausschließungsgeschichte des Wahnsinns durch die klassische Vernunft zu beziehen. Dazu vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 204-208. J. Derrida, Gesetzeskraft, 52. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 210-211. Vgl. ebd., 224-228. 136 5.2.3 Das zu schweigende Geheimnis und das Christliche Wenn Derrida die Grenze zwischen dem Ethischen und dem Religiösen erschüttert, scheint dieses in jenem aufgehoben zu werden. Was aber sind dann die Folgen für Kierkegaard, der allererst als christlicher Denker das spezifisch Christliche wiederholen will? Inwiefern lässt sich die Gottesbeziehung von der ethischen Beziehung unterscheiden, wenn Gott gerade auch im Namen des Anderen begriffen werden soll? Angesichts des namenlosen Namens Gottes als des absolut Anderen läuft diese Frage darauf hinaus, wie Gott in seiner Abwesenheit und Entzogenheit gedacht werden könnte. Wie wir bereits mit Valentin zu zeigen versuchten, erläutert Derrida diese Problematik insbesondere im Hinblick auf die Negative Theologie. Auf jeden Fall geht es Kierkegaard und Derrida darum, Gott als Geheimnis zu wahren. Beyrich geht nochmals auf Derridas Kierkegaard-Lektüre in Den Tod geben ein. Wie bereits erwähnt, liegt der entscheidende Punkt der Kierkegaardschen Interpretation der Abrahamsgeschichte darin, dass Abraham allein eine Antwort zu geben, ja er allein schließlich das Schweigen zu ertragen hat. Dieses nicht mitteilbare Schweigen macht Derrida zur Grundsituation des Religiösen, die davon bedingt ist, nicht sprechen zu können und zu wollen. Beyrich kommentiert dies wie folgt: „Die Tötung Isaaks wird also, so monströs sie auch sei, nebensächlich. Auf jeden Fall sei sie nicht das, was es zu verbergen gilt. Sie hat keinerlei Sinn. Einzig und allein gehe es um Abrahams Ausdauer im Wahren eines Geheimnisses, um sein Engagement, nicht reden zu 64 können und nicht reden zu wollen.“ In mir ganz allein liegt das Geheimnis, das Verborgene zu wahren, darin besteht nach Derrida die Bedingung der Rede von Gott, denn „sobald ich, dank dem unsichtbaren Sprechen als solchem, einen Zeugen in mir habe, den die anderen nicht sehen, und der folglich zugleich anders ist als ich und mir innerlich näher als ich selbst, sobald ich eine geheime Beziehung mit mir bewahren und nicht alles sagen kann, sobald es Geheimnis und einen geheimen Zeugen in mir gibt, gibt es das, was ich Gott nenne“65. 64 65 Ebd., 236. J. Derrida, Den Tod geben, 434. 137 Auffallend an diesem Satz ist, dass darin eine zweifache Dimension zur Geltung kommt: zum einen die der subjektiven Innerlichkeit, zum anderen die der Bezeugung des Geheimen. Auf Letzteres bezieht Beyrich Derridas jüdisches Denken, das er später behandelt, auf Ersteres Kierkegaards christliches Denken. Im zitierten Satz klingt zunächst Kierkegaards Denken der religiösen Subjektivität an. Derrida liest daraus ab, dass das zu wahrende Geheimnis eine formale Struktur hat. Denn bezüglich der Abrahamsgeschichte bleibt das Geheimnis und dessen Inhalt Abraham selbst entzogen bzw. es gibt hier vielmehr nichts Verborgenes überhaupt, das nur von Gott aufgedeckt werden könnte. In dem Nicht-Sehen-Können, in der Asymmetrie des Blicks, die zwischen mir und Gott als dem ganz Anderen besteht, wagt Abraham zu antworten: Hier bin ich / me voici, und von hier aus konstituiert sich das, was ein Subjekt ist. Nicht in der autonomen Initiative eines das Geheimnis sich aneignenwollenden Subjekts, sondern in der Entzogenheit des Selbst durch den Blick bzw. Anruf des Anderen zeigt sich die innerliche, religiöse Subjektivität. Die Inkommensurabilität zwischen dem sich entziehenden Verborgenen und der sammelnden Aneignung markiert die Grenze der klassischen Darstellung von Subjekt und Objekt. Und gerade in diesem Zusammenhang Gott zu denken ist eine entscheidende Pointe des Kierkegaardschen religiösen Denkens.66 In der Tat widmet sich Derrida im vierten Kapitel von Den Tod geben explizit Kierkegaards religiösen Denken und liest in seiner Interpretation der Abrahamsgeschichte etwas spezifisch Christliches heraus. Dieses wird hier nochmals auf den Begriff der Gabe bezogen, der ein grundsätzliches Thema des Buches ist. Kierkegaards Abraham handelt angesichts des Opfers Isaaks nicht nach einer Ökonomie des gegenseitigen Austauschs, ja er spekuliert nicht einmal auf irgendeine Gegenleistung: „Abraham hatte akzeptiert, den Tod zu erleiden oder Schlimmeres als den Tod, und dies ohne Kalkül, ohne Investition, ohne Perspektive auf Wiederaneignung: also offensichtlich jenseits von Belohnung oder Bezahlung, jenseits der Ökonomie, ohne Hoffnung auf Lohn. Das Opfer der Ökonomie, ohne daß es keine freie Verantwortung und Entscheidung gibt [...].“ 66 67 67 Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 238-241. J. Derrida, Den Tod geben, 421. 138 Dort, wo ein Glauben verantwortet wird, müsse jede Ökonomie geopfert, jegliche Spekulation des Verstandes unterbrochen werden. Den Tod zu geben, die absolute Gabe jenseits aller Ökonomie, darin bestünde also die eigentliche „Probe“ Abrahams, des Vaters des Glaubens. Aber an der abschließenden Stelle von Furcht und Zittern, wo Kierkegaard offenkundig unter Anlehnung an das Matthäusevangelium 6 schreibt: „[...] Gott sieht in das Verborgene, und weiß die Not und zählt die Tränen und vergießt keines“, setze sich diese Lesart schließlich, so Derrida, dem Verdacht einer christlichen Wendung des Abrahamopfers aus, und ins Spiel käme damit das spezifisch Christliche, das eine andere Ökonomie der Gerechtigkeit behauptet, und zwar die einer polarisierende Unterscheidung zwischen einer irdischen, heidnischen und pharisäischen Ökonomie einerseits, die auf Rückerstattung spekuliert, und einer himmlischen, christlichen Ökonomie andererseits, die sich wie in der Bergpredigt auf die himmlischen Schätze und den ins Verborgene sehenden Vater verlässt.68 Nach Derridas Ansicht geht es hier immer noch um dieselbe Ökonomie, welche die eine zugunsten der anderen bzw. im Namen der anderen denunziert und beseitigt, aber genau dies ist die christlich-europäische Geschichte. Diese von Derrida strategisch angelegte Typologisierung sowie seine geprägte Kritik des Christentums, die er in den Exkursen zu Baudelaires L’École païenne und Nietzsches Genealogie der Moral noch ausführlicher entfaltet69, richten sich gegen die objektivierende Heilsökonomie und laufen letztendlich darauf hinaus, unter dem Begriff der Verantwortung und der Gabe den Glauben neu zu denken. Beyrich zieht Bilanz: „Am Ende des Essays Donner la mort steht die Frage nach dem Glauben, die in sehr verschiedener Weise die Geheimnisse der europäischen Verantwortung von Patocka über Kierkegaard hin zu Baudelaire und Nietzsche in Atem gehalten hat. [...]. Donner la mort schließt nicht mit einer Kritik des Glaubens, sondern mit einer Kritik einer Eingrenzung des Glaubens auf eine Art von Kreditsystem, welches eher – wie Nietzsche sagt: ‚sollte man’s glauben? – dazu geeignet ist, den Glaubensbegriff zu diskreditieren, den Glauben 70 unglaubwürdig zu machen.“ Wir haben bereits gesehen, dass Derrida diese Thematik in seinem Text Glaube und Wissen ausführlich und überzeugend dargelegt hat. Es ging ihm hier wie in seiner Schrift Den Tod geben um die grundsätzliche Situation der Religion überhaupt, an der Grenze der Ökonomie bzw. Anökonomie den Glauben zu denken. Glauben steht unmittelbar im Zusammenhang von 68 69 70 Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 251-253. Vgl. ebd., 255-261. Ebd., 261. 139 Verantwortung und Gabe. Daher ist die Frage, die Derrida im Hinblick auf Patockas christliche Konversion der Verantwortung vorübergehend zurückgestellt hat, hier nachzuholen und weiter zu bearbeiten: „Ist die Bezugnahme auf diese abgründige Dissymmetrie im Dem-Blick-des-AnderenAusgesetztsein ein Motiv, das zunächst und allein dem Christentum zugehört, und wäre es auch in einer inadäquaten christlichen Thematik? Lassen wir die Frage beiseite, ob man nicht zumindest das Äquivalent dazu ‚vor‘ oder ‚nach‘ den Evangelien, im Judentum oder 71 im Islam, findet.“ 5.2.4 Derridas jüdische Anfrage an Kierkegaard als christlichen Denker In Den Tod geben deutet Derrida Kierkegaard als christlichen Denker, vor allem vor dem Hintergrund von dessen Lesart der Abrahamsgeschichte in Furcht und Zittern. Bezogen auf die Frage, ob das „mysterium tremendum“ allein ein Wesensmerkmal des Christentums sei, wird deutlich, dass er hier zunächst an das Jüdische denkt. Nach Ansicht Derridas setzt Kierkegaard – eben gerade angesichts der furchterregenden Verantwortung – den christlichen Glaubensbegriff der jüdischen Glaubensweise entgegen, und ordnet aber letztlich das Jüdische dem Christlichen unter. Derrida macht darauf aufmerksam, dass der Titel von Kierkegaards Buch auf die Stelle des paulinischen Briefes anspielt, wo Paulus in seiner Abschiedsrede, also in einem Adieu, die Gläubigen dazu ermahnt, sich mit Furcht und Zittern um ihr Heil zu mühen (Phil 2, 12). Derrida fügt hinzu: „Verständlich, daß Kierkegaard für seinen Titel die Rede eines großen konvertierten Juden, Paulus, ausgewählt hat, da, wo es für ihn darum geht, über eine noch jüdische Erfahrung des verborgenen, geheimen, getrennten, abwesenden oder geheimnisvollen Gottes nachzudenken, eben desjenigen, der, ohne seine Gründe zu offenbaren, entscheidet, von Abraham die grausamste und unmöglichste, unerträglichste Geste zu fordern: seinen Sohn Isaak zum 72 Opfer zu bringen.“ 71 72 J. Derrida, Den Tod geben, 357. Ebd., 384. 140 Hier führt Derrida das Denken der Abwesenheit Gottes auf die „noch“ jüdische Erfahrung zurück. Wenn hier Paulus, ursprünglich ein Jude, bittet, „nicht nur in meiner Gegenwart, sondern noch viel mehr jetzt in meiner Abwesenheit“ gehorsam zu sein und das Heil Gottes zu suchen, wenn er also „adieu“ sagt, „so weil Gott selbst abwesend ist, verborgen und schweigend, getrennt, geheim – in dem Moment, wo ihm zu gehorchen ist.“73 Das A-dieu, das Derrida an anderer Stelle in Bezug auf Lévinas und dessen Tod thematisiert hat74, bedeutet im Lévinasschen Sinn die in jeder Beziehung zum Anderen sich artikulierende Gottesbeziehung, die immer ein „Adieu-Sagen“ ist, sodass der religiöse Gehorsam, die Verantwortung vor dem Geheimnis unmittelbar dem Augenblick der Abwesenheit, des Schweigens, der radikalen Entzogenheit Gottes ausgeliefert ist. Dies betrifft also nicht nur Abraham auf dem Berg Moria, sondern auch die Grundsituation jeder Religion. Was die Schrift Furcht und Zittern angeht, durchquert Derrida von Anfang an Kierkegaards Lektüre des Abrahamopfers unter Verweis auf die von Patocka gerichtete Anfrage, ob der Begriff der Verantwortung, das mysterium tremendum nur dem Christentum eigen wäre, und er stellt dabei die spezifisch christliche Lesart Kierkegaards heraus. Bei Kierkegaard, der im Hinblick auf die oben genannte himmlische Ökonomie und Gerechtigkeit auf die Bergpredigt verweist, werde nach Derrida „das Opfer Isaaks mit Bestimmtheit re-christianisiert oder prächristianisiert – als ‚bereitete‘ es auf das Christentum ‚vor‘“75. Wenn es Derrida letztlich um eine bestimmte Denkökonomie gehe – hier bei Kierkegaard also z. B. die Grenzen der christlichen Wendung der An-ökonomie aufzuzeigen – schwanke seine Lektüre Kierkegaards, so Beyrich, zwischen der Frage nach der geheimen Ökonomie des Denkens samt ihrer versteckten Spekulationen auf den Lohn und der Frage nach den Grenzen des Christlichen im Denken Kierkegaards.76 In der zweiten Frage geht es schließlich auch um die Frage nach dem Jüdischen, denn bezogen auf Furcht und Zittern wird die These angedeutet, dass die Anknüpfung an die Abrahamsgeschichte etwas in der christlichen Tradition Verdrängtes zu denken gibt, hier also Kierkegaard „eine bestimmte Weise, den Glauben zu denken, ins Christentum zurückholt, die man eher dem ‚jüdischen Denken‘ zuordnen könnte.“77 73 74 75 76 77 Ebd. Vgl. J. Derrida, Adieu, 9-30. J. Derrida, Den Tod geben, 421. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 270f. Ebd., 272. 141 Wenn Beyrich die Unterschiede zwischen dem christlichen und dem jüdischen Denkstil bei Kierkegaard deutlich zu machen versucht, so zeigt seine Untersuchung doch auch, dass Kierkegaards Deutung des Judentums ambivalent bleibt: auf der einen Seite finde sich eine Gegenüberstellung des Jüdischen und des Christlichen, die der klassischen Typologie gemäß auf der Überlegenheit des Christentums beharrt, auf der anderen Seite zeige sich aber auch die Bedeutung des Jüdischen überhaupt als eine bestimmte – rabbinische – Weise der Bezeugung des Unaussprechlichen, was für Kierkegaard gleichbedeutend sei mit einer Korrektivarbeit, einem Dichterleben und einem leidenden Wahrheitszeuge.78 Diese Ambivalenz sei nicht nur in der Kierkegaardlektüre Derridas, sondern auch bei anderen jüdischen Denken aufzuweisen, wie Beyrich dies exemplarisch an M. Buber, E. Fackenheim und E. Lévinas zu zeigen vermag.79 Zusammenfassend wollen wir noch einmal auf den Begriff der Andersheit des Anderen zurückkommen, den Derrida mit folgendem Satz zum Ausdruck bringt: Jeder Andere ist ganz anders (Tout autre est tout autre). Damit ist nicht nur gemeint, dass das Ethische und das Religiöse zusammenfallen, sondern auch, dass Gott der Name der Möglichkeit für diese unendliche und niemals von mir zu sichernde Andersheit des Anderen ist. Das wahre Religiöse besteht also darin, diesen namenlosen Namen, das Geheimnis, zu wahren, und zwar in der assymmetrischen Beziehung zum ganz Anderen als Moment einer radikalen Entzogenheit und des sich stets aufschiebenden Abbruchs. Nur so konstituiert sich, wie oben bereits gezeigt, die religiöse Subjektivität, die zum einen die Möglichkeit, Gott zu denken, bedeutet, die zum anderen aber Zeugnis ablegt für die Unmöglichkeit einer Begründung. Das daraus resultierende Paradox, das aus den Polen der Verantwortung und der Bezeugung besteht, ist die Grundsituation jeder Religion, jeder Überlieferung und jeder Literatur überhaupt, und mit ihr wird auch schon auf das Schweigen Abrahams, auf die Bitte um Verzeihung für das Nicht-angemessen-Sprechen-Können: „Pardon de ne pas vouloir dire“80 verwiesen. Was aber bedeutet es dann, den Glauben mit Furcht und Zittern zu wiederholen? Lässt sich der Glaube trotz des Paradoxes der Verantwortung überhaupt übermitteln? Mit dieser über 78 79 80 Vgl. ebd., 271-288. Vgl. ebd., 288-308. Vgl. ebd., 244f. 142 Kierkegaards Beziehung zum Judentum hinausgehenden Frage gelangen wir zum letzten Kapitel „Religion ohne Religion“, in dem Beyrich Derridas Religionsbegriff behandelt. Den Religionsbegriff Derridas haben wir bereits an anderer Stelle in einer sehr ausführlichen Lektüre seines Textes Glaube und Wissen erörtert und dabei festgestellt, dass er die Religion überhaupt, sei es die jüdische, christliche oder islamische Religion, in einer über die Grenzen der bloßen Vernunft hinausgehenden supplementären Wiederholung zu begreifen versucht. Auch J. Valentin hat Derridas jüdisches Denken bzw. sein Verhältnis zum Judentum in seiner Arbeit aufschlussreich und überzeugend dargestellt. Beyrich dagegen betont Derridas Differenz zum Judentum, indem er auf die früheren Texte Derridas verweist, wie etwa Glas, Schibboleth und vor allem Circonfession und dabei feststellt, dass die Pointe des Derridaschen Bekenntnisses in der „Tatsache seiner Beschneidung – seiner späteren Trennung von Judentum – und seiner ‚Conversion‘ zu einem bestimmten ‚Glauben‘, zu ‚einer Religion‘“81 liegt. Was Derrida mit dieser bestimmten Religion, d. h. mit „seiner Religion“ in einem autobiographischen und zu Gott betenden Bekennen meint, kommt in den Stichworten „Religion ohne Religion“ und „das Messianische ohne Messianismus“82 zum Ausdruck. Diese Religion, dieses Messianische war und ist als absolute Öffnung in jeder Religion am Werk und geht dabei über die jüdische Denkfigur und den abrahamitischen Horizont hinaus.83 Genau dort, wo die Sprache beschnitten und die Aneignungsmöglichkeit der (jüdischen oder christlichen u. a.) Identität kastriert wird, liegen die Chancen der Religion, und zwar nicht im Sinne einer neuen Religion, sondern als Zeugnis für das Einzigartige, das Singuläre und das Kryptische.84 In dieser grundlosen supplementären Hervorbringung des unsichtbaren Geheimnisses wird Gott als Zeuge für das Unvorhersehbare, das Unaussprechliche, ja für die Andersheit des Anderen angerufen, und so wird es erst gegeben das, was man Gott nennen könnte. Und nur in diesem Sinne könnte man von Derridas Religion als „eine(r) Quasi-Definition ‚Gottes‘“85 sprechen. 81 82 83 84 85 Ebd., 336. Vgl. J. Derrida, Marx’ Gespenster; ders., Glaube und Wissen. Vgl. T. Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? 326-332. Vgl. ebd., 340. Ebd., 345. 143 5.3 Fazit Wenn es Derrida und Kierkegaard um das Religiöse geht, so vor allem darum, die unabschließbare absolute Öffnung zum ganz Anderen hin offen zu halten und den mit Furcht und Zittern antwortenden Glauben in die Zukunft hinein zu wiederholen. Und in diesem Sinne scheint Beyrich bewusst den Abschluss seiner Arbeit betitelt zu haben: „Nachschrift: Vom Drang weiterzugehen“. Dieser Drang muss aber immer wieder unterbrochen werden, damit der Weg überhaupt weiter gegangen werden kann. Angefangen vom Schriftbegriff, über das Ethische bis hin zum Religiösen sieht Beyrich in Kierkegaard den Initiator einer neuen Epoche (Sokrates der Postmoderne!) und untersucht in einer kommentierenden Weise, inwiefern das Derridasche Denken in Kierkegaards Texten am Werk ist. Das Ende seiner Untersuchung, das zu einem Weitergehen animiert, fasst er zu einem Resümee zusammen in mehreren Hinsichten, unter denen beide Denker betrachtet und ihr jeweiliges Denken mehr oder weniger zu einer Gemeinsamkeit geführt werden können. Dabei sei vor allem zu betonen, dass Kierkegaards Wiederholungsbegriff auf die Logik des Supplements bzw. différance bei Derrida bezogen sei und ihr Denken und ihre Texte letztlich als Störung der Denk- und Lesegewohnheiten im Umgang mit den klassischen Texten der europäischen Tradition verstanden werden müssen, durch die sich neue Spielräumen des Glaubens eröffnen.86 In drei großen Teilen seiner Arbeit geht Beyrich der Frage nach, was es heißt, den Abrahamsglauben zu wiederholen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Kierkegaards „Theologie“ und Derridas „Religion“ sich sehr nahe stehen, ohne dass dabei allerdings die Differenzen zwischen beiden außer Acht gelassen werden. Der Glaube bei Kierkegaard als christlichem Denker müsse immer wieder jeweils in einer individuellen Subjektivität neu begründet werden, wobei hier Kierkegaards Nachwirkungen auf die protestantische Theologie zu bedenken wären. Derridas Denken ziele nicht nur auf neue Deutungsmöglichkeiten, sondern vielmehr auf die Bedingung der Möglichkeit der Wiederholung. Dabei gehe er über das jüdische Denken wie auch über die Negative Theologie hinaus bis hin zu einem „a-theistischen“ Denken. Man gewinnt manchmal den Eindruck, als ob die von Beyrich herausgestellte Nähe zwischen beiden Denkern an manchen Punkten etwas überstrapaziert wird. Wenn auch durchaus tief liegende Verflechtungen zwischen beiden Diskursen herausgestellt werden können, so lässt sich doch kaum sagen, wie Beyrich selbst anfangs betont, „daß Kierkegaards Werk zu den 86 Vgl. ebd., 352-355. 144 entscheidenden philosophischen Einflüssen Derridas gehörte.“87 Aber abgesehen davon, wäre auch zu fragen, ob eine solche Nähe nicht eben Derridas Dekonstruktion selbst widersprechen würde. Beyrichs Ausführungen, Kierkegaard nach Derrida und umgekehrt Derrida nach Kierkegaard zu lesen, stehen unter der Prämisse, Kierkegaard als einen „Vorläufer“ Derridas zu begreifen, und von hier aus, d. h. ausgehend von Derridas Dekonstruktion sein Denken neu zu interpretieren und damit die Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen, die bisher unbeachtet bleiben. Kierkegaard tritt in den Vordergrund, Derrida also in den Hintergrund. Doch ist dies genau das, was Derrida Dekonstruktion nennt? Beyrichs abschließende Frage lautet: Vom Drang weiterzugehen?88 Diese Frage beschreibt nicht dem Impetus, sich vom Rande her in die Mitte zu bewegen, sondern am Rande auszuharren, um die Grenze zu umschreiben und zu bewachen! Nur dadurch wäre nach Derrida die unerreichbare Mitte, das unbegreifbare Mysterium zu wahren. 87 88 Ebd., 9. Vgl. ebd., 367-369. 145 6 Genealogische Lektüre der Texte Derridas zu einem philosophischtheologischen Aufbruch: Peter Zeillinger 6.1 Das Uneinholbare in alten Namen 6.1.1 Brüche der traditionellen Philosophie Zum Beginn seiner Arbeit, die jüngst unter dem Titel Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida erschienen ist, setzt P. Zeillinger bei Zeitdiagnosen ein. Der Ausgangspunkt für die Theologie, das Denken Derridas wahr- und ernstzunehmen, kann nach Zeillinger „nicht schon in dem keineswegs Theologie intendierenden Werk Derridas selbst liegen.“1 Er weiß seine theologische Studie vielmehr dem Auftrag zum Wahrnehmen der „Zeichen der Zeit“ verpflichtet2 – dies gelte natürlich für die Theologie überhaupt. Ein Zeitzeichen, kann mit dem Wort „Krise“ beschrieben werden, und P. Zeillinger diagnostiziert diese aktuelle, heute global gewordene Krisensituation – in Anlehnung an die Metzsche politische Theologie – als „Gotteskrise“ und als „Grundlagenkrise“3. Diese Zeitdiagnose stößt am Ende auf die Frage: „Und nun?“ Mit dieser Frage konfrontiert, das heißt zum einen „den Horizont“ wahrnehmend, der „das Scheitern der Fundierungen unausweichlich zu umfangen scheint“, zum anderen aber „die Hoffnung auf eine zukünftig legitimierbare Praxis menschlichen Handelns“4 aufrecht haltend richtet Zeillinger schließlich den Blick auf das entscheidende Vorhaben seiner Arbeit. Es gilt wahrzunehmen, wie das Denken Derridas „den Raum eröffnet, innerhalb dessen Theologie – auch heute und doch außerhalb ihrer eigenen Mauern – von der Hoffnung zu sprechen vermag, die sie erfüllt (1Petr 3,15).“5 Damit hat Zeillinger seinen Anfang gefunden. Indem er also zunächst die Beobachtung und Erfahrung der geistigen Situation der Zeit analysiert, errichtet er eine Basis, von der man ausgehen und zu der man wahrscheinlich irgendwann auch zurückkehren kann. Welche Wege beschreitet er im folgenden in seinen Erkundungen des Denkens Derridas für den theologi1 2 3 4 5 P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 6. Ebd., 5f. Vgl. ebd., 10-22. Ebd., 22. Ebd. 146 schen Diskurs? Seine Lektüre folgt den Texten Derrida in genealogischer Manier. Für Zeillinger ist „eine strikt chronologische und am Text selbst orientierte Lektüre“ die „einzige Möglichkeit“, „das gegenseitige philosophisch-theologische Misstrauen zu minimieren“6. Die Fragen vorbehaltend, inwieweit man als Theologe dabei seinen spezifischen, also theologischen Kontext reduzieren oder aufschieben kann und inwieweit sich eine chronologische Entwicklung im Denken Derridas überhaupt aufweisen lässt, sei zunächst dem durchaus begründeten Vorgehen Zeillingers gefolgt. Um die Chronologie zur Genealogie zu wenden wählt Zeillinger drei Neologismen Derridas, denen er in seiner chronologischen Lektüre seine Aufmerksamkeit zuwendet: die Spur, die Schrift und die différance. Diese Ausdrücke, deren Entwicklungsgeschichte sorgfältig rekonstruiert werden soll, sind „die am deutlichsten ausgearbeiteten Beispiele für das nichtbegriffliche und nicht-ursprüngliche Denken Derridas.“7 Damit ist schon angekündigt, was am Ende als solches beschrieben sein wird: Derridas Denken als ein nicht-begriffliches und nicht-ursprüngliches. Diese Bezeichnung könnte den Eindruck erwecken, Derridas Denken stelle sich begrifflichem oder ursprünglichem Denken gegenüber. Besteht aber genauer betrachtet eine solche negierende Gegenseitigkeit zwischen beiden? Dies zu erläutern heißt zunächst untersuchen, auf welche Weise sich jene begriffliche Negation nahelegt. Nicht schwer erkennbar ist, dass es sich hier um eine Differenzierung gegenüber der abendländischen Philosophie handelt, deren Tradition sich als begrifflich operierende Metaphysik und Ursprungsdenken beschreiben lässt. Derrida will aber diese Philosophietradition gerade nicht in abgrenzender Weise zu nicht-begrifflichem bzw. -ursprünglichen Denken umkehren. Auf eine Antwort auf das ‚Wie?‘ einer solchen nicht negierenden Differenzierung sei an dieser Stelle verzichtet. Der Hinweis auf die bleibende Verpflichtung aller philosophischen Beschäftigung Derridas auf die Texte der Tradition der Philosophie selbst muss genügen. Für den Nachweis dieser methodischen Grundkonstante im Denken Derridas geht Zeillinger bis in die Studienzeit Derridas zurück.8 Schon in seiner Magisterarbeit Le problème de la genèse dans la philosophie de Husserl9, ging Derrida so vor, dass er Brüche und Rissen der philosophischen Tradition, genauer der Identität und Kontinuität des philosophischen Denkens, aufdeckte. Die Brüche und Risse, die Derrida im weiteren vor allem ver6 7 8 9 Ebd., 28. Ebd., 28. Vgl. ebd., 29. Erschienen: Paris: Presses Universitaires de France 1990. 147 folgen wird, sind nach Zeillinger im Ursprungsdenken, in der Vernunft, im philosophischen Strukturalismus und in der traditionellen Zeichentheorie. 1) Riss im Ursprungsdenken: Zeillinger zeigt, dass schon der erste Vortrag Derridas unter dem Titel „Genesis und Struktur“ und die Phänomenologie (1959)10 „(m)it der zunächst noch ungeschützten Frage nach der ‚Möglichkeit der transzendentalen Reduktion‘“11 das spätere Thema umreißt. Diese Frage nach dem Ursprung ist das zentrale Thema von Derridas Auseinandersetzung mit Husserl und wird in Husserls Weg in die Geometrie am Leitfaden der Geometrie (1962) noch ausführlicher entfaltet wird. In diesem Kommentar zu Husserls Beilage III der Krisis weist Derrida nach, dass zum Denken des Ursprungs, erörtert anhand der Identität und Kontinuität der idealen Gegenstände – zum Beispiel in Mathematik und in der Geometrie – , die transzendentale Sprache notwendig ist, die von jeder Bindung an eine kontextuelle Subjektivität und Gemeinschaft unabhängig ist. Über Zeillingers Analysen hinaus ist darauf hinzuweisen, dass schon hier der Begriff der Wiederholung eine wichtige Rolle spielt. Für Derrida ist entscheidend, dass die Gebundenheit an die Sprachzeichen und deren Wiederholbarkeit der Konstitution absolut idealer Objektivität vorausgehen. Damit liegt bereits in diesen Texten die Genese des Derridaschen Schriftbegriffs.12 Jede Identität ist „mit einer endlichen (Vor-)Bedingung“ verbunden. Dadurch ist „die Identität und Kontinuität der abendländischen Ursprungsphilosophie von einer ursprünglichen (man könnte mit derselben Plausibilität auch sagen nicht-ursprünglichen) Zerrissenheit gekennzeichnet, von einer ursprünglichen Differenz“13. Anders gesagt stößt das Ursprungsdenken immer wieder auf Ursprünglicheres, das heißt etwas immer schon Vorausgehendes. 2) Riss in der Grenze der Vernunft: Derridas Auseinandersetzung mit seinem früheren Lehrer Michel Foucault, vor allem mit dessen archäologischen Projekt, zeigt die Unmöglichkeit, über den Wahnsinn als das Andere der Vernunft zu schreiben, auf. Denn für Derrida ist „die ursprüngliche Möglichkeit einer philosophischen Durchführung“14 des Projekts Foucaults mit der Problematik der Sprache verstrickt und dieses Unterfangen, nämlich eine Geschichte und Archäologie gegen die Vernunft zu schreiben, fällt schließlich auch in die Sprache der Vernunft zurück.15 In seinem Vortrag Cogito und Geschichte des Wahnsinns (1963)16, einem 10 11 12 13 14 15 Deutsche Ausgabe in: J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 236-258. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 30. Vgl. 33f. Ebd., 36. Ebd., 37. Vgl. ebd., 39. 148 Kommentar zu Foucaults Buch Wahnsinn und Gesellschaft, macht Derrida deutlich, dass „(d)er Riss der philosophischen Identität“ „nicht durch einen Perspektivenwechsel oder eine andere Art von Negation korrigierbar, sondern grundsätzlich“17 ist. 3) Riss im philosophischen Strukturalismus: Man könnte leicht eine Zugehörigkeit Derridas zum französischen Strukturalismus vermuten. Wie in der Auseinandersetzung mit Foucault zeigt Derrida aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus Risse auf. So in seinen frühen Aufsätzen „Kraft und Bedeutung“ (1963)18 sowie der 1966 in Baltimore gehaltene Vortrag „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen“19. Die Aporien und implizite Verwandtschaft mit der metaphysischen Struktur bleiben auch im Strukturalismus nachweisbar. Derridas Anliegen wird damit noch klarer: „‘die Kraft, das Andere der Sprache‘, das Vor-, den nicht in der Sprache liegenden Ursprung in einem Diskurs, der sowohl jenseits der abendländischen Philosophie, aber auch noch jenseits der strukturalistischen Denkbewegung liegt, einzuschreiben.“20 So schätzt Zeillinger diese beiden Texte als Schwellentexte „im Übergang von einer bislang bloß kritischen Lektüre vorliegender Texte zu einem eigenständigen Entwurf der Möglichkeit einer zukünftigen Philosophie“21 Derridas. Auf jeden Fall vollzieht sich der Riss im Strukturalismus, insofern dieser die Strukturalität der Struktur denken muss, was aber an der ständigen Wiederholung des Vorgängigen scheitern muss, das niemals gegenwärtig war und gegenwärtig sein wird. Die strukturalistische Dezentrierung im Denken kann nach Derrida nicht einfach in einer kontingenten oder kontextuellen Verleugnung eines bestimmbaren und sich repräsentierenden Vorgängigen resultieren.22 4) Riss in der Husserlschen Zeichentheorie: Wie wir bereits auch ausführlich gesehen haben (vgl. oben Kap. 1.3), kritisiert Derrida in seinem 1967 erschienen Buch Die Stimme und das Phänomen das Präsenzdenken. Diese eigenständige, über einen Kommentar hinausgehende Arbeit23 setzt sich vor allem mit der Zeichentheorie Husserls auseinander, die davon ausgeht, beim Zeichen Ausdruck und Anzeichen unterscheiden zu können. Für Husserl ist der Ausdruck dem inneren Bewusstsein unmittelbar nahe und so bedeutungserfüllend. Das Anzeichen 16 17 18 19 20 21 22 23 Deutsche Ausgabe in: J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 53-101. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 40. Deutsche Ausgabe, in: J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 9-52. Ebd., 422-442. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 44. Ebd. Vgl. auch ebd., 46. Vgl. ebd., 48f. Vgl., 50. 149 ist dieser Unmittelbarkeit und Bedeutsamkeit aber äußerlich und die Innerlichkeit der idealen Bedeutung verunreinigend. Das Anzeichen ist somit im vollen Sinne Zeichen. Nach Derrida ist diese von Husserl selbst zu wenig beachtete Trennung und Ausschließung grundlegend für die Aufbau der transzendentalen Phänomenologie Husserls. Eine solche Unterscheidung ist aber für Derrida nicht haltbar. Denn der Präsenz des Präsens, das Sich-im-SprechenVernehmen im „einsamen Seelenleben“, von Husserl das „Prinzip aller Prinzipien“ genannt, müsse die Nicht-Präsenz, eine Dauer des Augenblicks, eine Andersheit vorhergehen, damit ja diese Präsentation möglich wird.24 Zeillinger vermerkt zu Recht, dass diese Dauer aber nicht eine temporale phänomenologische Dauer ist, sondern einen Aufschub, eine Differenz bedeutet, die Derrida bald différance nennen wird.25 Die unmittelbare Präsenz und Identität im bedeutungsvollen Ausdruck „erweist sich nun eher als Selbst-Affektion. Auch sie ist der Wiederholungsstruktur aller Zeichen verpflichtet.“26 So deckt Derrida in der Auseinandersetzung mit Husserls Zeichentheorie den Riss der Kontinuität der abendländischen Philosophie auf und bereitet sein eigenes nicht-ursprüngliches oder -begriffliches Denken, so Zeillinger, „bereits jenseits dieses Risses in der Geschlossenheit der Metaphysik“27 vor. 6.1.2 Die Bedeutung von „oder“ Die allmähliche Genese des Denkens Derridas lässt sich seit den Anfängen seines philosophischen Schaffens verfolgen, das ursprünglich als die Lektüre von vorliegenden Texte der abendländischen Philosophie angelegt war. In diesen Lektüren deckte Derrida zunächst die Zerrissenheit und Brüchigkeit der philosophischen Identität auf, welche durch das Einbruch des schon immer abwesend Vorgängigen markiert wird. In diesen Bewegungen sind bereits die Keime der Derridaschen Begriffe eingenistet, die er später entfaltet wird. Diese Entwicklung des Denkens Derridas zeigt Zeillinger wie gesehen vor allem anhand von vier Gesichtspunkten. Die Abschnitte haben die bezeichnenden Überschriften: Die Endlichkeit des Ursprungs oder: Die Frage nach dem Vor- (I); Das Andere der Vernunft oder: Die Unmöglichkeit, über den Wahnsinn zu schreiben; Strukturalismus als katastrophisches Bewusstsein oder: Die Frage nach dem Vor- (II) und die Schwelle zu einer zukünftigen Philosophie; und schließlich: Die Universalität der Zeichen oder: Ich ist ein Anderer. 24 25 26 27 Vgl. ebd., 54-59. Ebd., 59. Ebd., 60. Ebd., 51. 150 Zu bemerken ist hier das in jeder Überschrift eingeschaltete „oder“. Will Zeillinger damit auf die noch nicht eindeutigen Alternativen zu der Begrifflichkeit der überkommenen philosophischen Identität auf dieser Stufe des Derridaschen Denkens hinweisen? Die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und dem „Neuen“ des Derridaschen Denkens ist eingangs schon angeklungen. Stehen die beiden mit „oder“ verbundenen Denkformen sich als Gegensätze gegenüber, indem die jeweils zweite Form die erstere einfach negiert? Dabei geht es letztlich um die Frage nach der „Geschlossenheit“ (clôture) der abendländischen Metaphysik. Im ersten Teil unserer Arbeit dürfte bereits klar geworden sein, was Derrida mit der Geschlossenheit der Metaphysik meint (vgl. oben 1.2). Derridas Dekonstruktion läuft nicht einfach darauf hinaus, die metaphysischen Rahmen und Denkstruktur zu verlassen, als würde man diese Tradition ablösen und hinter sich lassend verabschieden können. Dies ist für Derrida nicht möglich. Daher scheint ihm nur ein anderer Weg zu bleiben, nämlich die parasitäre und subversive Lektüre der vorliegenden philosophischen oder auch literarischen Texte, die es anders zu lesen und damit in neuen Ansichten zu manifestieren gilt. Diesen betont Zeillinger mehrmals: „Erneut muss also vor einem Missverständnis gewarnt werden: zu keinem Zeitpunkt handelte es sich bei den Ausführungen Derridas um einen Bruch mit den Grundlagen des abendländischen Denkens, sondern stets um eine Verunsicherung, die innerhalb dieses Denkens, an seinen Grenzen – und das heißt auch an den Grenzen, die mit den Grundlagen eines Denkens identisch sind – auftritt und bewusst werden kann [...]. Die Konsequenz im konkreten Fall ist eine zweifache, gegenläufige: Der Riss der Kontinuität schließt das metaphysische Denken einerseits in seine Grenzen ein (Geschlossenheit, clôture, der abendländischen Metaphysik), andererseits gehört es zum unhintergehbaren Wesen dieses Denkens, sein Außerhalb nicht ‚bewohnen‘ zu können, sondern es in sich selbst erfahren zu müssen. Nicht Kontinuität oder Destruktion findet statt, sondern ein nicht zu ‚wollender‘ 28 (passiver) Einbruch einer Andersheit, einer Alterität.“ Derridas nicht-ursprüngliches und nicht-begriffliches Denken ist also keine einfache Negation der alten Namen und Begriffe, auch wenn die Begrifflichkeit seiner Texte über diese hinaus geht. Das „oder“ in Zeillingers Überschriften und in der Lektürebewegung Derridas sollte deswegen nicht als gegensätzliche Unterscheidung mit dem Ziel einer einseitige Entscheidung im Sinne von entweder/oder gewertet werden. Vielmehr ist der Versuch unternommen, eine Andersheit im Selben, im Sinne einer Komplexität des weder/noch und zugleich/aber ver28 Anm. 155 in: ebd., 56. Auch vgl. 60, 78, 91, 94, 99. 151 sucht. Was Derrida anhand der alten Namen und Begriffe der philosophischen Tradition entfaltet, wird Zeillinger dementsprechend an seinen neuen Begriffen und ihrer nichtEindeutigkeit zeigen. Als entscheidende Exemplare wählt er dabei Spur, Schrift, différance aus. 6.1.3 Derridas Neologismen als Ausdrücke nachträglichen Denkens Eine auffällige Entwicklung des Derridaschen Denkens ist anhand des Ausdrucks différance zu entdecken. Was die frühen Arbeiten Derridas angeht, besteht sein Interesse nicht nur darin, Brüche und Rissen der metaphysischen Tradition aufzuzeigen, sondern darüber hinaus auch eine positive Andersheit herauszuheben. Diese besteht darin, dass jedes Denken letztlich eine ursprüngliche Wiederholungsstruktur nicht umgehen kann, dass jeder Möglichkeit einer Identifizierung – sei es phänomenologische oder strukturalistische – immer eine differenzierende und aufschiebende Bewegung vorgeht. Diese Bewegung der Differenzialität konstituiert zunächst eine philosophische Identität, und lässt sie sofort wieder hinter dem Zeichen in einer Spur verschwinden. Sie heißt bei Derrida différance. In einem 1968 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag „Die différance“29 hat Derrida diesen Neologismus eingehend erörtert. Das Wort différance wurde bereits in der ein Jahr zuvor erschienen Publikation Die Stimme und das Phänomen eingeführt. Hier taucht der Begriff aber mehr oder weniger unvermittelt und unverständlich auf. Um die Entstehung dieses zentralen Begriffs im Denken Derridas genauer zu rekonstruieren, verortet Zeillinger die différance im Kontext des frühen Denkens Derridas und geht der Entwicklungsgeschichte dieses neuen Ausdrucks nach.30 29 30 Deutsche Ausgabe in: J. Derrida, Randgänge der Philosophie. 31-56. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 68-76. Zum ersten mal erscheint das Wort différance in dem Artikel „Die soufflierte Rede“ (1964/1965, deutsche Ausgabe in: Die Schrift und die Differenz, 259-301), der nach einer jedem Kommentar entgleitenden Einmaligkeit fragt. Zu beobachten ist die différance auch in der Vorstufe-Publikation zum späteren ersten Teil des Buches De la grammatologie (1965/66) und im Vortrag „Freud und der Schauplatz der Schrift“ (1966, deutsche Ausgabe in: Schrift und die Differenz, 302-350), in dem Derrida die Nachträglichkeit und Verspätung im Denken Freuds zu zeigen versucht. In jedem Text handelt es sich wiederum um die „Geschlossenheit“ des metaphysischen Denkens. Hier bestätigt sich nochmals Derridas Vorhaben, dass er „keineswegs die abendländische Tradition einer Philosophie des Ursprungs [...] einfach streicht, sondern im Bewusstsein, nach ihrer Geschlossenheit denken zu müssen, dem ich ihr Abwesenden, dem ihr Vorliegenden nachspürt, ohne dabei den Boden der philosophischen Tradition zu verlassen – aber auch ohne ihm zu trauen.“ (ebd., 78). 152 Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs und Derridas Position zur Geschlossenheit der Metaphysik machen deutlich, dass die différance immer nur eine „Bündelung“ sein kann. In einem solchen Bündel31 versucht Derrida ganz bewusst verschiedenen Richtungen, in denen er das Wort différance benutzt, locker zusammenzufassen. Dabei lässt er unterschiedliche Fäden und Linien des Sinns sich ineinander einflechten, weben und überkreuzen und wieder auseinanderlaufen, damit sie wiederum anderen Wörtern eingeknüpft und aufgepfropft werden können.32 Diese Bewegung der Bündelung der différance findet aber ausschließlich auf der Ebene eines textuellen Nebeneinanders statt. So stellt Derrida seine frühen Texte im Aufsatzband Die Schrift und die Differenz zusammen, und zwar in einer Art Relecture und Bündelung, wobei aber auch die Iteration, Wiederholung und Veränderung – eben die différance – mit eingeschrieben wird.33 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern Derrida darauf besteht, das mit der différance bezeichnete sei vorläufig. Sie ist als Wort und Begriff in ihrem jeweiligen Kontext lesbar, funktioniert jedoch nicht im Sinne der alten Worte oder Begriffe. Die différance gilt nicht einfach erfunden zu werden, es lässt sich nicht über sie schreiben, sondern sie drängt sich in je neuem Kontext auf. Daher ist die Entdeckung der différance und deren Ein-schreibung bzw. Neu-Schreibung in die Texte ein „performatives Schreiben“, das dementsprechend eine veränderte Lesehaltung fordert.34 An die Stelle, an der in der Entlarvung der Risse der philosophischen Identität eine „nicht mehr metaphysisch nennbare ‚differente Beziehung‘“35 aufscheint, drängt sich die différance, schon die Spuren des bereits abwesend Vorgängigen mehrfach supplementierend. Die différance ist ursprünglicher als die unmittelbare Selbstpräsenz, die Derrida in der Husserl-Lektüre als „Selbst-Affektion“ herausgestellt hat.36 Sie beschreibt eine unendliche Bewegung der Supplementarität, die in den Ursprung selbst einbricht und diesen in die Spuren verschwinden lässt. Die Spur bezeichnet hier die Unendlichkeit der Bewegung der différance und zugleich die Endlichkeit eines Signifikanten oder eines Supplements. In diesem Zusammenhang liegt das beständige Interesse des Philosophierens Derridas, wie Zeillinger bemerkt: 31 32 33 34 35 36 So Derrida explizit in: J. Derrida, Die différance, 32. Vgl. ebd. Diese Ökonomie der Bündelung kann man mit Derridas Einsicht in die „Nullpunkte“ sehr beleuchtend verdeutlichen. Vgl. dazu oben das Kap. 1.4 dieser Arbeit. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 76. Der Begriff „Bündel“ ist einem handwerklichen Kontext des Buchbindens oder des Vernähens von Geweben entnommen. Die Bündelung bedeutet somit die Heftnaht, die das gebunden vorliegendes Buch als das noch nicht abgeschlossene Werk erscheinen lässt. Vgl. ebd., 79-82. Vgl. ebd., 83. Ebd. Vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 125ff. 153 „In konsequentem Verzicht auf den uneinholbar abwesenden metaphysischen Ursprung gilt das philosophische Interesse Derridas [...] einer Bewegung, die nicht erst durch einen Rekurs auf Ursprüngliches entdeckt oder erhoben wurde, sondern von allem Anfang an unausweichlich als vorgängig anerkannt werden muss, einer Bewegung, die – ohne intendiert zu sein – in der Endlichkeit der Zeichen (Signifikanten) den Einbruch einer unendlichen Andersheit repräsentiert. Diese ursprüngliche Andersheit markiert sich dabei wie die Inschrift einer (immer schon abwesenden) ursprünglichen Schrift, das heißt als nicht mehr 37 eindeutig identifizierbare (Ur-)Spur.“ Die Bewegung der différance und der Spur stößt unvermeidlich auf die Zeichenstruktur, also auf die Schrift. Die Genese der différance geht mit der Entwicklung der anderen Neologismen Spur und Schrift einher, wie Derrida in seinem Vortrag „La différance“ betont hat. Hier bezeichnet er die différance als „die Parallelität von temporisation und espacement“, die später auf die noch zu erörternden Begriffe (Ur-)Spur und (Ur-)Schrift verweisen wird.“38 Derridas Denken der Schrift, das auf den alten Begriffen des Schriftdenkens aufgebaut wird, entfaltet sich umfassend in De la grammatologie. Sorgfältig verfolgt Zeillinger auch die Geschichte der Entwicklung des Schriftbegriffs Derridas. Das im Jahr 1967 erschienen Werk De la grammatologie hat zwei Vorstufen, die jeweils in der Zeitschrift Critique Dezember 1965 und Januar 1966 veröffentlicht wurden.39 Ebenfalls bilden die Einsichten, die Derrida in Die Stimme und das Phänomen entwickelt hat, weitere Hintergründe für dieses Hauptwerk Derridas. So liest Zeillinger vor allem den ersten Teil Die Schrift vor dem Buchstaben, im Kontext der früheren Texte. Derridas Schriftbegriff habe aber in dieser neuen Auseinandersetzung entscheidende Veränderungen erfahren.40 Das Denken der Schrift entfaltet sich hier in der Auseinandersetzungen mit der metaphysischen Idee des Buches, mit der ontischontologischen Differenz Heideggers und vor allem mit der Linguistik Saussures. Das sich aus dieser genealogischen Untersuchung ergebende Resultat lautet folgendermaßen: Der neue Begriff der Schrift bei Derrida impliziert „eine ‚Einkerbung‘, eine ’Gravur‘, eine Inschrift, die stets auf einen anderen Signifikanten verweist. Des weiteren impliziert diese Schrift eine ‚Möglichkeit‘, die allen Bezeichnungssysteme gemeinsam ist, und die ‚Spur‘ genannt wird.“41 37 38 39 40 41 P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 87. Vgl. J. Derrida, Die différance, 42. Die Temporisation ist immer mit einer Verräumlichung (espacement), einer Zwischenräumlichkeit, verbunden, wobei es sich aber weder um eine phänomenale Verschiebung noch um ein innerzeitliches Intervall (temporalisation) handelt. Vgl. dazu P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 62f. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, Anhang: Genealogische Bibliographie von Jacques Derrida, 247. Ebd., 88, Anm. 232. Ebd., 96. Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 81. 154 Die Schrift ist nicht (mehr) dem transzendentalen Signifikat, der Stimme, der inneren Selbstpräsenz äußerlich und sekundär, sondern stellt deren Möglichkeit überhaupt dar. Die Aktivität und Struktur dieser Möglichkeit kann am besten mit dem Begriff der Spur beschrieben werden. Insgesamt bezeichnen Derridas Neologismen aber nicht eine Alternative oder ein Neues, das das Alte verdrängen würde, sondern die inhärente Andersheit des Alten selbst, oder anders gesagt „ein Neues im Sinne eines Anderen.“42 Indem sie zunächst die alten (metaphysischen) Namen durchstreichen und deren Grenze markieren, eröffnen sie konsequent einen dezentrierten Raum, in dem sich eine Andersheit aufdrängt. Dies gelingt Zeillinger, in seiner genealogischen Lektüre eindeutig darzulegen. Er betont dabei die Kontinuität dieser Form des Denkens Derridas mit der kritischen Lektürebewegung der Anfangsphase, nämlich dass die drei „für das frühe Denken Derridas zentralen“ Begriffe der différance, der (Ur-)Spur und der (Ur)Schrift „Strategien bezeichnen, eine nicht-ursprüngliche bzw. durchstrichene und nicht mehr mit metaphysischen Begriffen einholbare Vorgängigkeit, einen nicht-ursprünglichen Ursprung anzuerkennen.“43 6.2 Konsequenzen aus den im Gesagten entlarvten Paradoxien 6.2.1 Unmöglichkeit des Sprechens oder Möglichkeit des Nicht-Sprechens Um die Genese der Neologismen Derridas vor allem der différance, der Spur und der Schrift zu untersuchen, hat sich Zeillinger in seiner Lektüre vorwiegend Derridas drei frühen Veröffentlichungen gewidmet, die alle im selben Jahr 1967 erschienen sind: La Voix et le phénomène, L’écriture et la différence und De la grammatologie. In einem zweiten Anlauf geht er über zu drei im Jahr 1972 parallel veröffentlichten Büchern: Marges de la philosophie, La dissémination und Positions. Zwischen zwei Phasen – wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann – sollten aber „Konsequenzen“ liegen, die aus dem gezogen werden, was Derrida in seinen Werken von 1967 gebündelt und zugleich ausgestreut, das heißt ‚disseminiert‘ hat. Unter den drei späten Werken gilt Randgänge der Philosophie insofern als neuerliche „Bündelung“ und im Verhältnis zu den beiden anderen als „mittleres Werk“. Deshalb widmet sich Zeillinger in einem zweiten Hauptteil seiner Arbeit ausschließlich diesem Werk, welches er jedoch 42 43 P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 99. Ebd., 102. 155 wiederum im Kontext der anderen Texte zu analysieren versucht. Dies heißt für ihn zum einen das bisher Erörterte zu ergänzen und zum anderen auf die spätere Entwicklung des Denkens Derridas vorauszuweisen.44 Zum Verständnis des Buches Randgänge der Philosophie ist dessen Aufbau zu beachten. Zeillinger geht davon aus, dass der erste Text Tympanon als „Ankündigung“ oder „Vorwort“ zu dem folgenden, zukünftigen Denken in besonderer Weise gerade auf den Beginn des nächsten Textes „Die différance“ anspielt, nämlich auf den ersten Satz: „Ich werde also von einem Buchstaben sprechen.“45 Tympanon ist also eine Einführung in die différance und weist auf das hin, worum es in den folgenden Randgängen geht: Es geht darum, die différance zu schreiben. Im Hintergrund steht hier Derridas kritische Frage nach der Grundlage des philosophischen Diskurses, nach dessen Grenze und der Beherrschbarkeit dieser Grenze in einem Denken. In einer Metapher, die mit dem Titel der ersten Aufsatzes spielt, geht es um die Frage nach der (Un)Möglichkeit, die Grenze des Ohrs, das „Trommelfell“ zu überschreiten.46 Bei dem schon zitierten Eröffnungssatz von Die différance gewinnt man den Eindruck, Derrida wolle von oder über etwas sprechen. Der Satz impliziert also die Frage nach dem wer und wovon und auch die Erwartung, dass hier am Ende überhaupt etwas gesagt worden sein wird. Derridas Philosophie geht aber über ein solches hermeneutisches Fragen hinaus und hinterfragt letztlich die Voraussetzung und Grundlage des Sprechens oder des Diskurses überhaupt. Jede Bedeutung des sprechenden Subjekts erweist sich auf dem Hintergrund dieses Hinterfragens nur als „Sagen-Wollen“ (Vouloir-dire), wie Derridas frühe Auseinandersetzung mit Husserl in Die Stimme und das Phänomen zeigt. Die ursprüngliche Bedeutung, die Husserl als unmittelbaren Ausdruck des inneren Bewusstseins zu qualifizieren versuchte, wird wegen ihrer Zeichengebundenheit und Schriftcharakter niemals unmittelbar präsent sein. Damit wird auch jede transzendentalphänomenologisch gegründete Evidenz des Bedeutungsinhalts und dessen ursprünglichen Subjekts erschüttert. Diese Unmöglichkeit des SagenWollens scheint aber dem Vorhaben Derridas geradezu zu widersprechen, die différance zu besprechen bzw. von ihr (oder „von einem Buchstaben“) zu schreiben. An diesem Grenzpunkt untersucht Derrida in Tympanon die Möglichkeit des „Nichts-Sagen-Wollens“. 44 45 46 Vgl. ebd., 103f. J. Derrida, Die différance, 31. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 105f. Zu der Vielschichtigkeit des französischen tympan vgl. ebd. 104. Anm. 262. 156 Derridas Philosophieren ist insofern eine „Praxis“ des Nichts-Sagen-Wollens. Ihrer konkreten Gestalt ist seine Philosophie ein Versuch, „den (Zwischen-)Raum zu beschreiben (und in dem Raum zu schreiben), wo sie (sich?) die Frage nach dem Sagen (dire) und dem Sagen-Wollen (vouloire-dire) stellt“47. Sie ist die Konsequenz aus inneren Aporien des Sagen-Wollens . Derridas Anliegen ist also keine Kritik, die von außen her an die metaphysische Struktur des Sprechens herangetragen wird.48 Da auch die Möglichkeiten des Nichts-Sagen-Wollens in denselben Aporien des Sagen-Wollens, des Sprechen-Müssens bzw. des Stets-bereitsGesprochen-Habens verwickelt bleiben, hat jene Praxis den Charakter eines Wagnisses, sich selbst im Nichts-Sagen-Wollen zu riskieren. Sie bleibt ein Zeugnis, das sich niemals präsentieren kann, sondern sich nur in Spuren von Vorgängigkeit ereignet.49 Es ist damit eine Wende vollzogen (coup de donc) und die Frage Derridas verschiebt sich von dem wovon auf ein weshalb: „Weshalb wird Derrida sprechen? Aus welchem Grund? Woher das also, folglich, daher ...?“50 Das paradoxale Schreiben Derridas verbleibt also in der Verpflichtung, den (textuellen) Raum, in den die différance (ein)geschrieben ist, zu öffnen. 6.2.2 Die Möglichkeit des Unmöglichen Der Wagnis des Nichts-Sagen-Wollens ist in einem ersten Schritt notwendige Vermeidung des Sagen-Wollens, welches das Gesagte auf die Gewissheit des Vergangenen und des Zukünftigen zurückführt. Über diese negative Bestimmung hinaus findet es aber in den Spuren statt, die selbst Nachträglichkeit, Aufschub oder temporisation entstehen lassen und in denen so das Unmögliche erfahrbar wird, ohne gesagt werden zu müssen.51 „Die Erfahrung der Möglichkeit dieser Unmöglichkeit“ ist, so Zeillinger, „eines der durchgängigen zentralen Themen in Derridas Texten.“52 47 48 49 50 51 52 J. Derrida, Positionen, 49f. Übersetzung nach der Modifizierung von P. Zeillinger (vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 112). P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 114. Vgl. ebd., 114-116. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier eine Grundlage für Derridas Negative Theologie entsteht. Ebd. 117. Die letzte Ankündigung des „coup de donc“ im einleitenden Text Tympanon [Randgänge der Philosophie, 29] ist nach Zeillinger nicht auf eine überraschende Eröffnung des Denkens, wie es in den Randgängen formuliert ist, , sondern stellt auch einen „Ausgangs- und Wendepunkt“ für die späteren Texte Derridas dar, die soziale, politische, ethische u.a. Probleme in den Mittelpunkt stellen. Vgl. ebd., 107 und 117f. An dieser Stelle wäre Derridas Verhältnis zu Lévinas, vor allem seine Überlegung zu der Lévinasschen Unterscheidung von Sagen und dem Gesagten zu beachten. Vgl. dazu A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion, 345ff. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 119. 157 Bei Derrida bedeutet der Begriff der Unmöglichkeit nicht die bloße Verneinung einer Möglichkeit. Er hat vielmehr mit dem zu tun, was jeder Möglichkeit vorausliegt und diese erst ermöglicht. In den frühen Lektüren Derridas ergibt sich der Begriff der Unmöglichkeit aus dem Aufweis des Scheiterns der metaphysischen Denkstruktur, wird aber allmählich zu einem positiven „Kriterium“ und „Ausgangspunkt jedes zu-künftigen Diskurses“53. Dies zeigt Zeillinger in „verschiedenen Phasen und Kontexten von Derridas Denkens“, anhand von „denjenigen Texten des Werkes“, „die einen Überblick auf sein Denken ermöglichen könnten und auch in der Rezeption als ‚zentral‘ angesehen werden.“54 Zum Beispiel in der Lévinas-Lektüre „Gewalt und Metaphysik“, in der die Möglichkeit der Frage thematisiert wird, bemerkt Derrida, das Unmögliche habe schon stattgefunden.55 Derrida erörtert die Frage nicht mehr nur kritisch als die in die Einheit eines Buches eingeschriebene Differenzialität, sondern als erinnerte und beruft sich dabei auf das Unmögliche, das in der Frage schon stattgefunden hat und die Möglichkeit der Frage erst erzeugt.56 Als zweiten Beleg arbeitet Zeillinger in Die Stimme und das Phänomen heraus, dass das bisher in den Ausdrücken der différance, der Spur und der Schrift erörterte Vorgängige in der Möglichkeit des Supplements nachträglich vermittelt wird und insofern als das mit diesem nicht Identische, als das Unmögliche bestehen bleibt.57 Während in den frühen Phasen der Begriff des Unmöglichen noch mit den Neologismen verschmolzen bleibt, manifestiert er sich in den späten Texten seit Mitte der 80er-Jahre als „zentraler Begriff“, als „eine Grundbestimmung der Dekonstruktion“. Hier spricht Derrida „von einer ‚Erfahrung des Unmöglichen‘ – ein Ausdruck, der den Umbruch von der Nachträglichkeit des Zeichens zur darin spurhaft erfahrenen vorgängigen (Nicht-)Ursprünglichkeit auch terminologisch nachvollzieht.“58 Zum Beispiel in Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (als Vortrag im Oktober 1989 an der Cardozo Law School in New York gehalten), in dem die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Recht, als Grundlage des politischen, juristischen und ethischen Diskurses behandelt wird, bezeichnet das Unmögliche einen vorgängigen (Nicht-)Ursprung, den Derrida das Mystische nennt, als eine der Stiftung und Rechtfertigung des Rechts vorliegende undekonstruierbare Gewalt. Die Gerechtigkeit bleibt in die53 54 55 56 57 58 Ebd., 121. Ebd. 121f. vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 122. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 122-124. Vgl. ebd., 124f. Ebd. 125. 158 sem Unmöglichen uneinholbar, auch wenn sie mit dem Gesetz, genauer mit dem Akt des Gesetztes, hervorgebracht werden soll, also im Jenseits der diskursiven Unterscheidung und Begründung des Rechts vor der Gerechtigkeit. Abgesehen davon, wie der Vollzug der Gerechtigkeit konkret geschieht, bezeichnet Derrida die Erfahrung der Unmöglichkeit einer Hervorbringung der Gerechtigkeit, als die Dekonstruktion.59 Ein anderes prägnantes Beispiel zum Verständnis des Unmöglichen bei Derrida entnimmt Zeillinger aus dem Text Das andere Kap (1990), in dem die kulturelle Identität Europas erörtert wird. Hier handelt es sich um einen traditionellen Diskurs der Moderne, dessen Horizont auf eine Grenze stößt. Damit aber beginnt für Derrida eine andere Universalität aufzubrechen, die eine Zukunft verspricht, die sich nicht mehr in einem kolonialen oder hegemonialen Eurozentrismus identifizieren lässt, sondern „jedes Handeln als von einer vorgängigen Beziehung der Alterität her“, von „einer Geste der Anerkennung einer ursprünglichen Alterität“60 her bestimmt. Dies lässt dann zwangsläufig das einzigartige „Ich“ zum Träger der unendlichen Verantwortung und Verpflichtung werden, „Zeugnis abzulegen vom Universellen“61, was gerade auch eine Erfahrung der Möglichkeit des Unmöglichen ist. 6.2.3 Die Notwendigkeit des Vielleicht Derridas früheres performatives Schreiben im Nichts-Sagen-Wollen tritt in den späten Texten, in denen nach der Grundlage des sozialen, politischen und ethischen Diskurses gefragt wird, in den Hintergrund und statt dessen ist mehrfach von der Erfahrung des Unmöglichen die Rede. Vollzogen ist damit inzwischen „der als coup de donc bezeichnete Umschwung von einem Denken der Vorgängigkeit zu einem dieser Vorgängigkeit entsprechenden gewagten Zukunftsentwurf.“62 Es scheint jedoch widersprüchlich zu sein, einen Text als eine Erfahrung des Unmöglichen zu entwerfen und zu lesen. Dass Derridas dieses Paradox in seiner neuen Orientierung nicht vergessen hat, drückt sich in seinen späten Texten in der Notwendigkeit des Vielleicht aus. 59 Vgl. ebd., 125-130. Vgl. auch W. Stegmaier, „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“: Jacques Derrida. Mit diesem aus Gesetzeskraft entnommenen Satz versucht Stegmaier eine Bilanz des Denkens Derridas zu ziehen. 60 Ebd., 133. 61 J. Derrida, Das andere Kap, 54. 62 P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 134. , 159 Davon ausgehend, dass die Kategorie des Vielleicht eine wenn auch verborgene Geschichte hat, untersucht Zeillinger die Texte Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen (1966), Grammatologie (1967), und Gesetzeskraft (1989) im Hinblick auf das vielleicht und Strukturen der Zukünftigkeit des Denkens. Eine explizite Entfaltung des Begriffes ist erst in Politik der Freundschaft (1994), das Zeillinger als zweites Hauptwerk Derridas nach Grammatologie gilt, nachweisbar.63 Um sich diesem umfangreichen Buch anzunähern, wirft Zeillinger den Blick zunächst auf den Aufbau des Buches. Hinweise auf ein Verständnis des ganzen Buches finden sich in der „Vorbemerkung“, mit denen Derrida das Thema in einem „Essay“ zum Thema der Freundschaft oder der Politik über die Freundschaft eröffnet. Dieser Essay will als „ein langes Vorwort“, als Vokativ, als ein Sichrichten-an verstanden werden.64 In der Tat öffnet das Buch sein erstes der zehn Kapitel mit einem Anruf: „O meine Freunde, es gibt keinen Freund.“ und schließt auch mit einem ebensolchen Anruf ab: „O Freunde, Demokraten ...“. Die Erwartung, ob dieser Essay von Anfang an bis zum Ende hindurch aber tatsächlich Ruf oder Appell sein wird, stellt Derrida aber mit einen vielleicht in Frage. „‘O Freunde, es gibt keinen Freund‘. Von einer Anrede eröffnet, bringt dieser Essay vielleicht nur einen Ruf, einen Anruf, einen Appell zu Gehör.“ 65 Das Vielleicht impliziert eine Ungewissheit des Zukünftigen, aber auch einen Wagnis dieser Ungewissheit zum Trotz. Damit tritt die Performativität, die insbesondere die frühen Texte Derridas im Nichts-Sagen-Wollen zum Ausdruck bringen, wiederum deutlich zutage. Das Denken wird zu einem Sprung, zu einem Sich-Riskieren angetrieben, das in dem Essay zur Freundschaft als (Auf-)Ruf gewagt wird. Auf diese Weise verbindet die Kategorie des Vielleicht Zukunft und Gegenwart: „Einerseits das Aufzeigen der Möglichkeit eines bereits für und in der Gegenwart relevanten Vorgriffs auf die Zukunft, dabei zugleich aber andererseits den Eindruck zu vermeiden, diese Zukunft in der sprachlichen Formulierungen bereits unhinterfragbar bestimmt zu haben.“66 Die performative Kraft eines Denkens des Vielleicht beinhaltet einen Umschwung vom frühen zum späten Derrida, der nicht mehr als eine Akzentverschiebung ist von einem uneinholbaren abwesenden Vorgängigen zu der Möglichkeit des Unmöglichen und zu einem Ereignis des 63 64 65 66 Vgl. ebd., 135. Zur Schwierigkeit, eine genaue Lektüre dieses voluminösen Buches einzugehen, vgl. ebd., 140, Anm. 321. Vgl. J. Derrida, Politik der Freundschaft, 9. Vgl. ebd., 15. Vgl. auch ebd., 9. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 147. 160 Zukünftigen, das „im Kommen bleibt“, zugleich aber „dem Gegenwärtigen und der Gegenwart, ihre[r] Gegenwärtigung und Selbstgegenwärtigung“67 einschreibt. Zwischen diesem Vorgängigen und dem Zukünftigen gibt es Entsprechungen, die das Denken Derridas in einer Kontinuität darstellen. Von hier her versucht Zeillinger die frühen Neologismen Derridas in den Modus der Zukunft zu transformieren, zum Beispiel die différance als die Bewegung des Ereignisses des Kommenden, die Spur als „‘endliche Spur der Zukunft‘, als gegenwärtige Repräsentation eines noch Zu-Kommenden“68. Wenn das von der Präsenz nicht einholbare Vorgängige nur nachträglich anerkannt werden kann, ist das jeder Gegenwart vorhergehende Zukünftige immer nur im Modus des Vielleicht zu sprechen. Dem Wagnis im Nichts-SagenWollen entspricht das Vielleicht „als Ermöglichungsgrund und Legitimationskriterium dieses Wagnisses“69, ohne dabei auf schon bestimmte und vorweggenommene Gewissheiten zurückzugehen. Wie Zeillinger diese Strukturen versteht, fasst er wie folgt zusammen: „Ohne selbst zukünftiges Handeln in irgendeiner Weise zu determinieren, liefert dieses Denken [des Vielleicht, H.K.] doch sowohl den notwendig anzuerkennenden Grund (Unausweichlichkeit der Anerkennung einer zu (ver-)antwortenden Vorgängigkeit) als auch ein nachvollziehbares Kriterium (Ermöglichung eines Unmöglichen, z. B. der Gerechtigkeit, der Demokratie, der Anerkennung des Anderen in seiner Alterität) zur Beurteilung 70 jeglichen Handelns.“ Scheinbar ist hier nicht von einer Unhintergehbarkeit der Begründung oder von feststehenden Geltungskriterium der Rede. Davon abgesehen sollte sich der Blick nicht ausschließlich darauf richten, wozu sich Derridas Denken verpflichtet weiß, sondern die ganze Bewegung des performativen Sprechens des Vielleicht ist aufzunehmen. Derridas Denken richtet sich nach Zeillinger darauf die différance in die Texte (ein)zuschreiben. Dabei wird weiterhin nach den Grundbedingungen des Sprechens und Schreibens, nach den Grundlagen jedes Diskurses – sei er philosophisch, literarisch, sozial-politisch oder ethisch – gefragt. Eine Performativität der Rede ist für die Thematisierung dieser aporetischen Grundlagenfrage unvermeidbar. Diese Grundhaltung ist bei Derrida in der Bewegung der Dekonstruktion beschrieben. Dieser Orientierung bleibt Zeillinger treu, insofern er in seiner Exposition des Vielleicht, vor allem die „das Denken Derridas in ungewöhnlicher Eindringlichkeit und Kontinuität bestimmende(n) Performativität“ herausarbeitet und dabei „die Möglichkeit einer ganz anderen ‚Grundlegung‘ 67 68 69 70 J. Derrida, Politik der Freundschaft, 69. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 147. Kursiv nach dem Verfasser. Ebd., 148. Ebd., 149. 161 eines zukünftigen Denkens“71 aufbrechen lässt. Auf das der Gegenwart vorhergegangene Zukünftige, das sich in der Performativität des Vielleicht ausdrückt, ist am besten mit dem Vokativ zu antworten. 6.3 Zu theologischen Aufbrüchen 6.3.1 Das Verhältnis der Dekonstruktion zur Negativen Theologie Das Denken Derridas entfaltet sich in frühen Texten im Rückgriff auf eine nicht mehr in der Gegenwart einholbare Vorgängigkeit, in späteren Texten im Rückgriff auf einen Einbruch der Erfahrung des Unmöglichen bzw. im Rückgriff auf die von einer vergangenen Verpflichtung her aufbrechende Zukünftigkeit. Ersteres drückt sich bei Derrida in der Bewegung der Temporisation und der différance, aus, während letzteres im performativen, gewagten Modus des Vielleicht. Diese temporale Struktur und Bewegung, die das ganze Denken Derridas durchzieht, ist alles anderes als ein phänomenologisch verfasstes, synchrones Zeitverständnis. Sie ist nur nachträglich anzuerkennen und zu legitimieren. Diese Nachträglichkeit bildet mit der Notwendigkeit der genannten Rückgriffe nach Zeillinger gerade die „Kriterien“ der Dekonstruktion.72 Dass sich die Dekonstruktion jedoch nicht einfach auf eine solche Formalität reduzieren lässt, sondern der Begründungszusammenhang immer im Auge behalten werden muss, erörtert Zeillinger im abschließenden Kapitel in einer Lektüre des Textes Wie nicht sprechen. Verneinungen, der auf einen 1986 in Jerusalem gehaltenen Vortrag zurückgeht. Diese Beschäftigung nähert sich dann auch schließlich der Frage nach theologischen Konsequenzen des Denkens Derridas und Anstöße, die aus ihm zu gewinnen sind. Der genannte Vortrag bzw. Text ist zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Dekonstruktion und Negativer Theologie, mit der Derrida aber nicht eine bestimmte theologische Tradition meint. Indem er hier „nicht über Negative Theologie, sondern allenfalls selbst in einer gewissen Nähe zu deren Sprechen“73 schreibt, setzt sich dabei Derrida mit dem an ihn herangetragenen Verdacht auseinander, er wiederhole nur die Vorgehensweisen der Negativen Theologie, in denen es sich um eine Rhetorik des Scheitern und des Verzichts auf die begriffliche Bestimmung als entscheidende Techniken der Sprache im Kontext des 71 72 73 Ebd., 149. Vgl. ebd., 155. Ebd., 156. 162 Absoluten handelt.74 Auf den ersten Blick besteht durchaus eine solche „Familienähnlichkeit“ zwischen Derridas Dekonstruktion und der Negativen Theologie, insofern beide eine prädikative Bestimmung der Begriffe konsequent zu vermeiden suchen. Ohne eine nähere Unterscheidung zwischen beiden Diskursen in dieser Hinsicht zu ziehen, interessiert sich Derrida eher für die affirmative Seite, die Dekonstruktion und Negative Theologie gemeinsam haben. Dafür geht er nicht auf einzelne Traditionen der negativen Theologie ein, sondern auf eine dreifache Typologie, in der die negative Theologie im allgemeinen in ihrem Verhältnis zur Dekonstruktion behandelt werden soll. In diesen drei Aspekten sieht Derrida aber keine Übereinstimmung zwischen Negativer Theologie und seinem eigenen Denkduktus gegeben. Der erste zu widerlegende Verdacht ist, dass die Negative Theologie und die Dekonstruktion auf einen Nihilismus oder Obskurantismus hinauslaufen. Von diesem einfachen Typ negativer Theologie geht Derrida zu einer zweiten Variante negativer Sprache über und untersucht den Verdacht, dass es sich in beiden Diskursen um eine Art Quasi-Tautologie handelt. Sie würden sprechen, um letztlich nichts zu sagen. Für Derrida ist aber im Sprechen, das nichts sagen will, zum einen das Sprechen selbst unhintergehbar und zum anderen ist in jedem Fall ein Adressat vorausgesetzt. Ein drittes Verständnis Negativer Theologie ist eine die ersten Typen ergänzende und umgekehrt formulierte Kritik: Die apophatische Rede der Dekonstruktion ähnelt darin der Negativen Theologie, dass sie die Negativität (Negation?) einer Proposition bis an ihre Grenze treibt und darin eine mögliche Positivität des Sprechens hervorbringt. In diesem Fall wäre dann der Name Gottes bzw. Gott selbst ein „hyperbolischer Effekt“ der Negativität. Auf der einen Seite bestätigt Derrida diese Strategie als für die Dekonstruktion zutreffend, auf der anderen Seite aber qualifiziert er diese Inversion als inhärente Notwendigkeit jedes Denkens. Die Umkehrung, nicht mehr von der Ursache und Ursprünglichkeit, sondern von einer Nachträglichkeit der nicht auf einen Grund zurückzugehenden Wirkungen her denken zu müssen, hat immer schon Statt gefunden (a ... eu lieu).75 In Derridas Darstellung der Anklage gegen die Dekonstruktion bleibt es zunächst unklar, ob er die oben genannte Umkehrung nur als Notwendigkeit, oder vielleicht auch als eine der apophatischen Rede vorhergehende Affirmation beschreibt. Zu fragen wäre auch, ob die Negative Theologie in den genannten Typen ganz erfasst ist. Nach Zeillinger verwandelt sich die relativ kurz dargestellte Typologie „in ihrer zweiten und dritten Gestalt in eine affirmative 74 75 J. Derrida, Wie nicht sprechen, 11f. Vgl. ebd. 12-16. Zur Bedeutung von lieu und dessen deutscher Übersetzung mit „Statt“ vgl. ebd. 113, 8. Anmerkung des Übersetzers. 163 Beschreibung der Negativen Theologie selbst“. Noch verschärfend gesagt: „in eine Beschreibung der Negativen Theologie bzw. der Dekonstruktion als Affirmation.76 Außerdem stellen nach ihm die Passagen der dritten Argumentation den Ort dar, der ein „Theologisch-Werden“ der Sprachbewegung der Dekonstruktion selbst affirmiert77 und der somit eine spezifische Affirmation theologischer Sprache markiert.78 Dies wird besonders deutlich, wenn man den Text Derridas weiter liest. Denn nicht nur die Anklagen veranlassen Derrida, sich mit der Negativen Theologie auseinanderzusetzen, sondern sein eigenes Interesse an dieser Sprachform, die sich wie ein „Archiv“ unter dem Titel der Negativen Theologie sammelt.79 Im Kontext des Religiösen nichts-sagen-wollend (von der Negativen Theologie) sprechen zu müssen, hängt mit einer weiteren vorgängigen Verpflichtung Derridas zusammen, der Einladung zu einem Vortrag in Jerusalem.80 6.3.2 Positivität des dekonstruktiven Sprechens Derrida distanziert die Dekonstruktion aber weiterhin von der „negativen Theologie“. Insofern diese in einer onto-theologischen Denkweise aus allen Negativitäten wieder propositionale Aussage formt oder jenseits jeglicher Verneinung eine „Hyperessentialität“ setzt, unterscheidet sich die Dekonstruktion grundsätzlich von der Negativen Theologie. Seine mit den Neologismen umkreiste Denkbewegung unterliegt nicht solchen Bestimmungen. Auch bei der Rede von einer „mystischen Vereinigung“ muss jener sprachlichen Bewegung Rechnung getragen werden, welche sich ständig der gegenwärtigenden Präsenz entzieht und sich dabei nur als Spur aufdrängt. Derrida verdeutlicht mit dem Begriff der Spur, inwiefern die Dekonstruktion über die bloß prädikativen Verneinungen einer negativen Theologie hinausgeht. In Anlehnung an die Sätze aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus „6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ und „7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ bezeichnet Derrida jene sprachliche Bewegung als Spur, welche zwischen dem Müssen des Schweigens und dem „Nicht-Vermeidenzu-Sprechen“ den Raum öffnet, in dem das Unmögliche erfahrbar wird. Für die Möglichkeit 76 77 78 79 80 P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 163. Vgl. ebd., 169. Vgl. ebd., 170. Vgl. J. Derrida, Wie nicht sprechen, 10, 16. Vgl. dazu P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 157-160. 164 des Sprechens bzw. des Schweigens muss es Spuren von Spuren einer unandenklichen Vergangenheit und auf diese Weise auch der Zukunft geben.81 Demnach besitzt das Sprechen eine Orientierung auf die Spur, die sich als schon Vorgängiges und zugleich als Kommendes zeigt. Und gerade hier findet Zeillinger Hinweise auf einen positiven Gehalt der apophatischen Rede und damit eine Nähe der Dekonstruktion zur Negativen Theologie: „Es ist jetzt geboten, anzuerkennen, dass es immer schon Spur gegeben hat, dass das Sprechen demnach in einer noch unbestimmten Weise Antwort-Charakter besitzt. Es ist aber auch zukünftig geboten, dass das Sprechen auf eine Weise spricht, die die Anerkennung fordernde Vorgängigkeit der Spur (mit-)aussagt. Der Umschwung, der sich in dieser Darstellung der Nähe der Dekonstruktion zur Negativen Theologie abzeichnet und auf den Derrida von Anfang an anspielt, liegt gerade in diesem fordernde Charakter der Spur, insofern ihre Vorgängigkeit jedes Sprechen immer schon affiziert hat. [...] Aus der negativen Sprechbewegung erwächst ein, nicht ‚benennbarer‘, nichtsdestoweniger aber positiver Gehalt: Die Anerkennung und Verantwortung dessen, was als Spur sich zeigt. Dekonstruktion ist damit selbst an eine ihr vorausliegende Grenze gestoßen. Diese Grenze bedeutet allerdings keine Einschränkung, sondern drängt die Reflexion noch über die Bewegung der dif82 férance hinaus auf eine mehr positive Bestimmung dieser Vorgängigkeit.“ Es bleibt dennoch die Frage, wie diese Positivität der Vorgängigkeit und damit der dekonstruktiven Bewegung selbst beschrieben werden kann. Denn es handelt sich immer noch um das Sprechen, das zu benennen wagt, was jedem Diskurs vorausliegt und sich so dem Sagen-Wollen entzieht. Hier versucht Derrida zunächst eine Antwort vom „Versprechen“ her zu formulieren. Von Anfang an weist er darauf hin, dass sein Vortrag bzw. Schreiben dem vorgängigen Versprechen verpflichtet ist und daher immer wieder darauf zurückkommen muss: „Ich werde also von einem Versprechen, aber auch im Versprechen sprechen. Die Erfahrung der negativen Theologie hängt vielleicht an einem Versprechen, dem des anderen, das ich halten muß, weil es mich verpflichtet, da zu sprechen, wo die Negativität die Rede in ihre absolute Verknappung führen müßte. [...] Warum kann ich nicht vermeiden zu sprechen, wenn nicht aus dem einzigen Grunde, daß ein Versprechen mich verpflichtet hat, noch bevor ich damit beginne, auch nur die kleinste Rede zu halten? Wenn folglich ich vom Versprechen spreche, werde ich ihm gegenüber keine meta-sprachliche Distanz einhalten können. Die Rede über das Versprechen ist im voraus ein Versprechen: im Versprechen. Ich werde also nicht von diesem oder jenem Versprechen sprechen, sondern von ge- 81 82 Vgl. J. Derrida, Wie nicht sprechen, 23f. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 173. 165 nau dem, das uns so notwendig wie unmöglich mit seiner Spur in die Sprache einschreibt – 83 vor der Sprache.“ Man kann erkennen, dass hier mit dem „Versprechen“ fast alle Gedanken zusammenfinden sind, die bereits als Konturen des späten Denkens Derridas erörtert wurden: Der „coup de donc“, die Erfahrung des Unmöglichen, die Notwendigkeit des Wagnisses im Nichts-SagenWollen usw. Von daher ist es für Zeillinger offensichtlich, dass dieser Jerusalemer Vortrag parallel zu Die différance verläuft, dass das in der différance bewahrte Vorgängige nun als das Andere angesprochen wird.84 Wenn man nicht nur vom Versprechen, sondern im Versprechen spricht, ist dann dieses Versprechen älter als der aktuell vorgetragene Text, also der Beginn meines Sprechaktes. Jedes Sprechen, Schreiben und jeder Text besitzt den Charakter einer Antwort auf die Spur dieses Versprechens. Aber dort, wo eine dekonstruktive bzw. apophatische Sprachbewegung diese zwei Ebnen des Sprechens impliziert, tritt eine Sprache zutage, „die, wenn es sie gibt, tatsächlich von Gott sprechen würde [...], ohne dass ‚Gott selbst‘ hier bereits unter den Voraussetzungen einer bestimmten theologischen Tradition genannt wäre.“85 Der Versprechen-/Antwort-Charakter allen Sprechens – auch des dekonstruktiven und apophatischen – stellt somit eine Positivität dar, von der her jedes Sprechen spricht. Nicht um der Verneinungen willen, sondern um einem vorgängigen Anspruch entgegenzukommen und um dessen Spur im Nichts-Sagen-Wollen zu bewahren, gibt es das Sprechen als Antwort auf das (Ver-)Sprechen, das bereits vor meinem Sprechakt zu sprechen begann. Und gerade in dieser Positivität der Umkehrung liegt die Möglichkeit der Rede von Gott. Es ist offenkundig, dass sich Derrida hier nicht für eine Theologie interessiert und sein Text keineswegs theologisch ist. An der Stelle, die theologisch relevant zu sein scheint, führt Derrida seine Ansicht nicht weiter aus, sondern lässt sie immer wieder hinter die Lektüre verschwinden. Daher lenkt Zeillinger seinen Blick in einem Exkurs auf andere Texte wie Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie (1980) und Feuer und Asche (1987), in denen der Zusammenhang und Kontext des Sprechens im Versprechen näher skizziert wird.86 Auf diesem Hintergrund muss die Möglichkeit des unmöglichen Sprechens noch genauer untersucht werden. Es geht um die Frage, wie die performative Möglichkeit des Unmöglichen gedacht werden kann und in welcher Gestalt die apophatische Sprechweise der Dekonstruktion bzw. 83 84 85 86 J. Derrida, Wie nicht sprechen, 28. Vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 175-177. Ebd., 177. Vgl. ebd., 178-203. 166 der Negativen Theologie umgesetzt werden kann. Diese Fragen werden weitere wichtige Einsichten für eine Theologie erschließen. 6.3.3 Auf der Schwelle der Möglichkeit einer Theologie Angefangen mit einer kritischen Beschreibung einiger Formen von Negativer Theologie hat Derrida im ersten Teil von Wie nicht sprechen schließlich die Positivität der dekonstruktiven Bewegung herausgestellt. Damit hat sich eine Umkehrung von den bloßen Verneinungen zu notwendiger Affirmation vollzogen, die in jedem, auch im apophatischen Sprechen zugrunde liegt. Im zweiten Teil des Vortrags versucht Derrida nun mit einigen Beispielen die Frage erörtern, auf welche Weise solches Sprechen sein kann. Weil sich Derrida stets des performativen Charakters aller Sprache im Horizont der Unmöglichkeit verpflichtet weiss, vermeidet er, direkt vom Thema sprechen. Entsprechend versucht auch Zeillinger nicht eine ausführliche Vorstellung der Einzelheiten eines Derridaschen Gedankens, sondern geht im Überblick auf die Struktur des Textes ein. Schon in frühen Texten hat Derrida festgestellt, dass ein Anfang immer aufgeschoben sein wird. Jeder Anfang ist durch die Nachträglichkeit verzerrt. Entsprechend beginnt Derrida den zweiten Teil seines Jerusalemer Vortrags mit dem Satz: „Wir sind noch auf der Schwelle/im Beginn.“87 Vor der Markierung dieser Schwelle hatte Derrida zwei Exkurse gemacht, in denen er nach der Möglichkeit und dem Ort der Geheimnisse fragt88 und somit den Anfang zum Thema Wie nicht sprechen zu sprechen wiederholt verschiebt. Auf der Schwelle kommt er nun auf die Frage des Ortes, des Topischen zurück, die er in der Einleitung nicht zufällig mit dem Namen Jerusalem verbunden sieht. Wie gesagt ist jedes Sprechen eine Antwort auf das vorgängige Versprechen, auf den (Auf-)Ruf des Anderen. Das Sprechen, selbst das NichtsSagen-Wollen, hat bereits begonnen. Es hat „Statt“ gefunden. Es adressiert sich. Es zu vermeiden ist schon zu spät. Die Frage, wie nicht sprechen, führt also zur Frage des Ortes, mit dem die apophatische Rede insofern verbunden ist und Adresse und Referenz im Spiel der Sprache beschreibt. Derrida schreibt: 87 88 J. Derrida, Wie nicht sprechen, 51. Zu einer kurzen Zusammenfassung vgl. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 207-208. Diese Fragen entfaltet Derrida später noch eingehender in „Glaube und Wissen“. 167 „Selbst wenn man spricht, um nichts zu sagen, selbst wenn eine apophatische Rede sich des Sinns oder des Gegenstandes benimmt, findet sie Statt. Das was diese eingeleitet/verpflichtet (engagé) oder möglich gemacht hat, hat Statt gefunden. Auch die eventuelle Abwesenheit des Referenten macht noch Zeichen/gibt noch einen Wink, und wenn schon nicht auf die Sache zielend, von der man spricht (so Gott, der nichts ist, weil er ohne Statt, jenseits des Seins, Statt findet), so zumindest auf den anderen zielend (anders als das Sein), der ruft oder dem dieses Sprechen bestimmt ist/sich schickt, selbst wenn es zu ihm spricht, um zu sprechen oder um nichts zu sagen. Dieser Ruf des anderen, der stets bereits dem Sprechen vorausgegangen, dem er also niemals ein einziges Mal gegenwärtig gewesen ist, er kündigt sich im voraus an als ein Rückruf. Eine solche Referenz auf den anderen 89 wird stets Statt gefunden haben.“ Diese Referenz auf Rückruf und Andresse hat nach Derrida Namen, welche die Spur des Ereignisses, des „Statt findens“ wahren müssen: „Versprechen, Gebet, Lobpreisung, Feier.“90 Unter diesen Sprachformen ist aber das Gebet zu unterstreichen. Das Gebet spricht nicht von, sondern zu, bewahrt als reine Adresse an den Anderen eine Negativität, die nicht in einem identifizierenden Gewaltakt mündet. Das Gebet verbleibt gerade an der Schwelle, an dem Ort, wo das Sprechen Statt findet, wobei stets die Grenze und das Jenseits des Sprechens markiert wird. In diesem Sinne steht die Dekonstruktion Traditionen der Negativen Theologie nah, die sowohl in der christlichen Apophatik als auch in der philosophischen Tradition überliefert worden sind. So geht Derrida in einer dekonstruktiven Lektüre auf Platon, Dionysios und Heidegger ein. Worum es sich schließlich in dieser Lektüre aber auch im ganzen Text hindurch handelt, resümiert und bewertet Zeillinger wie folgt: „Durch alle negative Vermittlung, durch alle negative Dialektik hindurch, sucht der Jerusalemer Vortrag nach einem Sprachmodus, der es erlaubt, nicht nur von etwas, im Sinne von über etwas zu sprechen, sondern in der Vermeidung dieser Objektivierung von jenem erfahrenen Anspruch her zu sprechen, also einen Sprachmodus zu finden, der reine Antwort wäre ohne das andere als Objekt zu benennen. Zwischen der philosophischen Apophasis und dem theologischen Sprechen sucht Derrida nach einem Übergang (passage), einer Übersetzung, einer Erfahrung der Schwelle, die hinüberführt von den diskursiven Möglich91 keiten zu ihrem diskursiv nicht mehr einholbaren Grund.“ Ein unmittelbares Post-Scriptum zu diesem Text Wie nicht sprechen wäre ein anderer Text, im dem Derrida seine Position zur Negativen Theologie erörtert, auf den sich Zeillinger hier 89 90 91 J. Derrida, Wie nicht sprechen, 52f. Ebd., 53. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 211. 168 nicht bezieht: Post-Scriptum. Aporias, Ways and Voices.92 Hier wird vor allem der Vielstimmigkeit der apophatischen Rede und wiederum deren Ort nachgedacht. Davon abgesehen sind wir immer noch auf der oben genannten Schwelle, an der das Theologische und das Philosophische zusammenkommen, wohl nur um wieder auseinanderzulaufen. An dieser Stelle drängt sich Zeillinger folgende Frage auf: „Eine Theologie, wäre sie möglich?“93 Das Gebet, eine Erfahrung des Unmöglichen im Sich-richten-an-den-Anderen, muss sich in einer unendlichen Vielfältigkeit supplementieren. Ohne diese Nachträglichkeit und Wiederholung – die Eigenschaften der Schrift, wären weder Theologie noch Philosophie nicht möglich. In dieser den Vortrag abschließenden Frage geht es Derrida aber nicht um die Unmöglichkeit einer Theologie, sondern vielmehr um deren sprachliche Voraussetzungen. „Eine Theologie – wäre sie möglich?“ mit dieser auf der Schwelle gestellten Frage kehrt Zeillinger im letzten Kapitel seiner Arbeit unter dem Titel „Nachwort“ an den Anfang zurück. Aus seiner ausführlichen Lektüre ergibt sich also eine Frage nach der Möglichkeit, die einen theologischen Aufbruch markiert. In der Einleitung hat Zeillinger in der Analyse der modernen Grundlagenkrise die „Hoffnung“ ausgesprochen, dass diese Grundlagen mit dem Denken Derridas, wenn auch dezentriert, gesichert werden könnten und sich darin neue Entfaltungsmöglichkeiten für eine Theologie ergeben. In der Spur dieser Aufgabenstellung schließt Zeillinger seine Arbeit mit einer „Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs“, wobei „einige mögliche Schlussfolgerungen, Themenfelder, sowie Kriterien für zukünftige Arbeiten“ benannt werden – zum Beispiel: „Negativer Universalismus“, „Nachträgliches Denken“, „temporale bzw. messianische Struktur“, „memoria passionis“, „performatives Sich-selbstriskieren-im-Nichts-sagen-Wollen“ usw.94 Die bis dahin entwickelten Fluchtlinien des Denken Derridas ergänzt er durch Positionen der Politischen Theologie nach Johann Baptist Metz. Diese Zukunftsperspektiven bleiben der nachträglichen Verpflichtung auf den Ausgangspunkt, den Konsequenzen wie sie sich aus einem immer vorgängigen Anfang ergeben, verpflichtet. Der Schlusssatz des Nachwortes lautet dementsprechend: „Eine Theologie, wäre sie also möglich? – Wenn, so wird der Theologe hier rückblickend zu antworten versuchen, – wenn, dann schreiben wir hier immer noch Im Anfang ...“95 92 93 94 95 Vgl. dazu J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 191-209. P. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 217. Vg. ebd., 218-226. Ebd., 226. 169 6.4 Fazit P. Zeillinger versteht seine Arbeit im Unterschied zum methodischen Vorgehen der anderen Dissertationen, vor allem als eine Art der Lektüre. In einer „chronologischen“ Lektüre wichtiger Texte Jacques Derridas verfolgt er zentrale Aspekte seines Denkens hinsichtlich der Genese und des Kontextes. Auf diese Weise unterscheidet er sich „von den ersten, in den letzten Jahren erschienenen, aber doch im deutschsprachigen Raum bereits bekannt gewordenen und für die Wahrnehmung der erstaunlichen Korrespondenzen zwischen Dekonstruktion und Theologie hilfreichen und weiterführenden Arbeiten zu Derrida aus dem Horizont akademischer Theologie.“96 Die Form seiner Arbeit scheint Zeillinger ganz bewusst ausgewählt zu haben. So stellt er seine Arbeit im Vorwort als eine geschichtliche Entwicklung vor, die sich von einer anfänglichen Erfahrung des Unmöglichen bis zu einer erst am Ende erfüllten Möglichkeit der Hoffnung erstreckt. Im Nachwort, das dem Vorwort zusammen mit der Einleitung korrespondiert , blickt Zeillinger noch einmal auf die genealogische Lektüre zurück und wendet sich ausdrücklich der fundamentaltheologischen Struktur dieser Hoffnung (1 Petr 3,15) zu.97 Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht Zeillinger oft ausführlicher die Struktur der Texte als dass er auf formulierte Einzelheiten eingeht. Diese eigentümliche Weise, sich dem dekonstruktiven Schreiben zu nähern, ist zugleich Stärke und Begrenzung von Zeillingers Analysen. Auf dem Weg der Untersuchung sollte allmählich nicht nur die Entwicklung des Denkens Derridas nachgezeichnet werden, sondern sich auch Perspektiven zu einem theologischen Aufbruch eröffnen. Im ersten Teil trifft Zeillinger mit den Ausdrücke der Spur, Schrift und der différance eine bewusste Auswahl einiger von Derridas „Neologismen“. Sie sind für ihn die am deutlichsten ausgearbeiteten Markierungen des „nicht-begrifflichen“ und „nichtursprünglichen“ Denkens Derridas. Seine Lektüre weist dann Derridas Denken als „nachträgliches Denken“ auf, welches eine von keinem Diskurs einholbare Vorgängigkeit wiederholt und markiert. Das Denken des Nachträglichen und Uneinholbaren entfaltet sich dann in den späten Texten Derridas in stärkerem Bezug auf das Zukünftige und die Notwendigkeit der Erfahrung des Unmöglichen, wie Zeillinger im zweiten Hauptteil seiner Arbeit zeigt. Dass das Denken Derridas und vor allem die Bewegung der différance eine religiöse oder theologische 96 97 Ebd., 217. Zu diesen Arbeiten zählt er auch die Arbeiten von Valentin und Hoff, vgl. ebd. Anm. 448. Hinzuweisen ist noch auf eine ausführliche und gut recherchierte „Genealogische Bibliographie der Werke von Jacques Derrida“ am Ende des Buches (243-286), die zukünftigen Theologen den Überblick über das umfangreiche Werk Derridas wesentlich erleichtern wird. 170 Bezugnahme nicht ausschließt, versucht Zeillinger schließlich im letzten Hauptteil in der Lektüre von Wie nicht sprechen. Verneinungen aufzuzeigen. Entwickeln sich aus dieser ausführlichen Lektüre der (philosophischen) Texte Derridas ein Aufbruch oder neue Möglichkeiten für eine Theologie? Diese Frage nach dem „Ausgang“ seiner sich über Diagnose der Fundierungs- bzw. Gotteskrise über eine genealogische Lektüre der Texte Derridas entwickelnde Arbeit stellt Zeillinger in einer nachträglichen theologischen Reflexion im letzten Kapitel. Den langen Anweg und die indirekte bzw. nachträgliche Frage nach dem theologischen Ertrag ist vom Verfasser durchaus beabsichtigt, da er den Bezug zwischen Derrida und der Theologie „nicht zu direkt“ herstellen wollte, sondern sein „‘nachträgliches Denken‘ sollte in seinem Selbstverständnis dargestellt werden.“98 Ist damit aber ein theologischer Aufbruch aus der Mitte des Denkens Derridas sichtbar geworden? Das Hauptargument Zeillingers scheint auch für die Theologie wieder ein eher strukturelles, als inhaltliches zu sein. Eine theologische Reflexion, die ihre eigenen Grundlagen zu bedenken sucht, wird notwendig auf die Nachträglichkeit des Diskurses stoßen, die dem Vorgängigen Rechnung trägt und es (an)erkennen lässt. In der nachträglichen Struktur ist aber immer schon ein vorgängiger Anfang bezeugt, wenngleich dieser diskursiv nicht einzuholen ist. Jeder Sprecher fängt dort an, wo er sich befindet. Das Prius eines wirklichen Anfangs lässt sich immer erst im Nachhinein als solches erkennen, die Suche nach einem Ausgangs- und Zielpunkt folgt der Bewegung und dem Gesetz der différance und des Vielleicht. Würde dies aber bedeuten, dass eine Theologie, wenn sie möglich wäre, sich immer noch im Schreiben von „Im Anfang ...“ befindet, wie Zeillinger in seinen Schlusszeilen eine biblische oder schöpfungstheologische Orientierung des theologischen Sprechens andeutet? Von Derrida haben wir gelernt, dass ein ursprünglicher Anfang bereits begonnen hat, in die Texte eingeschrieben ist und so aber disseminiert ist. Die Möglichkeit einer Theologie ist in ihre Textualität eingebunden. 98 Ebd., 217. 171 7 Auf Grenzwegen: Dekonstruktion und Theologie 7.1 Rückblick auf Derridas Dekonstruktion In den folgenden drei Kapiteln geht es um eine Zusammenfassung, den Vergleich von bisher Gesagten sowie um eine Ausweitung der Fragestellung. Eine solche Wiederholung kann aber keine identische Wiedergabe sein, sondern vielmehr nur eine Wieder-markierung im Derridaschen Sinne. Diese rückblickende Spiegelung ist an dieser Stelle notwendig, um den nächsten Schritt vollziehen zu können. Wir blicken also zunächst noch einmal auf Derridas Dekonstruktion zurück, mit der wir uns im ersten Hauptteil befasst haben. Derridas Dekonstruktion, als destruktives und konstruktives Verfahren in Einem, kann als dreischrittiges Verfahren dargestellt werden1: 1. Schritt: Herausstellung des Denkrahmens und der metaphysischen Struktur. In diesem ersten Schritt geht es darum aufzuzeigen, dass die abendländische Metaphysik auf dem binäroppositionellen System aufgebaut ist, dass „man es bei einem klassischen philosophischen Gegensatz nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-Vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun hat.“2 2. Schritt: Erschütterung der sich selbst bestätigenden Hierarchie der metaphysischen Begriffe. Hier geht es aber nicht einfach um eine „Neutralisierung“, „die das frühere Feld praktisch intakt läßt“3 oder darum, die hierarchische Ordnung der Gegensätze umzukehren und wieder- 1 2 3 Vgl. J. Lagemann/K. Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, 55-57; H. J. Silverman, Textualitäten, 94-99. J. Derrida, Positionen, 88. Ebd. Dass diese Erschütterung nicht einfach eine Destruktion ist, kann man wie folgt erklären: „Die von Derrida häufig benutzten Formeln ‚erschüttern‘ und ‚Erschütterung‘ sollen offenbar der Tatsache Rechnung tragen, daß die Metaphysik und ihre Begriff [...] laut Derrida nicht einfach dispensiert, destruiert oder ‚überboten‘ werden können. Statt dessen gelte es, ihre interne Widersprüchlichkeit zu exponieren und so den systematischen Zusammenhalt zu lockern, eben den metaphysischen Gesamtverbund und seine Teile zu ‚erschüttern‘.“ (J. Lagemann/K. Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, 123, Anm. 4). 172 um eines als Bedingung des Anderen zu bestimmen.4 Das würde bei umgekehrten Vorzeichen ebenfalls in einer metaphysischen Struktur gebunden bleiben. 3. Schritt: Markierung neuer (vorläufiger) Begriffe und eines dezentrierten Denkraums. Auf diesen Schritt durchgehaltener Verunsicherung läuft Derridas Dekonstruktion durch die ersten zwei Schritte letztlich hinaus. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist seine Verwendung der Schrift. Die ersten zwei Schritte nennt Derrida „eine doppelte Geste“ oder eine notwendige „Phase des Umbruchs“. Es handelt sich dabei nicht „um eine chronologische Phase, auch nicht um einen gegebenen Augenblick oder eine Seite, die man eines Tages umdrehen könnte, um einfach zu etwas anderem überzugehen.“5 Von da her braucht man zum dritten Schritt der Dekonstruktion einen gewissen Abstand zwischen „der Inversion auf der einen Seite, die das Hohe herabzieht und ihre sublimierende oder idealisierende Genealogie dekonstruiert, und dem plötzlichen Auftauchen eines neuen ‚Begriffs‘ auf der anderen Seite; eines Begriffs, dessen, was sich in der vorangegangenen Ordnung nicht mehr verstehen läßt, ja sich niemals verstehen hat lassen.“6 Dieser Abstand lässt sich aber nur in einem textuellen Feld eintragen und markiert sich auf je spezifische Weise im philosophischen oder literarischen Text.7 Näher besehen bedeutet das für Derrida an bestimmten Zeichen (marques) zu arbeiten, die „nicht mehr innerhalb des philosophischen (binären) Gegensatzes verstanden werden können und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden“8. Er arbeitet zum Beispiel an den Zeichen wie Pharmakon, Supplement, Parasitäres, Dissemination, Verräumlichung, Signifikat und Signifikant, Schrift, différence usw. Mit dieser dreifachen, aber nicht linearen sondern sich unaufhörlich selbst gebärenden Schrittfolge wird offenkundig, inwiefern Derridas Dekonstruktion nicht einfach einen phono- und 4 5 6 7 8 Ein gutes Beispiel dafür wäre das Begriffspaar Geist/Materie. Derrida geht es nicht einfach darum, mit seiner Kritik der metaphysischen Privilegierung der Stimme und so mit seinem Schriftbegriff für die Materialität als entscheidendere Bedingung hervorzuheben. Darauf weist eindeutig hin das a der différance. J. Derrida, Positionen, 88. Ebd., 89. Vgl. ebd., 89f. Wie wir bereits hinsichtlich der Vorwürfe von Habermas gesehen haben, dürfte damit eindeutig herausgestellt sein, dass es Derrida nicht einfach um die Einebnung der Gattungen geht zwischen der Philosophie und der Literatur. Dazu vgl. oben Kap. 2.4. Ebd., 90. Bei Derridas Dekonstruktion geht es also nicht darum, ein Drittes zu bilden, das zwischen dem Selben und dem Anderen als eine selbstständige Instanz fungiert. 173 logozentrischen Rahmen oder Boden der Metaphysik verlassen will, und so der Dekonstruktion unterstellt. Wie die „Abgeschlossenheit“ der Metaphysik zeigt, ist Derrida bewusst, dass man ihr nicht entkommen kann. Ein Verständnis der Dekonstruktion, die diese zur Seite eines postmodernen Relativismus‘ und Irrationalismus‘ rechnet, ist dementsprechend veräußerlichend und berücksichtigt nicht die ganze Schrittfolge der Dekonstruktion. Natürlich ist für Derrida zunächst die destruktive Operation notwendig, es ist aber darauf zu achten, was für eine Metaphysik er erschüttern will. Auch wenn Derrida an keiner Stelle eine explizite Definition gibt, könnte man die von ihm dekonstruierte klassische Metaphysik als Form der Philosophie charakterisieren, die in einem Modell der Re-präsentation ausgerichtet ist, deren Struktur auf einer gegensätzlich-hierarchischen Ordnung von Ursprung/Derivat basiert und welche eine Logik der Unterscheidung von Innen und Außen verfolgt. Diese Metaphysik ist teleologisch auf Identität, Einheit, Korrelation, Dialektik, Selbstpräsenz u. a. ausgerichtet. Indem er diese Metaphysik von Innen her umstürzen lässt, näher gesagt, indem er zeigt, dass der Ursprung immer schon nachträglichen Wiederholungen ausgesetzt ist und dass jedes Außen schon im Innern wohnt, setzt Derrida eine (A)Logik der Unentscheidbarkeit oder des „double bind“ als neues Paradigma des philosophischen Denkfeldes um. Indem er Abstand und Aufschub, eine bleibende Verräumlichung und Temporisation, in diesem Übergang einträgt, geht Derrida noch einen Schritt weiter. Er bildet neue Begriffe, die kein Verlassen des semantischen und logischen Rahmens einer Theoriebildung suggerieren, dieses aber in einem neuen Licht beschreiben. Solche Begriffe sind bei Derrida Pharmakon, Supplement, Parasitäres, Dissemination, (Ur-)Spur, (Ur-)Schrift, différance usw.9 Unter vielen dieser Neologismen Derridas ist die Schrift ein Schlüsselbegriff, der in der Grammatologie als positive, allgemeine Wissenschaft der Schrift entfaltet ist. Die Bestimmungen der Schrift betreffen jedes Zeichen, denn sie bringt am nächstliegenden die Dichtomie von Signifikat und Signifikant in dem Spiel der aufeinander verweisenden Signifikantenkette zum Ausdruck, welches die Sprache konstituiert. Die Schrift ist allein die letzte Instanz für Wiederholung und Wiederholbarkeit, und erst sie ermöglicht auch die Reflexion auf eine transzendentale (Inter)Subjektivität oder eine ideale Bedeutung eines Zeichens. Die Sinnkon9 Mit dem Präfix „Ur-„ könnte man leicht den Eindruck bekommen, Derrida betreibe eine Ursprungsphilosophie. Im Gegenteil will Derrida mit diesen Begriffen die Grenze des Ursprungsdenkens zeigen. Gerade besagt die (Ur-)Spur, „daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät.“ (J. Derrida, Grammatologie, 107f). Noch dazu vgl. unten Kap. 9.4. 174 stituierung und Sinngebung kommen durch unendliche Nachträglichkeit zustande, also nicht durch eine präexistente und vorher bestimmte Verfügung. Eine solche Bewegung hat „keinen Anfang, kein Ende und keine Richtung mehr, die vorbestimmt wäre, sie wird zur unbegrenzbaren Sinnzerstreuung (dissémination). Aber jede Sinnverschiebung wird so auch zur Sinngebung.“10 Diese Bewegung beschreibt für Derrida weiterhin als „Spur“, welche sich in dem unaufhörlichen Wechsel der Markierungen, Trennungen, Aufschiebungen, Supplemente und Verstreuungen manifestiert. Die Schrift ist gerade dieses Gewebe der Spuren. Prinzip und Dynamik der Schrift nennt Derrida die différance – eine Bündelung unterschiedlicher Aspekte der Bewegung der Spur, welche diese zusammenfasst aber zugleich auch in ihrer Differenzialität belässt wie ein ausdifferenzierter Nullpunkt. Abschließend sei nochmals hervorgehoben, dass die gesamte Bewegung der Schrift sich für Derrida im Text vollzieht, an einem Ort also, in dem die Philosophie schon immer ist und in dem sich ein Anfang vollziehen kann.11 7.2 Theologie nach Derrida? Die Dekonstruktion lässt sich in vielfältiger, aber vor allem in negativer Weise darstellen. Die Grammatologie, die Wissenschaft der Schrift, kann dabei für Derrida durchaus als „positive“ Wissenschaft verstanden werden, ist sie doch eine produktive Praxis der Schrift. Für diesen neuen Begriff der Schrift gibt es aber auch viele andere Benennungen wie zum Beispiel Supplement, Spur, Dissemination, Parasitum, Pharmakon oder schließlich différance. Der neue Begriff der Schrift, der zwar den alten Namen für sich behält aber zugleich auch etwas anderes meint, ist für Derrida der Schlüsselbegriff, um den all seine wissenschaftlichen bzw. diskursiven Probleme kreisen. Er bildet sozusagen das Scharnier oder die Pforte an Grenze jedmöglicher Unterscheidung, an der die unterschiedlichen Wege – in alle Richtungen – ihren Ausgang nehmen. Einen davon zu betreten, heißt, sich in einen labyrinthischen Raum hineinzuwagen, der keine Hoffnung mehr auf einen Ausgang in Aussicht stellt. Dies ist eben Weg der De-konstruktion. Hier nun stellt sich uns die Frage: Lässt sich in diesem „Denkraum“ noch ein Weg für die Theologie ausfindig machen, der noch nicht betreten worden ist und den zu verfolgen daher 10 11 W. Stegmaier, Die Zeit und die Schrift, 10. Damit stellt sich freilich die Frage nach dem Verhältnis der Dekonstruktion zur Hermeneutik. Die Dekonstruktion scheint eine Zwischenposition zwischen der Hermeneutik und der Semiologie bzw. der Phänomenologie einzunehmen. Vgl. oben Kap. 2.4. 175 bedeuten würde, ein neues Kapitel innerhalb der Theologiegeschichte zu eröffnen? Wohin aber würde eine solche Dekonstruktion der Theologie führen? Zu ihrem Ruin oder zu ihrer Erneuerung? Sofern die christliche Theologie seit der Aufklärung im Sinne einer apologetischen Auseinandersetzung mit der Philosophie, vor allem in ihrer metaphysischen Gestalt, entwickelt worden ist und sich daher eng mit einem philosophischen Diskurs verstrickt hat, kann auch die heutige Theologie nicht mehr von dem unberührt bleiben, was sich in Gestalt so genannter spätmoderner Kritik gegen diese abendländische Tradition der Philosophie richtet. Die mit dem Präfix „post-„ gekennzeichneten Herausforderungen der Philosophie bzw. Metaphysik werden daher auch nicht einfach spurlos an der Theologie vorbeigegangen sein. Angesichts dieser Situation könnte es sich nun aber auch so verhalten, dass sich die Wege der Theologie und der Philosophie von nun wieder trennen werden. Eine solche Entwicklung scheint zum Beispiel Ch. Link zu diagnostizieren, wenn er schreibt: „Wo die Philosophie die Frage nach der Wahrheit stellt, da schweigt sie von Gott (Heidegger), und wo die Theologie die Wahrheitsfrage aufwirft, da beruft sie sich auf ein Wissen, 12 das gegen jede Form einer philosophischen Anleihe mißtrauisch geworden ist.“ Diese sich abzeichnende mehrseitige Gleichgültigkeit vergleicht er mit einem „spekulativen Charfreitag“ (Hegel)13, der auf das Konto der modernen Tradition angewandter Metaphysik geht. Denn wie am historischen Karfreitag die römische Antike durch die Kreuzigung eines einzelnen Menschen sich ihres Gottes entledigt habe, so habe die Aufklärung durch die „Kreuzigung“ der Welt Gott ein zweites Mal – und weit wirkungsvoller – aus den Lebensverhältnissen der Menschheit herausgedrängt.14 Will man also von einer neuerlichen Trennung zwischen Theologie und Philosophie ausgehen, wie dies Link zu tun scheint, so wäre dennoch zu fragen, ob für die Theologie tatsächlich nur noch die Option übrig bliebe, sich auf einen Weg zurück zu ihren jüdisch-biblischen Wurzeln zu begeben. Es bleibt freilich unbestritten, dass die Inhalte der göttlichen Offenbarung nicht allein durch die menschliche Vernunft bestimmbar sind und also auch nicht einfachhin in eine philosophische Rationalität übersetzbar sind. Deutlicher denn je ist heute offensichtlich geworden, dass Philosophie und Theologie nicht mehr über dieselbe Sprache verfügen. Sollen nun aber aus diesem Grund die griechischmetaphysische Tradition und die jüdisch-biblische Tradition einander einfach nichts mehr zu 12 13 14 Ch. Link, Ist Theologie ohne Metaphysik möglich? in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hg.), Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 292. Ebd., 296. Ebd. 176 sagen haben und darum schließlich auseinander laufen? Gilt nicht vielmehr festzuhalten, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Diskursen, und vor allem zwischen dem philosophischen und dem theologischen Diskurs, fließend geworden sind? Dies heißt aber nicht, die Grenzen der Diskurse und Wissenschaften niederzureißen und die Theologie in der Philosophie aufgehen zu lassen. Angesichts der Katastrophenerfahrungen des vergangenen Jahrhunderts und der damit verbundenen Option für das Singuläre oder das Kontingente beschreibt J. B. Metz in seinem Aufsatz Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne die heutige Situation als die eines „sekundären Nominalismus“. Gemeint ist damit, dass Theologie und Metaphysik heute mit denselben Herausforderungen konfrontiert ist. Er plädiert deshalb dafür, die Theologie von einem Denken zu verabschieden, das sich auf eine Metaphysik stütze, die oberhalb der konkreten menschlichen Leidensgeschichte angesiedelt ist.15 Die wesentlichen Aufgaben und Kompetenzen der menschlichen Vernunft liegen für Metz darin, „das humane Gedächtnis zu schärfen und einem Denken zu widerstehen, das sich zur Sicherung seiner Allgemeinverbindlichkeit oberhalb oder außerhalb der menschlichen Katastrophengeschichte festmacht“16. Ausgehend davon entwirft er ein metaphysikkritisches Modell der „anamnetischen Vernunft“, das sich an das biblische Zeitdenken anlehnt, auf dessen Grundlage er eine „Temporalisierung der theologischen Begründungslogik“ entwickelt, die dazu führen soll, in der Verzeitlichung des Gottesgedankens Abschied zu nehmen von einer Auffassung, die Gott als transzendentale Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens zu erläutern versucht.17 Zum Zeitpunkt der eschatologischen Erkenntniseinheit zwischen der Rede über Gott und Gott selbst bleibt die Theologie zweifelsohne dem zeitlichen Wandel ausgesetzt. Zu fragen wäre allerdings, ob sich auch ihr Logos in einem solchen Maße diesem Wandel unterwerfen kann, dass er am Ende nicht mehr in der transzendentalen Fragestellung der philosophischen Metaphysik einzuholen wäre? Auch wenn zugestanden wird, dass es heute dem Menschen unzumutbar, weil unverantwortlich wäre, Theologie oberhalb oder außerhalb der menschlichen Leidensgeschichte, das heißt eine Metaphysik losgelöst von aktuellen philosophischen Debatte über den Zeitbegriff zu treiben, wäre dies dennoch kein Grund – weder für die Theologie 15 16 17 Vgl. J. B. Metz, Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne, 5-11. Ebd., 14. Vgl. ebd., 17. Gleichwohl ist hier zu berücksichtigen, dass der Begriff der Temporisation bei Derrida und der Begriff der Verzeitlichung bei Metz nicht im selben Horizont stehen. Während Derrida mit dem Begriff der differenzierenden Temporisation und Verräumlichung, also der différance, den (platonischen) Begriff der Anamnese kritisiert, steht dieser bei Metz geradezu für die Begründung seiner Argumentation. 177 noch für die Philosophie – jede transzendentale Position gänzlich außer Kraft zu setzen. Ja gilt nicht vielmehr, dass die Theologie – und vielleicht auch die Philosophie selbst –, gerade in dem Maße, wie auch wieder auf eine transzendentale Reflexion zurückbesinnen muss, ohne dass diese Rückbesinnung gleich wieder ein Überstieg in eine Metaebene bedeuten würde. Und ferner wäre durchaus auch zu fragen, inwieweit das jüdisch-biblische Denken nicht als „Pharmakon“, das heißt als Heilmittel für eine Theologie dienen könnte, die in Laufe ihrer Geschichte von einem griechisch-metaphysischen Denken verunreinigt und vergiftet worden ist. Könnte aber allein diese jüdisch-biblische Tradition einen Ausweg aus der prekären Situation darstellen, in der wir uns als Folge der Moderne und ihres metaphysischen Denkens befinden? Selbstverständlich ist die Theologie nicht gezwungen, sich für nur nun einen Weg zu entscheiden, entweder den der jüdisch-biblischen Tradition oder den der griechischmetaphysischen Tradition. Und darüber müssen ihr auch nicht all jene Parolen zugemutet werden, die heute in Züge des postmodernen Pluralismus kursieren: Singularität statt Allgemeinheit, Immanenz statt Transzendenz, Kontingenz statt Letztgültigkeit, Pluralität statt Universalität ... usw. Doch wie sich die Theologie auch verhält, muss sie dieser Spannung Rechnung tragen und versuchen, diese Begriffe in ihrer ambivalenten Opposition miteinander zu vermitteln. Schon allein daher wird sie auch heute noch – wie eh und je – nicht umhin kommen, sich ständig an der Grenze zu bewegen. Bietet also nun gerade hier an dieser Grenzstelle nicht Derridas Denken unter anderem einen Weg an, der als möglicher Ausweg an diesem Dilemma dienen könnte? Oder wirkt sein Denken doch nur wie ein Gift, das letztlich tödlich wäre für die Theologie? Mit diesen Fragen kommen wir wieder an den Beginn dieses Kapitels zurück. Wie wir bereits oben gesagt haben, richtet sich Derridas Dekonstruktion vor allem gegen die (klassische) Metaphysik und insofern auch gegen die Theologie, sofern diese in ihrem Wesen mit der Metaphysik verbunden ist. Man könnte daher durchaus zunächst Eindruck gewinnen, die Dekonstruktion stehe in der solchen Gefolgeschaft des sogenannten „linguistic turn“ und interessiere sich nicht mehr für die außersprachliche Wirklichkeit, die wohl als Außerhalb des Textes gilt, und wäre daher im Grunde nichts anderes als eine extreme Form des Nominalismus im negativen Sinne.18 18 Vgl. Ch. Link, Ist Theologie ohne Metaphysik möglich? 293-295. 178 Tatsächlich aber stellt sich die Dekonstruktion nicht einfach an die Seite der Hermeneutik im Sinne einer unabschließbaren Interpretation. Was Derrida die Geschlossenheit der Metaphysik nennt, bedeutet eben keineswegs, dass die metaphysische Tradition einfach überwunden worden ist und werden kann. All seine neuen Begriffe, die sich auf parasitäre Weise in die allen Namen einnisten, und diese supplementieren, tragen dazu bei, die abendländische Tradition der philosophischen Metaphysik neu und anders zu denken. Auf diese Weise setzt die Dekonstruktion eine Operation ins Werk, die einen neuen Horizont eröffnet, in dem sich durchaus auch für eine mehr oder weniger am metaphysischen Denken teilhabende Theologie bisher ungeahnte Möglichkeit zu einem Aufbruch ergeben könnte. Die theologische Auseinandersetzung mit Derridas Denken und dessen theologische Rezeption haben mittlerweile beträchtlich zugenommen, insbesondere im anglo-amerikanischen Raum. Auch sind die diskutierten Themenfelden vielfältiger als bei den französischen Denkern wie M Foucault, J. Lacan oder J.-F. Lyotard, die im Rahmen der Diskussion um die Grenzen der Moderne von großem Einfluss waren.19 Das Fazit dieser Rezeption Derridascher Denkangebote – und hier vor allem seiner Metaphysikkritik – für eine neu entwickelnde Theologie ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: „Das Spektrum der Rezeption spannt sich hier zwischen einer ablehnenden Haltung über eine gemäßigte Position, die Derrida eine gewisse Bedeutung für die Theologie nicht abspricht und sich von ihm sogar Impulse für eine Erneuerung der Theologie erwartet, bis zu einer radikalen Rezeption, die mit Dekonstruktion und Differenz das Ende herkömmlicher 20 Theologie freudig begrüßt.“ Gewiss, Derridas Dekonstruktion stellt für die Theologie eine nicht zu unterschätzende, aber gleichwohl nicht unüberwindbare Herausforderung dar. Will sie mit dieser Herausforderung verantwortungsvoll umgehen, käme es zunächst darauf an, ihr ohne Angst und mit offener Haltung zu begegnen. Natürlich ist dies keine einfache Aufgabe, weil Derridas Denken sich dem Rahmen und der Struktur traditioneller Philosophie entzieht und weil jede Position – sei sie gemäßigt oder eine radikal –, die sich aus seiner theologischen Rezeption ergebt, selbst wiederum zu Dekonstruktion aufrufen muss. Wie auch immer aber eine solche Rezeption des Derridaschen Denkens aussehen mag, zu vermeiden jedenfalls ist seine unkritische Übertra19 20 Als Überblick und Bilanz zu dieser Rezeption sowie einer Auswahl der entsprechenden Literatur vgl. M. Zichy, Neostrukturalismus und Theologie. Zwischenbericht einer Bestandsaufnahme, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 5 (2001), 193-205. Derrida wird hier allerdings in eine Reihe mit den Denkern des Neostrukturalismus gestellt. Ebd., 197. 179 gung in einen anderen Diskurs wie auch eine undifferenzierte Übernahme seiner Begriffe. Will man sich also auf das Anliegen der Dekonstruktion einlassen, so gilt es dieses sowohl in ihrem großen Zusammenhang wie auch in ihren subtilen Details im Auge zu behalten. 7.3 Vier junge Autoren + 1 Wie bereits erwähnt hat Derridas Denken im anglo-amerikanischen Raum schon seit den siebziger Jahren auch theologische Resonanzen erfahren. Auf die Untersuchung dieser theologischen Rezeption, die zunächst vor allem über eine literaturwissenschaftliche Rezeption der Derridaschen Dekonstruktion verlief, haben wir in unserer Arbeit bewusst verzichtet. Dies würde zum einen den Rahmen der Arbeit sprengen 21 und zum anderen lässt sich nicht zeigen, dass die theologische Rezeption Derridas im deutschsprachigen Raum, welcher wir uns im zweiten Hauptteil unserer Arbeit ausschließlich gewidmet haben, wesentlich von jener theologischen Rezeption im englischsprachigen Raum beeinflusst worden ist. Eine Ausnahme mag die Diskussion um Derridas Position zur Negativen Theologie bilden. Zwar gibt Valentin in seiner Arbeit einen Überblick über die theologischen Entwicklungen im angloamerikanischen Raum und auch Hoff und Beyrich erwähnen diese kurz, eigentlicher Orientierungspunkt der vier deutschen Autoren bleibt aber unmittelbar die Philosophie Derridas in eigenständigen Versuchen, die Grundprobleme für die theologische Rezeption herauszuarbeiten. Was die Versuche von J. Valentin, J. Hoff, T. Beyrich und P. Zeillinger zeigen, kann jedoch nicht vorschnell als Hochkonjunktur einer theologischen Rezeption Derridas betrachtet werden. Natürlich ist bemerkenswert, dass damit innerhalb von 6 Jahren nacheinander vier ausführliche Monographien erschienen sind. Wenn man aber bedenkt, dass die Theologie hierzulande erst in den neunziger Jahren ein Interesse an Derrida entwickelt und damit beginnt, die Herausforderung seines Denkens ernst zu nehmen, bleibt doch auch nach diesen Arbeiten die Frage virulent, anhand welcher Kriterien – auch wenn diese im Derridaschen Sinne stets sich aufschieben lassen – die Tragweite und eine (Un-)Zulänglichkeit bzw. (Un-)Angemessenheit der theologischen Rezeption des Denkens Derridas ausgelotet werden müsste. Notwendig ist dafür wohl der ständige Rückblick, das heißt wiederholende Reflexion auf die theologische Rezeption selbst, was meistens auch mit einer zeitlichen Distanz einher geht. Die Schwierig21 Zum Überblick über die theologische Rezeption im angloamerikanischen Raum vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 219-242; ders., Das Echo Jacques Derridas in der angelsächsischen Theologie, in: Theologische Revue 97 (1/2001), 19-28; G. M. Hoff, Die präkere Identität des Christlichen, 355-421. 180 keit, Derridas eigentlich rein philosophische Denkanstöße tatsächlich mit theologischen Traktaten zu verwachsen bleibt Maßstab für eine solche verschobene Sekundärlektüre. In seinem Zwischenbericht über die theologische Rezeption des Neostrukturalismus hat M. Zichy eine Reihe der Themenbereiche vorgestellt, die sich mit Derrida auseinandersetzen und mit denen sich der Großteil der theologischen Literatur zu ihm befasst: Negative Theologie, Metaphysikkritik, Exegese und neben diesen drei Hauptfeldern auch die Trinitätstheologie und die theologische Hermeneutik.22 Für jeden Versuch einer theologischen Rezeption bleibt die Frage zu beantworten, ob und inwieweit Derridas Denken Hilfe und Werkzeug dafür sein kann, die Glaubensinhalte positiv zu beschreiben. Eine Antwort auf diese Problemstellung beschreibt dann gerade den Versuch, Derridas Denkanstöße in die Theologie zu übersetzen. Die oben versuchte Lektüre von vier aktuellen theologischen Arbeiten berührt zahlreiche philosophische und theologische Problembereiche. Valentins Arbeit selbst versuchte im letzten Kapitel, die gewonnenen Perspektiven noch direkter auf die theologischen Traktate hin zu übersetzen. Zu bemerken sind bei Hoff auch die Überlegung zur christologischen Bedeutung der Stellvertretung, bei Beyrich die Vertiefung der unendlichen individuellen Glaubensverantwortung und bei Zeillinger die Herausstellung der affirmativen Seite der Negativen Theologie. Über die Bemerkung dieser je spezifischen Akzentsetzung hinaus soll an dieser Stelle gemäß den von M. Zichy skizzierten Themenbereichen ein Blick zurück auf die verschiedenen Ansätze geworfen und aus theologischer Perspektive einige Anfragen an diese Texte gestellt werden. Vielversprechende Anknüpfungspunkte zwischen Derridas Denken und der Theologie bietet vor allem das „jüdische Denken“ Derridas, wie Valentins Arbeit zeigt. Es ist nach Valentin eine der wichtigen Ressourcen des Philosophierens Derridas und eröffnet einen Raum, in dem das traditionelle metaphysische Denken des Abendlandes einen Bruch erleidet und in dem man die Möglichkeit für ein anderes Denken der philosophischen Denktradition und somit für eine Theologie der späten Moderne schöpfen kann. Ähnliche Überlegungen treten anhand von Derridas „Religionsbegriff“, dem Hoff und Beyrich einen Teil ihrer Arbeiten widmen, zu Tage. Wenn Derrida angesichts der Wiederkehr des Religiösen auf „einen Messianismus ohne Messias“ besteht, kann man vermuten, dass sein Quasi-Bekenntnis zum „Jude-Sein“ hier mitschwingt, welches als Beschnitten-Sein an der Grenze der Identität/Differenz und als Unterworfen-Werden gegenüber dem Ewigen charakterisiert werden kann. 22 Vgl. M. Zichy, Neostrukturalismus und Theologie, 196-198. 181 An dieser Stelle ist zu fragen, wie sich diese jüdische Wurzel Derridas zu anderen Momenten seines Denkens verhält. Welche Bedeutung spielt seine Auseinandersetzungen mit Husserl und Saussure und die daraus gewonnenen zeichentheoretischen und grammatologischen Eisichten im Zusammenhang dieser „Jüdischkeit“ seines Denkens und welche Bedeutung hat das für eine spezifisch christliche Rezeption? Natürlich ist die Prägung seines Denkens auch durch andere jüdische Autoren, insbesondere durch E. Lévinas, nicht zu unterschätzen. Abgesehen davon, inwieweit deren jüdisches Denken als ein philosophisches bestimmt werden kann, stellt aber Derridas zeichentheoretisch und grammatologisch angelegte Kritik an der traditionellen Metaphysik, sei es in Form von Subjektphilosophie, Bewusstseinsphilosophie, Ontologie oder Onto-Theologie, eine noch schärfere Herausforderung dar, mit der sich auch die Theologie konfrontieren muss. „Derridas Negative Theologie“ liest sich dann vor allem als eine weitere Ausführung solcher Kritik und dies lässt verstehen, weshalb er ablehnt, an seine Negativen Theologie eine Theologie anzuschließen. Zwar bezieht sich Derrida auch explizit auf die christliche Tradition der Negativen Theologie, dies läuft aber darauf hinaus, in dieser Lektüre seine Dekonstruktion zu radikalisieren. Gewiss kann Derridas Negative Theologie, wie Valentin zeigt, dazu verhelfen, die Grenzen der theologischen Rede von Gott festzuhalten und die göttliche Offenbarung vor jeder wissenschaftlichen Reduktion zu bewahren. Die Theologie hat aber auch die Aufgabe, den Glauben zum sprachlichen Ausdruck zu bringen, was zum großen Teil mit positiven Aussagen und Glaubensvermittlungen zu tun hat. Diese Probleme blieben auch ungelöst, wenn man den theologischen Schwerpunkt von verbalen auf non-verbale Vollzügen des Religiösen verschiebt und auf die Verstärkung der non-verbalen Praktiken im Leben der Kirche plädiert, wie Hoff es unternimmt. Auf diese Weise kann zwar eine moderne aufklärerische Verkürzung des Religiösen korrigiert werden, ist eine solche Akzentverschiebung aber im Derridaschen Sinne nicht wieder eine Art der Hierarchisierung? Wichtiger wäre die Tatsache zu berücksichtigen, dass in der verbalen wie auch der non-verbalen Vermittlungen des Glaubens die selbe Struktur zu Grunde liegt, welche es in Derridas Präsenzkritik und Grammatologie zu dekonstruieren gilt. Für jede Glaubensverantwortung und -vermittlung ist dieser grundsätzlichen Struktur Rechnung zu tragen. Bevor solch im engeren Sinne theologische Themenfelder mit Derridas Hilfe verhandelt werden können, stellt sich deshalb die fundamentaltheologische Frage nach einem Grund bzw. dem Ort und der Universalität, in der auch der theologische Diskurs stattfindet. Hier stellt 182 Hoff das Denken Derridas den transzendentallogischen und universalpragmatischen Paradigmen gegenüber und befindet diese in ihrer wegweisenden Position nicht mehr haltbar. Aus ähnlichen Gründen erklärt er ebenfalls Rahners anthropologischen Begründungsversuch einer Offenbarkeit der Offenbarung für gescheitert. Er stellt fest, dass im Spielraum der philosophischen und theologischen Reflexion kein Diskurs Anspruch auf einen transzendentalen und universalen Status erheben kann, dass hier Derridas Denken aus seiner Unentscheidbarkeit und „double bind“ zu einer radikalen Ortlosigkeit des Denkens führt. Ist damit nun eine Wende zu einer „nach-hermeneutischen Theologie“ angedeutet? Wie diese aber durchgeführt werden könnte, ist noch näher zu bearbeiten. Dabei ist freilich mit Derrida zu beachten, dass alle metaphysischen, ontologischen oder transzendentallogischen Namen der différance unterliegen. Dies muss aber nicht bedeuten, dass auch eine letztlich unhintergehbare Gegebenheit verschwunden ist, in der diese Namen und Begriffe und die an sie gebundenen Diskurse stattfinden und sich unendlich supplementieren. Dieser Ort heißt bei Derrida „grundloser Grund einer Krypta“, „Wüste in der Wüste“ oder „Chora“. Er befindet sich für Derrida vor allem im Text. Eine Theologie nach Derrida muss der Textualität des Textes Rechnung tragen, wobei Stil und Techniken des Schreibens als wesentliche Momente vorkommen. Wie Beyrichs Arbeit zeigt, sind wiederholende Lektüre und mäeutische Textgewebe auch Hauptprogramme des Derridaschen Philosophierens. In ihnen sind der Autor und der Leser, das Selbe und das Andere im Spiel, und jeder Text ist von da her letztlich als Gabe und Sendung, also als Dissemination zu lesen. Diese Grundstruktur gilt für Derridas Texte und auch für jeden theologischen Text. Zeillingers Arbeit bleibt einer entsprechenden theologischen Grundhaltung insofern insbesondere treu, als dass er seine Arbeit vor allem als Lektüre der Texte Derridas versteht. In dieser strengen Lektüre zeigt Zeillinger auf, was die wichtigen Momente im Denken Derridas sind und in welchem Kontext diese jeweils in der Entwicklung seines Denkens stehen. Dafür bezieht sich Zeillinger auf zentrale Texte Derridas in der frühen und der späten Phase. Er macht insbesondere darauf aufmerksam, dass Derrida nicht nur in kritischem Duktus die Brüche der abendländischen Philosophietradition entblößt, sondern auf durchaus positive Weise sein eigentümliches Denken in verschiedenen neuen Ausdrücken entfaltet. Im Namen von Zeillingers Anliegen einer Derrida treuen Lektürebewegung wäre aber die Frage zu stellen, inwieweit es gerechtfertigt ist, eine geschichtliche Entwicklung und Kontinuität analytisch herauszuarbeiten, während Derridas Dekonstruktion solche Fragebewegungen und Fest- 183 stellungen gerade zu vermeiden sucht. Noch schwerer wiegt aber die Frage: Erzeugt eine solche „chronologische“ Lektüre von sich aus einen theologischen Aufbruch, wie Zeillinger es hofft? Ist die Möglichkeit einer theologischen Erneuerung aus der Mitte des Denkens Derridas tatsächlich sichtbar geworden? Selbst wenn er die Texte liest, in denen Derrida sich mit der Negativen Theologie auseinandersetzt, verbleibt Zeillinger auf philosophischem Terrain. Dessen ist er sich durchaus bewusst. So hält daran fest, dass seine Studie auf der Schwelle operiert, zwischen Anfänglichkeit und Nachträglichkeit. Auch zum Ende seiner Arbeit, befindet sich eine Theologie nach Derrida, wenn sie möglich wäre, immer noch im Schreiben von „Im Anfang ...“23. Jeder Schritt setzt einen Anfang. Von einem möglichen ursprünglichen Anfang entfernt man sich dabei aber immer nur weiter. Und dennoch gibt es nur diese Möglichkeit, einen nichtursprünglichen Ursprung oder das Unendliche zu thematisieren. Den Glauben zu denken muss diesem Weg folgen. Diese Grundbestimmung theologischer Rede hält die Beschäftigung mit Derridas Denken wach und könnte so eine theologische Reduktion der Glaubenstradition verhindern. Dieses Prinzip gilt auch für jeden Versuch, Derridas Denkansätze in den theologischen Themenfelder zu verankern. Mit vier ausführlichen und gewissenhaften Arbeiten junger Autoren hat Derridas Denken im theologischen Boden Deutschlands Wurzeln geschlagen. Wenn diese Arbeiten kein Ende, sondern einen Anfang markieren, ist wirkliche Frucht dieser „Pfropfungen“ für die Theologie zu erwarten. Der Weg dahin wird in weiteren verschiebenden Lektüren und aus der Erzeugung weiterer Supplemente gewoben werden, mit Derrida ausgedrückt, aus dem unberechenbaren „n + Ein(e)s“24. 23 24 Ebd., 226. J. Derrida, Glaube und Wissen, 105. In diesem Text steht dieser Ausdruck dafür, um das Verhältnis zwischen den Quellen des Religiösen und deren Supplementen zum Ausdruck zu bringen. In Anspielung auf dieses Verhältnis verwenden wir ihn hier für die Erwartung weiterer theologischer Arbeiten des Denkens Derridas. TEIL III: SAKRAMENTALE STRUKTUR UND DEKONSTRUKTION Wie der vorgehende Teil II zeigt, kann man auf verschiedene Weisen als Theologe beim Denken Derridas ansetzen, um von diesem zeitgenössischen Werk Denkanstöße und Perspektiven für die Theologie zu erhalten. Die Grenzziehung zwischen philosophischen und theologischen Belangen ist sowohl in den Arbeiten Derridas als auch in der theologischen Rezeption nie einfach. Das stellt eine Schwierigkeit, zugleich aber auch ein Potential für die Theologie dar, da verschiedenste Wege das Terrain der Derridaschen Philosophie erschließen können. In immer neuen Lektüren können Derridas Texte durchquert und disseminiert werden. Das Wagnis des Weges durch einen solchen Text erstreckt sich zwischen der Ahnungslosigkeit, wo dieser Weg hinführt, und einer Position des Anfangs, der immer schon vergangen ist. Beide Bestimmungen dieser Lektürebewegung sind in der vorliegenden Arbeit theologisch, das heißt es liegen theologische Interessen, Prämissen oder Hintergründe am Beginn des Weges, und ein theologischer „Zweck“ treibt diesen Text, der nach Derrida geschrieben ist (mit ihm oder gegen ihn), voran. Diese Bedingtheit durch Voreingenommenheit und erkenntnisleitende Interessen führt aber nicht zu einer totalisierenden Intentionalität im Derridaschen Sinn, sondern verstrickt sich in der Bewegung des Weges selbst. Erst am Ende des Weges lässt sich erkennen, welchen Weg wir gegangen sind. Gilt aber all dies nicht für jeden Versuch, ein Denken theologisch zu rezipieren? In der vorliegenden Arbeit liegt nun mehr als die halbe Wegstrecke hinter uns. An dieser Stelle soll gemäß einer spezifisch theologischen Fragestellung eine bestimmte Richtung eingeschlagen werden. Das heißt, wir versuchen in diesem letzten Teil unserer Arbeit, die sakramentale Struktur aus dekonstruktiven Perspektiven zu denken. Die Frage nach (sakramentaler) Vermittlung und Vergegenwärtigung und nach Verschiedenheit und Einheit soll also im Anschluss an die bis zu diesem Punkt entwickelten Einsichten zur Dekonstruktion bzw. im Anschluss an die teilweise in eine neue Beziehung gestellten Texte Derridas expliziert werden. Dazu scheint es notwendig, zunächst einen neuen Anfang zu setzen und in Formulierun- 185 gen des 20. Jahrhunderts auszudrücken, was die sakramentale Struktur theologisch bedeutet. Ausgehend von der Frage der Vermittlung der Unmittelbarkeit werden wir so über theologische Entfaltungen der Problematik der Vermittlung bei Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner schließlich auf die sakramentale Struktur im engeren sakramententheologischen Sinne eingehen. Es handelt sich dabei um die Vermittlung und Vergegenwärtigung der göttlichen Gnade und Liebe, die sich zum Heil des Menschen in der Offenbarungsgeschichte kundgetan hat. Zu bedenken ist hier vor allem das Verhältnis von Vermittelndem und Vermitteltem, von Zeichen und Bezeichnetem, von Realsymbol und Symbolisiertem (Kap. 8). Daran anschließend sollen dann diese beiden Wege zusammengeführt werden und eine Sicht der theologischen Struktur der Sakramentalität im Licht der Dekonstruktion versucht werden (Kap. 9). 186 8 Sakramentale Vermittlung und Struktur 8.1 Vermittlung als theologisches Problem 8.1.1 Unmittelbarkeit und Vermittlung Die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts hat in der transzendentalen Wende J. Maréchals und in der reflexiven Methode M. Blondels eine Grundlage gefunden, auf der man angesichts der zeitgenössischen Denkströmungen das Traditionsgut weiter zu denken versuchte und damit einen Erneuerungsweg für die Theologie einzuschlagen wusste. Dabei konnte das thomistische Seins- bzw. Gottesdenken mit dem transzendentalen Denken der modernen Philosophie verknüpft werden, und es wurde weitgehend für möglich gehalten, eine Erneuerung der christlichen Metaphysik zu betreiben, die zuvor von der modernen Rationalitätsphilosophie in eine Sackgasse gedrängt schien. So bezeichnet sich zum Beispiel eine christliche Metaphysik, die der Theologie eine gemäßigte Denkstruktur zu bieten versucht, als transzendental-reflexiv metaphysisches Denken, in dem die Bedingung und die Möglichkeit der „Vermittlung der Unmittelbarkeit“ erfragt werden.1 Hier bildet also unter anderem das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung eine grundlegende Denkstruktur, die auch im theologischen Denken als entscheidend zu erkennen sein wird. Philosophisch stellt sich das Denken von Unmittelbarkeit und Vermittlung schon seit Platon, als Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Differenz und Identität, oder zwischen Vielfalt und Einheit. Ihr spezifisch philosophisches Profil gewinnen die beiden Termini seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem im deutschen Idealismus.2 Insbesondere sind sie bei Hegel zur begrifflichen Entfaltung gelangt. Gegen jede positive Bestimmung der Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung oder Erkenntnis zeigt Hegel, dass jede Unmittelbarkeit schon vermittelt und auf weitere Vermittlung angewiesen ist. Diese eigentlich reflektierende Tätigkeit der Vermittlung im absoluten Wissen ist aber für ihn „um 1 2 Vgl. E. Coreth, Metaphysik; ders., Grundriß der Metaphysik. Es ist hier nur zu bemerken, dass er unter anderen wie J. B. Lotz, K. Rahner zur so genannten Maréchal-Schule gehört und diese Schule mit M. Blondel einen erheblichen Einfluss auf die katholische Theologie im 20. Jahrhundert ausgeübt hat. Vgl. A. Arndt, Art. „Unmittelbarkeit“ in: Historisches Wörterbuch der Philsosophie, Bd. 11, 236-241 und ders., Art. „Vermittlung“, ebd., 722-726. 187 seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst“3. Zum einen wird das anfängliche Unmittelbare so gezeigt, dass das unvermittelte Unmittelbare nun als vermittelt begriffen wird. Dieser Übergang wird aber wiederum gerade durch die Vermittlung selbst eingeholt und aufgehoben. In diesem absoluten Vermittlungsprozess bezieht sich eine vermittelte Unmittelbarkeit auf nichts anderes als auf sich selbst. Die Vermittlung als Selbstvermittlung erfolgt nicht durch ein Drittes, das selbstständig wäre, sondern birgt in sich schon das Entgegengesetzte, und in der Vermittlung dieser Negativität stellt sich die Unmittelbarkeit als werdende dar. In der reinen Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins sind werdende Unmittelbarkeit und absolute Vermittlung untrennbar identisch.4 Hegel versuchte in seiner Dialektik die Gegensätzlichkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zu überwinden, indem er alle Unmittelbarkeit als begrifflich vermittelt ansah. Im Hinblick auf Derridas Kritik dieser totalen Vermittlung bzw. Aufhebung im absoluten Wissen5 ist zunächst die Problemlage zu verdeutlichen, die sich aus den beiden Begriffen Unmittelbarkeit und Vermittlung sowie aus deren Verhältnis ergibt. Erstens setzt der Begriff der Vermittlung Gegensätze und Differenzen voraus, die es eben zu vermitteln gilt. Gegen die Möglichkeit, alle Gegensätzlichkeiten und Differenzen in eine letzte Einheit hinein zu versöhnen und aufzulösen, wendet sich jenes Denken der Spätmoderne als eine Kritik der Hegelschen Dialektik, indem es die Unmöglichkeit der totalen Vermittlung in einem Begriff des Ganzen aufzeigt. Die Singularität und Andersheit der vorausgesetzten Differenz wird nachdrücklich betont. Unmittelbarkeit und Vermittlung bleiben dann gegenübergestellt, und das Undarstellbare, das Unvermittelbare, das sich jeglicher Vermittlung entzieht, wird hervorgehoben. Inwieweit sich eine solche Kritik von dem Gedanken der mystischen Indifferenz oder der unmittelbaren religiösen Erfahrung unterscheidet, ist sorgfältig zu überdenken. Derridas Konzepte der différance oder der Negativen Theologie können als Versuch verstanden werden, ein Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung neu zu denken. 3 4 5 G. W. Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 19. Vgl. dazu J. O’Donohue, Person als Vermittlung. Die Dialektik von Individualität und Allgemeinheit in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Mainz 1993; A. Arndt, Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994. Zur Auseinandersetzung Derridas mit Hegel vgl. seine Texte wie: „Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie“, in: Die Schrift und die Differenz; „Der Schacht und die Pyramide“, in: Randgänge der Philosophie; „Buch-Außerhalb“, in: Dissemination; Glas. 188 Zweitens ist im Gedanken der Vermittlung der Unmittelbarkeit6 offensichtlich ein Bezugspunkt impliziert, in dem alle Gegensätze und Differenzen vermittelt werden sollen. Dieser kann etwa im Bewusstsein, einem transzendentalen Subjekt, einem autonomen Handeln oder aber, wie bei Hegel, in dem sich selbst restlos begreifenden Begriff gesehen werden. An solch einem unhintergehbaren Punkt wird alles Andere als Gegenständliches erfasst, eben als zu Vermittelndes, er ist aber selbst unmittelbar, durch nichts abzuleiten. Ein solches Konzept liegt den verschiedenen Spielarten der modernen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie zugrunde. Wie bereits gesehen, stellt Derridas Dekonstruktion eine Herausforderung für solche Konzepte dar, vor allem in den Grundsätzen der Unentscheidbarkeit oder des „double bind“. Für Derrida ist das autonome Subjekt in sich schon gespalten, das Selbst ist in sich der Andere. Dies muss dennoch nicht bedeuten, dass ein Bezug des Menschen zur Unmittelbarkeit einfachhin ausgelöscht wäre. Drittens tritt, was das totale Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung angeht, auch die metaphysische Vorstellung, die Derrida im Modell der Repräsentation und in der Logik von Innen/Außen identifiziert hat, deutlich zutage. Gerade mit der Vermittlung der Unmittelbarkeit wird das Unmittelbare als sich manifestierend gedacht. Das innere Selbst oder das Eine vollzieht sich als Vermittlung oder Repräsentation. Dieser Vollzug läuft auf eine vermittelte Vergegenwärtigung des Unmittelbaren in der äußeren Vielfalt hinaus. Der Begriff und der Vollzugsakt können aber nicht einfach als identisch gedacht werden. Vielmehr muss eine „Asymmetrie“ zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung hervorgehoben werden. Ein Rest vom Unmittelbaren als dem Anderen bleibt auch jeder Vermittlung unbegreifbar. Zumal stehen das Vermittelte und das Vermittelnde nicht (mehr) im herkömmlich metaphysischen Verhältnis von Präsenz/Repräsentation bzw. Signifikat/Signifikant. Die Theologie ist von dieser Problemstellung schwerwiegend betroffen. Denn sie basiert zentral auf Begriffen der Unmittelbarkeit und der Vermittlung, und die Struktur der Vermittlung der Unmittelbarkeit ist wesentlich für ihre Denkform. Die Theologie – im engeren Sinne vor allem die Fundamentaltheologie – setzt gerade beim Bezug des Menschen zu einem Unvermittelten und zu Gott an und stellt die Frage nach der Möglichkeit der sprachlichen Vermittlung unmittelbarer Offenbarung. Diese Bezüge sind zunächst vor allem im christologischen 6 Da Hegel diesen Gedankengang aber selbst nochmal kritisch hinter sich lässt, stellt sich die Frage, ob Derridas Dekonstruktion sich zu Unrecht bei der Totalität seines philosophischen Projekts aufhält, während die Logik der absoluten Reflexion bei Hegel selbst schon kritisch, das heißt autodekonstruktiv, entwickelt wird. Vgl. dazu J. Bartels u.a., Dialektik als offenes System, Köln 1986; A. Arndt, Dialektik und Reflexion, Hamburg 1994; S. Barnett (ed.), Hegel after Derrida, London 1998. 189 Zusammenhang zu denken, denn es ist Jesus Christus, in dem die christliche Tradition die göttliche Offenbarung und Heilsvermittlung ein für allemal vollendet beschreibt. Er ist von der Theologie als der universale Vermittler, der alles, was ist, in seiner Mitte vereint, zu entwickeln (vgl. Eph 1,10). Welche Wege die katholische Theologie im letzten Jahrhundert angesichts dieser hier ausgehend von der Metaphysikkritik Derridas aufgerissenen Problemlage eingeschlagen hat, soll in den nächsten Kapiteln exemplarisch bei zwei Theologen untersucht werden: Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner. 8.1.2 Sendung als Vermittlung der Gottunmittelbarkeit bei Hans Urs von Balthasar Hans Urs von Balthasar hat seine Theologie auf der Basis einer theologischen Ästhetik entfaltet, die vor allem in der Trilogie von „Herrlichkeit“, „Theodramatik“ und „Theologik“ ausformuliert ist. In diesen Hauptwerken seiner theologischen Arbeit wird das Offenbarungs- und Heilsgeschehen als theodramatische Vermittlung der göttlichen Liebe an die menschliche Freiheit geschildert. Indem Gott um der unendlichen Liebe willen in die Knechtgestalt des Geschöpfes eingeht, erreicht das Offenbarungsdrama seinen Höhepunkt im Gottmenschen Jesus Christus, dessen Gestalt die Schönheit und Herrlichkeit der innertrinitarischen Liebe Gottes in der Welt erstrahlen lässt. Damit sind alle Menschen in die Herrlichkeit und Liebe Gottes eingeschlossen, und die christliche Existenz hat teil an der Sinndimension der Gestalt Jesu Christi. Für Balthasar verfasst sich die Theologie so in einem Liebes- und Freiheitsdrama zwischen Gott und Mensch.7 Für die Theologie v. Balthasars bildet die absolute Liebe Gottes einen Ausgangs- und Mittelpunkt, der sein ganzes Werk durchzieht. Gegenüber dem Ruf aus der Fülle der göttlichen Liebe soll konsequent die entsprechende Antwort der menschlichen Freiheit hervorgerufen werden. Dafür findet v. Balthasar ein theologisches Vorbild in der anbetenden und gehorsamen Glaubenshaltung Marias. Er bezeichnet den absteigenden Weg der trinitarischen Gottesliebe, die sich im menschgewordenen Wort und in der Erniedrigung Jesu Christi am Kreuz unüberholbar zeigt, als „katalogisch“, und den aufsteigenden Weg der menschlichen Antwort, der die vom göttlichen Liebesruf her bewirkte Erhöhung und Verherrlichung des Geschöpfes bedeutet, als „analogisch“. Er entfaltet diese Grundlegung der Theologie zunächst auf der Basis 7 Zur Theologie Hans Urs von Balthasars, vgl. K. Lehmann/W. Kasper (Hg.), Hans Urs von Balthasar – Gestalt und Werk, Köln 1989; W. Klaghofer-Treitler, Gotteswort im Menschenwort. Inhalt und Form von Theologie nach Hans Urs von Balthasar, Innsbruck-Wien 1992. 190 der thomistischen Seinsphilosophie und Seinsdifferenz, wobei die Differenz als „die Differenz nicht nur zwischen ‚Faktischem‘ und ‚Selbstverständlichem‘, Seienden und Sein, Wesenheiten und Sein, sondern zutiefst als die Differenz zwischen allgemeinem Sein und Gott“8 verstanden wird. Diese Differenz „affiziert und durchzieht auch die Transzendentalien und macht so, durch Abstand und Bezugnahme zugleich zwischen Seinsschönheit und Gottesherrlichkeit, Offenbarung allererst möglich.“9 V. Balthasar vertieft diese Einsicht vor allem in Anlehnung an den Begriff der analogia entis. Von E. Przywara übernommen, diesen aber übersteigend, wird der Begriff für das adäquate Verständnis der göttlichen Offenbarung verwendet. Die Offenbarung ist dabei zunächst nicht von der Analogie zwischen Gott und Seiendem her zu denken, sondern als allein von Gott, analogisch gesehen, von der kenotischen Bewegung der göttlichen Liebe gesetzt: „Gott [...] wählt den absteigenden Weg in die Materie, nicht nur um dem Menschen innig und gesamthaft zu begegnen, sondern auch um ihm den ganzen Heilssinn zu zeigen, der in seiner Bindung an den Stoff verborgen liegt [...]. Gott zeigt dem Menschen durch seine ‚Kenose‘, daß der Mensch von vornherein kenotisch entworfen ist und daß er gerade in 10 dieser Entäußerung und Armut reich und herrlich werden wird – und es schon ist.“ V. Balthasar nennt diese kenotische Analogie „Kata-logie“11; auf sie muss die Theologie allererst angelegt werden. Sofern die göttliche Offenbarung aber zugleich in der analogischen Bewegung, das heißt, im glaubenden, gnadenhaften Empfang und Aufstieg des Menschen gesetzt wird, sofern die Gotteserkenntnis und -liebe in welthafter Vermitteltheit geschieht, wenngleich dabei die Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf bleiben soll, lässt sich die Theologie schließlich an der Integration der beiden Wege, an der Vermittlung von Katalogie und Analogie durchführen.12 Die Theologie v. Balthasars hält an dem Gleichgewicht und der methodischen Einheit zwischen dem kenotischen und dem analogischen Weg fest, ist aber dennoch in erster Linie von der Katalogie bestimmt, sodass ein Vorbehalt und Vorrang des Katalogischen bestehen bleibt. So könnte man die Theologie v. Balthasars als Theologie „von oben“ bezeichnen, im Vergleich zu zeitgenössischen Theologien „von unten“, die versuchten, die Offenbarung von ei8 9 10 11 12 P. Henrici, Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars, 257. Ebd. H. U. v. Balthasar, Katholisch, 80. Vgl. H. U. v. Balthasar, Theologik II, 159ff. Vgl. W. Klaghofer-Treitler, Gotteswort im Menschenwort, 354-477. 191 ner transzendentalen Subjektivität oder von einer anthropologischen Geschichtlichkeit her zu denken. Balthasar sieht im modernen Weltverständnis, insbesondere im Rationalismus, ein dubioses Moment, das die Unmittelbarkeit des Religiösen verdunkeln kann. Das Hauptinteresse seiner Theologie zielt deswegen darauf, die modernen Denkperspektiven und die Fragen der Zeit „in eine unmittelbare nach der Offenbarung ausgerichtete Schau“ zu integrieren.13 Wenn wir hier in diesem Sinne sagen dürfen, die christliche Theologie sei nichts anderes als eine am zeitgenössischen Denken orientierte Vermittlung der Gottunmittelbarkeit, die sich in der Offenbarung gezeigt hat und in die der Mensch aufgenommen wird, ist die Theologie v. Balthasars ebenfalls von der eingangs beschriebenen Grundstruktur betroffen. Je mehr auf der einen Seite die absteigende Liebe Gottes betont wird, desto mehr scheint auf der anderen Seite die Möglichkeit notwendig, eine menschliche Vermittlung dieser Liebe zu beschreiben. So stellt sich Balthasar die Frage, „ob christlich ein unmittelbares Verhältnis des Einzelnen zu Gott sachlich oder historisch (für unsere Zeit) möglich und notwendig ist, oder ob es nicht vielleicht eine Verhinderung und Verstellung des eigentlich Christlichen sei, wo das Gottesverhältnis wenigstens primär in der zwischenmenschlichen Begegnung sich ereignet.“14 V. Balthasar unterschätzt keinesfalls die Bedeutung der ethischen, zwischenmenschlichen, kommunikativen Situationen, in denen sich die Herrlichkeit des Herrn widerspiegelt, dies sei aber so, weil die Menschen den Glanz der göttlichen Liebe und Gnade „zunächst in einer ganz undialogischen, einsamen Situation erhalten haben.“15 Diese „transdialogische“ Gottunmittelbarkeit im Menschen ist bei Balthasar christologisch fundiert, weil sie als Teilnahme an dem Verhältnis Jesu zum Vater begriffen wird, und weil das christliche Gottesverhältnis wesentlich der Unmittelbarkeit Jesu Christi entspringt. Für v. Balthasar als christlichen Denker ist es ein entscheidender Glaubensgrundsatz, dass im Christusereignis jene unmittelbare nach der Offenbarung ausgerichtete Schau, anders gesagt, das unmittelbare Verhältnis des Menschen zu Gott unüberholbar vollendet ist: „Aus der schlechthinnigen Unmittelbarkeit Jesu zum Vater (im Licht der Begegnung wie in der Finsternis der Kreuzesverlassenheit) kann er seine Existenz als totale Fleischwerdung, Verwirklichung des Liebeswillen Gottes der Welt gegenüber deuten, kann er sich [...] zum ‚Menschen für die Menschen‘ <für alle> werden lassen, im Gegensatz zu uns, die wir als Geschöpfe immer nur ‚Menschen mit andern Menschen‘ sein können. [...] in Jesus 13 14 15 Vgl. M. Ouellet, Die Botschaft der Theologie Hans Urs von Balthasars an die neuzeitlichen Theologie, 174. H. U. v. Balthasar, Spiritus Creator, 298. Ebd., 308. 192 erfüllt sich auf überschwengliche, unvergleichliche Weise alles, was schon in der Zone der natürlichen Religio und wiederum in der Zone alttestamentlicher, bundesgerechter Existenz Unmittelbarkeit zu Gott war.“ 16 Dass Jesus aus seiner Unmittelbarkeit zu Gott seine Existenz als absolute Hingabe an die göttliche Liebe versteht, wird bei Balthasar im Begriff der Sendung bzw. des Auftrags konkretisiert: Die eigentliche Sendung Jesu Christi ist es, „mit der ganzen Liebe des Vaters in die Stunde der Finsternis, in die absolute Nichtliebe der Welt hineinzugehen“, für die Erfüllung der Absolutheit des Liebeswillens des Vaters „‘mit dem Kopf durch die Wand‘ (des Sünders)“17 zu gehen. Damit entsteht eine Situation absoluter Einsamkeit des menschgewordenen Wortes, in der die Haltung Jesu „nicht vom Sichbetreffenlassen durch das menschliche Du diktiert“ wird, sodass „das Du (kantianisch als noumenales Ich, als personaler Repräsentant des kategorischen Imperativs) ihn tief zur Besinnung, Umkehr, Nachgiebigkeit aufriefe“18. Und sofern jede christliche Existenz an der Unmittelbarkeit zu Gott – analogisch der Unmittelbarkeit Jesu ähnlich und doch von dieser unterschieden – teilhat, besitzt sie auch die Struktur der Existenz und der Sendung Jesu Christi. Jedes christliche Leben muss bereit sein, sich zunächst der Situation der Wüste zu ergeben, bevor es in zwischenmenschliche Verhältnisse treten kann: „Teilnahme an der Sendung und Existenzform Christi wird, über die bleibende Differenz zwischen ihm und uns hinweg, dort möglich, wo ein Glaubender im Jawort des Glaubens seine Existenz als Sendung zu empfangen und zu leben bereit ist. [...] und die eigentliche Sendung des Christen ist nach den Maßen der göttlichen Liebe zugeschnitten. Sie ist deshalb in ihrem Ursprung und in ihrer bleibenden Struktur gottunmittelbar und transdialo19 gisch.“ Das Gottunmittelbare oder Transdialogische ist für v. Balthasar die innerste existentiale Grundverfassung des christlichen Lebens, ruft aber gerade darin zur Vermittlung auf. Die christliche Sendung ist für ihn ein den christlichen Stand ausmachender „Ruf“20, der die Christen einerseits zur göttlichen Liebe und der von dieser absoluten Liebe ermöglichten Gottunmittelbarkeit und andererseits zu deren mitmenschlicher Vermittlung als Auftrag aufweckt. So ist v. Balthasars Theologie der Sendung im Grunde entlang der Begriffe Vermittlung und Unmittelbarkeit angelegt. Sie hält dennoch am Primat der trinitarischen Liebe Gottes fest, die 16 17 18 19 20 Ebd., 303. Ebd., 305f. Ebd. Ebd., 309f. Vgl. H. U. von Balthasar, Christlicher Stand, 317-413. 193 in der kenotischen Bewegung ihre Absolutheit offenbart. Und in diesem Sinne stellt sich Balthasar gegen das Hegelsche Denken, das die Liebe sich im absoluten Wissen auflösen lässt. In der Hegelschen Vermittlung spiegelt sich zwar ein Versuch wider, „Trinität und Inkarnation insofern philosophisch zu erfassen, als uns in Jesus Christus die Mitte der Welt aufleuchtet, während diese Mitte doch zugleich auf die letzte Vermittlung des dreifaltigen Gottes hin verweist. Dieser Versuch Hegels bleibt in einer Doppeldeutigkeit, da der Glaube an den dreifaltigen Gott und an Jesus Christus selbst durch eine absolute Vernunft aufgehoben ist und diese absolute Vernunft (die im Sinne Hegels nicht die subjektive ratio des Menschen ist) dennoch in der Doppeldeutigkeit einer absoluten Vernunft verbleibt, die das Mysterium zum Ausdruck zu bringen versucht, es aber zugleich als Mysterium irgendwie aufhebt.“21 Der Hegelschen, die Wirklichkeit der Liebe auf diese Weise „logisierenden“22 Vermittlung setzt v. Balthasar seine Theologik entgegen, die den Vermittlungsbegriff mit dem ästhetisch verstandenen Begriff der Gestalt verbindet und die Christus als Mitte der Offenbarungsgestalt erfasst. Die keinesfalls statisch, sondern dynamisch zu verstehende Gestalt Jesu Christi übertrifft alle anderen Vermittlungsfiguren in ihrer Einzigartigkeit durch die Einheit zwischen Sendung und Existenz. Sie nimmt den Menschen keineswegs nur intellektuell, sondern existenzverwandelnd in ihre Ausstrahlung auf und bleibt in der Vermittlung unüberholbar und nicht abgeschwächt.23 So basiert der Vermittlungsbegriff bei v. Balthasar auf einer superlativischen Einzigartigkeit der Vermittlungsgestalt Jesu Christi. Das christliche Leben steht in der Schwebe von Immanenz und Transzendenz, die bei v. Balthasar als katalogische und analogische Bewegungen angedeutet sind. In diesem von der trinitarischen Gottesliebe eröffneten theodramatischen Raum hat jeder Christ die Möglichkeit der Transzendenz und der unmittelbaren Schau zu Gott und ist zur Vermittlung als Weitergabe des Geschauten gesendet worden. In der Vermittlung im christlichen Leben sind aber Differenz und Unterschied zwischen Vermittelndem und Vermitteltem nicht zu tilgen wie bei Jesus, in dem das Vermittelnde und das Vermittelte in Einheit stehen. Soviel wäre im Glauben und in der Liebe eine unmittelbare, vor allem auf die Gestalt Jesu Christi gerichtete Schau nicht wahrzunehmen. Denn Theo-logie kann nur im Glauben sinnvoll vermittelt werden, und Gott ist die Liebe, wie der Lieblingsjünger Johannes überliefert. 21 22 23 J. Möller, Art. „Vermittlung“ in: H. Fries (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe II, 771f. Vgl. H. U. von Balthasar, Theologik II, Wahrheit Gottes, 42-45. Vgl. A. M. Haas, Hans Urs von Balthasar – Vermittlung als Auftrag, 24f. 194 8.1.3 Transzendental-kategoriale Vermittlung bei Karl Rahner Während man bei Hans Urs von Balthasar die Hervorhebung der Absolutheit der göttlichen Liebe beobachtet und damit seine Theologie als eine „von oben“ bezeichnen kann, ließe sich der Ansatz Karl Rahners zu einer Theologie „von unten“ rechnen, die sich vor allem nach einer anthropologischen Begründung der Offenbarung ausrichtet. Natürlich behält jede Position auch die andere Position vor Augen, um irgendwie die gesamte Wirklichkeit der göttlichen Offenbarung zu erfassen. Dies gilt auch für Rahner, dessen theologische Werke nach der transzendentalen Wende konzipiert sind. So untersuchen wir im folgenden, wie die Theologie Rahners beiden Seiten Rechnung trägt. Wir werden sehen, dass es bei dem Ansatz Rahners vor allem auf die transzendental-kategoriale Vermittlung der Offenbarung ankommt. Zunächst gehen wir von der „Selbstmitteilung Gottes“ aus, welche in Rahners Theologie als Zentralbegriff bezeichnet werden kann. Rahner entwickelt sie als „Schlüsselbegriff für die Theologie“24, um das grundlegende Verhältnis von Gott und Welt, das Ganze des christlichen Glaubens in das neue Licht des Glaubensbewusstseins zu stellen. Dabei leitet er den Ansatz für diesen Begriff natürlich aus der Heils- und Offenbarungsgeschichte ab, die ihren irreversiblen Höhepunkt in Jesus Christus erreicht hat. Der Begriff der Selbstmitteilung Gottes ist für ihn Ausdruck der verstandenen Erfahrung des gesamten christlichen Heilsgeschehens. Theologisch setzt er aber auch bei der traditionellen Lehre von der unmittelbaren Anschauung Gottes (visio beatifica) an, in der Gott unmittelbar, ohne irgendeine geschöpfliche Wirklichkeit als Objekt zur Vermittlung, also nur durch sich selbst gesehen wird. Rahner fasst diesen Bestand allgemein so zusammen: „Mit der Anschauung ist gewöhnlich im theologischen Sprachgebrauch das Ganze des vollendeten Heiles (wenn auch mit einer gewissen terminologischen Überbetonung des intellektuellen Momentes an diesem ganzen und einen Heil) in der vollen und endgültigen Erfahrung der unmittelbaren Selbstmitteilung Gottes selbst durch den in freier Gnade zu einem absoluten und zur vollen Verwirklichung gelangten Willen Gottes zu dieser Selbstmitteilung an den konkreten Menschen gemeint.“ 25 Diese in jedem einzelnen Punkt auszudeutende Aussage besagt zuerst, dass kein von Gott verschiedenes Objekt das Erkennen Gottes, wie er ist, vermittelt, sondern das göttliche Wesen selbst sich unmittelbar, klar und offen zeigt. Gott teilt sich selbst wahrhaft dem Menschen 24 25 K. Rahner, Selbstmitteilung Gottes, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi IV, 523. K. Rahner, Anschauung Gottes, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi I, 159. 195 mit, sodass der unendliche Gott durch eine Selbstmitteilung an die Schöpfung auch der Erkenntnis des endlichen Menschen gegenwärtig wird. Das bedeutet aber über eine bloße Erkenntnis hinaus, dass „das Mitgeteilte wirklich Gott in seinem eigenen Sein und so gerade die Mitteilung zum Erfassen und Haben Gottes in unmittelbarer Anschauung und Liebe ist.“26 Um die ontologische Wirklichkeit der Selbstmitteilung Gottes begrifflich klarer darzustellen, bringt Rahner das Modell quasi-formaler Ursächlichkeit ein, indem er formale Ursächlichkeit von effizienter Ursächlichkeit unterscheidet27 und auf das Verhältnis Gottes zum Geschöpf im Fall der visio beatifica in analoger Weise (quasi-) anwendet. Nach der scholastischen Erkenntnis-Metaphysik ist die Erkenntnis zunächst ein realer Vorgang, der der realontologischen Bedingungen und Gründe seines wirklichen Geschehens bedarf. Dabei wird die Erkenntnis durch die Vermittlung eines solchen realen Grundes gegeben, und wenigstens das Bewirkte ist vom Wirkenden unterschieden (effiziente Ursächlichkeit). Aber in dem Fall der unmittelbaren Anschauung Gottes wird Gott durch sich selbst die realontologische Bestimmung (forma, species) des geschöpflichen Erkenntnisvermögens. In der unmittelbaren Anschauung ist Gott selbst nicht nur unmittelbarer Gegenstand, sondern auch unmittelbarer Grund der Anschauung. In diesem Sinne wird Gott selber in einer quasiformalen Ursächlichkeit, also durch die Selbstmitteilung, zur Bestimmung des endlichen Geschöpfes.28 In diesem Sinne kann und muss man sagen, dass sich Gott in seiner Selbstmitteilung wirklich zu einem inneren konstitutiven Prinzip des Menschen macht, dass der Geber sich selbst in sich und durch sich selbst der Kreatur als ihre Vollendung zu eigen gibt.29 Durch die Selbstmitteilung verliert aber Gott nicht seine absolute seinshafte Selbstständigkeit. Denn die innere formale Ursächlichkeit ist nach Rahner so zu verstehen, dass „die innere konstituierende Ursache ihr eigenes Wesen in absoluter Unberührtheit und Freiheit in sich selber behält.“30 In der Selbstmitteilung kann der unendliche Gott selber die Bestimmung des endlichen Seienden sein und wird dennoch dem Subjekt, das er durch seine Selbstmitteilung konstituiert, nicht untertan und nicht darin aufgehoben. Ohne hier auf die Problematik der Diffe- 26 27 28 29 30 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 124. „Bei einer effizienten Ursächlichkeit ist das Bewirkte wenigstens innerhalb unseres eigenen kategorialen Erfahrungsraumes immer vom Wirkenden unterschieden. Wir kennen aber auch eine formale Ursächlichkeit: Ein bestimmtes Seiendes, ein Seinsprinzip ist ein konstitutives Moment an einem anderen Subjekt, indem es sich selber diesem Subjekt mitteilt und nicht nur etwas von sich Verschiedenes bewirkt, das dann inneres konstitutives Prinzip an dem ist, das diese Wirkursächlichkeit erfährt.“ (ebd., 127). Vgl. K. Rahner, Selbstmitteilung Gottes, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi IV, 521-522. Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 126. Ebd., 127. 196 renz und Einheit von Gott und Seiendem einzugehen, ist somit festzuhalten, „daß Gott sich als er selbst an das Nicht-Göttliche mitteilen kann, ohne aufzuhören, die unendliche Wirklichkeit und das absolute Geheimnis zu sein, und ohne daß der Mensch aufhört, das endliche, von Gott unterschiedene Seiende zu sein.“31 Die Selbstmitteilung Gottes verleiht dem geistigen Wesen „eine gnadenhafte, übernatürliche Dynamik und Finalität auf Gott selbst hin und überhöht die unbegrenzte Transzendentalität der geistigen Person so, daß diese nicht bloß die Bedingung geistiger, personaler und freier Humanität ist, sondern zur Transzendentalität auf die Unmittelbarkeit Gottes selbst hin wird.“32 Diese Selbstmitteilung Gottes nennt Rahner kurz „die transzendentale Selbstmitteilung Gottes“33. Sie ist nach Rahner „schon in einem wahren Sinn Offenbarung“ und kann darum die „transzendentale Offenbarung“ oder besser „das transzendentale Moment der Offenbarung“ 34 genannt werden. Die in der Selbstmitteilung Gottes erhobene Transzendentalität des Menschen auf Gott selbst hin wird aber in der Geschichte der Menschheit vermittelt und objektiviert. Die transzendentale Selbstmitteilung Gottes vollzieht ihr eigenes Wesen in der Heils- und Offenbarungsgeschichte und kommt in dieser Geschichte als in ihrer Vermittlung zu sich selbst und zu uns Menschen. Hier wird das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Moment der Selbstmitteilung Gottes und ihrer geschichtlichen und kategorialen Vermittlung in einer spannungsvollen Einheit festgehalten. Dem Rahnerschen Gedanken der transzendental-kategorialen Vermittlung der göttlichen Offenbarung müssen wir weiter folgen. Die Transzendentalität des Menschen durch die Selbstmitteilung Gottes hat im Menschen eine Geschichte, die wir Heils- und Offenbarungsgeschichte nennen. Die göttliche Selbstmitteilung ereignet sich also in der Geschichte des Menschen und der einen Menschheit überhaupt. Gott teilt sich selbst den Menschen mit. Das bedeutet dann auch, dass Gott sich in den Menschen, in die menschliche Geschichte setzen kann. So geschieht die göttliche Selbstmitteilung. Was die Selbstmitteilung Gottes ist, besagt auch, dass „Gott selbst wirklich ‚Geschichte‘ als seine eigene haben kann und sie nicht nur als das andere von sich schöpferisch absetzt.“35 Um sich selbst aus absolut freier Liebe mitzuteilen, ruft der unendliche Gott die Welt und den 31 32 33 34 35 Ebd., 125f. K. Rahner, Kirche, Kirchen und Religionen, in: ders., Schriften zur Theologie VIII, 359. Ebd., 360. K. Rahner, Atheismus und implizites Christentum, in: ders., Schriften zur Theologie VIII, 209. K. Rahner, Selbstmitteilung Gottes, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi IV, 522. 197 Menschen als das Andere und den Adressaten dieser Selbstmitteilung ins Dasein,36 und der Heilswille Gottes, der das Heil immer und überall sein lässt, wird selbst in der Weise geschichtlich, dass in der Geschichte das Heil des Menschen wirklich gefunden wird, und dass Gott selbst zur innersten Mitte und zum Grund der menschlichen Geschichte überhaupt wird. Der göttliche Heilswille „wird real, kommt bei uns an, indem er geschichtlich konkret wird, so daß in diesem Sinne seine geschichtliche Erscheinung seine Wirkung und sein Grund ist.“37 So hat die Selbstmitteilung Gottes eine Geschichte als seine eigene, und darum gibt es Heils- und Offenbarungsgeschichte. Diese Heils- und Offenbarungsgeschichte ist nach Rahner Geschichte sowohl von Gott als auch vom Menschen her. Sie ist die Geschichte der Freiheit Gottes und des Menschen. Die Geschichtlichkeit des Menschen als des transzendentalen Wesens hat ihren Grund und ihre Bedingung in der absolut freien, personalen Selbstmitteilung Gottes. Von Gott her ist darum diese Geschichte ein Ereignis der sich schenkenden oder sich versagenden Freiheit Gottes, und in dieser Geschichte zeigt sich Gott, sich selbst mitteilend und dennoch im absoluten Geheimnis bleibend, sich selbst auf die von ihm, dem Ewigen, gegründete Zeit und Geschichte einlassend. Die göttliche Selbstmitteilung als das Ganze des Heiles wird der Freiheit des Menschen angeboten und ereignet sich „unter jener freien Annahme dieser Mitteilung, die wir Glaube, Hoffnung und Liebe nennen in der Freiheit des Menschen“38. Die Heilsgeschichte Gottes erscheint darum in der Heilsgeschichte des Menschen. Die Heils- und Offenbarungsgeschichte ereignet sich überall, wo die Transzendentalität des Menschen durch die Selbstmitteilung Gottes ihre Geschichte hat. All das, was mit der Selbstmitteilung Gottes und deren geschichtlich-kategorialen Vermittlung gesagt ist, kann in einem doppelten Aspekt der Selbstoffenbarung Gottes zusammengefasst werden. Es gibt eine transzendentale und eine kategoriale Seite der einen Offenbarung: „Das Offenbarungsereignis selbst hat somit immer einen doppelten Aspekt: die Konstitution der übernatürlich erhobenen Transzendenz als sein bleibendes, wenn auch gnadenhaftes, aber immer und überall wirksames, auch im Modus der Ablehnung noch vorhandenes Existential, die transzendentale Erfahrung der absoluten und vergebenden Nähe Gottes, auch wenn sie nicht für jeden und in einer beliebigen Weise gegenständlich objektiviert werden kann, einerseits, und die geschichtliche Vermitteltheit, die gegenständliche Objek36 37 38 Vgl. K. Rahner, Inkarnation, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi II, 825. K. Rahner, Erlösung, in: ders. u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi I, 1171. K. Rahner, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, in: ders., Schriften zur Theologie V, 116. 198 tivierung dieser übernatürlich transzendentalen Erfahrung anderseits, die in der Geschichte geschieht, als ganze die ganze Geschichte ausmacht.“ 39 Die zwei Seiten oder der doppelte Aspekt des Offenbarungsereignisses sind unterschieden und zusammengehörig. Beide sind notwendig, damit Selbstoffenbarung Gottes schlechthin sei.40 Wenn sich die Geschichte als gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes erweist und dabei ihre zwei Seiten notwendig sind, stellt sich die Frage, wie sich die transzendentale Seite der Offenbarung zu ihrer geschichtlich-kategorialen Seite verhält. Die Frage nach einem solchen Verhältnis beinhaltet Unterscheidung und Verbindung, also Einheit, der beiden Begriffe. Eine solche „Differenzierung“ unternimmt Rahner mit der anthropologischen Folgerung, dass die Vermittlung von Transzendentalität und Kategorialität ganz und gar dem Wesensvollzug des Menschen als geistig-leiblichem Seienden entspricht. Und er wendet die Einsicht der „transzendental-kategorialen“ Vermittlung auf alle seine methodischen Überlegungen an, wie L. B. Puntel bemerkt. Die Unterscheidung zwischen ‘transzendental’ und ‘kategorial’ spielt im Denken Rahners in methodischer Hinsicht eine zentrale Rolle.41 Wenn auch bei Rahner beide Begriffe nicht ausführlich und umfassend erläutert sind und nicht häufig in seinen „Schriften zur Theologie“ vorkommen, stellt dieses Begriffspaar doch die programmatische Anzeige und die methodische Kurzformel für das ganze Denken Rahners dar.42 Die Bedeutungen der beiden Begriffe lassen sich folgendermaßen skizzieren: Erstens bezeichnet der Begriff „transzendental“ die Qualität einer bestimmten Erkenntnisweise: die eigentümliche Weise der Seins-, Selbst- und Gotteserkenntnis im Sinne der Bedingung der Möglichkeit des thematischen Erkennens; hier kommt der Begriff „kategorial“ entgegen, insofern er gegenständliche Erkenntnis bedeutet.43 Zweitens bedeutet der Begriff „transzendental“ bei Rahner die Qualität einer bestimmten Seinsweise: das der transzendentalen Erkenntnis entsprechende Sein44; demgegenüber steht der Begriff „kategorial“ als dasjenige, was in Kategorien, in obersten Begriffsgattungen fassbar ist.45 39 40 41 42 43 44 45 K. Rahner, Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung, in: ders./J. Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung (Quaestiones Disputatae 25), 15. Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 174. L. B. Puntel, Zu den Begriffen „transzendental“ und „kategorial“ bei Karl Rahner, 191. Vgl. ebd., 197. Vgl. B. v. d. Heijden, Karl Rahner, 102. Dabei ist aber nicht jede transzendental-methodisch aufgewiesene Realität transzendental: „Vielmehr bedeutet ‘transzendental’ dasjenige, was übergegenständlich i s t und somit durch Miterkenntnis [...] und nur so ursprünglich erkannt werden kann, was folglich nur durch transzendentale Methode reflex aufgewiesen werden kann.“ (ebd., 103). Vgl. ebd., 102f. 199 Auf der Grundlage dieser van der Heijden zufolge skizzierten Gegenüberstellung der beiden Begriffe sind deren jeweilige Charakteristika aber noch genauer zu klären. In Bezug auf die erste Bedeutung, nämlich die Erkenntnisweise, setzt Rahner in einer transzendentalen Fragestellung an. Er fragt dem Kantschen Wortsinn von „transzendental“ entsprechend nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, wobei sich der Erkenntnisvollzug im fragenden, erkennenden Subjekt ereignet. Der Gegenstand einer transzendentalen Fragestellung ist dementsprechend das gegenseitige Beziehungs- bzw. Bedingungsverhältnis zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Gegenstand: „Bei dem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zwischen apriorischer, transzendentaler Subjektivität und dem Gegenstand des Erkennens (und der Freiheit) bedeutet die Erkenntnis der apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis im Subjekt notwendig auch ein Moment an der Erkenntnis des Gegenstandes selbst, sowohl hinsichtlich der Frage, welches das metaphysisch notwendige Wesen des erkannten Gegenstandes, als auch der Frage, welches die gerade nicht notwendige, geschichtliche Konkretheit dieses Gegenstandes sei. Eine transzendentale Fragestellung ist somit nicht nur eine Frage zusätzlich zur Frage nach dem ursprünglich und aposteriorisch-empirisch auftretenden Gegenstand, sondern in ihr kommt die Erkenntnis des ursprünglichen Gegenstandes selbst erst zu ihrem vollen Wesen. Die Erkenntnis des erkennenden Subjekts von sich selbst ist immer auch eine Erkenntnis metaphysischer (in einem objektiven Sinn transzendentaler) Strukturen des 46 Gegenstandes selbst.“ Daraus ergibt sich, dass in jeder Erkenntnis eines Gegenstandes die transzendentale Dimension „unthematisch“ gegeben, „ungegenständlich miterkannt“ ist. Die Thematisierung oder Objetivierung dieser transzendentalen Dimension heißt bei Rahner „konzeptuelle Auslegung“ und „begriffliche Theoretisierung“47 und wird auch „kategoriale“ Ebene genannt. So ist die Kategorialität „die thematisierte, ausgelegte, begrifflich theoretisierte Transzendentalität“ und „diese ist auf (Selbst-)Explikation, auf (Selbst-)Auslegung und in diesem Sinne auf Kategorialität angelegt“48. In dieser Unterscheidung und Einheit von „transzendental“ und „kategorial“ steht der Mensch als das fragende, erkennende Subjekt im Mittelpunkt. Die Unterscheidung und Einheit beider 46 47 48 K. Rahner, Überlegungen zur Methode der Theologie, in: ders., Schriften zur Theologie IX, 98f. Vgl. K. Rahner, Transzendenzerfahrung aus katholisch-dogmatischer Sicht, in: ders., Schriften zur Theologie XIII, 213. L.B. Puntel, Zu den Begriffen „transzendental“ und „kategorial“ bei Karl Rahner, 190. 200 Begriffe ist „das Grundcharakteristikum jedweden menschlichen Vollzugs“49. Rahner sagt darum grundsätzlich: „Denn jedes echte metaphysische Apriori hat das Aposteriori nicht einfach ‘neben’ oder ‘nach’ sich, sondern hält es in sich, nicht so freilich, als wäre das Aposteriori, die ‘Welt’ in ihrem positiven Gehalt noch einmal adäquat resolvierbar in reine transzendentale Apriorität, sondern so, daß das Apriori von sich selber her ins Aposteriori verwiesen ist, daß es sich, um wirklich es selbst zu sein, gar nicht in seiner puren Transzendentalität halten kann, sondern sich selbst ins Kategoriale entlassen muß. Die Erschlossenheit des Apriori für das Aposteriori, des Transzendentalen für das Kategoriale ist also nicht etwas Sekundäres, etwa bloß eine nachträgliche Zusammenstückung zweier adäquat scheidbarer Sachund Wissensgehalte, sondern inhaltliche Grundbestimmung der einen Metaphysik des 50 Menschen selbst.“ So wird diese Einsicht bei Rahner vor allem von der metaphysisch fundamentalen Verfasstheit des Menschen als geistig-leibliche Einheit her beleuchtet. Der dabei zugrunde liegende ontologische Grundsatz lautet: „Das Seiende ist von sich selbst her notwendig symbolisch, weil es sich notwendig ‘ausdrückt’, um sein eigenes Wesen zu finden.“51 Von diesem Grundsatz her, der die Struktur des Symbols im allgemeinen beschreibt, können wir folgenderweise formulieren: Selbstverwirklichung eines Symbols besteht in der Selbstauslegung in ein frei gesetztes und als eigen behaltenes Andere seiner selbst: „Die Transzendenz entläßt die Kategorialität aus sich selbst, und zwar als das ihr eigene Andere, damit sie selber sein kann.“52 Dies ist bei Rahner die Grundeinsicht der transzendental-kategorialen Vermittlung, die sich in fast allen theologischen Sachverhalten durchsetzt. 49 50 51 52 Ebd., 191. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 404. K. Rahner, Zur Theologie des Symbols, in: ders., Schriften zur Theologie IV, 278. B .v .d. Heijden, Karl Rahner, 117. 201 8.2 Zur sakramentalen Struktur 8.2.1 Heilsvermittlung und sakramentale Struktur Im Christentum besteht das Heil des Menschen darin, dass die unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch durch Gottes Liebe und Gnade im Innersten des Menschen überwunden wird. Diese Glaubenswahrheit ist in erster Linie christologisch grundgelegt. Denn das von Gott dem Menschen zugedachte Heil ist in Jesus Christus als Gott-Mensch unüberholbar und unwiderruflich vollendet, und alles Heil wird nun von und in ihm vermittelt. Er ist einzig wahre Mitte, von der die göttliche Liebe und Gnade verströmt und an der der glaubende Mensch die Gegenwart Gottes erfahren darf. In ihm haben sich das Göttliche und das Menschliche reibungslos vereinheitlicht. Im folgenden behandeln wir die Frage, welche Struktur diese christologisch sakramentale Vermittlung des Heils besitzt und wie sie näher beschrieben werden kann. Wie Unmittelbarkeit und Vermittlung theologisch gedacht werden kann, haben wir oben anhand zweier großer Theologen des 20. Jahrhunderts gesehen. Dabei lautet der Grundsatz: Durch die in der Offenbarung erschienene Liebe und Gnade Gottes ist der Mensch in die unmittelbare Nähe Gottes erhoben, ohne dass dabei aber die Unterschiedenheit und Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf einfach aufgehoben wird. In seiner Unendlichkeit und Unantastbarkeit bleibend teilt Gott sich selbst mit, und der Mensch als sein – wesentlich ungleicher – Partner nimmt so über sich hinaus an der transzendenten Dynamik der Gottesbeziehung teil. Diese Glaubensüberzeugung gilt als eine grundlegende Voraussetzung jeglicher Vermittlung, die wegen der menschlichen Endlichkeit und wegen der unauflösbaren Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch notwendig scheint. Die in Gottes Einlassen auf die Schöpfung begonnene und in Offenbarungsereignissen kundgetane Liebe Gottes ist also sowohl von der göttlichen Liebe wie auch von der menschlichen Verfassung her auf geschöpfliche und geschichtliche Vermittlung angewiesen, wobei eben diese Vermittlung keinesfalls als Bedingung der Gottunmittelbarkeit gedacht werden kann. Wie bei Rahner deutlich gesehen, unterscheidet sich die Vermittlung des Heils in der göttlichen Liebe und Gnade von Mitteilungen, von Informationen oder Nachrichten, die immer schon in einem äußeren Verhältnis zwischen Form und Gehalt verfasst sind. Durch geschöpfliche und geschichtliche Vermittlung ist Gott im Innern des Menschen gegenwärtig. Damit treten Gott und Mensch in eine wesentlich von Gott eröffnete innere und kommunika- 202 tive Beziehung, ohne dass dabei die Erhabenheit Gottes und die Eigenschaften des Menschen zusammenfallen. Abgesehen davon, wie die Freiheit des Menschen und sein Ja oder Nein zum Angebot Gottes zu denken sind, können wir die Struktur dieser Vermittlung „sakramentale Struktur“ nennen. Um zu verdeutlichen, wie und weshalb die Struktur der Heilsvermittlung als „sakramental“ zu bezeichnen ist, sind zunächst einige Perspektiven der allgemeinen Sakramententheologie zu betrachten. Die Heilsgeschichte, die Gott und den Menschen verbindet, ist eine Geschichte der Vermittlung seiner Liebe und Gnade. Konkret und phänomenologisch gesehen aber ist die menschliche und geschichtliche Vermittlung des göttlichen Heils vor allem in sprachlichen, institutionellen und kirchlichen Vollzügen am Werk. Darunter haben die Sakramente traditionell im Alltag der katholischen Kirche eine hervorragende Bedeutung und Position. Im Geschehen der Sakramente tritt jene sprachliche, institutionelle und kirchliche Heilsvermittlung deutlich zum Vorschein. So hat sich die katholische Theologie oft auf die Sakramententheologie konzentriert und wurde in vielen Bereichen vom Sakramentenverständnis geprägt. Eine grundlegende dogmatische Definition des Sakramentenbegriffs, wie sie im Weltkatechismus gelehrt wird, lautet: „Die Sakramente sind von Christus eingesetzte und der Kirche anvertraute wirksame Zeichen der Gnade, durch die uns das göttliche Leben gespendet wird. Die sichtbaren Riten, unter denen die Sakramente gefeiert werden, bezeichnen und bewirken die Gnaden, die jedem Sakrament zu eigen sind. In Gläubigen, die sie mit der erforderlichen inneren Haltung 53 empfangen, bringen sie Frucht.“ Aus diesem kleinen Abschnitt lassen sich viele der Probleme entwickeln, mit denen sich die Sakramententheologie beschäftigt. Ohne auf alle Probleme einzugehen, sei eine kurze Formel hervorgehoben, die für den allgemeinen Begriff des Sakraments wichtig ist: Sakramente sind „wirksame Zeichen der Gnade“. Wie auch die traditionelle Definition besagt, bewirkt das sakramentale Zeichen, was es bezeichnet.54 Der grundliegende Gedanke ist, dass das äußere Zeichen auf das Innerliche verweist und dieses vergegenwärtigt. Sakramente als Gnade bezeichnende und bewirkende Zeichen verweisen auf die göttliche Gnade und vergegenwärtigen in sich das Heil, das durch jene göttliche Gnade den Menschen angeboten ist. In diesem Sinne hat die Tradition des Christentums auch die Schöpfung als Sakrament verstanden, das heißt, in der Schöpfung teilt der unendliche Gott sich selbst dem Anderen mit, und die Schöpfung 53 54 Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1131. Vgl. G. Koch, Sakramentenlehre – Das Heil aus den Sakramenten, 312- 314. 203 verweist auf den Schöpfer. Die Heilsgeschichte, die mit der Schöpfung begonnen hat und weiter zwischen Gott und Menschen besteht, hat „eine sakramentale Struktur“, und zwar in dem Sinne, „daß die von Gott ausgehende und durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch zu ihm heimkehrende Bewegung immer präzisere sakramentale Züge annimmt.“55 Die „sakramentalen Züge“ beruhen im Glaubensverständnis „nicht nur auf menschlichem Verstehen und menschlicher Deutung“, sondern sind „mit ausdrücklicher Verheißung und wirksamer Zusage Gottes verbunden“56. Auf diese Weise ist der Begriff des Sakraments sehr weit gefasst. Die geschichtliche Heilsökonomie wird immer präziser und intensiver und erreicht ihren Höhepunkt im Christusereignis. In dem Sinne, dass Jesus Christus nicht nur auf das unsichtbare Wesen Gottes verweist, sondern er selbst Gott-Mensch ist, kann man ihn das „Ursakrament“ nennen.57 Die dauernde Vermittlung des in Jesus Christus restlos zugesagten göttlichen Heils für die Menschen geschieht vor allem in sprachlichen, institutionellen und kirchlichen Vollzügen. Obwohl diesbezüglich die institutionellen Sakramente im engeren Sinn traditionell im Leben der katholischen Kirche eine besondere Position einnehmen, kann man das sakramentale Vermittlungsereignis nicht nur im Vollzug dieser sieben Sakramente sehen. So wie Jesus Christus als Ursakrament bezeichnet werden muss, kann auch die Kirche selbst und ihr ganzes Leben als Sakrament verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass ein Sakrament die vergegenwärtigende Vermittlung der göttlichen Liebe und Gnade ist und das Vermittelnde dabei in eine innere Beziehung mit dem Vermittelten eintritt. So begreift die katholische Theologie die Kirche als Grund- oder Wurzelsakrament und erörtert die institutionellen Sakramente vor dem Hintergrund des sakramentalen Vollzugs der Kirche an sich.58 Wenn man nicht nur von Jesus Christus sondern auch von der Kirche als Sakrament spricht, ist zu beachten, dass beide natürlich in Inhalt und Wirkungsverhältnis zu unterscheiden sind. Während Jesus Christus selbst das ist, worauf er verweist und was er vergegenwärtigt, steht die Kirche nicht in derselben Einheit wie das Christusereignis. An dieser Stelle ist nur wichtig zu sehen, dass beide im Hinblick auf die Heilsvermittlung in gleicher Struktur verfasst sind, die wir als „sakramentale Struktur“ bezeichnen. Sakramente sind also wirksame Zeichen der göttlichen Liebe und Gnade. Sie vermitteln und vergegenwärtigen das von Gott zugesicherte 55 56 57 58 H. Vorgrimler, Sakramententheologie, 41. Ebd. Diese Einsicht vertreten heute fast alle katholischen Sakramententheologien. Dies ist deutlich zu sehen vor allem bei K. Rahner. Vgl. dazu ders., Kirche und Sakramente. 204 Heil für die Menschen. In diesem allgemeinen Sinn der Sakramente und ihrer Struktur könnte man alle Vermittlungen des Heils begreifen, in denen der gläubige Mensch in der Welt erfahren und erleben darf, wie er in die unmittelbare Nähe Gottes eingelassen ist. 8.2.2 Das Verhältnis zwischen Vermittelndem und Vermitteltem Die Struktur der Vermittlung der Gottunmittelbarkeit nennen wir also im allgemeinen „sakramentale Struktur“. Während die Initiative auf Gott und seine Gnaden zurückzuführen ist, besitzen die Gläubigen im Glaubensleben die Möglichkeit, sich das Heilsmysterium zu eigen zu machen. Jeder glaubende Mensch hat in der Verkündigung des Wortes und in den ritualen Vollzügen der Kirche an den Heilstaten Jesus Christi teil, die er durch sein Leben und Sterben, durch seine Auferstehung ein für allemal vollzogen hat. Im Sinne einer Sakramententheologie bewirken und vergegenwärtigen die Sakramente als wirksame Zeichen die göttliche Gnade. Damit ist die sakramentale Struktur eine Struktur der Vermittlung. Im Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Vermittlung und Unmittelbarkeit stellt sich nun die Frage, wie die Beziehung zwischen sakramentalem Zeichen und Gnade, die durch die sakramentale Vermittlung hervorgebracht wird, beschrieben werden kann. Wie ist die Bewirkung und Vergegenwärtigung der göttlichen Gnade und Liebe in der materialen Welt und im Menschlichen zu verstehen? Woran entscheidet sich diese Vergegenwärtigungsstruktur und damit die sakramentale Struktur im allgemeinen? Dies entfalten wir wiederum in Anlehnung an einige Perspektiven der Sakramententheologie. Hinsichtlich der soeben gestellten Fragen beschäftigt sich die katholische Sakramententheologie mit dem Problem der Wirkungsweise und der Wirksamkeit der Sakramente. Verfolgt man die Geschichte der Theologie, zeigt sich, dass dieses Problem bereits in vielfältiger Weise erörtert worden ist, vor allem in dem Versuch, Sakrament allgemein zu definieren.59 59 Das Problem der Wirkungsweise und der Wirksamkeit der Sakramente tritt vor allem bei Hugo von St. Viktor († 1141) deutlich zutage. Er bezeichnetet die Sakramente nicht nur als Zeichen, sondern auch als „Medizingefäße der Gnade“. Nach diesem an therapeutische Modelle angelehnten Gedanken ist im Sakrament die göttlichen Gnade wie Arznei enthalten, die durch das Spenden des Sakramentes den Kranken und Sündern die Heilung bringt. Die Gnade als Arzneimittel wird also in den Sakramenten geschenkt, sie ist aber nicht innerlich an die Sakramente gebunden, die eben Gefäße sind und so keine eigene Kraft der Heilung besitzen. In der Wirkungsweise und Wirksamkeit stehen hier dann die Gnade und das Sakrament nicht in einer unmittelbaren Beziehung. Damit ist ein scharfer Trennungsstrich zwischen der Wirksamkeit des materiellen Elementes im 205 Bei Petrus Lombardus († 1160) kommt zum Beispiel der Gedanke von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Sakrament und der Gnade zum Ausdruck. Nach ihm sind die Sakramente sowohl die sichtbare Gestalt der unsichtbaren Gnade als auch „die Ursache der Gnade“, in dem Sinne, dass sie gerade die göttliche Gnade nicht nur bezeichnen, sondern in Wirklichkeit sie bewirken.60 Dieser Gesichtspunkt der Ursächlichkeit führte in der folgenden Zeit zu tiefgreifende Kontroversen. Denn damit war zugleich ein Bedenken ausgelöst, ob der Begriff der Ursache nicht gerade die Überlegenheit Gottes verblenden würde.61 Thomas von Aquin († 1274) beschäftigte sich ebenfalls mit der Frage, wie die Sakramente Ursache der göttlichen Gnade sein können, und schrieb den Sakramenten schließlich eine „instrumentale Ursächlichkeit“ zu. Nach ihm sind die Sakramente Werkzeuge, die dem Empfangenden des Sakramentes tatsächlich und ohne unter Umständen die bezeichnete Gnade verleihen. Dafür unterscheidet er aber zwei Weisen der Ursächlichkeit: Gott als Prinzipalursache (causa pricipalis), die das eigentliche und primäre Subjekt der Gnadenwirkung im Sakrament ist, Sakramente aber als Instrumentalursachen, die Jesus Christus seiner Kirche anvertraut hat und die das von Gott in ihm vollendete Heil in werkzeuglicher Weise – eben aufgrund der Prinzipialursache – verleihen.62 Die Sakramente als Werkzeuge haben die eigene und die werkzeugliche Funktion, beide sind aber auf innigste Weise miteinander verbunden, sodass die Sakramente in der Hand Gottes eine der Seele immanente Wirkung hervorbringen und so eine gewisse übernatürliche Aktivität vollziehen.63 Im sakramentalen Geschehen, kraft des vollzogenen Werks vermitteln also die Sakramente die göttliche Gnade. Zwischen sakramentalem Zeichen und göttlicher Gnade besteht dabei ein ursächlicher Zusammenhang. In und aus dem sakramentalen Geschehen wird das von Gott zugesagte Heil dem Menschen verliehen, der auf dieses Liebesangebot Gottes in Freiheit antwortet und es annimmt. Die Grundprobleme der Ungeschuldetheit der Gnade und der Freiheit des Menschen können an dieser Stelle nicht erörtert werden.64 Auch die Diskurse über die objektive Wirksamkeit der Sakramente sowie den Stand und die Mitwirkung des Empfängers und Spenders können hier nicht weiter verfolgt werden (so etwa die Unterscheidung ex opere operato und ex opere operantis). Vielmehr soll das Augenmerk auf die sakramentale Struktur, 60 61 62 63 64 Sakrament und der Gnadenwirkung in der Seele zu ziehen. Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 1a, 84-86; 100-101. Vgl. Petrus Lombardus, IV Sententiae dist. 1 cap. 4,2. (Spicilegium Bonaventurianum 5, 233). Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 1a, 87-88; 101. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, q 62, a 1 und a 3. Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 1a, 205-207. Vgl. dazu K.-H. Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003. 206 insofern sie die Wesensstruktur der Vermittlung betrifft, gelenkt werden. Die Sakramente bewirken, was sie bezeichnen. Sie vermitteln und vergegenwärtigen das, worauf sie verweisen. In welchem Verhältnis stehen dann das Vermittelnde und das Vermittelte? Genauer auf die Sakramententheologie bezogen lautet die Frage, wie die Beziehung zwischen dem Sakrament als Zeichen und der Gnade als bezeichnetem Inhalt zu beschreiben ist. Die oben beschriebenen Versuche, „Sakrament im allgemeinen“ zu definieren, machen schon die Schwierigkeiten deutlich, wie die Wirkung der heiligen Gnade im Sakrament zu verstehen ist. Das Sakrament als Material und Geschehen ist eigentlich nicht die göttliche Sache selbst. Die göttliche Gnade und Liebe ist keinesfalls an das Sakrament gebunden. Jedoch steht beides auch nicht in einem äußeren Verhältnis. Es bleibt nicht nur bei einer äußerlichen Etikettierung, vielmehr geschieht im Sakrament eine der Materialität innere Veränderung. Die katholische Sakramententheologie ist auf die Glaubensüberzeugung angelegt, dass die Sakramente dem Mitfeiernden und Empfangenden die Gnade Gottes verleihen und so diese hervorbringen. Natürlich ist hier der Gedanke zu vermeiden, die Sakramente würden die Gnade in der Weise bewirken, dass sie Gott zwingen und damit seine Gaben bewerkstelligen könnten. Um die Unbedingtheit Gottes sowie die Wirklichkeit der Welt zu gewährleisten, müssen das Sakrament und die Gnade, das Vermittelnde und das Vermittelte, in der sakramentalen Vermittlung in einer inneren Einheit gedacht werden. Was für die sakramentale Struktur entscheidend ist, ist also das innere einheitliche Verhältnis zwischen dem Vermittelnden und dem Vermittelten. Beides ist verschieden und kommt im Vollzug der Vermittlung zu einem neuen Stand, in dem eine bloße Trennung zwischen beiden nicht möglich ist. Anthropologisch ist diese sakramentale Einheit in der Leib-Seele-Einheit gespiegelt, und diese grundlegende Verfassung des Menschen bildet einen Ausgangspunkt für die fundamentaltheologische Begründung des sakramentalen Geschehens.65 Das Materiale und das Menschliche können dann Ort der Verleiblichung des Göttlichen, ein Ort der Begegnung zwischen Gott und Menschen sein. An diesem Ort vermitteln die Sakramente die Anwesenheit Gottes, der einzig ihren inneren Grund und Inhalt darstellt und das Andere gerade in sein intimstes Verhältnis mit ihm, in die Gottunmittelbarkeit erhebt. Mit K. Rahner gesagt, teilt Gott im Materialen, im Menschlichen, im Anderen sich selbst mit, in den Sakramenten gibt und verleiblicht Gott sich selbst, sodass Gabe und Geber in einer formalen Ursächlichkeit 65 Vgl. H. Verweyen, Warum Sakramente? Regensburg 2001. 207 stehen, als unterschiedene Größe bestehen bleiben, und doch eine untrennbare Einheit bilden.66 In der sakramentalen Struktur stehen also das Zeichen und das Bezeichnete, das Vermittelnde und Vermittelte in einer inneren und nicht in einer äußeren nachträglichen Beziehung. Diese innere Einheit ist noch deutlicher zu fassen, wenn wir weiter auf einen anderen Aspekt sakramentaler Vermittlung eingehen, in dem die Begriffe signum und res betrachtet werden. 8.2.3 Sakramentales Zeichen und Symbolstruktur Sakramente sind wirksame Zeichen der Gnade. Sie bewirken und vergegenwärtigen das, was sie bezeichnen. Sakrament und Gnade, das Zeichen und das Bezeichnete, das Vermittelnde und das Vermittelte, stehen in der vergegenwärtigenden Vermittlung in einer inneren Einheit, in der beide dennoch unterschiedene Größen bleiben und nicht zusammenfallen. Es ist deutlich zu erkennen, dass gerade das sakramentale Verhältnis die Differenzierung zwischen Äußerlichem und Innerlichem voraussetzt. Dies führt aber nicht notwendigerweise zu einem Dualismus, der als Spielart des Gnostizismus das Äußerliche verurteilen und verwerfen würde. Sakramentales Geschehen ist vielmehr eine transzendierende Erhebung des Weltlichen und des Menschlichen. Andererseits stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Sakramente als jene heilige Zeichen zu begreifen sind, in denen sich das Göttliche auf das von sich Verschiedene einlässt und so zu einer inneren Wirklichkeit des Zeichens wird. Anders gesagt, inwiefern unterscheidet sich die sakramentale Struktur von der Struktur eines äußerlich repräsentierenden Zeichens? Eine eindeutige Zuschreibung der Sakramente zur Gattung des Zeichens geht auf Augustinus († 430) zurück, der mit seinem Verständnis von Sakramenten einen großen Einfluss auf die westliche Sakramententheologie hatte. Nach Augustinus sind Zeichen jene Dinge, die in ihrer sinnenfälligen Gestalt über diese selbst hinaus auf etwas Anderes, nämlich das Bezeichnete, verweisen und dieses erkennen lassen: zum Beispiel Rauch auf Feuer, Wort auf Gedanken – allerdings ist das Erstere von natürlicher Art und gehört zu den natürlichen Zeichen (signa naturalia), das Zweite ist abhängig von einer persönlichen Freiheitsentscheidung und gehört damit zu den gegebenen Zeichen (signa data). So unterscheidet Augustinus zwischen dem 66 Vgl. oben Kapitel 8.1.3. 208 Zeichen (signum) und der bezeichneten Sache (res).67 Diese Zeichentheorie geht von der Zweiheit des Seienden aus, die zwischen der geistigen, überzeitlichen und der materiellen, zeitlichen Wirklichkeit besteht. Dabei ist ohne Zweifel das neuplatonische dualistische Denken im Spiel. Im Hintergrund steht aber noch entscheidender der Glaube an die Heilsökonomie Gottes, der den ganzen Menschen und die ganze Welt in Erlösung und neuer Schöpfung aufrichtet. Die Sakramente sind daher nicht nur sinnenfällige, gegebene Zeichen, sondern auch heilige Zeichen, denn sie bezeichnen die heilige, übernatürliche Sache, die in der göttlichen Heilsgeschichte, im Erlösungswerk Christi, verwirklicht worden ist. In ihnen wird das im Vollzug der Kirche letztlich von Christus gewirkte Heil Wirklichkeit. In diesem Sinne sind die Sakramente sowohl Zeichen für etwas als auch die heilige Sache, die sie bezeichnen, selbst. Sie sind zugleich signum und res. Damit hebt sich bei Augustinus das sakramentale Zeichen wesentlich von allen anderen Zeichen ab, tritt über ein externes Verweisverhältnis und eine reduzierte Erkenntnisrelation hinaus und wird in ontologischen Bezügen relevant. Die Heilswirklichkeit ist durch das materiale Sakrament bezeichnet und in ihm enthalten, in gleichzeitiger Unterscheidung und Identität gehen beide nicht ineinander auf. 68 Die Augustinischen Begriffe signum und res sind bis in die heutige Sakramententheologie erhalten geblieben. Die hochscholastische Theologie führt eine weitere Präzisierung ein, indem sie eine dreifache Unterscheidung macht. Ihr zufolge ist das Sakrament zunächst ein äußeres, bloßes Zeichen, das in Anlehnung an die aristotelische Terminologie aus Materie und Form zusammengesetzt erklärt wird. Es ist damit nicht zugleich Inhalt bzw. Sache und wird daher sacramentum tantum genannt. Die letzte Wirkung des Sakraments, die seinen inneren Inhalt bildet, ist die göttliche Gnade selbst und wird wie in der Augustinischen Tradition als res sacramenti bezeichnet. Diese ist aber selbst kein Zeichen, weil sie nicht für etwas steht. Zwischen diesen beiden Elementen gibt es aber ein Mittleres, das unmittelbar eine innere Wirkung des Sakramentes darstellt, zugleich aber noch als Zeichen für die letzte Wirkung, eben die Gnade, verstanden wird. Dieses Mittlere, innere personales Geschehen, wird dann sacramentum et res genannt. Diese dreifache Unterscheidung war vor allem hinsichtlich jenes Mittleren zunächst nicht unumstritten und wurde in unterschiedlicher Form übernommen. Das Mittlere konnte zum Beispiel mit dem sakramentalen Charakter gleichgesetzt oder durch die 67 68 Vgl. Augustinus, De Doctrina Christiana II,3,4. Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 1a, 38-46; A. Ganoczy, Einführung in die katholische Sakramentenlehre, 15-19. 209 Gedanken des Seelenschmucks oder einer inneren Disposition erklärt werden. Diese Dreiheit haben die mittelalterlichen Theologen versucht, auf die einzelnen Sakramenten anzuwenden.69 Was eine doppelte oder dreifache Unterscheidung innerhalb des sakramentalen Vollzugs aber zeigt, ist, dass sich die sakramentale Struktur wesentlich von der allgemeinen Struktur eines bloßen Zeichens abhebt. Das sakramentale Geschehen hat nicht nur Verweisstruktur, sondern ebenso sehr Realitätsstruktur. Diese stellt sich folgendermaßen dar: Ein zunächst äußeres Zeichen macht in und aus sich das, was es bezeichnet, zur unmittelbaren Realität. Die heutige Theologie erklärt das mit Hilfe des Symbolbegriffs, der im 20. Jahrhundert weitgehend den Zeichenbegriff ersetzte. Abgesehen davon, dass damit das Symboldenken für die heutige Sakramententheologie eine ähnliche Schlüsselfunktion einnimmt wie das Ursachedenken der aristotelisch orientierten Scholastik des Hochmittelalters70, gelangt das Sakramentenverständnis mit Hilfe des Symbolbegriffs zu einer noch vertieften Dimension. Der theologische Symbolbegriff ist vor allem K. Rahner zu verdanken, der aufgrund der ontologischen Vielheit des Seienden – schließlich zur Verehrung des heiligen Herzens Jesu Christi – eine Symboltheologie entwickelt hat. Diese ist im folgenden Exkurs ausführlicher dargestellt. Bevor die sakramentale Struktur im Symbolbegriff verdeutlicht wird, ist eine genauere Unterscheidung und Bestimmung erforderlich. Denn der Begriff „Symbol“ wird wissenschaftlich und auch theologisch in verschiedenem Sinne verwendet.71 Das aus dem griechischen „symballein“ hergeleitete Wort „Symbol“ (symbolon) bedeutet ursprünglich ein Erkennungszeichen. Ein Teilstück eines durchgebrochenen Gegenstandes wie Ring, Täfelchen oder Münze dient zur späteren Identifikation beim Wiedersehen durch Zusammenfügung der geteilten Hälften. Daraus erwächst die Verwendung eines Siegels oder Kennzeichens, das als Ausweis von Boten oder als Zeugnis für Staatsverträge und Vereinbarungen im kaufmännischen Verkehr dient.72 In der Religionswissenschaft sind mit Symbolen in erster Linie Gestalten und Riten gemeint, die die religiösen Bedeutungen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Über diese sinnbildliche, verweisende Funktion des Symbols hinaus 69 70 71 72 Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 142-144. Vgl. F.-J. Nocke, Sakramententheologie, 68. Vgl. Art. „Symbol“, in: 3LThK Bd. 9, 1154-1161; D. Zadra/A. Schilson, Symbol und Sakrament, FreiburgBasel-Wien, 1982; W. W. Müller, Das Symbol in der dogmatischen Theologie. Eine symboltheologische Studie anhand der Theorien bei K. Rahner, P. Tillich, P. Ricoeur und J. Lacan, Frankfurt a. M. u. a. 1990; J. Splett, „Realsymbol“ – Zur Anthropologie des Sakramentalen, in: G. Oberhammer/M. Schmücker (Hg.), Raum-zeitliche Vermittlung der Transzendenz. Zur „sakramentalen“ Dimension religiöser Tradition, Wien 1999. Vgl. M. Plümacher, Art. „Symbol/symbolische Form, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 1572. 210 gibt es aber auch ein tiefgehendes Symbolverständnis, nach dem ein Symbol in seiner aktuellen Gestalt „Teilhabe des Heiligen“ ist. In dem Symbol lässt sich das Bezeichnete, das Heilige selbst, auf die materiale Symbolhandlung ein und gibt dem Menschen Anteil an sich.73 Vor diesem Hintergrund kann man zwei Stufen von Symbolen unterscheiden. Die Symbole wie Anzeichen, Chiffren oder Signale sind bloß äußere Zeichen, die für etwas Anderes stehen und gerade für dieses Abwesende eine informierende oder kennzeichnende Bedeutung tragen. Dieser Gruppe von Symbolen gegenüber gibt es aber auch solche, in denen die symbolisierende Wirklichkeit sich nicht nur erkennen lässt, sondern zur Realität wird. Diese wirksamen, realisierenden Symbole kann man mit K. Rahner „Realsymbole“ nennen. Ebenso wie das sakramentale Zeichen sich von den anderen Zeichen unterscheidet, so ist das Realsymbol verschieden von den Symbolen des Alltags. Diese sind die Träger eines zwischen mehreren Teilnehmern vereinbarten Sinns und vertreten von ihnen unabhängige, nachträgliche oder vorgängige Gehalte, solange diese Übereinkunft von allen akzeptiert und erinnert wird. Ein exemplarisches Beispiel hierzu sind die Verkehrssignale. Die Realsymbole aber besitzen neben dieser Verweisfunktion wesentlich eine Wirksamkeit. Sie realisieren, was mit ihrer Symbolstruktur bezeichnet ist. In und mit dem Symbol drückt sich das, worauf es verweist, aus und präsentiert sich selbst. Die realisierende Kraft des Realsymbols kann sprachwissenschaftlich mit der sogenannten performativen Rede verglichen werden, mit der wir uns im folgenden noch hinsichtlich des Derridaschen Schriftbegriffs auseinandersetzten werden. Außerdem ist das Symbol, im Sinne des Realsymbols, ein Vollzugsgeschehen des menschlichen Daseins, das sich selbst im Materiellen und Weltlichen auszudrücken vermag. In diesem Sinn ist der menschliche Leib das prägnante Realsymbol eines Menschen, sofern er als geistiges Lebewesen in seinem Leib verwirklicht ist. Bevor wir diese Einsicht mit Rahner näher beleuchten, können wir mit Th. Schneider in Bezug auf die Sakramententheologie resümieren: „Die Sakramententheologie spricht vom Kommen Gottes in der menschlichen Geschichte, vor allem von seiner Selbsterschließung in Jesus Christus, also vom ‚Zusammenfall‘ göttlichen Zugriffs und menschlicher Ergriffenheit. Mit Blick auf dies(es) Geschehen erhält der Begriff Symbol einen vertieften, weiterreichenden Sinn, weil er eine reale und zugleich 73 Vgl. H. Bürkle, Art. Symbol, in: 3LThK Bd. 9, 1154. 211 zeichenhafte Vermittlungsweise zwischen Gott und Mensch anspricht und beschreiben 74 will.“ Die Sakramente sind geschichtlich-gemeinschaftliche Vollzüge und Ort der Begegnung zwischen Gott und Menschen. Ihre grundlegende Struktur kann mit der zunächst ontologisch verstandenen Symbolwirklichkeit erfasst werden.75 Hier ist die Symbolwirklichkeit und -struktur dadurch gekennzeichnet, dass das Bezeichnete, das Sich-Symbolsierende, sich in einem Symbol, also in einem Anderem ausdrückt und so zur Realität wird. Diese Grundstruktur könnte dann im weiten Sinn für alle Vollzüge des Menschlichen und der Welt gelten. Der Mensch verwirklicht sich zuallererst in seinem Leib als Symbol und geht in derselben Weise mit den anderen Menschen und der Welt um. Der Mensch kann als „animal symbolicum“76 bestimmt werden. In der realsymbolischen Vermittlungs- und Verwirklichungsstruktur ist auch jenes Verhältnis der Einheit verfasst, das wir bezüglich der sakramentalen Struktur beleuchtet haben. Symbolwirklichkeit als Bezugsgeschehen zwischen dem Sich-Symbolisierenden und dem (Real)Symbol, zwischen dem Inhalt und seinem Symbol, erschöpft sich keinesfalls in der äußeren Zeichenstruktur, sondern besteht in einer inneren Einheit. Insofern und nur in diesem Sinne spricht man von der Vermittlungsstruktur der göttlichen Unmittelbarkeit als sakramental, und kann diese sakramentale Struktur mit der Struktur und Wirklichkeit des Realsymbols verdeutlichen. 74 75 76 Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, 7f. Der Begriff des Realsymbols für die Sakramententheologie ist in interpersonalen und kommunikativen Perspektiven zu ergänzen und erweitern, wie A. Schilson bemerkt: „die Zeichen-Wirksamkeit der Sakramente wird durch die Verstehenskategorie der kommunikativen Handlung vielmehr verdeutlicht und in dieser untrennbaren wechselseitigen Verknüpfung einsichtig.“ (ders., Das Sakrament als Symbol, 137). Zur Erörterung des sakramentalen Geschehens anhand der Kommunikationstheorie vgl. P. Hünermann, Sakrament – Figur des Lebens, in: R. Schaeffler/ders., Ankunft Gottes und Handeln des Menschen, Freiburg u. a. 1977, 51-87; ders., Die sakramentale Struktur der Wirklichkeit. Auf dem Weg zu einen erneuten Sakramentenverständnis, in: Herder-Korrespondenz 36 (1982), 340-345; A. Ganoczy, Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 21984. E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 51. 212 8.2.4 Exkurs: Der Symbolbegriff bei K. Rahner Karl Rahner hat den Symbolbegriff im Aufsatz Zur Theologie des Symbols detailliert ausgearbeitet. Die ontologische Grundkonzeption für diese Symboltheologie liegt schon in seiner Erkenntnismetaphysik in Geist in Welt begründet, und die oben genannte Theorie der (quasi)formalen Ursächlichkeit als Strukturprinzip des Symbols spannt dabei den Bogen von der Erkenntnismetaphysik zur Symbollehre.77 Diese Überlegungen zum Symbol spiegeln sich dann vor allem in den Aufsätzen zur Herz-Jesu-Verehrung und zu den Sakramenten wieder und bleiben in seinen Schriften vielfach präsent, auch wenn keine ausdrücklichen Hinweise formuliert werden. Die folgende Bearbeitung wird sich weitgehend auf den Artikel Zur Theologie des Symbols stützen. Für den Symbolbegriff setzt Rahner zunächst allgemein bei der Symbolstruktur des Seienden an. Als „Grundprinzip einer Ontologie des Symbols“ lautet dabei der Grundsatz: „das Seiende ist von sich selbst her notwendig symbolisch, weil es sich notwendig ‘ausdrückt’, um sein eigenes Wesen zu finden.“78 Alles Seiende drückt sich im Symbol als seinem wesensmäßigen Selbstvollzug aus und kommt darin zu sich selbst. Wie bereits erläutert, handelt es sich dabei nach Rahner um das Realsymbol, das auch wesentliches Symbol, Ur-Symbol oder konstitutives Zeichen genannt wird. Es ist zu unterscheiden von bloß arbiträr festgelegten „Zeichen“, „Signalen“ und „Chiffren“ (Vertretungssymbol), die alle auf einer nachträglichen, konventionsabhängigen Übereinkunft zwischen Symbol und Symbolisiertem beruhen.79 Anders als all diese informierenden und verweisenden Symbole bedeuten Realsymbole für Rahner die „höchste und ursprünglichste Repräsentanz, in der eine Wirklichkeit eine andere (primär ‘für sich’ und dann erst für andere) gegenwärtig macht, ‘da-sein’ läßt“80. Um diese höchste und ursprünglichste Weise der Repräsentanz einer Wirklichkeit für sich und für andere, also den ursprünglichen Begriff des Symbols, zu entfalten, geht Rahner in seiner ontologischen Überlegung davon aus, dass „ein Seiendes (d. h. jedes) in sich plural ist und in dieser Einheit des Pluralen – eines ist in dieser Pluralität wesentlich Ausdruck eines anderen – in dieser pluralen Einheit eines ist oder sein kann.“81 Dies gilt nach Rahner nicht nur für das Geschöpfliche, das endliche Seiende, sondern auch für den sich mitteilenden Gott selbst. Von 77 78 79 80 81 N. Schwerdtfeger, Gnade und Welt, 228f. K. Rahner, Zur Theologie des Symbols, in: ders., Schriften zur Theologie IV, 278. Vgl. ebd., 279. Ebd. Ebd., 279f. 213 dem Geheimnis der Trinität und den Offenbarungsdaten her – in der Ontologie der Symbolwirklichkeit sind Rahners theologische Anliegen erkennbar82 – ist zu sagen, dass „es in der höchsten Einfachheit Gottes doch eine wahre und reale (wenn auch ‘nur’ relative) Unterschiedenheit der ‘Person’ gibt und somit, wenigstens in diesem Sinn, eine Pluralität“83. Aus dieser innertrinitarischen Pluralität her kann deshalb nicht behauptet werden, die radikale Einheit sei absolutes Ideal, während innere Pluralität und Unterschiedenheit ein Stigma der Endlichkeit des Seienden und Indiz einer Seinsschwäche ist. Es ist vielmehr durchaus so zu denken, dass „der Pluralismus im geschöpflich Endlichen nicht nur Folge und Anzeichen der Endlichkeit (als bloß negativer Qualifizierung), sondern auch Folge jener göttlichen Pluralität ist (wenn auch nicht als solche natürlich erkennbar), die nicht Unvollkommenheit und Seinsschwäche und -grenze besagt, sondern höchste Fülle der Einheit und gesammelte Kraft eines Seienden.“84 Darum ist die Pluralität eines Seienden gerade als eine Vollkommenheit anzusehen, d. h. die Verschiedenheit oder Unterschiedenheit stellt nicht etwas bloß Vorläufiges, sondern etwas absolut Letztes dar: „Es gibt also eine Unterschiedenheit, die an sich eine ‘perfectio pura’ ist und die schon im ersten Ansatz eines theologischen Seinsverständisses mitgedacht werden muß. Sie ist [...] eine Letztheit der sich mitteilenden Einheit als solcher selbst, durch die diese Einheit selbst 85 konstituiert und nicht gewissermaßen wider ihren Sinn halb zurückgenommen wird.“ So ist das Seiende in seiner Einheit innerlich und in sich plural und diese Pluralität kommt jedem Seienden als Vollkommenheit zu. Das bedeutet dann, dass die pluralen Momente eines Seienden konstitutiv eine innere Übereinkunft unter sich haben und in diesem Sinne die Verschiedenheit gleichursprünglich wie die Einheit ist.86 Die Einheit ist aber zugleich nicht etwas, was nachträglich aus pluralen Momenten zusammengefügt werden kann, und der Grund der Einheit des Seienden liegt nicht in der Pluralität. Die pluralen Momente, die in der Einheit und wegen der Einheit eines Seienden eine innere Übereinkunft unter sich haben müssen, können diese Übereinkunft nicht „als gewissermaßen einfach nebeneinanderliegende Momen- 82 83 84 85 86 Vgl. ebd., 280. In Rahners Ontologie des Symbols spielt immer der Gedanke an das Mysterium der Trinität mit hinein (vgl. ebd., 291-293). Ebd., 280. Ebd., 281. Ebd., 282. Vgl. K. Rahner, Die Einheit von Geist und Materie, in: ders., Schriften zur Theologie VI, 197. 214 te“87 besitzen. Die Einheit geht der Pluralität strukturell voraus, und die Differenz in pluralen Momenten bleibt der Einheit eingeordnet. Dies ist nicht umkehrbar. Wie kann dann die Pluralität des einen Seienden erkannt werden? Nach Rahner kann eine Pluralität in einer Einheit nur so begriffen werden, dass „das Eine sich entfaltet, das Plurale also aus einem ursprünglichst ‘Einen’ in einem Entsprungs- und Abfolgeverhältnis herkommt, die ursprünglichste Einheit, die auch die das Plurale einende Einheit bildet, sich selbst behaltend in eine Vielheit sich entläßt und ‘ent-schließt’, um dadurch gerade sich selbst zu finden“88. Das Seiende als solches geht also in eine Pluralität aus, damit es zur Selbstfindung und Vollendung kommt. Die Pluralität kommt aus übergeordneter Einheit eines Seienden her. Hiermit ergibt sich ein inneres Verhältnis zwischen der Einheit und der Verschiedenheit und dieses Verhältnis lässt sich nach Rahner folgendermaßen beschreiben: Die Pluralität als Vollkommenheit des einen Seienden wird durch „Herkünftigkeit (eigener Art) des Pluralen aus der ursprünglichsten Einheit“ gebildet, sodass „das Plurale eine ursprunghafte Übereinkunft mit seinem Entsprung hat und darum ‘Ausdruck’ des Ursprungs in herkünftiger Übereinkunft ist“89. Mit diesem inneren Bezug ist ein charakteristisches Merkmal für das Realsymbol beschrieben. Beim Realsymbol kommen Einheit und Verschiedenheit seinem Wesen zu und beide sind gleich ursprünglich, während das Vertretungssymbol nur ein nachträgliches Verhältnis zu dem von ihm Symbolisierten einnimmt. Es ist zu sagen: „zu jedem Seienden als solchem gehört eine Pluralität als inneres Moment seiner bedeutungserfüllten Einheit“. Gleichzeitig entsteht doch eine Unvertauschbarkeit zwischen der Einheit und der Pluralität. Die ursprünglichste Einheit vollzieht sich selbst in einem Verschiedenen, legt sich zur Vollendung (in Gott aus Vollendung bzw. wegen Vollendetheit) in eine Pluralität aus. Dieses so begriffene innere Verhältnis ist nach Rahner „ein letztes ontologisches Datum“, „das nicht auf eine abstrakte, bloß scheinbar ‘höhere’ Einheit und Einfachheit reduziert, nicht in eine leere und tote Identität zurückgeführt werden darf“90. So bildet das Seiende zu seiner eigenen Vollendung das von ihm Verschiedene und doch mit ihm Eine. Das so Gebildete ist mit dem Ursprung eins und doch von ihm verschieden, und 87 88 89 90 K. Rahner, Zur Theologie des Symbols, 282. Ebd. Ebd., 283. Ebd., 282. 215 kann insofern ‘Ausdruck’ des Ursprungs und der ursprünglichsten Einheit sein. Seine Übereinstimmung mit dem Ursprung ist schon die Konstitution des Einen als eines Ausdrucks. Von diesen Überlegungen her ergibt sich ein finales Moment im Symbolbegriff: die Pluralität ist „eine durch Herkunft aus einer ursprünglichen Einheit als deren Vollendung (oder: wegen deren Vollendetheit) sich konstituierende derart, daß das als unterschieden Gesetzte eine Übereinkunft und somit ... den Charakter des Ausdrucks oder ‘Symbols’ gegenüber einem Ursprung hat“91. Damit haben wir in Rahners Symboltheorie den Ausgangssatz erreicht: das Seiende ist an sich selbst symbolisch, weil es sich notwendig ausdrückt. Von diesem ursprünglichem Sinn des Symbols leitet Rahner in der ontologischen Belangen eine Folgerung ab. Das Seiende ist selbst symbolisch, insofern es sich zur Vollkommenheit durch eine Pluralität in Einheit vollzieht. Dieser sich in Pluralität setzende Selbstvollzug eines Seienden ist aber nichts anderes als das wissende und liebende Beisichselbersein. Das Seiende „gibt sich in das andere von sich weg und findet darin wissend und liebend sich selber, weil es in diesem Setzen des inneren ‘Anderen’ zu (oder: aus) seiner Selbstvollendung kommt, die die Voraussetzung oder der Akt der wissenden und liebenden Sichselbstgegebenheit ist“92. Das Seiende ist in sich selbst symbolisch, weil es durch den übereingekommenen Ausdruck zu sich selbst kommt. Dieser Ausdruck und insofern das Seiende als Symbolisches ist „die Weise der Selbsterkenntnis, der Selbstfindung überhaupt“93. Diese allgemeine Symboltheorie wird bei Rahner zunächst auf die Erkenntnis eines Seienden durch einen anderen angewendet. Dabei knüpft Rahner an seine Erkenntnismetaphysik an. Das Seiende ist erkennbar und wird erkannt, insofern es „an sich und für sich und deswegen (und insofern) für einen andern symbolisch ist“, d. h. das Seiende macht sich kund, „indem ein Seiendes sich in seine eigene innere (wesenskonstitutive) Andersheit, in seine innere und (im Selbstvollzug entschlossen) behaltene Pluralität als in seinen herkünftigen und so übereinstimmenden Ausdruck vollzieht“94. Solcher Ausdruck ist das Symbol, ohne das das Seiende überhaupt nicht erkannt werden könnte. In diesem Symbolbegriff ergibt sich dann auch von selbst die Formal-Ursächlichkeit, die das Verhältnis zwischen dem Symbolisierten und seinem Realsymbol adäquat zeigt und in der eine Ursprünglichkeit sich nicht erschöpfend entäußert und vermittelt. Die erscheinende Gestalt in der Verschiedenheit ist gerade das Sym91 92 93 94 Ebd., 283f. Ebd., 285. Ebd. Ebd., 286. 216 bol des Formgrundes. Dieses Symbol wird dabei vom Symbolisierten als sein eigener Wesensvollzug gebildet, und im so gesetzten Symbol ist das Symbolisierte anwesend, es setzt sich und teilt sich mit.95 Wir haben jetzt alle Elemente im ursprünglichen Begriff des Symbols bei K. Rahner beschrieben. Das erste: das Symbol bildet sich als Selbstvollzug des Symbolisierten . Zweitens: das Symbol ist vom Symbolisierten verschieden, hat aber zugleich eine innere Zugehörigkeit zu diesem inneren Wesen. Das letzte: durch die Bildung dieses Symbols gelangt das Symbolisierte seinem Wesen als Symbolisiertem gemäß zur eigenen Vollendung.96 In diesem Sinn ist das Realsymbol „der zur Wesenskonstitution gehörende Selbstvollzug eines Seienden im anderen“97. Aufgrund dieser Ontologie des Symbols entwickelt Rahner dann eine Symboltheologie. Für ihn lässt sich die ganze Theologie fast nur als eine Symboltheologie durchführen und daher ist das Symbolverständnis in alle theologischen Sachverhalte einzuführen. So formuliert Rahner selbst: „Der Begriff des Symbols [...] ist in allen theologischen Traktaten ein wesentlicher Schlüsselbegriff, ohne den ein richtiges Verständnis der einzelnen Traktate in sich und im Ver98 hältnis zu den anderen Traktaten nicht möglich ist.“ Nach der Theologie des Symbols erweist sich dann zum Beispiel Jesus Christus, der menschgewordene Logos, als das Realsymbol Gottes, in derselben Denkrichtung die Kirche als das „Realsymbol“ des göttlichen Heils für den Menschen und die Welt. Und daneben ist Rahners Symbolverständnis auch für die Sakramententheologie unverzichtbar, in der die Sakramente als Realsymbole betrachtet werden. Nach Rahner ist die Sakramentenlehre eigentlich „der klassische Ort, in dem in der katholischen Theologie eine Theologie des Symbols überhaupt vorgetragen wird“99. Grundlegend für den Symbolbegriff ist aber die geist-leibhafte Verfassung des Menschen, denn erst am Menschen wird die eigentliche Symbolwirklichkeit und struktur aufgefunden, die auf alle anderen Sachverhalte angewendet werden kann. 95 96 97 98 99 Vgl. ebd., 286-290; Die Formalursächlichkeit kann darum adäquat zeigen, wie die Gnade Gottes unbeschadet göttlicher Erhabenheit und menschlicher Natur sich selbst an uns mitteilt und wirkt. Vgl. auch K. Rahner, Kirche und Sakramente, 31-37. Vgl. K. Rahner, Zur Theologie des Symbols, 290. Ebd. Ebd., 303. Ebd., 299. 217 Der Leib ist also Realsymbol des Menschen. Zum Verständnis dieser Einsicht ist nach Rahner die thomistische Lehre einleuchtend, in der die Seele als „die substantielle Form der materia prima“100 gedacht wird. Der Mensch ist nicht so gegeben, als ob er bloß nachträglich aus einer Seele und einem Leib zusammengesetzt wäre. Der Mensch ist vielmehr so aufgebaut, dass in zwei Wirklichkeiten des einen Menschen eine differenzierte Einheit besteht. So ist der Leib als solcher und ganzer „das von sich her gänzlich potentielle Substrat des substantiellen Selbstvollzugs der ‘anima’“, also „die Aktualität der Seele selbst im ‘anderen’ der materia prima, die selbstgewirkte Andersheit der Seele selbst, also ihr Ausdruck und ihr Symbol“101. Sich selbst mitteilend, realisiert die Seele sich im ihr eigenen und doch von ihr verschiedenen Leib. Insofern der Leib „als der Selbstvollzug der Seele [...] gebildet wird, und sich die Seele in dem von ihr verschiedenen Leib selbst anwesend sein und in ‘Erscheinung’ treten läßt“102, wird der Leib das Realsymbol des ganzen Menschen genannt. Dieses Denken bildet bei Rahner weiterhin den Hintergrund der theologischen Darlegung der Herz-Jesu-Verehrung.103 Mit dem Verständnis des Realsymbols insbesondere an dem Dasein des Menschen lassen sich also „Spontaneität und Rezeptivität, Einheit und Vielheit denken.“104 Rahners Ontologie der Symbolwirklichkeit im allgemeinen und Theologie des Symbols stößt andererseits auf die Kritik, dass die Ursprünglichkeit der Interpersonalität des Symbolgeschehens nicht genügend deutlich werden.105 Wie oben bereits festgestellt, liegt unser und wohl auch Rahners Interesse in erster Linie in der Ermittlung einer Grundstruktur, die alle anderen Dimensionen des Menschen und die Interpersonalität betrifft. Diese Grundstruktur nennen wir die sakramentale bzw. Symbolstruktur. 100 101 102 103 104 105 Ebd., 305. Ebd. Ebd., 306. Vgl. ebd., 306-311; ders., „Siehe dieses Herz!“ Prolegomena zu einer Theologie der Herz-Jesu-Verehrung, in: Schriften zur Theologie III, 379-390; ders., Einige Thesen zur Theologie der Herz-Jesu-Verehrung, in: ders., Schriften zur Theologie III, 391-415; ders., Der theologische Sinn der Verehrung des Herzens Jesu, in: ders., Schriften zur Theologie VII, 481-490; ders., Einheit – Liebe – Geheimnis, in: ders., Schriften zur Theologie VII, 491-508. W. W. Müller, Das Symbol in der dogmatischen Theologie, 111. Vgl. J. Splett, „Realsymbol“. Zur Anthropologie des Sakramentalen, 338. 218 9 Dekonstruktivität in der sakramentalen Struktur 9.1 Eine Bemerkung Ein längerer Weg war notwendig, um die sakramentale Struktur in ihrem Zusammenhang und ihren Implikationen zu begreifen. Die theologische Durchdringung der sakramentalen Vermittlung wird von der Frage geleitet, wie das Heil Gottes alle Dimensionen des Menschen betreffen kann. Diese Gewissheit des christlichen Glaubens wird aber nicht von irgendeiner Deduktion allein abstrakter Sätze, sondern von der Heilsgeschichte her gewonnen, die in Leben und Person Jesu Christi ihren unüberholbaren Höhepunkt erreicht hat. Mit Rahner gesagt, liegt der christlichen Glaubensüberzeugung zugrunde, dass „die Geschichte des Heils, der Gnade, der göttlichen Selbstmitteilung und der Offenbarung in ihrer transzendentalübernatürlichen Voraussetzung (Gnade als übernatürliches Existential und subjektiver ‘Horizont’ jeder möglichen Wortoffenbarung) und in ihrer geschichtlichen Kategorialität (Offenbarungswort, Inkarnation, Kirche) eine strenge Identität hat und dieselbe eine Geschichte ist.“1 Von dieser Heilsgeschichte her ist die sakramentale Struktur in zwei Richtungen zu entwickeln. Zum einen muss die geschichtliche und gesellschaftliche Seite der sakramentalen Struktur „ekklesiologisch“ entfaltet werden. Dort, wo sich die Vermittlung des Heils für die Menschen vollzieht, befindet sich die Kirche. Die eschatologisch vollendete Offenbarung Gottes bleibt also der Kirche anvertraut und wird in ihr weiter vermittelt. So ist die sakramentale Struktur eng mit der Ekklesiologie verbunden, in der nicht nur gemeinschaftliche und amtliche, verkündende und feiernde Vollzüge der Kirche, sondern Wesen und Charakter der Kirche in Bezug auf ihre Sakramentalität erörtert werden. Zum anderen aber sind die christologischen Voraussetzungen und Implikationen der sakramentalen Struktur in den Blick zu nehmen. Denn jede heilsgeschichtliche und sakramentale Vermittlung der Gnade und Liebe Gottes hat ihren Grund und ihre Vorlage in Jesus Christus als dem menschgewordenen Wort Gottes. 1 K. Rahner, Ekklesiologische Grundlage, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Pastoraltheologie I, 120. 219 Vor diesem Hintergrund versuchen wir nun im folgenden die bisher erörterte sakramentale und realsymbolische Struktur aus dekonstruktiven Perspektiven zu denken. Hier könnte man natürlich die Frage erheben, ob es überhaupt möglich ist, Anknüpfungspunkte im Derridaschen Denken für eine theologisch-systematische Problemstellung zu finden. Als philosophischer Denker hat sich Derrida nie direkt mit theologisch-systematischen Themen befasst. Ohne gesondert zu differenzieren, hat er die theologische Tradition als Onto-Theologie in seine Definition von Metaphysikkritik eingeschlossen. Auch seine eingängigen Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Denken, der Negativen Theologie oder mit der Religion gehen im Grunde nicht über philosophisches Terrain hinaus. Sie würden sich höchstens von Seiten einer Religionsphilosophie oder einer Einführung in das Problem des Sprechens von Gott anbieten. Wie die Versuche der theologischen Rezeption seines Denkens in Deutschland zeigen, bleibt der substantielle Beitrag Derridas dekonstruktiven Denkens für die theologischen Traktate eher der eines Anstoßes oder einer Kritik. Daher sind eingehende Differenzierungen erforderlich, wenn man sein Denken für eine theologische Problemstellung wie die der sakramentalen Vermittlung fruchtbar machen möchte. Mit angemessener Behutsamkeit nähern wir uns nun also der Frage, ob nicht vor allem Derridas Begriff der Schrift und damit seine Dekonstruktion der metaphysischen Vermittlungsstruktur beträchtliche Denkanstöße für die Theologie, eben gerade auch für die Problematik der sakramentalen Struktur darstellen könnte. Es wird darauf ankommen, die Dekonstruktion anhand der sakramentalen Struktur zu beschreiben. Im einzelnen werden hier sowohl oben bereits untersuchte Themen zusammenfinden als auch neue Aspekte in den Blick geraten: das Verhältnis zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem bzw. Signifikat und Signifikanten und der sakramentalen Vergegenwärtigung, zwischen Wort und Schrift, Ursprungsdenken und Wiederholung und schließlich das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Bei allen positiven Resonanzen zwischen Dekonstruktion und der Sakramententheologie werden auch kritische Perspektiven bestehen bleiben und es werden sich aus den Überlegungen zur sakramentalen Struktur Anfragen an das Denken der Dekonstruktion ergeben. 220 9.2 Begriffspaar Signifikat-Signifikant und die sakramentale Vergegenwärtigung Derridas Kritik der logo- und phonozentrischen Metaphysik führte ihn letztlich zur Grammatologie. Für diese positive Wissenschaft der Schrift setzt Derrida bei der semiotischen Zeichentheorie von Ferdinand de Saussure an und wendet diese nochmals in poststrukturalistischer Weise. Vor allem aufgrund seiner Beschäftigung mit der Phänomenologie und dem Problem des Zeichens bei Husserl entwickelt sich sein Denken der Dekonstruktion. Die aus diesen beiden Auseinandersetzungen formulierte Arbeit Grammatologie ist sein inzwischen wohl bekanntestes Hauptwerk. Es kann uns helfen, das sakramentale Geschehen in seiner Tiefenstruktur neu zu beleuchten. Dies nicht nur deshalb, weil Derrida in der Grammatologie die Onto-Theologie und die abendländische Tradition der Metaphysik im gleichen Boden verwurzelt sieht2 und damit eine direkte Anfrage an die bislang beschriebenen Konzepte der Sakramententheologie darstellt, sondern auch, weil jenes Begriffspaar Signifikat-Signifikant dem Verständnis der Sakramente inhaltlich sehr nahe steht. Das Begriffspaar ist entscheidender Bestandteil der traditionellen Zeichentheorie und bildet zugleich die Grundlage der dekonstruktiven Zeichen- bzw. Schrifttheorie Derridas. Derrida kritisiert die oben vollzogene Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem anhand des von Saussure übernommenen Begriffspaars Signifikat/Signifikant und formuliert dabei wie folgt eine implizite Anfrage an die Theologie : „Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant gehört zutiefst in die Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche; ausdrücklicher und systematischer artikuliert sie sich in der begrenzteren Epoche des christlichen Schöpfungsund Unendlichkeitsglaubens, der sich die Mittel der griechischen Begrifflichkeit zunutze macht. Die Zusammengehörigkeit ist wesentlich und unauflösbar: man kann die Bequemlichkeit und die ‚wissenschaftliche Wahrheit‘ des stoischen und später des mittelalterlichen Gegensatzes zwischen signans und signatum nicht weiter beanspruchen, ohne daß man 3 auch all seine metaphysisch-theologischen Wurzeln mit übernimmt.“ Auf den ersten Blick kann man annehmen, das Sakrament als heiliges Zeichen sei wesentlich an die traditionelle Zeichentheorie gebunden, und insofern müsste die sakramentale Struktur an der Derridaschen Dekonstruktion zerfallen. Um diesem Verdacht nachzugehen, muss man zuerst Derridas Begriff der Schrift analysieren. Wir haben im ersten Teil dieser Arbeit einige 2 3 Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 13. Auch hier Anm. 3. Ebd., 27. 221 Momente der Derridaschen Dekonstruktion darzulegen versucht, dabei den Schriftbegriff aber nur gelegentlich und andeutungsweise behandelt. In drei Schritten entwickelt Derrida einen neuen Begriff der Schrift. In der Grammatologie, vor allem in deren erstem Teil, setzt er sich zunächst mit der Semiologie Saussures auseinander und versucht dabei das Erbe der abendländischen Metaphysik zu beschreiben. Dann legt er die Tiefenstruktur dieser Theorie, das heißt ihre metaphysisch-hierarchische Orientierung frei und baut schließlich seinen eigenen Begriff der Schrift auf den neu geöffneten Perspektiven auf. Wenden wir uns zunächst einigen wichtigen Punkten der Saussureschen Sprachwissenschaft zu. Saussure wollte eine strenge, wissenschaftliche Linguistik begründen. Diese verstand er letztlich als Semiologie, als System der Zeichen. Für ihn sind mündliches Sprechen (parole) und schriftliche Sprache (langue) zu unterscheiden und allein letztere kann als Zeichensystem Gegenstand einer eigenständigen Sprachwissenschaft sein. Das sprachliche Zeichen besteht Saussure zufolge aus zwei Elementen, aus Vorstellung und Lautbild. Dabei behält er das Wort Zeichen für das Ganze bei, ersetzt aber Vorstellung und Lautbild durch Signifikat (Bezeichnetes) und Signifikant (Bezeichnendes). Die Sprache stellt sich so als ein System der Zeichen dar, die aus Signifikat und Signifikant zusammensetzt sind, dar. Das Zeichen und die beiden gegensätzlichen Elemente sind nicht von vornherein als solche bestimmt, sondern sie sind beliebig, wenngleich es eine bestimmte Sprachgemeinschaft gibt, die sich über die jeweilige Zuordnung einig ist. Denn die Bedeutung und Identität eines sprachlichen Zeichens entsteht für Saussure lediglich durch die Relationen der Elemente, die das Zeichensystem bilden. Nicht positive Vorstellungen oder Inhalte, sondern die negative und differentielle Beziehung zwischen den Zeichen ist das konstitutive Prinzip der Sprache. In der Sprache als dem Zeichensystem gibt es deshalb, so Saussure, „nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Ob man Bezeichnendes oder Bezeichnetes nimmt, die Sprache erhält weder Vorstellungen noch Laute, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung und Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der anderen Zeichen um dieses herum gelagert ist.“4 4 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 143f. Zur Linguistik bzw. Semiologie Saussures vgl. P. Prechtl, Saussure zur Einführung, Hamburg 1994. 222 Für die Dekonstruktion der Saussureschen Zeichentheorie setzt Derrida nun vor allem bei dem von Saussure wieder eingeführten Gegensatz von Signifikat und Signifikant an und sieht darin ein typisches Denkmodell der Metaphysik. In Derridas Augen bleibt dieser Gegensatz bei Saussure einer metaphysischen, hierarchisch-totalisierenden Ordnung verhaftet, in dem Sinne, dass das Signifikat als reine, unabhängige Größe gedacht wird, während der Signifikant unvollkommen und abhängig bleibt. Nach Derrida unterscheidet Saussure nicht nur die beiden Komponenten, sondern mit der Trennung schreibt er dem Signifikat die Seite eines inneren Inhalts zu und während der Signifikant als sekundäre Spur betrachtet wird. „Die Seite des Signifikats wird insofern nicht als eine Spur betrachtet, als sie immer noch ursprünglich von der Seite des Signifikanten unterschieden wird: eigentlich bedarf sie des 5 Signifikanten nicht, um das zu sein, was sie ist.“ Man kann unschwer erkennen, dass Derrida hier im Sinne seiner Metaphysikkritik argumentiert, in der die Logik der Unterscheidung von Innen und Außen sowie die der damit erfolgten Marginalisierung der Außenseite erschüttert werden. Im Hintergrund steht also die Einsicht Derridas, die er durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Husserlschen Präsenzdenken gewonnen hat. Aus dem gleichen Grund wie bei Husserl nennt Derrida daher das Saussuresche Signifikat „transzendentales Signifikat“6, weil dieses schon als eine Voraussetzung der gegensätzlichen Verbindung von Signifikat und Signifikant gedacht werden müsse. Im Saussureschen Gedankengang muss es nach Derrida „ein transzendentales Signifikat geben, damit so etwas wie eine absolute und irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant zustande kommt.“7 Das transzendentale Signifikat lässt sich mit dem Inhalt oder dem Begriff des Signifikanten verknüpfen, bleibt aber selbst von irgendeiner äußeren Geschöpflichkeit unberührt. Dadurch ergibt sich nicht nur die scheinbare Vereinigung zwischen Signifikat und Signifikant, sondern „in dieser Verschmelzung scheint der Signifikant zu erlöschen oder durchsichtig werden, um dem Begriff die Möglichkeit zu geben, sich selbst als das zu zeigen, was er ist, als etwas, das auf nichts anderes als auf seine eigene Präsenz verweist.“8 Hier fungieren Signifikanten nur als äußere Hilfsmittel, die auf eine innere selbstständige Sache verweisen und in deren Anwesenheit jene selbst abwesend sein müssen. 5 6 7 8 J. Derrida, Grammatologie, 128. Zur Kritik des Terminus „transzendentales Signifikat“ bei Derrida vgl. J. Lagemann/K. Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, 96-100. J. Derrida, Grammatologie, 38. J. Derrida, Positionen, 60. 223 Die unabhängige, bezeichnete Seite des Zeichens, Derridas Terminus zufolge das transzendentale Signifikat, „das von seinem Wesen her nicht auf einen Signifikanten verweist, sondern über die Signifikantenkette hinausgeht, und das von einem bestimmten Punkt an nicht mehr die Funktion eines Signifikanten hat“9, ist aber für Derrida eine Illusion. Denn das vom Signifikanten bezeichnete Signifikat nimmt selbst immer schon die Stelle eines Signifikanten ein, genauer: ist selbst nur Teil einer Signifikantenkette. Jedem Signifikat kommt seine Bedeutung letztlich aus seiner Position im Netz der Verweisungen der Signifikanten zu und nicht diese transzendierend. Die Überzeugung, dass „jedes Signifikat auch die Rolle eines Signifikanten spielt“10, vertritt Derrida in der Grammatologie ohne eine direkte Beweisführung. Diese Ansicht entfaltet er auch in seinen anderen frühen Arbeiten, die vor allem um die Begriffe des Zeichens, der Wiederholung und der Spur kreisen. Die Idealität eines Zeichens hängt von der Wiederholung und der Differenz ab, wobei im strikten Sinne jedesmal keinesfalls dieselbe Identität wiederholt wird. Allein die Differenz ohne positive Identität konstituiert das Zeichen. So ist ein Signifikat nichts anderes als ein Signifikant, der lediglich aus der differentiellen Beziehung zu den anderen Signifikanten her seine Identität erhält. Die Sekundarität, die man dem Signifikanten zugeordnet hat, „affiziert“, so Derrida, auch „jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spiels an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen.“11 Saussure hatte diesen Punkt selbst schon richtig gesehen, insofern er Arbitrarität und Differenz als konstitutive Prinzipien des Zeichensystems und der Sprache beschreibt. Nach Derrida widerspricht er aber seinen eigenen Errungenschaften, wenn er die Schrift als „Signifikant des Signifikanten“ abwertet. Neben dem Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant wendet Saussure die Logik der Ausschließung auch auf die Gegenüberstellung von Rede und Schrift an. Bevor wir dies im nächsten Kapitel weiter in Bezug auf Derridas neuen Begriff der Schrift behandeln, ist auf die Frage einzugehen, welche theologische Folge die erörterte Zeichentheorie, vor allem das poststrukturalistische Verhältnis von Signifikat und Signifikant, für die sakramentale Struktur haben könnte. 9 10 11 Ebd., 56. Ebd., 57. J. Derrida, Grammatologie, 17. 224 Wie wir bereits gesehen haben, war die Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant auch bei den mittelalterlichen Theologen bekannt und hatte große Bedeutung für die Sakramententheologie. Man kann sagen, dass dabei die Unterscheidung und Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem scheinbar von der metaphysischen Struktur geprägt ist, worauf Derrida mehrmals hingewiesen hat. Nach Derridas Ansicht ist Saussures Semiologie auf eine strenge Trennung zwischen Signifikat und Signifikant aufgebaut, damit das Signifikat unabhängig von jeglichem Signifikanten der begrifflichen Seite Bedeutung verleihen kann. Saussures Ansatz habe eine kritische Funktion gegenüber der Tradition, sofern diese behauptet, „daß das Signifikat untrennbar mit dem Signifikanten verbunden ist, daß Signifikat und Signifikant die zwei Seiten ein und derselben Sache sind.“12 Saussure hat sogar eindeutig abgelehnt, das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant mit dem traditionellen Gedanken der Leib-Seele-Einheit gleichzusetzen, die von ihm als eine „mit doppeltem Antlitz ausgestattete Einheit“ charakterisiert worden ist.13 Da Differenzialität und Arbitrarität für das Zeichen und die Sprache entscheidende Konstitutionsprinzipien sind, kann keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit zwischen Signifikat und Signifikant bestehen.14 Die sakramentale Struktur entscheidet sich aber an dem einheitlichen Verhältnis zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Müsste dann dieses Derrida zufolge metaphysische Denken in einer semiologischen Perspektive als nur noch in einem vielleicht mystischen Bereich möglich zurückgewiesen werden? Oder nimmt das Sakrament die Stelle des Signifikanten in dem Sinne ein, dass das Sakrament als Ursache der bezeichneten Sache, nämlich einer von ihm unterschiedenen Gnade gedacht wird? Das würde mit der Position des Signifikanten, die Derrida ihm durch die Umstellung der binär-hierarchischen Ordnung zugewiesen hat, durchaus übereinstimmen. Man muss aber unterstreichen, dass die Sakramententheologie immer gleichzeitig an zwei Seiten des Vermittlungsgeschehens festgehalten hat. Zum einen betont sie die unmittelbare Einheit in der sakramentalen Struktur und kann zum anderen gerade das Bezeichnete und das Bezeichnende als zwei verschiedene Größen unterscheiden. Ähnlich wie bei der Verweiskette der Signifikanten befindet sich der Mensch immer schon in den weltlichen und symbolischen Vermittlungen. Derrida kritisiert das transzendentale Signifikat wohl nicht in dem Sinne, dass eine Sinnkonstitution ganz unmöglich wäre. Sie geschieht innerhalb der nicht identischen Wiederholungen und der Kette von Spuren. Entsprechend ist die Ungeschuldetheit der Gnade nirgends von einer Vermittlung einzuholen, diese ermöglicht aber in 12 13 14 J. Derrida, Positionen, 53. Vgl. ebd., 53f. Vgl. J. Derrida, Grammatologie, 81. 225 jedem Sakramentvollzug eine vereinigende Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem und zwischen Gott und Mensch. Für diese Überlegungen stützen wir uns nochmals auf den Begriff der Formalursächlichkeit, den Rahner in Anlehnung an die scholastische Tradition eingeführt hat. Wie festgestellt kann man Sakrament als Zeichen der Gnade, als Realsymbol bezeichnen. Das dabei entstehende Verhältnis zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten oder zwischen Symbol und Symbolisiertem, ist „weder ein Verhältnis transeunter Effizienz [...] noch das Verhältnis einer nachträglichen Verlautbarung eines in seinem Dasein schon fertig Vollzogenen durch eine äußerliche Kundgabe dieses Bestehenden, für das selbst diese Kundgabe gleichgültig wäre“15. Hier handelt es sich um die oben erwähnte Symbol- oder Formalursächlichkeit16. Nach der Symbol- oder Formalursächlichkeit besteht ein Zusammenhang darin, dass das Zeichen vom Bezeichneten real verschieden ist und doch ein inneres Moment am Bezeichneten ist. Das Zeichen ist darum „Ursache des Bezeichneten, indem es die Weise ist, in der das Bezeichnete sich selbst erwirkt“17. In diesem Sinne besagt die sakramentale Ursächlichkeit, dass das Zeichen nicht zunächst getrennt vom Bezeichneten existiert, sondern im Realsymbol das Bezeichnete als Bezeichnetes sich selbst verwirklicht und so selbst real anwesend wird. An diesem inneren Wirkungsverhältnis ist das Sakrament gerade ‘Ursache’ der Gnade. Gott lässt, natürlich aus seinem Heilswillen, das Angebot seiner Gnade im Sakrament greifbar werden, und in dieser raumzeitlich-geschichtlichen Greifbarkeit setzt sich die Gnade Gottes wirksam gegenwärtig, dadurch dass sie jene Greifbarkeit, also ihr Symbol, schafft. Hier hat die Formalursächlichkeit bzw. Symbolwirklichkeit keinesfalls etwas mit Zwangsläufigkeit zu tun, und ebenso ist sie weder die bloße Natürlichkeit noch die anarchistische Beliebigkeit. Es ist in der theologischen Tradition unumstritten, dass die Sakramentalität keinesfalls eine statische, sich in einer weltlichen und geschichtlichen Vermittlung erschöpfende Gegenwart bedeutet. Die göttliche Gnade und Liebe werden dem Menschen immer in und durch die sakramentale Vermittlung gegeben. In einer Formulierung, die wir bereits ohne nähere Definition verwendet haben, ist dies eine „Vergegenwärtigung“, die sich einer statischen Anwesenheit stets entzieht. Die Struktur der sakramentalen Vergegenwärtigung der göttlichen Gnade und 15 16 17 K. Rahner, Kirche und Sakramente, 35. Diese Ursächlichkeit ist nach Rahner zu unterscheiden von verschiedenen Ursächlichkeiten, z. B. effizienttranseunter oder physischer oder moralischer oder intentionaler Ursächlichkeit. (vgl. ebd., 31-34). Ebd., 35. 226 Liebe darf freilich nicht in einer Struktur der identifizierenden Totalität verstanden werden, indem man zum Beispiel alles als Selbstvollzug des Seins oder eine Gegenwart als undifferenzierte Erscheinung des Einen im Anderen versteht. Die Möglichkeit der Erfahrung der Gottunmittelbarkeit in der sakramentalen Vermittlung darf aber gerade auch eine Berührung des Menschen in ontologischen Dimensionen nicht ausschließen. Die Selbstmitteilung Gottes ist nicht als Seinsmitteilung18 zu verstehen, weil sie in der Phänomenalität vermittelt werden müsste, sondern weil sie eine Änderung des soteriologischen Standes des ganzen Menschen zur Folge hat. Um diese Ambivalenz im Auge zu behalten, könnte man die Struktur der Vergegenwärtigung und ihre dynamische Komplexität im Begriff der Spur weiter verdeutlichen. Alles sakramentale Geschehen befindet sich letztlich in den Spuren eines in Jesus Christus eschatologisch vollendeten Heilsereignisses, sodass die sakramentale Vermittlung eine Gottunmittelbarkeit bedeuten kann, die immer schon durch eine oder mehrere Spuren wieder vermittelt werden muss. Mit dem Derridaschen Denken der Spur ist es für die Theologie natürlich schwer, Schöpfung und Vollendung zu denken. Denn für Derrida befindet sich eine Spur immer in der Spurenkette, die keinen Anfang und kein Ende kennt oder mindestens nicht einmal erreichen könnte. Dieses Denken macht darauf aufmerksam, dass die eschatologische Zeit keineswegs eine in der Präsenz des Bewusstseins oder im Dasein einholbare ist. In der sakramentalen Vergegenwärtigung bleiben Asymmetrie und Diachronie als dezentrierende Momente auch für die Zeit der Kirche bestehen. Der durch das Christusereignis aufgespannte sakramentale Raum unterliegt bleibend der Dynamik der An- und Abwesenheit, welche die Verborgenheit der Spur und das Geheimnis der göttlichen Unmittelbarkeit beschreibt. Derrida schreibt: „Die Abwesenheit eines anderen Hier-und-Jetzt, einer anderen transzendentalen Gegenwart, eines anderen Ursprungs der Welt, der als solcher erscheint und sich als irreduzible Abwesenheit in der Anwesenheit der Spur gegenwärtigt [...]. [...] Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken. Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst. Wenn das Andere als solches sich ankündigt, gegenwärtigt es sich in der Verstellung seiner selbst. Diese Formulierung ist nicht, wie man übereilt annehmen könnte, theologisch. Das ‚Theologisch‘ ist ein bestimmtes Moment in der gesamten Bewegung der Spur. Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann. Die Gegenwärtigung des Anderen als solchem, das heißt die Ver- 18 Vgl. Th. Freyer, „Nähe“ – eine trinitätstheologische Schlüssel-„kategorie“?, 279-284. 227 stellung seines ‚als solches‘ hat immer schon begonnen, und keine Struktur des Seienden vermag sich dem zu entziehen.“19 Gewiss kann eine Theo-logie die göttlichen Geheimnisse in ihrer Vernünftigkeit nicht im Ganzen erfassen. Wie Derrida bemerkt, ist sie immer schon ein Moment der jeder Theologizität vorgängigen Spur der Unmittelbarkeit Gottes. Somit ist die Struktur der sakramentalen Vermittlung eine subtile Struktur der Spur. Wenn man dies im Auge behält, kann die Behauptung nicht gelten, Derrida privilegiere gegen die Privilegierung des Präsenzdenkens in der Geschichte der Theologie wenn auch aus strategischen Gründen die Abwesenheit, und konsequent ein Bedauern formuliert werden, dass sich Derrida weniger ausdrücklich für die Entwicklung von „Techniken einer Rekonstruktion“ des augenscheinlich Abwesenden interessiert.20 Im Gegenteil scheint der Begriff der Spur gerade auch eine Offenheit für die Seite der Vermittlung bzw. Vergegenwärtigung zu formulieren. Von diesem theologischen Ort aus lässt sich vielmehr die Frage stellen, ob der Derridasche Begriff der Spur angemessen und hinreichend ist, die göttlichen Geheimnisse und die Offenbarungsinhalte positiv zu beschreiben. So stellt auch J. Valentin in Bezug auf eine „unbeschreibbare“, „nicht-antizipierbare“ und sich der petrifizierenden Aneignung konsequent entziehende Vergegenwärtigung die Frage, „ob Derrida angesichts der beschriebenen Wurzeln seines Denkens bereit und in der Lage ist, eine solche Anwesenheit (des christlichen) Gottes in der bezeugenden Hingabe überhaupt positiv zu denken.“21 Insgesamt muss man feststellen, dass Derridas Begriff der Spur selbst für die theologische Wendung einer zeichenhaften Vermittlung unzulänglich ist. In der Geschichte tatsächlich dem Menschen angebotenes Heil kann er inhaltlich nicht zu fassen bekommen. Er weist auf radikalste Weise darauf hin, dass in der Struktur der sakramentalen Vermittlung sich die unmittelbare Nähe Gottes immer wieder entzieht. Sie ist also eine Struktur des Verbergens und Entzugs, mit Derrida gesagt, eines beständigen Aufschiebens, die in dieser Weise alle Horizonte von Sein und Bewusstsein, jede identifizierende Bestimmung aufsprengt. Würde dies dann letztlich bedeuten, dass eine wirkliche Begegnung zwischen Gott und Menschen ihrer Struktur nach von vornherein unmöglich wäre? In der sakramentalen Vermittlung ereignet sich die unmittelbare Begegnung zwischen Gott und Menschen in Form der Spur wie sie sich von einer Hermeneutik nie im Ganzen erfassen lässt und somit ihren Kern immer als Geheimnis 19 20 21 J. Derrida, Grammatologie, 82f. Vgl. J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 260-262. Ebd., 261. 228 behalten wird. Die sakramentale Vergegenwärtigung geschieht gerade dort, wo das Unmögliche möglich wird, indem Gott das Göttliche und das Menschliche einander wirklich berühren lässt. Diese Berührung ist in Jesus Christus unüberbietbar und unwiderruflich geschehen, zu dem alle sakramentalen Vermittlungen strukturell ähnlich und inhaltlich aber ungleich sind.22 9.3 Wort und Schrift Nach der Feststellung der hierarchischen Ordnung am traditionellen Verhältnis von Signifikat und Signifikant richtet sich Derridas Dekonstruktion der Zeichentheorie gegen den Phonozentrismus, den Derrida wesentlich als zur Geschichte der abendländischen Metaphysik zugehörig sieht, und unter dessen Gesichtspunkt er die Saussuresche Linguistik weiter analysiert. Dies haben wir in Grundzügen bereits oben in Bezug auf die Geschlossenheit der Metaphysik erörtert (vgl. oben Kap. 1.1 und 1.2). Im folgenden wollen wir noch ausführlicher auf die Frage eingehen, was Derrida aus der Konzeption und den Implikationen der Saussureschen Linguistik schlussfolgert. Dass Saussures Linguistik als ein Teil der Semiologie dem Phonozentrismus verhaftet bleibt, resultiert Derrida zufolge vor allem aus den Grundbestimmungen Saussures vom Gegenstand der Sprachwissenschaft. Saussure erfasst gesprochene Sprache und geschriebene Schrift als zwei verschiedene Systeme von Zeichen und bevorzugt dabei allein das Erstere als Gegenstand der Sprachwissenschaft. Für ihn ist das gesprochene Wort das Lautzeichen, das den inneren Gedanken zum Ausdruck bringt. Das geschriebene Wort dient nur dazu, jenes mündliche Wort wiederzugeben. Er unterscheidet Verbindungen in der Sprache also auf zwei Stufen: eine erstrangige Verbindung zwischen Lautbild und Bedeutung und eine zweitrangige zwischen Rede und Schrift. Die erste Verbindung ist die „natürliche“, „organische“, die zweite aber die „oberflächliche“, „künstliche“. So ist das gesprochene Wort zum inneren System der Sprache gehörig, die Schrift dagegen diesem fremd. Dennoch nimmt die Schrift nach Saussure mehr und mehr die Hauptrolle für sich in Anspruch und drängt schließlich an die Stelle des gesprochenen Wortes, sodass sie das ursprüngliche Verhältnis umdreht und sich selbst eine Bedeutung anmaßt. Für Saussure ist die Schrift eine unglückliche Verkleidung des gesprochenen Wortes. Dadurch verschleiert sie die Entwicklung der Sprache. Von den Buchstaben als „Tyrannei“ 22 Dieser Aspekt wird im folgenden in Kapitel 9.5 weiter zu bearbeiten sein. 229 und „Mißgeburten“ zu befreien und sich auf die mündlichen Lautbilder und ihre Konstitution zu konzentrieren, sollte nach Saussure die eigene Aufgabe der Sprachwissenschaft sein.23 Die Ausschließung der Schrift in der Saussureschen Sprachwissenschaft ist für Derrida von gravierender Bedeutung. Während Saussure die mündliche Sprache dem inneren Bereich des Sprachsystems unmittelbar und zugehörig sieht, schließt er die Schrift als einen sekundären und trügerischen Faktor davon aus. Sie fungiert nur als Zeichen der Zeichen, als Signifikant der Signifikanten, dabei zugleich aber jenes eigentliche Verhältnis in der Sprache verkehrend und verfälschend, welches zwischen bedeutsamem Signifikat und lautbildlichem Signifikanten bestehen müsste. Unter diesen Präsuppositionen aber hat die Sprachwissenschaft Saussures, so Derrida, „ein natürliches, das heißt einfaches und ursprüngliches Verhältnis zwischen dem gesprochenen Wort und der Schrift, und das wiederum heißt: zwischen einem Innen und einem Außen, wiederzufinden. Sie hätte wieder zu ihrer vollkommenen Jugend und ursprünglichen Reinheit zu finden, und zwar diesseits einer Geschichte und eines (Sünden-)Falls, die in der Folge das Verhältnis zwischen dem Draußen und dem Drinnen pervertierten.“24 Es ist für Derrida offensichtlich, wovon in Wirklichkeit die Saussuresche Linguistik abhängig ist: von der metaphysischen Logik der Unterscheidung von Innen und Außen der Ausschließung des Außen als Äußerlichkeit. Die Schrift muss als äußere, sündige Verunstaltung ausgegrenzt werden, damit die innere Selbstständigkeit der gesprochenen Sprache gesichert und ihre reine Einheit geschützt wird. Diese Logik der Ausschließung folgt nach Derrida konsequent aus einem bestimmten Modell der Schrift, das heißt die phonetische Schrift, auf die Saussure seine Sprachwissenschaft strikt beschränken will. Und dies ist wiederum für Derrida keine persönliche Entscheidung Saussures, sondern es hat einen epistemologischen Hintergrund: „Daß es der Forderung des ‚inneren Systems‘ entspricht, wenn man ausschließlich die phonetische Schrift berücksichtigt, ist kein Zufall. Die Integrität des ‚inneren Systems‘ der Sprache zu achten und zu wahren, ist geradezu das funktionelle Prinzip der phonetischen Schrift, selbst wenn ihr dies in Wirklichkeit nicht gelingt. Nicht einem glücklichen Umstand ist es zu danken, wenn die Saussuresche Begrenzung der wissenschaftlichen Forderung des ‚inneren Systems‘ entspricht. Als epistemologische Forderung überhaupt konsti- 23 24 Zur Darlegung dieses Abschnitts vgl. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2437. J. Derrida, Grammatologie, 62. 230 tuiert sie sich gerade aus der Möglichkeit der phonetischen Schrift und aus der Äußerlich25 keit der ‚Notation‘ gegenüber der inneren Logik.“ Damit bleibe Saussure der Epoche der metaphysischen Tradition treu, die Derrida an anderer Stelle als Phono- und Logozentrismus charakterisiert hat. Wie wir bereits hinsichtlich der Auseinandersetzung Derridas mit dem Husserlschen Zeichenbegriff gesehen haben (vgl. Kap. 1.3), hängt die Privilegierung der Stimme in der metaphysischen Tradition mit dem Denken der Präsenz zusammen. Wie bei Husserl die ausdrückende Stimme dem inneren Bewusstsein unmittelbar nahe steht und dies die Idee und Selbst-Affektion der Präsenz bedingt, macht die dem inneren Bereich zugehörende phonetische Schrift bei Saussure das gesamte System der Sprache entscheidend aus und somit wird es möglich, innerhalb dieses Systems sowohl Sprache als auch Begriffe wie Zeichen, Signifikat/Signifikant und Repräsentation usw. zu denken. Und in diesem phonozentrisch ausgerichteten Sprachsystem bei Saussure ist nach Derrida gerade „die logozentrische Metaphysik entstanden, die den Sinn des Seins als Präsenz bestimmt.“26 Wie gesehen sind die Präsenz des Logos und ihre absolute Nähe in der Stimme bzw. in der phonetischen Schrift in Derridas Augen eine Illusion, deren Notwendigkeit aber die ganze Struktur und Epoche der abendländischen Metaphysik bestimmt hat. Diese metaphysische Tradition regelt „das Verhältnis zwischen gesprochenem Wort und Schrift nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch (im Prinzip ihrer Praxis)“27, eben das Erstere als Natürliches und Sinntransparentes bzw. -präsentes, das Letzteres aber als Unvollständiges und Sekundäres. Sie deutet das gesprochene Wort als untrennbare, vergegenwärtigende Einheit zwischen dem Ausdruckszeichen und dem Logos, schreibt der Schrift aber nur eine beschränkte und abgeleitete Funktion zu: „Eine beschränkte Funktion, weil sie nur eine Modalität der Geschehnisse ist, die einer Sprache zustoßen können, deren Wesen jedoch, und das scheinen die Tatsachen zu lehren, von jeder Beziehung zur Schrift unberührt bleiben kann. [...] Eine abgeleitete Funktion, weil sie repräsentativ ist: Signifikant eines ersten Signifikanten, Repräsentation der sich selbst gegenwärtigen Stimme, der unmittelbaren, natürlichen und direkten Beziehung des Sinns (des Signifikates, der Vorstellung, des idealen Gegenstandes oder wie immer man 28 will).“ 25 26 27 28 Ebd., 60, kursiv im Original. Ebd., 76. Ebd., 53, kursiv im Original. Ebd., 54 , kursiv im Original. 231 Die Grenze der Saussureschen Sprachwissenschaft und ihre metaphysische Bedingtheit gehen nach Derrida darauf zurück, dass Saussure „weiterhin den Begriff des Zeichens verwendet hat; einen Begriff, den man, wie jeden anderen auch, weder in vollkommenen neuer noch in vollkommenen konventioneller Art und Weise gebrauchen kann. Man ist gezwungen, in unkritischer Weise wenigstens einen Teil der Implikationen anzunehmen, die in sein System eingeschrieben sind.“29 Gerade an dieser Grenze, an der sich Saussure befindet, liegt aber nach Derrida eine Möglichkeit, das phono- und logozentrisch festgelegte System zu erschüttern. Denn für ihn enthält der Saussuresche Zeichenbegriff ein kritisches Potential, das gegen die metaphysische Tradition ausgespielt werden kann, er kann als Werkzeug dienen, „die Grenzen, in denen dieser Begriff entstanden ist und zu wirken begonnen hat, gleicherweise zu markieren und zu lockern, um ihn somit bis zu einem gewissen Grad seinem abgestammten Boden zu entreißen.“30 Es ist für Derrida unumstritten, dass man den alten Begriff nicht völlig hinter sich lassen kann. Nur aufgrund des alten Begriffs und mit dessen Hilfe kann man einen neuen Begriff entfalten. Saussure ist in Derridas Augen ein Wegbereiter, der trotz seiner Gebundenheit an das metaphysische Erbe über dieses hinaus einen neuen Weg eröffnet. Gerade an den phono- und logozentrisch markierten Grenzen der Saussureschen Überlegungen geht Derrida einen Schritt weiter: von der Phonè zur Schrift, von der Semiologie zu einer allgemeinen Grammatologie. Bevor wir nun Derridas neuem Begriff der Schrift näher kommen, ist darauf aufmerksam zu machen, dass das Wort auch in der sakramentalen Struktur ein wesentliches Element ist. Schon Augustinus hat dies deutlich gemacht, wenn er die Sakramente als sichtbare Worte (verba visibilia) begreift.31 Er räumt dem sakramentalen Wort eine vorrangige Stellung ein, nicht nur deswegen, weil das Wort als bedeutendstes Zeichen zum sakramentalen Geschehen gehört, sondern weil die materiellen Elemente erst durch das Wort zum Sakrament werden. Das sakramentale Wort ist aber kein gewöhnliches, anzeigendes und nur ausdeutendes Wort, sondern es ist das Glaubenswort der Kirche und letztlich das der heiligen Schrift entnommene Wort Jesu Christi, von dem her es seine wirkende Kraft erhält.32 Bis in die moderne Sakramententheologie ist das Wort zentrales Verwirklichungsprinzip geblieben. 29 30 31 32 J. Derrida, Positionen, 54f. Ebd., 53. Augustinus, De doctrina christiana, II,3,4 (Corpus Christianorum. Series Latina 32, S. 32); ders., Tractatus in Johannis evangelium, 80,3 (Corpus Christianorum, Series Latina 36, S. 529). Vgl. J. Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, 1a, 43. 232 Wenn man das Sakrament als Wortgeschehen versteht, muss man theologisch zwei Seiten berücksichtigen. Zum einen ist das Verständnis vom Wort Gottes letztlich von dem menschgewordenen Wort Gottes her zu begreifen. Zum anderen muss nicht nur die genannte Spendeformel, sondern der liturgische Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Darauf kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Auf jeden Fall ist das Augustinische Denken des sakramentalen Wortes der westlichen Tradition nachhaltig eingeprägt. Hat das zur Folge, dass auch die Theologie das gesprochene Wort bevorzugt und die Schrift vernachlässigt, oder erweist sich ein theologisches Sakramentenverständnis als resistenter gegen eine Nachordnung der Schrift? Derrida stellt bekanntlich die Theologie insgesamt unter Verdacht und schließt sie unterschiedslos in jene metaphysische Tradition ein, die seit Platon die Unmittelbarkeit der phonetischen Schrift in der Seele betont und deren Texte es zu dekonstruieren gilt: „Wie schon bei Platons Schrift der Wahrheit in der Seele haben wir es auch noch im Mittelalter mit einer im metaphorischen Sinne verstandenen, natürlichen, ewigen und universalen Schrift zu tun, mit dem System der bezeichneten Wahrheit, die in ihrer Würde unangetastet bleibt. Wie im Phaidros bleibt ihr eine gewissermaßen abgefallene Schrift entgegengesetzt. Zu schreiben wäre eine Geschichte dieser Metapher, die der göttlichen oder natürlichen Schrift immer schon die menschliche und mühevolle, endliche und künstliche Inschrift entgegensetzt.“ 33 Derrida kommt es mit seinem neuen Begriff der Schrift, der an den Grenzen der Saussureschen Semiologie und somit der traditionellen Zeichentheorie ansetzt, darauf an, dass die Sekundarität der Schrift gerade im Inneren des Sprachsystems immer schon am Werk gewesen ist und gewesen sein wird. Die Schrift, Zeichen der Zeichen, Signifikant der Signifikanten oder Vermittlung der Vermittlung, ist nicht eine von einem unvermittelten Ursprung abgefallene Verdoppelung. In der metaphysischen Tradition galt sie als Parasit und Supplement, als solche infiziert sie von Anfang an das gesamte System. In der Derridaschen Zeichentheorie befindet sich jedes Signifikat selbst nur an der Stelle eines Signifikanten. Das, was das System der Sprache ausmacht, ist dann ein Spiel der Differenz, die Signifikantenkette, und kein Zeichen und kein Ausdruck kann diesem Spiel entkommen. Insofern die Schrift als exemplarischer Signifikant gerade diese Bewegung der Signifikanten, die Bewegung der differentiellen Vermittlungen, beschreibt, ist jedes Zeichen in seinem Wesen schon Schrift. Diese Tatsa- 33 J. Derrida, Grammatologie, 31. 233 che macht daher die Sprache „nicht nur zu einer Art Schrift“, „sondern zu einer Art der Schrift“34. Es ist zu unterstreichen, dass Derridas Dekonstruktion des Zeichens nicht darauf abzielt, an die bisherige Stelle des Signifikates und des Wortes nun den Signifikanten und die Schrift zu setzen. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, einen neuen Schriftbegriff zu erfassen, der über die bloße Unterscheidung der binären Ordnungen hinausgeht. Dabei macht er die Bewegung der Differenz und Verweisung zum entscheidenden Moment des Zeichens und der Sprache überhaupt. Die differentielle Verweiskette besteht nicht einfach in einer kontinuierlichen Linearität, sondern jedes Zeichen verhält sich wie ein Nullpunkt sowohl zu den benachbarten Elementen als auch zu dem ganzen System. Und in diesem Sinn hängt die Schrift mit dem Begriff der Spur zusammen. Die Schrift bezeichnet die Bewegung der Spure der Spuren, letztlich eine Kette und ein Gewebe von Spuren: „Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das sich selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes ‚Element‘ – Phonem oder Graphem – aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. [...]. Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren. Das gramma ist alsdann der allgemeinste Begriff der Se35 miologie – die auf diese Weise zur Grammatologie wird“ . Abgesehen davon, dass all dies mit dem Begriff der différance bei Derrida nochmals vertieft wird, fragen wir schließlich nach den Konsequenzen eines solchen Schriftbegriffs für die Theologie. Gehört auch die oben genannte Stellung des Wortes in der sakramentalen Struktur zu einem zu dekonstruierenden Phonozentrismus, sodass es mit diesem Schriftbegriff fundamental erschüttert würde? Derrida setzt sich mit den Tendenzen eines theologischen Wort- und Schriftkonzeptes nicht explizit auseinander. Zum einen lässt er jene Schrifttradition für seine Argumentation außer 34 35 Ebd., 90, kursiv im Original. J. Derrida, Positionen, 66f. 234 Acht, welche die Hochachtung vor Schrift und Geschriebenem feststellt, welche „der Schrift höheren Wert beimißt, aufgrund ihrer sichtbaren Materialität, die den nötigen Allgemeinheitsgrad von Sinn gewährleisten kann.“36 Tatsächlich anerkennt die christliche Tradition die schriftliche Fixierung der eschatologischen und endgültigen Offenbarung Gottes und diese schriftliche Objektivation gerade als die Quelle und Norm der je aktuellen Weiterbezeugung dieser Offenbarung.37 Die Heilige Schrift wird also im Christentum nicht nur verehrt, sondern gilt auch als Bezugspunkt der worthaften, verkündenden und kirchlich vollziehenden Vermittlungen. Insofern würde die hierarchisch-oppositionelle Festlegung Derridas über das Verhältnis zwischen Wort und Schrift hier nicht ganz zutreffen. Zum anderen geht das Verständnis des Wortes in der sakramentalen Struktur wesentlich tiefer, als es in der traditionellen Zeichentheorie aufgegriffen wird. Freilich räumt die moderne Sakramententheologie dem Wort eine primäre Stellung und Funktion ein, wenn sie es – vor allem spezifisch auf die Spendeformel als „forma sacramenti“ konzentriert – als „performative Rede“ versteht, die realisiert, was sie aussagt.38 Wenn man wie K. Rahner aber das Sakrament als Verwirklichung des Wortes Gottes und letztlich im ganzen als Wortgeschehen begreift, in dem menschliches und göttliches Wort zugleich zur Wirkung kommen, dann stehen Wort und sakramentales Zeichen nicht in einer zweistufigen gegenseitigen Struktur der Vermittlung. Über die konfessionell unterschiedliche Betonung der beiden Größe hinaus kann das Verkündigungswort sakramental genannt werden und das Sakrament Wort. So kommen in der sakramentalen Struktur Wort und Zeichen in eine enge Verbindung, die aber weder als gegensätzliche noch als ergänzende Beziehung hierarchisiert wird. Insofern das Sakrament in sich Wort und Zeichen enthält und die Göttlichkeit und die Menschlichkeit vermittelt, ohne dabei beide Größen zusammenfallen zu lassen, scheint das Sakrament dem neuen Begriff der Schrift Derridas durchaus nahe zu stehen. Die sakramentale Struktur, um die es in diesem Abschnitt geht, bezeichnet eine Struktur der Vermittlung der göttlichen Unmittelbarkeit. Vollzieht sich die sakramentale Vermittlung als Spur des in Jesus Christus endgültig zugesagten Wortes Gottes, das – wie eine Urspur – immer schon verborgen ist, wenn es in menschlichen Worten zeichnet? Im Sakrament begegnet der Mensch dem Wort Gottes, das ihn auf eine unmittelbare Beziehung mit Gott erhebt. Den- 36 37 38 A. Köpper, Dekonstruktive Textbewegungen, 23. Vgl. K. Rahner, Art. „Heilige Schrift“, in: 2LThK, Bd. 5, 116. Vgl. J. Splett, „Realsymbol“. Zur Anthropologie des Sakramentalien. 235 noch sind hier Sakrament und Gottes Gnade nicht identisch. Die sakramentale Vermittlung ereignet sich in den Spuren Gottes, von denen man mit Derrida auch sagen kann: „Die Spur [...], die selbst nie auftreten, erscheinen und sich als solche in ihrem Phänomen offenbaren kann. Die Spur jenseits all dessen, was die Fundamentalontologie und die Phänomenologie in der Tiefe verbindet. Als stets differierende stellt die Spur sich nie als sol39 che dar. Sie erlischt, wenn sie auftritt, wird stimmlos, wenn sie ertönt [...].“ Die sakramentale Struktur käme mit Hilfe der Derridaschen Begriffe der Schrift und der Spur zu einem vertieften Verständnis ihrer selbst40 – Derrida verwendet Schrift und Spur oft synonym.41 Auch vom Begriff der différance her ließe sich diesen Ansatzpunkten weiter folgern, insofern die différance die temporisierte und verräumlichte Kraft der Schrift (vgl. Kap. 2.2) beschreibt. 9.4 Ursprüngliche Quelle und Wiederholung In der sakramentalen Struktur handelt es sich um die Vergegenwärtigung der göttlichen Gnade und Liebe im Menschlichen und Geschichtlichen. Man könnte sagen, die sakramentale Struktur sei eine vermittelte Vergegenwärtigung oder vergegenwärtigende Vermittlung. Wenn man aber dies in den Derridaschen Perspektiven umzudenken versucht, ist das Entscheidende in dieser Struktur weder das Ideale, das sich im Anderen, im Von-sich-Äußeren, sein inneres Wesen verwirklicht, noch das Kontingente, das etwa im Postmodernismus alle Strukturen und Systeme beherrschend gedacht wird. In Derridas Schriftbegriff macht die Bewegung der Differenz und Verweisung die gesamte Struktur der Vermittlung aus. Dies ist für Derrida eine „Allgemeinheit“ sowohl der Sprachwissenschaft (samt Semiologie und Grammatologie), und unter diesem Gesichtspunkt betreibt er seine Philosophie. Alle philosophischen Begriffe befinden sich schon in dieser Bewegung, das heißt in den sich ständig entziehenden Spuren von Spuren, und sind deren Effekte, sei es als Signifikat, Bedeutung, Sinn, Wahrheit, Sein oder Präsenz usw. 39 40 41 J. Derrida, Die différance, 52. Bis jetzt ist keine direkte Auseinandersetzung aus diesem Gesichtspunkt zu finden. Zur ansatzhaften Überlegung hinsichtlich der Trinität vgl. J Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 255ff. Zur Erörterung des Sakramentenverständnis aufgrund des Lévinasschen Begriffs der Spur vgl. Th. Freyer, Sakrament – Transit – Zeit – Transzendenz, 131ff. Vgl. zum Beispiel J. Derrida, Grammatologie, 83, 105, 123, 130, 139, 169. 236 Kommt in dieser Perspektive die sakramentale Struktur zur Erschütterung? Für Derrida ist Erschütterung kein Wort der Destruktion. Die Dekonstruktion vollzieht nach der Feststellung der metaphysischen Struktur und nach ihrer Erschütterung einen dritten Schritt, Grenzwege zu einem neuen Denken eröffnend. Es geht an dieser Stellt um die Frage, ob Derridas Denken der Schrift und der Spur die Unmöglichkeit oder Erschütterung eines theologischen Denkens der sakramentalen Vermittlung und somit einer Transzendenz bedeutet oder ob sich das Sakramentdenken selbst als erschüttertes Denken im Sinne der Dekonstruktion erweisen wird. Kann man das Denken Derridas als den Nachweis der Undarstellbarkeit des Absoluten bewerten?42 Wie gesehen, zielt die Dekonstruktion darauf ab, eine Präsenzmetaphysik zu erschüttern, die auf dem Modell der Re-präsentation aufgebaut ist und an der auch die Theologie über weite Strecken teilhat. Wenn dies der letzte Schritt des Derridaschen Denkens wäre, würde die Dekonstruktion die theoretische Unmöglichkeit jeglicher Vergegenwärtigung und die Unmöglichkeit der Vermittlung der Unmittelbarkeit behaupten. Im Hinblick auf die Grundanliegen der Kritik Derridas stellt sich das Bild aber differenzierter dar. Der zentrale Fokus der Dekonstruktion ist das Denken der Präsenz als der Unmittelbarkeit zwischen Bewusstsein und – vor allem phonetischen – Zeichen, zwischen Ausdruck und Intention, wobei die Unterscheidung und die Ausschließung das notwendige Programm und damit die Gewalt solchen Denkens sind. Repräsentation ist dabei die in letzter Hinsicht unerwünschte, nachträgliche Vermittlung dieser ursprünglichen, unmittelbaren Verbindung, wie die Schrift als exemplarisches Beispiel zeigt. Von hier verschiebt Derrida den Schwerpunkt auf die Bewegung der Spur, auf das unendliche Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit. In diesem Spiel kommt Präsenz niemals statisch zustande. Hier ereignet sich immerfort die Aufschiebung und dabei ist die Struktur der Verweisung und der Vermittlung in jeder Richtung offen. Eine Spur steht nicht nur mit zeitlich und räumlich benachbarten Spuren in Beziehung, sondern jede Spur lässt sich auf andere unzählige Spuren und ihr Netz beziehen. Hier herrscht kein System eines geschlossenen Kreises. So muss die Suche nach dem Ursprung, das Denken einer linearen Kontinuierlichkeit der Präsenz von einem Anfang aus, scheitern. Es ist nicht möglich, einen absoluten Beginn zu markieren. Dort, wo man beginnt, befindet man sich immer schon in der Spur der Spur. Dies ist der Grund, weshalb Derrida den Ursprungsgedanken für metaphysisch hält und ihn letztlich der Dekonstruktion unterstellt. 42 Vgl. S. Wendel, Postmoderne Theologie? 197. 237 Derrida hat schon in seiner frühen Arbeit Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie den Glauben an eine Wiederholbarkeit derselben Identität mittels des Zeichenbegriffs in Frage gestellt. Der Sinn und die Bedeutung der gegenständlichen Zeichen sind nach Derrida der Wiederholung ausgeliefert, um dadurch überpersonal und überzeitlich wiedererkennbar zu werden. Die Wahrheit eines Zeichens besteht also nicht in ihrer Idealität außerhalb der Wiederholung oder geht dieser voraus. Erst die Wiederholung ermöglicht das Wiederholte. Ohne Wiederholung würde die Bedeutung des Zeichens in Vergessenheit geraten. Sofern die ideale Bedeutung eines Zeichens an die Wiederholungen gebunden ist, ist es unmöglich, ein Zeichen an eine ursprüngliche Identität zurück zu binden. Derrida stellt hier schon das Denken des Ursprungs in Frage und bereitet seinen eigenen Begriff der Schrift vor. Denn das, was dem Zeichen als Wiederholung seine Bedeutung stiftet und weiter leben lässt, ist gerade die Sprache, insbesondere die schriftliche Sprache. Damit ist Derrida , wie U. Dreisholtkamp bemerkt, schon hier dem Nachweis verpflichtet, auf welche Weise „ein vermeintlich reiner, unkontaminierter Sinn nur existieren kann in Abhängigkeit von einem Anderen, das traditionell aus der sinnhaften Sphäre ausgeschlossen wird.“43 Die Wiederholung birgt in sich paradoxerweise aber immer schon die Veränderung. Jede Wiederholung wiederholt im strikten Sinn niemals ein Selbes. Die vermeintlich ursprüngliche Bedeutung des Zeichens ist durch die Wiederholung an faktische Zeitlichkeit und Räumlichkeit gebunden. Wörter und Sprache, die die ideale Objektivität und Überlieferung des Gegenstandes erst ermöglichen würden, haben, so Derrida, „keine resistente und dauerhafte, absolut eigene Identität. Sie verdanken ihr sprachliches Sein einer Intention, die durch sie hindurchgeht. Das ‚selbe‘ Wort ist immer ‚anders‘, gemäß den jeweils verschiedenen intentionalen Akten, die aus ihm ein bedeutendes Wort machen.“44 Um diese Tatsache zum Ausdruck zu bringen, verwendet Derrida den Begriff der „Iteration“, die in sich zugleich Wiederholung und Veränderung birgt.45 Somit werden das Zeichen und das dieses intentional verwendende Subjekt dem iterierenden Verhältnis zwischen Intention und Äußerung unterstellt: 43 44 45 U. Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 62. J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 138. Die Stoßrichtung seiner Kritik an transzendentalen Phänomenologie Husserls ist hier schon deutlich zu erkennen. Vgl. dazu oben Kap. 1.3. „Meine ‚schriftliche Kommunikation‘ muß, trotz des völligen Verschwindens eines jeden bestimmten Empfängers überhaupt, lesbar bleiben, damit sie als Schrift funktioniert, das heißt lesbar ist. Sie muß in völliger Abwesenheit des Empfängers oder der empirisch feststellbaren Gesamtheit von Empfängern wiederholbar – ‚iterierbar‘ – sein. Diese Iterierbarkeit – (iter, ‚von neuem‘, kommt von itara, anders im Sanskrit, und alles Folgende kann als die Ausbeutung jener Logik gelesen werden, welche die Wiederholung mit der Andersheit verbindet) ( – ) strukturiert das Zeichen der Schrift selbst, welcher Typ von Schrift es im übrigen auch immer sein mag [...].“ (J. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 333). 238 „Vor allem hat man es dann mit verschiedenen Arten von iterierbaren Zeichen (marques) und Zeichenketten zu tun, und nicht mit einer Opposition von zitathaften Äußerungen einerseits, von einzelnen und einzigartigen Äußerungen-Ereignissen andererseits. Folgendes wird die erste Konsequenz dessen sein: ist diese Struktur der Iteration einmal gegeben, so wird die Intention, welche die Äußerung beseelt, sich selbst und ihrem Inhalt nie vollkommen gegenwärtig sein. Die Iteration, die a priori sie strukturiert, führt in sie eine we46 sentliche Dehiszenz [fr. déhiscence, H.K.] und einen wesentlichen Bruch ein.“ Offensichtlich kann man hier die Struktur der Iteration mit der Struktur der Spur gleichsetzen. Und das entscheidende Gesetz an dieser Struktur ist weder Ursprünglichkeit noch Transzendentalität, sondern Trennung und Bruch. Dies kann man nochmals mit der Metapher der Quelle deutlich machen, die Derrida in seiner Lektüre von Valérys Texten erörtert. In Qual Quelle. Die Quellen Valérys setzt er sich eingehend mit dem Thema des Ursprungs und der Wiederholung auseinander, wobei die Frage nach der Wiederholbarkeit des Ursprungs eines Werkes oder eines Denkens, ja nach dem Traum der Rückkehr zu den Quellen mit im Spiel ist. Es geht immer um einen und denselben Code, wenn man an „die Wieder-Geburten, die Wieder-Entdeckungen, die Verdunkelungen auch, das Zurücksetzen oder die Neubewertung eines Textes“ denkt, „von dem man im Vertrauen auf eine Signatur oder eine Institution naiv glauben möchte, daß er derselbe und ständig mit sich selbst identisch bleibt“47. Die Frage nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Bedeutung ist für Derrida zuallererst die nach dem Ich, nach dem Subjekt des Entstehens. Nach Derrida glauben Valéry und auch die klassische Metaphysik, dass am Punkt des Ursprungs das reine, transzendentale Ich oder das unbewusste Bewusstsein steht, als Quelle des Entspringens, von der aus alles Sinn erhält, was für mich ist, was nicht Ich ist. Die Quelle bleibt also „die aus dem Ich deportierte Metapher“, das „für das Ich.“48 Wenn man aber das reine Ich Quelle nennt, ist es, so Derrida, „über seine Metaphern hinaus nichts, ist es nichts im Diesseits dessen, das es aus sich selbst hinausversetzt und im Augenblick seines Entstehens – wie das einbruchartige Hervorsprudeln, wie der manchmal diskrete, aber immer gewaltvolle Einbruch der plötzlich zutage tretende Quelle – aus sich selbst hinausschleudert. Als solche ist die Quelle in der Reinheit ihres Wassers immer fern von sich selbst disseminiert und ohne Beziehung zu sich selbst als Quel- 46 47 48 Ebd. 346f. J. Derrida, Qual Quelle, 294. Ebd., 300. 239 le. Wenn das reine Bewußtsein und das reine Ich wie die Quelle sind, dann insofern, als sie nicht zu sich zurückkehren können.“49 Anhand dieser Analyse, die das transzendentale Ich als Quellenpunkt des Sinns herausstellt, betont Derrida aber auch die Kehrseite des Gedankens: Die Quelle muss sich teilen, um Quelle zu sein, um sich auf sich selbst zu beziehen. Die Prozession des Verlusts, im plotinischen Begriff „eine erste metaphorische Emanation des Einen, das die Quelle ist“50, macht daher unmöglich, dass die Quelle eigentlich zu einem Thema wird. Dieses Unmögliche ist aber doch möglich, nämlich in Thema-, Bedeutungs-, Figureneffekten, in denen sich die Quelle spiegelt. Das Unmögliche spiegelt sich also in einer abgewichenen sekundären Position. Diese Spiegelung bringt das ins Blickfeld, was eigentlich kein Gesicht hat. Gerade hier denkt die traditionelle Metaphysik an den transzendentalen Ausgangspunkt, das subjektive Ich, welches als absolute Quelle gilt. Die Quelle macht von sich selbst aus ein Auge, eine Trope, eine Zuschauerin, ein Bild. Sie hat nur eine einzige Richtung: nach dem Draußen. In diesem immer derselben Seite zugewendeten Blick betrachtet die Quelle alles andere, das von ihr entsprungen ist, als sichtbares Objekt. „Die Präsenz ist“, so Derrida, „Objektivität.“51 Um den Ursprung selbstreflexiv als Ursprung zu identifizieren, weist Derrida aber „Abweichungen“ (écarts) und „Wendungen“ (tours) als wesentlich notwendig nach. Die Quelle muss sich, wie gesagt, teilen, um sich zu erscheinen, um als Ursprung aufzutreten. Ohne diese sich verlierende Trennung und endlose Aufschiebung in ein Außen ist die Quelle nichts. Die Quelle als ein absoluter Blickpunkt kann sich selbst aber nicht wahrnehmen. „Um die Quelle auszusprechen, was untersagt bleibt“, so Derrida, „müßte man sie zuerst wenden: sie durch eine Trope zu sehen geben und ihr zu sehen geben.“52 So kann sich die Quelle nur als ein „Spiegeleffekt“ wiederfinden. In der Wirkung des Spiegels aber geht die Quelle in die Brüche. Sie lässt sich nicht mehr als das ursprünglich Identische erkennen: „Blick der Figur, Figur des Blicks – die Quelle ist immer geteilt, aus sich selbst hinausgetragen: vor dem Spiegel kommt sie nicht wieder zu sich, ihr Bewußtsein bleibt weiter eine Art Unbewußtes. Sobald sie die Wendung des Narziß vollzieht, kennt sie sich nicht mehr. 53 Sie gehört sich nicht mehr.“ 49 50 51 52 53 Ebd. Ebd., 301. Ebd. Ebd., 302. Ebd., 303. 240 Die Quelle als solche kommt nicht wieder zu sich. Erst die Bewegung der Wendung und die Rückkehr macht das Unmögliche möglich, zur Quelle als Ursprung zurückzukehren. Doch lässt sich die Quelle bereits nur geteilt wiederfinden. Sie ist von Anfang an durch das Draußen, durch den Blick des Narzisses, ja durch das Gesichts des Anderen infiziert. Dann nimmt die Quelle „eine andere Position ein: Sie ist nicht mehr nur das, in Richtung worauf die Bewegung sich erschöpft, das, was sich irgendwo, immer ein kleines Stück weiter, unserem Zugriff entzieht. Sie entsteht gerade aus diesem Sich-Entziehen“54. Die Quelle ist also Wirkung und Effekt dieser Bewegung des Entzugs. Damit gelangt Derridas Dekonstruktion der Quelle und des Ursprungs dahin, was die différance bezeichnet. Die Bewegung des Entzugs und Aufschubs ist gerade die der temporisierenden und verräumlichenden différance im Sinne von frz. differer, aufschieben und unterscheiden. Auch die Quelle und der Ursprung, der alles andere als sein Derivat betrachtet, kann gerade dadurch, dass sie différance ist, Ursprung sein und gehorcht so dem Prinzip der différance, dem Gesetz der Schrift. Nun sind aus Derridas Dekonstruktion des Ursprungsdenkens theologische Überlegungen zu folgern. Stellt die Unmöglichkeit, wieder zur Quelle, zum Ursprung zu gelangen, für die sakramentale Struktur eine gefährliche Infragestellung dar? In der sakramentalen Struktur geht es gerade um Vergegenwärtigung, in der das Ursprüngliche präsent wird. In christlicher Perspektive ist das Sakrament Quelle der Gnade. Nach Derrida kann aber solche sakramental geschichtliche Ursprünglichkeit nichts anderes als eine die Abweichungen und Wendungen letztlich ignorierende Täuschung der Wiederaneignung sein. Das Einmalige, das sich in Jesus Christus ereignet hat, kann selbst nicht wieder vergegenwärtigend zu sich gelangen. Anhand von zwei Aspekten, der sakramentalen Struktur im Bildverständnis und in der Zeitlichkeit, soll das theologische Postulat einer Möglichkeit der Wiederaneignung eines vergangenen Ursprungsgeschehens noch genauer untersucht werden. Zunächst kann man die sakramentale Struktur unter dem Bildverständnis erörtern. Die Grundstruktur von Urbild-Abbild spielt in der Sakramententheologie eine bedeutende Rolle. Dieses Denkschema steht auch im Hintergrund der Symboltheologie, die wir bereits oben untersucht haben. Das sakramentale Zeichen spiegelt in sich also das ursprüngliche Bild wider. Das Abgebildete wird in seinem Bild gegenwärtig. Das sakramentale Zeichen als Bild zu verstehen 54 Ebd., 305. 241 geht bis zu den kirchlichen, insbesondere griechischen Vätern zurück, wobei die platonische Denkweise von unsichtbarer Idee und sichtbarer Wirklichkeit die epistemologischen Grundlagen bildete. Neben diesem Bildverständnis wurde auch der Begriff der Mimesis auf die Sakramententheologie bezogen, die die sakramentalen Vollzüge im Sinne der Nachfolge als Nachahmung von und Teilhabe an Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi versteht.55 Ein Verständnis der Sakramente als Bilder ist aber nicht ohne Probleme. Obwohl der Begriff des Bildes, vor allem bezüglich der Eucharistie, „sowohl die Zeichenhaftigkeit (Bild) als auch die Realität (die Teilhabe an der Urwirklichkeit)“ und die Verbindung beider bedeutet, wurde in manchen theologischen Auffassungen einseitig nur ein Aspekt betont oder ist das Bild in einem dinghaften und statischen Sinne verstanden worden.56 Darüber hinaus ist die Verwendung des Schemas Urbild-Abbild in der Derridaschen Sicht nicht frei von der metaphysischen, hierarchischen Struktur. All dies bedeutet dennoch nicht, dass die Struktur von Urbild-Abbild keine Berechtigung mehr hat. Eine von den Derridaschen Analysen geschärfte Wahrnehmung wird nur gewisse Akzentuierungen verschieben. Nach Derrida ist keineswegs von vornherein jede Möglichkeit zur Verwirklichung verweigert, dass sich ein Ursprüngliches oder Absolutes in Anderem ausdrücken könnte, und die Möglichkeit der Vermittlung, dass zwei verschiedene Größen in eine Beziehung treten. Wie ist dies aber theologisch sowie philosophisch angemessen zu denken? Derrida selbst setzt sich mit der Beantwortung dieser Frage nicht explizit auseinander. Dies wohl deswegen, weil er vermeiden will, sich einer Frage von einer bestimmten Position her anzunähern. Statt dessen stellt er seine Fragen immer sozusagen von der Position des Signifikanten. Wie sein Denken der Quelle in Begriffen der Spur und der différance zeigt, befindet sich der Weg zum ursprünglichen Quellenpunkt nur in Umleitungen wie „Wendungen, Allegorien, Figuren, Metaphern“57. Die Quelle ist für Derrida allenfalls der Ort, von dem das Wasser hervorspringt. Sie teilt sich, das heißt supplementiert sich in vielfacher Weise, sie macht von sich Bilder, in denen sie sich erblicken lässt. Die reine Transparenz durch das Wasser, die Selbstpräsenz, ist aber nicht erreichbar, es muss immer mit Trennung und Abweichung gerechnet werden. Im Blick ihrer Bilder wird die Quelle schon immer entzogen sein, gerade insofern sie erschienen ist. Dies hat Valentin in seiner Arbeit vor allem hinsichtlich der 55 56 57 Vgl. F.-J. Nocke, Sakramententheologie, 53-54. Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung vgl. A. Gerken, Theologie der Eucharistie. Vgl. Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, 144f. J. Derrida, Qual Quelle, 297. 242 Übergänge solchen Denkens zum Bilderverbot und der Negativen Theologie eingehend und treffend dargestellt. Nach seiner schlussfolgernden Auffassung handelt es sich dabei „um Elemente eines fundamentalen und bereits in der textuellen Struktur selbst aufweisbaren Ikonoklasmus, der unabhängig von konkreten Inhalten und insofern er die Schriftlichkeit, das heißt die Notwendigkeit zu vermitteln nicht vergißt, die Unangemessenheit eines jeden Textes, die Unerreichbarkeit Gottes und des Andern wahrt.“58 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch V. Schlör, in ihrer Studie über den philosophischen, literarischen und theologischen Begriff der Mimesis. Sie sieht eine Gemeinsamkeit zwischen Dekonstruktion und Mimesis. „Dekonstruktion in Derridas Sinne teilt“, so schreibt Schlör, „schließlich auch das gemeinsame Ziel mit Mimesis, andere Wege der Erkenntnis geltend zu machen, die nicht auf Herrschaft beruhen und nicht auf Zurichtung aus sind.“59 Wenn man den sakramentalen Bildbegriff von der Dekonstruktion her beleuchtet, gelangt man zu einem Ikonoklasmus. Eine Quelle, eine Urwirklichkeit, erschöpft sich nicht darin, dass sie Bild wird. Dieses Bild hat an ihr teil, kommt dennoch mit ihr niemals in eine absolute Einheit. Die sakramentale Struktur beschreibt gerade diese Struktur der Mitteilung und zugleich des Abbruchs und Entzugs. Sie gehorcht insofern im Derridaschen Sinne dem Prinzip der différance. In eine ähnliche Bewegung gerät man, wenn man die sakramentale Struktur in Begriffen der Zeitlichkeit denkt. In der sakramentalen Vergegenwärtigung, anders gesagt, in der liturgischen Wiederholung des Sakraments, wird das Heilsgeschehen jedesmal gegenwärtig und der Mensch nimmt an diesem Teil. Das Heilsgeschehen gilt aber in erster Linie als Ereignis, das zur Vergangenheit gehört. Das Vergangene wird hier und jetzt wieder präsent, wenn es wiederholt gefeiert wird. Diese Gegenwart birgt in sich aber auch eine Teilhabe an der zukünftigen Vollendung des Heils des Menschen. Die sakramentale Struktur unterliegt also auch dem Zeitbewusstsein. Auf die traditionelle Sakramentenlehre gestützt, fasst dies H. Vorgrimler wie folgt zusammen: „Ein Sakrament ist erstens immer Erinnerungszeichen (bei Thomas von Aquin: ‚signum rememorativum‘). Das heißt: Es ist Gedenken, erinnerndes Erzählen einer Vergangenheit, die durch das wirksame Zeichen Gegenwart wird. Es handelt sich um jene Vergangenheit, in der Quelle und Ursprung aller heiligenden und vergebenden Gnade zu finden sind. [...] 58 59 J. Valentin, Atheismus in der Spur Gottes, 262. V. Schlör, Hermeneutik der Mimesis, 113. 243 Ein Sakrament ist zweitens Zeichen der gegenwärtig wirkenden Gnade (‚signum demonstrativum‘). Es bezeichnet den im Menschen hier und jetzt als Gottesliebe, Menschenliebe und Vergebung wirkenden göttlichen Geist. Ein Sakrament ist drittens wirksame Vorausschau auf die Zukunft (‚signum prognosticum‘). Es weist hin auf die Vollendung der Absicht Gottes, die gelungene Schöpfung, das universal verwirklichte Reich Gottes und, darin eingeschlossen, auf die Vollendung des individuellen Lebens im Tod und in der 60 ewigen Seligkeit.“ Die „Anamnesis“ in der sakramentalen Vergegenwärtigung bedeutet im engeren Sinne vor allem das Gedächtnis, in dem das in der Vergangenheit Geschehene erinnernd zur heutigen Wirklichkeit wird. Und darin ist auch die eschatologische Vollendung vorweggenommen. Wie Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Husserl zeigt, ist diese lineare Zeitlichkeit aber immer gebrochen. In der Gegenwart können die Vergangenheit und die Zukunft niemals zusammenkommen, denn die Trennung und Aufschiebung ist nicht überwindbar, auch wenn die Gegenwart nur von der Vergangenheit und von der Zukunft her gedacht wird.61 Wie auch die Dekonstruktion der Quelle zeigt, ist eine Präsenz immer vom Ursprung und vom Ende abgeschnitten und der Versuch einer vergegenwärtigenden Wiederholung heißt „an der Quelle die Diskrepanz einer entstellten (altérante) Differenz aufdecken.“62 Derrida bezeichnet dies als einen „Implex“, der auf „die Unmöglichkeit“ hinweist, „die für eine Gegenwart, für die Präsenz einer Gegenwart, besteht, sich als eine Quelle zu präsentieren: einfach, aktual, punktuell, instantan. Der Implex ist ein Komplex der Gegenwart, der in der einfachen Erscheinung seiner zugespitzten Identität immer die Nicht-Gegenwart und die andere Gegenwart mit umfaßt. Er ist Potentialität oder vielmehr die Potenz, die Dynamis und die mathematische Exponentialität des Wertes der Präsenz und all dessen, was dieser trägt, das heißt alles – was ist.“63 Die christliche Theologie scheint sich dieser Fundamentalität der „Diachronizität“ und der „Diskrepanz“ aber durchaus bewusst zu sein. Sie weiß, dass in der sakramentalen Vermittlung die vollendete Einheit zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen immer noch verschoben bleibt. Dies hindert dennoch nicht, dass der Blick darauf schon begonnen hat. So können wir 60 61 62 63 H. Vorgrimler, Sakramententheologie, 110. Derrida weist dies anhand der Begriffe der „Retention“ und der „Protention“ nach. Hierzu vgl. ders., Die Stimme und das Phänomen, insbesondere 115-124. Hier betont Derrida: „Man wird dann sehr bald feststellen können, daß die Präsenz des Präsens nur insofern erscheinen kann, als sie sich kontinuierlich mit einer NichtPräsenz und einer Nicht-Wahrnehmung und also mit der primären Erinnerung und Erwartung (attente) (Retention und Protention) zusammenschließt. Diese Nicht-Wahrnehmungen begleiten oder fügen sich nicht etwa nur eventuell dem aktuell wahrgenommenen Jetzt hinzu, sondern sie partizipieren unverzichtbar und wesentlich an seiner Möglichkeitsbedingung.“ (ebd., 119). J. Derrida, Qual Quelle 308. Ebd., 321. 244 uns auch an die Auffassung von P. Bürger anschließen, der die Fragen der Unmittelbarkeit und des Ursprungs hinsichtlich des spätmodernen Denkens erörtert und wie folgt feststellt: „Auch wenn wir [...] die Gnade Gottes als Ursprungsgeschehen auffassen, leuchtet sofort ein, daß dieses sich als solches gerade dadurch ausweist, daß es sich nicht an eine bestimme Gegenwart binden läßt. Das legt den Gedanken nahe, auch Derridas différance als Ur64 sprungsgeschehen aufzufassen, eben weil es nicht als präsent zu denken ist.“ P. Bürger zitiert weiter W. Benjamin. Dieser löse die Kategorie des Ursprungs von der Vorstellung eines zeitlichen Kontinuums ab und rücke sie in einen theologischen Zeithorizont hinein, in dem Ursprung eine unvollendete Offenbarung bezeichnet, die in geschichtlich ausmachbaren Phänomenen der Wiederkehr ihre Erfüllung zu finden bestimmt ist.65 Bis zur „visio beatifica“66 für den Menschen unterliegt die sakramentale Vermittlung der Gnade und des Heils auch der differentiellen „A/Symmetrie“ zwischen der Zeitlichkeit und der Ewigkeit, in der Spur zwischen der Anwesenheit und Abwesenheit dessen, was von der göttlichen Quelle her offenbart worden ist und dennoch zugleich verborgen bleibt. Gott enthüllt sein Gesicht niemals direkt und im Ganzen, oder anders gesagt, er ist als der ganz Andere niemals im menschlichen Gesicht einzuholen. Insgesamt können wir die sakramentale Struktur daher behutsam, als eine Struktur der Vermittlung der Unmittelbarkeit, eine „asymmetrische Vermittlung von Immanenz und Transzendenz“ bezeichnen. 9.5 Das Göttliche und das Menschliche In der sakramentalen Vermittlung gelangen das Göttliche und das Menschliche zur Einheit, sodass der Mensch der göttlichen Gnade und Liebe real begegnen kann. Diese Struktur kann mit Rahner als Zeichen- und Symbolstruktur oder mit Derrida als Struktur der Spur beschrieben werden. Beide Perspektiven widersprechen einander aber nicht unbedingt. Die erstere ist zwar im ontologischen Denkrahmen angelegt, gelangt aber dennoch zu der Beschreibung einer realen Begegnung zwischen Gott und Menschen. Die letztere gelangt durch eine strukturalistische Perspektive auf das Vermittlungsgeschehen zu einer unüberwindbaren Differenz zwischen der göttlichen Unendlichkeit und der menschlichen Endlichkeit und gewährleistet so die Erhabenheit Gottes gegenüber jeglichen totalisierenden Identifizierungsbestrebungen. In 64 65 66 P. Bürger, Ursprung des postmodernen Denkens, 184. Ebd., 185. Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 123ff. 245 beiden Beschreibungen der sakramentalen Vermittlung entsteht die Möglichkeit einer göttlichen Immanenz und einer menschlichen Transzendenz, dennoch gehen weder das Göttliche noch das Menschliche in der Vermittlung auf. Vor diesem Hintergrund muss hervorgehoben werden, dass zwischen der Ursakramentalität Jesu Christi und der Sakramentalität aller daraus resultierenden Heilsvermittlung trotz ihrer gemeinsamen Strukturähnlichkeit eine wesentliche Unterschiedenheit besteht, wie wir bereits am Ende des Abschnitts 9.2 herausgestellt haben. In Jesus Christus ist eine unüberbietbare und irreversible Vermittlung der Gottunmittelbarkeit geschehen, und dieses Ereignis ist eine eschatologische Vollendung aller sakramentalen Vermittlungen, die sich sowohl in der Heilsgeschichte als auch in den liturgischen Wiederholungen vollzieht. In der Universalität und in der Nähe zwischen dem Vermittelnden und dem Vermittelten übersteigt die Sakramentalität Jesu Christi alle Einzelsakramente. Hinsichtlich der Struktur der Vermittlung besteht zwischen beiden zwar eine Ähnlichkeit oder Analogie, die Sakramentalität bei Jesus Christus ist aber einzigartig und einmalig. Inhaltlich ist sie eigentlich mit allen übrigen Sakramenten und Sakramentalien unvergleichbar. Hierin besteht also eine Differenz, die anders als ontisch oder ontologisch ist. Diese unhintergehbare Differenz zwischen der Sakramentalität Jesu Christi und der Sakramentalität aller anderen Heilsvermittlungen geht letztlich auf die Gottmenschlichkeit Jesu Christi zurück. Das Christentum bekennt, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Angesichts unserer Thematik bedeutet das, dass in ihm der Vermittelnde der Vermittelte selbst ist. Anders gesagt ist im Christusereignis der verkündende Jesus zum verkündigten Christus geworden.67 Als „das sakramentale Urwort Gottes“68 besteht in Jesus Christus eine untrennbare unvermischte Einheit zwischen der Zusage (wahrhafter Menschlichkeit Jesu als dem Zeichen) und dem Zugesagten (bezeichneter Gnade als Gott selbst). Während in den sakramentalen Vermittlungen immer noch eine Asymmetrie zwischen dem Vermittelnden und dem Vermittelten unaufgelöst bestehen bleibt, muss bei Jesus Christus eine symmetrische Einheit gedacht werden, das heißt, in ihm sind das Göttliche und das Menschliche eins. In Jesus Christus ist also die Gottunmittelbarkeit absolut und umfassend vermittelt. Diese einheitliche Nähe und ihre Absolutheit gilt nur für Jesus Christus, auch wenn jede weitere sak- 67 68 Vgl. Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, 23. Ebd., 17. 246 ramentale Heilsvermittlung daran teilhat. Die Einheit der Göttlichkeit und der Menschlichkeit und ihre Absolutheit in Jesus Christus müssen an dieser Stelle noch näher betrachtet werden. Das Christentum war sich von Anfang an dieser Problemstellung bewusst und wurde von der Geschichte einer heftigen Debatte darüber, wie die Göttlichkeit und die Menschlichkeit Jesu Christi in eins zu denken und zu sagen sei, nicht unwesentlich geprägt.69 In der Geschichte der Christologie hat insbesondere das chalkedonische Konzil (451) wichtige Bekenntnisformeln vorgelegt, um die Einheit der Göttlichkeit und der Menschlichkeit in Jesus Christus zum Ausdruck zu bringen.70 Hier wird das Bekenntnis zu Jesus Christus als zu ein und derselben Person ausgesprochen und die darin wichtigen Ausdrücke kann man in einer kurzen Fassung folgendermaßen formulieren: Als ein und derselbe ist Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, in zwei Naturen, die unvermischt und ungetrennt zu einer Person und einer Hypostase zusammengekommen sind.71 Im chalkedonischen Bekenntnis geht es ursprünglich darum, zu bezeugen, dass Jesus Christus wirklich wahrer Gott und wahrer Mensch sei. Dass man zur Begründung und zur weiteren Ausführung philosophische Begriffe und Terminologie – wie homousios, Natur oder Hypostase – gebrauchte und gebrauchen musste, bereitete der Theologie immer wieder neue Schwierigkeiten und Quellen für Missverständnisse.72 Es muss aber insgesamt darauf geachtet werden, dass „es den Konzilsvätern vordringlich um ein kerygmatisches Anliegen geht. Sie wollen das apostolische Christusbekenntnis nicht philosophisch reduzieren, sondern es gegen solche Reduktionen sichern.“73 So wurde in diesem aus der neutestamentlichen und aus der nicaenischen Glaubensbezeugung konstruierten Text durchaus ein Weg zur Lösung des Streits um die Gottheit und die Menschheit Jesu Christi und ihr Verhältnis eingeschlagen. Was darüber hinaus in unserem Zusammenhang interessiert, ist, dass das Konzil von Chalkedon die Gottheit und die Menschheit Jesu Christi als zwei Naturen erklärt. Das Konzil bestimmt dabei zwar den Begriff der Natur nicht näher, es ist aber unumstritten, was mit den Naturen gemeint ist. Sie sind „das eindeutige Prinzip der Unterschiedenheit in Christus.“74 Es kann auf keine der beiden Naturen verzichtet oder die eine in die andere aufgehoben werden. 69 70 71 72 73 74 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung vgl. H. Kessler, Christologie, 325-384. Vgl. DH 301-302. Vgl. H. Kessler, Christologie, 352. Vgl. Ch. Schönborn, Gott sandte seinen Sohn, 119. Ebd., 139. A. Grillmeier, Jesus der Christus, Bd. 1, 756. 247 Beide Naturen sind in der einen Person Jesus Christus eins. Auf die Frage, wie dies möglich ist, antwortet das Konzil mit einer vierfachen, auf negative Weise ausgedrückten Formulierung: unvermischt, unverändert, ungeteilt, ungetrennt. Das Verhältnis der beiden Naturen sowohl in ihrer Unterschiedenheit als auch in ihrer Einheit ist damit in eine paradox erscheinende Formel gebracht. Die zwei ersten Adverbien stehen für die Unterschiedenheit von Gottheit und Menschheit, die zwei anderen für deren Einheit. Es sei nochmals betont, dass das auf diese Weise ausgedrückte Verhältnis, mit einem philosophischen Terminus die hypostatische Union, schließlich zu der einen Person Jesus Christus gesagt ist. Die auf negative Weise formulierten Ausführungen beinhalten positive Aussagen. Diese kann man mit Ch. Schönborn wie folgt zusammenfassen: „Die vier Adverbien sind damit verdeutlicht, die Abwehr von Vermischung und Verwandlung richtet sich positiv auf die Aussage, daß die beiden Naturen ihre Eigenheit bewahren; die Abwehr von Trennung und Spaltung richtet sich positiv auf die Aussage, daß Christus einer der Person nach ist. Damit wird noch einmal die Struktur deutlich: Zwei Adverbien betreffen die Naturebene und stellen die Differenz der beiden Naturen heraus, zwei Adverbien gelten der Personebene und sind mehr auf die Einheit gerichtet. Man könnte von Chalcedon her ganz allgemein zusammenfassen: Die Differenz eint, die Einheit differenziert.“ 75 Die chalkedonischen Bestimmungen von Gottheit und Menschheit Jesu Christi und von ihrer Beziehung haben unhintergehbare Kriterien für die Christologie aufgestellt.76 Es stellt sich dennoch die Frage, ob in der auf das Konzil folgenden Wirkungsgeschichte das Mysterium Jesu Christi entgegen dem kerygmatischen Interesse des Konzils einer Tendenz der Metaphysizierung verfallen ist. Dieser Tendenz wäre durch eine Untersuchung der Bedingungen der Formulierungen des Konzils im zeitgenössischen Denken zu begegnen. Dies hängt unmittelbar mit einer anderen Frage zusammen, nämlich wie heute das Symbol von Chalkedon, vor allem seine berühmten Formulierungen über das Verhältnis von Gottheit und Menschheit Jesu Christi, gedeutet werden können. Diesbezüglich hat K. Rahner, aufbauend auf dem Heideggerschen Programm einer ontologischen Phänomenologie, eine christologische und auch eine schöpfungstheologische Vertiefung formuliert.77 J. Wohlmuth fordert nun eine Überschrei- 75 76 77 Ch. Schönborn, Gott sandte seinen Sohn, 145. Vgl. ebd., 147. Vgl. K. Rahner, Probleme der Christologie von heute, in: ders., Schriften zur Theologie I, 169-222. 248 tung dieses Versuchs über das Ontologische hinaus.78 In Anlehnung an Lévinas’ Kritik der Ontologie fragt Wohlmuth, ob der nach Rahner ontologisch verfasste chalkedonische Text des 5. Jahrhunderts „für einen trans-ontologischen Interpretationsversuch, der sich auf die Gegebenheit des Phänomens Jesus von Nazareth bezieht, offen ist.“79 Dafür stützt sich Wohlmuth auf den Begriff der Gegebenheit, in der sich die Nähe und Unmittelbarkeit Gottes kundtut und in der alle ontologischen Reduktionen zum Scheitern kommen sollen. In dieser aller Sprache vorausgehenden, nicht mehr reduzierbaren Gegebenheit müssen dann „die Offenbarungsphänomene von ihrer sinnlichen Wucht der Anschauung her den Seinshorizont des Subjektes durchbrechen und das Ich schließlich – des transzendentalen Status vollends beraubt – zum Ort des Empfangens schlechthin machen.“80 Für ihn steht die radikalste Passivität des Menschseins der christologischen Kenosislehre sehr nahe. Auf dieser Fährte könnte man das von Lévinas über die Ontologie hinaus vorangetriebene phänomenologische Projekt auf das Phänomen Jesus Christus von Nazareth übertragen. So ist Jesus Christus ein allem Gesagten vorgegebenes Gesicht (Person), das alle ontologischen Kategorien sprengt. Er ist das hingegebene Fleisch, in dem die vollkommene Göttlichkeit aufleuchtet. In der Person Jesu Christi und in seinem Schicksal kommen die Göttlichkeit und die Menschlichkeit vollkommen zusammen. Der folgende Abschnitt formuliert das Ergebnis der christologischen Reflexion Wohlmuts: „Die trans-ontologische Denkfigur, die Lévinas in seinem philosophischen Gesamtwerk entwickelt hat, kann zuletzt dazu verhelfen, das vom Chalkedon ausgesprochene ‚vollkommen in der Gottheit‘ und ‚vollkommen in der Menschheit‘, das so schwer zu denken ist, solange man es als Einigung zweier ontologischer Größen (‚Substanzen‘) versteht, in folgender Weise auszulegen: Jesu Menschsein in seiner konkreten historischen, in die Überlieferungsgeschichte und Sprachtradition des frühen Judentums situierte(n) Gestalt läßt das ‚vollkommene Göttliche‘ in inkarnierter Leiblichkeit aufleuchten, in der sich Selbstbewußtsein und Hingabefähigkeit gegenseitig bedingen und sich die absolute Nähe des ‚vollkommenen Göttlichen‘ in der Art seines Lebens und Sterbens zeigt. [...] Fragt man: Wer ist dieser?, so ist in trans-ontologischer Sicht Jesus in seiner Menschlichkeit nicht ‚Höchstfall‘ des Gott-Mensch-Verhältnisses, sondern absolut einziges und unvergleichliches Ereignis ‚Gott-Mensch‘.“ 78 79 80 81 81 Vgl. J. Wohlmuth, Chalkedonische Christologie und Metaphysik, 335-339. Ebd., 345. Ebd., 343f. Ebd., 351f. 249 Bezüglich des Verhältnisses von Gottheit und Menschheit Jesu Christi bleibt noch die Frage zu beantworten, wie der Punkt bzw. das Prinzip der Vermittlung der beiden Naturen für die heutige Theologie formuliert werden kann. Das Konzil von Chalkedon hatte dieses eigentlich zum Glaubensmysterium gehörende und daher im Glauben zu erkennende Verhältnis in der Hypostatischen Union ebenfalls mit negativen Bestimmungen zu erklären versucht. Ist damit aber nur „eine fundamentale aporetische Konstellation bezeichnet, die in der Formel selbst zum Ausdruck kommt, um eben mit dieser paradoxal aporetischen Lösung den grundlegenden theologischen Konflikt zu steuern“82? Mit diesem Befund meint G. M. Hoff, dass das Zu- und Ineinander von Göttlichkeit und Menschlichkeit in Jesus Christus eine bleibende christologische Grundaporie ist und dass die chalkedonische Definition diese gerade als unüberwindbare ausgewiesen hat.83 Diese Aporie lässt sich nicht positiv ausdenken und formulieren, sondern nur in einer Kriteriologie der Negativen Theologie, die dem Aussagen des Unsagbaren Grenzen zieht, steuern.84 Es scheint nun gerade auf diese bleibende Aporie der Vermittlung Derridas Begriff der différance bezogen werden zu können. Dies hat G. M. Hoff angedeutet, aber nicht mehr ausgeführt.85 Wie gesehen wäre Derrida nicht damit einverstanden, die différance auf mehr oder weniger direkte Wiese auf eine wenn auch noch so negative Theo-logie anzuwenden (vgl. Kap. 2.2 dieser Arbeit). Die différance steht nicht für einen Namen Gottes, solange man diesen ontologisch fasst. Bei einem solchem Versuch bezeichnet der Name Gottes ein ursprüngliches, höchstes Signifikat und ein letztes Ziel, in dem alle Differenzen und Spuren in eine erfüllte Präsenz aufgehen. In diesen Gesten, „nach denen eine Onto-Theologie, welche den archäologischen oder eschatologischen Sinn des Seins als Präsenz, als Parusie, als Leben ohne *Differenz bestimmt, nachdrücklich verlangt“, ist der Name Gottes für Derrida „der Name der Indifferenz schlechthin.“86 Die différance ist dagegen, im Lévinasschen Sinne gedeutet, „eine ‚Nicht-In-Differenz‘ (frz. Non-in-différence), die sich in ihrer doppelten Verneinung zwar nicht mehr logisch in eine Positivität aufheben läßt, aber dennoch ethisch bedeutsam ist als eine Differenz, die dem Anderen gegenüber nicht indifferent bleibt und nicht indifferent bleiben kann“87. 82 83 84 85 86 87 G. M. Hoff, Chalkedon im Paradigma Negativer Theologie, 359. Vgl. ebd., 365. Vgl. ebd., 369. Vgl. ebd., 369f. J. Derrida, Grammatologie, 124f. * Im Original différance. A. Letzkus, Dekonstruktion und ethische Passion, 365f. 250 Différance als Spur, die jedem Anwesend-Seienden vorausgeht und in der sich das Verhältnis zum Anderen abzeichnet, hält das Andere im Selben eben als Anderes präsent, ohne beides und deren Verhältnis in einer Dialektik oder synthetischen Logik aufzuheben. Und genau in diesem Sinne scheint Derridas différance in der Lage zu sein, die ursakramentale Struktur Jesu Christi in ihrer aporetischen Unhintergehbarkeit zu beschreiben, die das Konzil von Chalkedon zum Ausdruck gebracht hat. Die différance bewahrt die Abgründigkeit zwischen Gott und Mensch an der Grenze, hält aber zugleich die Möglichkeit der Vermittlung, der realen Begegnung zwischen Gott und Menschen offen. Mit ihr könnte also auf den Punkt und das Prinzip nicht nur der Einheit sondern auch der Unterschiedenheit von Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu Christi hingedeutet werden. Freilich sollte man hier nicht verkennen, dass die Glaubenswahrheiten sich nicht in dieser Strukturalität erschöpfen. Bereits oben wurde mit Ch. Schönborn angemerkt, dass die negativen theologischen Bestimmungen von Chalkedon auf positive Glaubensinhalte hinauslaufen, wenngleich dieser Überschritt in der Tat nur analog geschehen kann. Die Struktur und das Verhältnis von zwei Naturen in einer Person werden in der negativen Grenzziehung der différance oder in der sich verbergenden Spur des Anderen präzise erhellt. Différance, die negativste Vermittlung der Differenzen, ist nicht in der Lage, die Offenbarungsinhalte positiv zu beschreiben. Die différance steht in jedem positiven, das heißt geschriebenen und zu schreibenden Text der Theologie als „schweigendes Denkmal“88, das sich von Anfang an, sobald man zu schreiben beginnt, zeigt und darin Brücke sowie Grenze markiert. Diese begriffliche Schärfe der Derridaschen Kritik scheint für jeden Diskurs, der sich um Vermittlung von Absolutheit müht, auch für die Theologie, ein großer Gewinn. 88 J. Derrida, Die différance, 32. 251 ABSCHLUSS: ORT DES ANFANGS Derridas Denken ist einer subversiven Störung und Erschütterung der Geschichte der Philosophie verpflichtet. Darin erschöpft es sich aber nicht, es kehrt vielmehr diesseits des gesicherten Diskurses der Philosophie zurück und sucht weiter nach einer universalen Grundlage jeden Diskurses, sei er philosophisch, literarisch oder sozio-politisch. Dieses Unternehmen ist bei Derrida – wie zum Beispiel in den Texten Wie nicht sprechen, Chora, Außer den Namen und Glaube und Wissen deutlich wird – verbunden mit dem Versuch, den Ort zu denken, in dem sich das Sprechen bzw. das Nicht-Sprechen ereignet. Ein Begriff für diesen Ort, der sich der metaphysischen Ordnung entzieht, ist chora, ohne Artikel.1 Nach Derrida ist chora weder ein Philosophem noch eine Art der Erzählung mythischen Typs. Als Matrix, als „Behältnis“ lässt sie sich von keinem Diskurs über sie ergreifen und zu einem Gegenstand werden. Chora nimmt vielmehr alle Bestimmungen wie das Sein, das Gute, den Mensch, die Geschichte usw. in sich auf und gibt ihnen Form und Statt, wobei sie dennoch keine dieser Bestimmungen selbst als Eigennamen oder Eigentum besitzt. Sie geht jeder unterscheidend identifizierenden Signifikation – auch einer ontologischen Differenzierung – voraus. Sie ist der Ort selbst, der sich niemals gegenwärtigen lässt, in dem aber alle metaphysischen Unterscheidungen und Effekte einer Gegenwart aufgenommen und referiert werden, wobei der Referent dieser Referenz nicht existiert. Als „Behältnis“ kann man chora mit einer Amme vergleichen, ein zu keinem Oppositionspaar gehörendes drittes Geschlecht. Sie verzeichnet „einen abseits gelegenen Platz, den Zwischenraum, der eine dissymmetrische Beziehung wahrt zu allem, was ‚in ihr‘, ihr zur Seite oder ihr entgegen ein Paar mit ihr zu bilden scheint. In dem außerpaarlichen Paar können wir diese eigentümliche Mutter, die Statt gibt, ohne zu erzeugen, nicht mehr als einen Ursprung ansehen. Vor-ursprünglich, vor und außerhalb aller Generation, hat sie nicht einmal mehr den Sinn eines Vergangenen, einer vergangenen Gegenwart/eines vergangenen Geschenks (d’un présent passé). Vor bedeutet keinerlei zeitliche Vergangenheit.“2 1 2 Den neuen Begriff im alten Namen chora entfaltet Derrida anhand einer Lektüre von Platons Timaios. Vgl. J. Derrida, Chora, in: ders., Über den Namen, 125-170. Ebd., 162. 252 Es ist unschwer zu erkennen, dass das, was hier als chora beschrieben wird, der différance ähnlich ist, die Derrida als Aufschub, Intervall und Zwischenraum, als Temporisation und Verräumlichung in die binär-hierarchische, präsenzmetaphysische Ordnung eingeschrieben hat. Der damit markierte vor-ursprüngliche Bruch ist älter als jede metaphysische Bestimmung, sogar als die ontologische Differenz. Auf die gleiche Weise situiert sich chora jenseits des Denkens des Ursprungs und ist immer schon auch im Innen der onto-theologischen Tradition am Werk. An anderer Stelle umschreibt Derrida diesen Zusammenhang wie folgt: „Chora, [...], ein besonderer Name für den Ort jener Verräumlichung, die sich von keiner theologischen, ontologischen oder anthropologischen Instanz beherrschen läßt, die alterslos und geschichtslos ist, älter als alle Gegensätze (etwa als der Gegensatz zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen), und die sich nicht einmal auf einem negativen Weg als etwas ankündigen läßt, was sich ‚jenseits des Seins‘ hält. So ist chora unempfindlich und unerschütterlich, sie bleibt allen Prozessen geschichtlicher Offenbarung oder anthropotheologischer Erfahrung gegenüber ein Fremdartiges, mögen sie auch ihrerseits der Abs3 traktion bedürfen, an die wir mit chora rühren.“ Die Theologie muss sich fortwährend auf den Ort besinnen, in dem sie Statt findet. Ist chora der Ort, zu dem die Rede von Gott zurückkehrt und aus dem sie schöpft? Direkter gesagt, beschreibt chora den Ort der Offenbarung, in dem das Namenlose, das Zeitlose, das Geheime, das Göttliche sich wahrt und der dennoch offen ist für eine Wahrnehmung in begrifflicher Abstraktion und Vermittlungen? Diese theologische Interpretation scheint sich zu rechtfertigen, wenn Derrida chora mit der „Wüste in der Wüste“ vergleicht, in der auch die jüdischchristlichen Offenbarungen ergangen sind, wenn er fragt, „ob man diese Wüste ‚vor‘ der Wüste denken kann, die uns bekannt ist, ob es sich bewerkstelligen läßt, daß man ‚vor‘ der uns bekannten Wüste von ihr Kunde hat (‚vor‘ der Wüste der Offenbarungen und der Rückzüge, der vielen Leben und Tode Gottes, der Gestalten der Kenose und der Transzendenz, der religio und der geschichtlichen ‚Religionen‘); oder ob nicht ‚im Gegenteil‘ es erforderlich ist, ‚von‘ dieser uns bekannten Wüste aus die Wüste wahrzunehmen, die ihr vorausgeht, die Wüste vor der ersten und letzten Wüste, die ich die Wüste in der Wüste nenne.“ 3 4 4 J. Derrida, Glaube und Wissen, 36. Kursiv im Original. Ebd., 37. Kursiv im Original. 253 Für die Theologie gilt es, jenen Ort zu denken und wahrzunehmen, der die Schwelle ihrer sprachlichen und begrifflichen Möglichkeit darstellt. Wo befindet sich aber dieser Ort? Wo gibt sich sie Möglichkeit ihn zu berühren? 254 Literaturverzeichnis Adorno, Th. W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 51988. Angelus Silesius, Cherubinischer Wandermann, hrsg. v. L. Gnädinger, Stuttgart 1984. Apel, K.-O.: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Kanitscheider, B. (Hg.): Sprache und Erkenntnis, Innsbruck 1976, 5581. Apel, K.-O.: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Philosophie und Begründung, Frankfurt/M. 1987. 116-211. Apel, K.-O.: Transformation der Philosophie I. Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt/M. 1976. Apel, K.-O.: Transformation der Philosophie II. Das Aporie der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973. Apel, K.-O.: Warum transzendentale Sprachpragmatik? Bemerkungen zu H. Krings „Empirie und Apriori“. In: Baumgartner, H. M. (Hg.): Prinzip Freiheit. Eine Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens, Freiburg-München 1979, 13-43. Apel, K.-O: Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? Existentialismus, Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik. In: Ebeling, H. (Hg.): Der Tod in der Moderne, Königstein 1979, 226-235. Aquino, Th. von: Summe der Theologie, hrsg. v. J. Bernhart, Stuttgart 31985. Arndt, A.: Art. „Unmittelbarkeit“. In: Ritter, J. u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 236-241. Arndt, A.: Art. „Vermittlung“. In: Ritter, J. u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 722-726. Arndt, A.: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994. Askani, Th.: Die Frage nach dem Anderen im Ausgang von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida, Wien 2002. Austin, J. L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972. Balthasar, H. U. von: Christlicher Stand, Einsiedeln 21981. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik Bd. III/1, Im Raum der Metaphysik, Teil 2: Neuzeit, Einsiedeln 1965. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik Bd. III/2, Theologie, Teil 1: Alter Bund, Einsiedeln 1967. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik Bd. III/2, Theologie, Teil 2: Neuer Bund, Einsiedeln 1969. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. I, Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. II, Fächer der Stille, Teil 1: Klerikale Stille, Einsiedeln 1962. Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. II, Fächer der Stille, Teil 2: Laikale Stille, Einsiedeln 1962. 255 Balthasar, H. U. von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. III/1, Im Raum der Metaphysik, Teil 1: Altertum, Einsiedeln 1965. Balthasar, H. U. von: Katholisch. Aspekte des Mysteriums, 21975. Balthasar, H. U. von: Spiritus Creator. Skizzen zur Theologie III, Einsiedeln 1967. Balthasar, H. U. von: Theodramatik, Bd. I, Prolegomena, Einsiedeln 1973. Balthasar, H. U. von: Theodramatik, Bd. II, Die Personen des Spiels, Teil 1: Der Mensch in Gott, Einsiedeln 1976. Balthasar, H. U. von: Theodramatik, Bd. II, Die Personen des Spiels, Teil 2: Die Personen in Christus, Einsiedeln 1978. Balthasar, H. U. von: Theodramatik, Bd. III, Die Handlung, Einsiedeln 1980. Balthasar, H. U. von: Theodramatik, Bd. IV, Das Endspiel, Einsiedeln 1983. Balthasar, H. U. von: Theologik, Bd. I, Wahrheit der Welt, Einsiedeln 1985. Balthasar, H. U. von: Theologik, Bd. II, Wahrheit Gottes, Einsiedeln 1985. Balthasar, H. U. von: Theologik, Bd. III, Der Geist der Wahrheit, Einsiedeln 1987. Barnett, B. S. (ed.): Hegel after Derrida, London 1998. Bartels, J. u. a.: Dialektik als offenes System, Köln 1986. Baudrillard, W. u. a.: Der Tod der Moderne. Eine Diskussion, Tübingen 1983. Bauman, Z.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Engl. v. M. Suhr, Hamburg 2000. Bauman, Z.: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999. Behler, E.: Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, München u. a. 1988. Beinert, W., Die Sakramentalität der Kirche im theologischen Gespräch. In: Theologische Berichte IX, Zürich-Einsiedeln-Köln 1980, 13-66. Benjamin, W.: Der Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften I.1, hrsg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M 1974. Bennington, G./Derrida, J.: Jacques Derrida. Ein Portrait von G. Bennington und J. Derrida, übers. v. S. Lorenzer, Frankfurt/M. 1994, (Jacques Derrida, Paris 1991). Berger, A./Moser, G. E. (Hg.): Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne, Wien 1994. Berger, P. L.: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg-BaselWien 1992. Berger, P. L.: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a. M. 1994. Bertram, G. W.: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002. Beuscher, B./Schroeter, H./Sistermann, R. (Hg.): Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Kunst – Religion – Pädagogik, Wien 1996. Beyrich, T.: Ist der Glaube wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin-New York 2001. Boff, L.: Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung, Paderborn 1972. Bogner, D.: Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau. Mainz 2002. Brück, M. v./Werbick, J. (Hg.): Traditionsabbruch – Ende des Christentums? Würzburg 1994. Bucher, R. M.: Die Theologie in Moderne und Postmoderne. Zu unterbliebenen und zu anstehenden Innovationen des Theologischen Diskurses. In: Höhn, H. –J. (Hg.): Theologie, die an der Zeit ist. Entwicklungen – Positionen – Konsequenzen, Paderborn u. a. 1992, 35-58. Buchholz, R.: Zwischen Mythos und Bilderverbot. Die Philosophie Andornos als Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne, Frankfurt/M. u. a. 1991. Bürger, P.: Ursprung des postmodernen Denkens, Göttingen 2000. Caputo, J. D.: Mysticism and Transgression. Derrida and Meister Eckhard. In: Silverman, H. J. (ed.): Derrida and Deconstruction, New York 1989, 24-39. Casper, B. (Hg.): Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg-München 1981. 256 Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/M. 1990. Certeau, M. de: Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/M.-New York 1991. Coreth, E., Philosophische Grundlagen der Theologie Karl Rahners. In: Stimmen der Zeit, Aug. 1994 (Heft 8), 525-536. Coreth, E.: Grundriß der Metaphysik, Innsbruck-Wien 1994. Coreth, E.: Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung, Innsbruck 31980. Coward, H./Foshay, T. (ed.): Derrida and Negative Theology, New York 1992. Critchley, S.: The Ethics of Deconstruction. Derrida and Lévinas, London 1992. Critchley, S.: Überlegungen zu einer Ethik der Dekonstruktion. In: Gondek, H. D./Waldenfels, B. (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie Jacques Derridas, Frankfurt/M. 1997. Culler, J.: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg 1999. Dalferth, I.: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg-Basel-Wien 1993. Derrda, J.: Zirkumfession. In: Derrida, J./Bennington, G.: Jacques Derrida. Ein Portrait von G. Bennington und J. Derrida, Frankfurt/M. 1994. (Jacques Derrida, Paris 1991). Derrida, J.. Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur. In: Welsch, W. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 21994, 215-232. Derrida, J.: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München 1999. (Adieu à Emmanuel Lévinas, Paris 1997). Derrida, J.: Antwort an Apel . In: Zeitmitschrift. Journal für Ästhetik 3 (1987), 76-85. Derrida, J.: Apokalypse. Von einem neuerdings erhobene apokalyptischen Ton in der Philosophie, Wien 1985. (D'un ton apocalyptique adopté naguère en philosophie. Paris 1983). Derrida, J.: Aporien. Sterben – Auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefaßt sein, München 1998. (Apories. Mourir - s’attendre aux „limites de la vérité“, Paris 1996). Derrida, J.: Außer dem Namen. In: ders., Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, 63-121. (Sauf le nom, Paris 1993). Derrida, J.: Chora. In: ders., Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, 123-170. (Chora, Paris 1987). Derrida, J.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992. (L'autre cap. Mémoires, réponses et responsabilités. In: Liber, no.5, Le Monde, 29.09.1990). Derrida, J.: Das Subjektil ent-sinnen. In: P. Thévenin/ J. Derrida: Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits. München 1986, 51-109. (Forcener le subjectile, Paris 1986). Derrida, J.: Den Tod geben. In : Haverkamp, A. (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, 331-445. (Donner le mort. In: Rabaté, J.-M./Wetzel, M. (Hg.): L’ethique du don: Jacques Derrida et la pensée du don, Paris 1992, 11-108). Derrida, J.: Der Entzug der Metapher. In: Bohn, V.: Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt/M. 1987, 317-355. (Le retrait de la métaphore. In: Psyché, 63-93). Derrida, J.: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und Jenseits, 2 Bde., Berlin 1982 und 1987. (La carte postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980). Derrida, J.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972. (L'écriture et la différence, Paris 1967). Derrida, J.: Die Seelenstände der Psychoanalyse, Frankfurt/M 2002. (États d’ame de la psychanalyse, Paris 2000). Derrida, J.: Die Signatur aushöhlen. Eine Theorie des Parasiten. In: Pfeil, H./Jäck, H.-P. (Hg.): Politik des Andersn, Bd. 1: Eingriffe im Zeitalter der Medien, Rostock 1995. Derrida, J.: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Phänomen des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979. (La voix et le phénomène, Paris 1967). Derrida, J.: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Engelmann, P. (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gengenwart, Stuttgart 1990, 114-139. 257 Derrida, J.: Die Tode von Roland Barthes, Berlin 1987. (Les morts de Roland Barthes. In: Psyché, Paris 1987, 273-304). Derrida, J.: Die unbedingte Universität, Frankfurt/M. 2001. Derrida, J.: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992. (La vérité en peinture, Paris 1978). Derrida, J.: Dissemination, Wien 1995. (La dissémination, Paris 1972). Derrida, J.: Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich. In: Mayer, M./Hentschel, M.: Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen 1990, 42-83. (En ce moment m?e dans cet ouvrage me ici. In: Psyché, Paris 1987, 159-202). Derrida, J.: Falschgeld. Zeit geben I. München 1993. (Donner le temps I., La fausse monnaie, Paris 1991). Derrida, J.: Feuer und Asche, Berlin 1988. (Feu la cendre, Paris 1987). Derrida, J.: Geschlecht (Heidegger), Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien 1988. (Geschlecht: différence sexuelle, différence ontologique / La main de Heidegger <Geschlecht II>, In: Psyché, Paris 1987, 395-451). Derrida, J.: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/M. 1991. (Force de loi. In: Cardozo Law Review, Bd. 11, New York 1990, 920-1045). Derrida, J.: Gestade, Wien 1994. (Parages, Paris 1986). Derrida, J.: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas. In: der., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, 121-235. Derrida, J.: Glas, Paris 1974. Derrida, J.: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der „Religion“ an der Grenzen der bloßen Vernunft. In: ders./Vattimo, G.: Die Religion, Frankfurt/M. 2001, 9-106. Derrida, J.: Grammatologie, Frankfurt/M. 1974. (De la grammatologie, Paris 1967). Derrida, J.: Heideggers Ohr. In: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000. 411-492. (Politiques de l’amitié, Paris 1994, 341-419). Derrida, J.: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, Ein Kommentar zur Beilage II der "Krisis", München 1987. (Edmund Hussel: L'Origine de la géometrie, Paris 1962). Derrida, J.: Letter to a Japanese Friend. In: Wood, D./Bernasconi, R. (ed.): Derrida and „Différance, Evanston III, Northwestern University Press 1988, 1-5. Derrida, J.: Limited Inc., Wien 2001. (Limited Inc, Evanston III, Northwestern University Press 1988). Derrida, J.: Marx' Gespenster. Die Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 1996. (Spectres de Marx – L'état de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale. Paris 1993). Derrida, J.: Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988. (Mémoires – pour Paul de Man, Paris 1988). Derrida, J.: Passionen, In: ders., Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, 15-62. (Passions, Paris 1993). Derrida, J.: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000. (Politiques de l’amitié, Paris 1994). Derrida, J.: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Hondebine, Guy Scarpetta, Wien 1986. (Positions, Paris 1972). Derrida, J.: Post-Scriptum: Aporias, Ways and Voices. In: Coward, H./Foshay, T. (ed.): Derrida and Negative Theology, New York 1992, 283-323. Derrida, J.: Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1991. (Préjugés: Devant la loi. In: La faculté de juger. Paris 1985, 87-139). Derrida, J.: Psyché, Paris 1987. Derrida, J.: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. P. Engelmann, Wien 1988. (Marges de la Philosophie, Paris 1972). Derrida, J.: Recht auf Einsicht, Wien-Graz 1985. (Droit de regards, Paris 1972). Derrida, J.: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 1986. (Schibboleth – pour Paul Celan, Paris 1986). Derrida, J.: Sporen. Die Stile Nietzsches. In: Hamacher, W. (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/Berlin 1986. (Epérons. Les styles de Nietzsche, Paris 1978). 258 Derrida, J.: Ulysses Grammophon. Zwei Deut für Joyce. Berlin 1988. (Ulysse grammophone. Deux mots pour Joyce, Paris 1987). Derrida, J.: Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt/M. 1992. (De l'esprit. Heidegger et la question, Paris 1987). Derrida, J.: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989. (Comment ne pas parler. Dénégations. In: Psyché, Paris 1987, 535-595). Derrida, J.: Zirkumfession. In: Bennington, G./Derrida, J.: Jacques Derrida. Ein Portrait von G. Bennington und J. Derrida, übers. v. S. Lorenzer, Frankfurt/M. 1994. (Jacques Derrida, Paris 1991). Derrida. J.: Der Entzug der Metapher. In: Bohn, V.: Romantik, Literatur und Philosophie, Frankfurt/M. 1987, 317-355. (Le retrait de la métaphore. In: Psyché, Paris 1987, 63-93). Derrida. J.: Die différance. In: ders: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. P. Engelmann, Wien 1988 (Marges de la Philosophie, Paris 1972), 31-56. Derrida. J.: Qual Quelle. Die Quellen Valérys. In: ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. P. Engelmann, Wien 1988 (Marges de la Philosophie, Paris 1972), 291-324. Derrida. J.: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. P. Engelmann, Wien 1988 (Marges de la Philosophie, Paris 1972), 325-351. Dionysius Areopagita: Mystische Theologie und Briefe, übers. v. A. M. Ritter, Stuttgart 1994. Dionysius Areopagita: Von den Namen zum Unnennbaren, Einleitung v. E. Ivánka, Einsiedeln 31990. Dirscherl, E.: Die Bedeutung der Nähe Gottes. Ein Gespräch mit Karl Rahner und Emmanuel Lévinas, Würzburg 1996. Dohmen, Chr.: Art. „Bild“. In: 3LThK, Bd. I, 441 Dohmen, Chr.: Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament, Bonn 1985. Döring, H./Kreiner, A./Schmidt-Leukel, P.: Den Glauben denken. Neue Wege der Fundamentaltheologie, Freiburg- Basel- Wien 1993. Dosse, F.: Geschichte des Strukturalismus, 2 Bde., Hamburg 1996/1997. Dreisholtkamp, U.: Jacques Derrida, München 1999. Ebeling, H.: Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung, Hamburg 1993. Eco, U.: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985. Eder, K.: Wertwandel. Ein Beitrag zur Diagnose der Moderne? in: Luthe, H. O./Muelemann, H. (Hg.): Wertwandel – Faktum oder Fiktion? Frankfurt/M. 1988, 257-294. Eicher, P., Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie, München 1977. Eicher, P.: Neuzeitliche Theologie. Die katholische Theologie In: ders. (Hg.): Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1991 (Erweiterte Neuausgabe), 7-46. Eliade, M.: Das Mysterium der Wiedergeburt. Versuch über einige Initiationstyopen, Frankfurt/M. 1997. Engel, U.: Wer B(rth) sagt, muss auch A(leph) sagen. Philosophisch-theologische Spekulationen zur klanglosen „différ( )nce“ (Derrida). In: Wort und Antwort 42 (2001), 9-14. Engelmann, P. (Hg.): Philosophien. Gespräche mit Michel Foucault u. a., Graz-Wien 1985. Engelmann, P. (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990. Engelmann, P.: Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. In: ders. (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, 5-32. Faber, E.-M.: Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 2002. Fehler, J.: Die Theorie des Zeichens bei Saussure und Derrida oder Jacques Derridas SaussureLektüre. In: Cahiers Ferdinand Saussure 46 (1992), 35-54. Feifel, E./Kasper, W. (Hg.): Tradierungskrise des Glaubens, München 1987. 259 Finkenzeller, J.: Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen, Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV, Fasz. 1a und 1b, Freiburg 1980/1981. Forget, Ph. (Hg.): Text und Interpretation, München 1984. Foucault, M.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 8 1989. Foucault, M.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1973. Foucault, M.: Was ist ein Autor?. In: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, 7-31. Frank, M.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt/M. 1980. Frank, M.: Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M. 1988. Frank, M.: Subjekt, Person, Individuum. In: ders./Raulet, G./Reijen W. v.(Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, 7-28. Frank, M.: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt/M. 1984. Freud, S.: Das Unheimliche. In: Studienausgabe, Bd. III, hrsg. v. A. Mitscherlich, Frankfurt/M. 1975. Freyer, T./Schenk, R. (Hg.): Emmanuel Lévinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996. Freyer, Th.: „Nähe“ – eine trinitätstheologische Schlüssel-„kategorie“? Zu einer Metapher von Emmanuel Lévinas. In: Theologie der Gegenwart 40 (1997), 271-288. Freyer, Th.: Emmanuel Lévinas’ Vorstellung vom Gott-Menschen. Eine Herausforderung für die Christologie ? : Theologische Quartalschrift 179 (1999) 52-72. Freyer, Th.: Sakrament – Transitus – Zeit – Transzendenz. Überlegungen im Vorfeld einer liturgischästhetischen Erschließung und Grundlegung der Sakramente, Würzburg 1995. Funk, F.: "Man muß das Denken unterbrechen!" Emmanuel Lévinas: Philosoph des diachronischen Bruchs. In: Schirmacher, W. (Hg.): Zeitkritik nach Heidegger, Essen 1989, 89-105. Fürst, G. (Hg.): Dialog als Selbstvollzug der Kirche? Freiburg-Basel-Wien 1997. Füssel, K./Sölle, D./Steffensky, F.: Die Sowohl-als-auch-Falle. Eine theologische Kritik des Postmodernismus, Luzern 1993. Gabriel, K.: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg-Basel-Wien 41994. Gadamer, H.–G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975. Ganoczy, A.: Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 21984. Gehring, P.: Gesetzeskraft und mystischer Grund. Die Dekonstruktion nähert sich dem Recht. In : Gondek, H. D./Waldenfels, B. (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie Jacques Derridas, Frankfurt/M. 1997, 226-255. Gerber, U. (Hg.): Religiosität in der Postmoderne. Frankfurt/M. 1998. Gerken, A.: Theologie der Eucharistie, München 1973. Gerling, P.: Innen des Außen – Außen des Innen. Foucault, Derrida, Lyotard, München 1994. Giddens, A.: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 21997. Gondek, H. D./Waldenfels, B. (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie Jacques Derridas, Frankfurt/M. 1997. Grillmeier, A.: Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg 21986. Grillmeier, A/Bacht, H. (Hg.): Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart, Bd. 1-3, Würzburg 51979. Grünwaldt, K.: Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat im der Priesterschrift, Frankfurt/M. 1992. Haas, A. M.: Hans Urs von Balthasar – Vermittlung als Auftrag. In: Vermittlung als Auftrag, hrsg. v. Hans Urs von Balthasar – Stiftung, Einsiedeln-Freiburg 1995, 11-26. Habermas, J.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988. 260 Habermas, J.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996. Habermas, J.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt? In: Welsch, W. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1998, 177-192. Habermas, J.: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985. Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 91988. Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973. Habermas, J.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983. Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981. Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981. Habermas, J.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt/M. 1997. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984. Habermas, Was ist Universalpragmatik? In: Apel, K.-O. (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, 174-272. Halder, A./Kienzler, K./Möller, J. (Hg.): Auf der Suche nach dem verborgenen Gott. Zur theologischen Relevanz neuzeitlichen Denkens, Düsseldorf 1987. Hanzig-Bätzing, E.: Entgrenzung als Bedingung gelingenden Lebens in der Postmoderne. In: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), 284-300. Hart, K.: The trespass of the sign. Deconstruction, theology and philosophy, Cambridge 1989. Haverkamp, A.: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida liest Benjamin, Frankfurt/Main 1994. Hegel, G. W. Fr.: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. v. W. Bonsiepen und R. Heede, Hamburg 1980. Heidegger, M.: Identität und Differenz, Pfullingen 61978. Heidegger, M.: Sein und Zeit, Tübingen 161986. Heidegger, M.: Zur Seinsfrage. In: Wegmarken (Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt/M. 31996, 385-426. Heijden, B. v. d.: Karl Rahner. Darstellung und Kritik seiner Grundpositionen, Einsiedeln 1973. Henrici, P.: Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars. In: Lehmann, K./Kasper, W. (Hg.): Hans Urs von Balthasar – Gestalt und Werk, Köln 1989, 237-259. Hentschel, M.: Das Heilige bei Lévinas. In: Mayer, M./Hentschel, M. (Hg.): Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen 1990, 195-222. Herberg, J.: Kirchliche Heilsvermittlung. Ein Gespräch zwischen Karl Bart und Karl Rahner, Frankfurt/M. 1978. Hirsch, A. (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997. Hochstaffl, J.: Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung der patristischen Begriffs, München 1976. Hoff, G. M.: Aporetische Theologie. Skizze eines Stils fundamentaler Theologie, Paderborn u. a. 1997. Hoff, G. M.: Chalkedon im Paradigma Negativer Theologie. In: Theologie und Philosophie 70 (1995), 355-372. Hoff, G. M.: Die prekäre Identität des Christlichen. Die Herausforderung postmodernen Differenzdenkens für eine theologische Hermeneutik. Paderborn-München-Wien-Zürich 2001. Hoff. J.: Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida. Paderborn-MünchenWien-Zürich 1999. Höfliger, J.-C.: Jacques Derridas Husserl-Lektüren, Würzburg 1995. Höhn, H. –J. (Hg.): Theologie, die an der Zeit ist. Entwicklungen – Positionen – Konsequenzen, Paderborn u. a. 1992. Höhn, H.-J. (Hg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1996. 261 Höhn, H.-J.: Gesellschaft im Übergang – Theologie im Wandel. In: Theologie der Gegenwart 32 (1989), 83-94. Hörisch, J.: „Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins“, das Vorwort seiner Übersetzung von J. Derridas Die Stimme und das Phänomen, 7-50. Horkheimer, M./Adorno, Th. W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Pragmente, Frankfurt/M. 1969. Horstmann, U.: Parakritik und Dekonstruktion. Eine Einführung in den amerikanischen Poststrukturalismus, Würzburg 1983. Hünermann, P./Schaeffler, R. (Hg.): Theorie der Sprachhandlungen und heutige Ekklesiologie, Freiburg-Basel-Wien 1987. Hünermann, P.: Die sakramentale Struktur der Wirklichkeit. Auf dem Weg zu einen erneuten Sakramentenverständnis, in: Herder-Korrespondenz 36 (1982), 340-345 Hünermann, P.: Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven, Münster 1995. Hünermann, P.: Jesus Christus – Gottes Wort in der Zeit. Eine systematische Christologie, Münster 1994. Husserl, E.: Die Krise der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21962. Husserl, E.: Logische Untersuchungen, 2 Bde. (Husserliana XIX/1,2), Den Haag1984. Husserl, E.: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Husserliana X), Den Haag 1966. Jabès, E.: Das Buch der Fragen, Frankfurt/M. 1989. John, O.: Theologie nach Auschwitz und postmoderne Mentalität. In: Peters, T. R./Pröpper, Th./Steinkamp, H (Hg.): Erinnern und Erkennen. Denkanstöße aus der Theologie von Johann Baptist Metz. Düsseldorf 1993, 123-134. Jost, C.: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte, Medizinische Diskurse, Schrifttheorien, Stuttgart-Weimar 2000. Kamper, D./Reijen, W. v. (Hg.): Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/M. 1987. Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kant Werke, Bd. VI, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1956. Kasper, W.: Jesus der Christus, Mainz 111992. Katechismus der katholischen Kirche, deutsche Ausgabe: München 1993. Kaufmann, F.-X.: Zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums heute. In: Bertsch, L./Schlösser, F. (Hg.): Kirchliche und nichtkirchliche Religiosität, Freiburg i. Br. 1978, 11-48. Kehl, M.: Kirche als Institution, Frankfurt/M. 1976. Kehl, M.: Wohin geht die Kirche? Eine Zeitdiagnose, Freiburg-Basel-Wien 1996. Kessler, H.: Christologie. In: Schneider, Th. (Hg.): Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Düsseldorf 1992, 241-442. Kessler, H.: Partikularität und Universalität Jesu Christi. Zur Hermeneutik und Kriteriologie kontextueller Christologie. In: Schwager, R. (Hg.): Relativierung der Wahrheit? Kontextuelle Christologie auf dem Prüfstand, Freiburg-Basel-Wien 1998, 106-155. Kienzler, K.: Gotteserkenntnis. In: Eicher, P. (Hg.): Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, 301-311. Kierkegaard, S.: Die Wiederholung. Gesammelte Werke, Bd. 6, übers. und hrsg. v. E. Hirsch/H. Gerdes/H. M. Junghans, Gütersloh 1986-1995. Kierkegaard, S.: Furcht und Zittern. Gesammelte Werke, Bd. 5, übers. und hrsg. v. E. Hirsch/H. Gerdes/H. M. Junghans, Gütersloh 1986-1995. Kierkegaard, S.: Philosophische Brocken, Gesammelte Werke, Bd. 8, übers. und hrsg. v. E. Hirsch/H. Gerdes/H. M. Junghans, Gütersloh 1986-1995. Kierkegaard, S.: Vorworte. Gesammelte Werke, Bd. 9, übers. und hrsg. v. E. Hirsch/H. Gerdes/H. M. Junghans, Gütersloh 1986-1995. 262 Kim, S.-T.: Christliche Denkform: Theozentrik oder Anthropozentrik? Die Frage nach dem Subjekt der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Johann Batptist Metz, Freiburg Schweiz 1999. Kimmerle, H.: Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? Zu Habermas’ Deutung der philosophischen „Postmoderne“. In: Frank, M/Raulet, G./Reijen, W. van (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, 267-282. Kimmerle, H.: Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg 1988. Kimmerle, H.: Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg 2000. Klaghofer-Treitler, W.: Gotteswort im Menschenwort. Inhalt und Form von Theologie nach Hans Urs von Balthasar, Innsbruck-Wien 1992. Knapp, M./Kobusch, Th. (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Text der Moderne/Postmoderne, Berlin-New York 2001. Knauer, P.: Die chalzedonische Christologie als Kriterium für jedes christliche Glaubensverständnis. In: Theologie und Philosophie 60 (1985), 1-15. Knoch, W.: Gott sucht den Menschen. Offenbarung, Schrift, Tradition, Paderborn 1997. Knoepffler, N.: Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft, Innsbruck-Wien 1993. Koch, G.: Sakramentenlehre – Das Heil aus den Sakramenten. In: Beinert, W. (Hg.): Glaubenszugänge, Bd. 3, Paderborn 1995, 309-523. Kofman, S.: Derrida lesen, Wien 1988. Köhnlein, M.: Was bringt das Sakrament? Disputation mit Karl Rahner, Göttingen1971. Köpper, A.: Dekonstruktive Textbewegungen. Zu Lektüreverfahren Derridas. Wien 1999. Koslowski, P./Spaemann, R./Löw, R. (Hg.): Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986. Krauß, D.: Die Politik der Dekonstruktion. Politische und ethische Konzepte im Werk von Jacques Derrida, Frankfurt/M.-New York 2001. Kreutzer, K.: Transzendentales versus hermeneutisches Denken. Zur Genese des religionsphilosophischen Ansatzes bei Karl Rahner und seiner Rezeption durch Johann Baptist Metz, Regensburg 2002. Küng, H./Tracy, D. (Hg.): Theologie – wohin? Zürich u. a. 1984. Küng, H.: Menschwerdung Gottes, Freiburg 1970. Kunstmann, J.: Christentum in der Optionsgesellschaft. Postmoderne Perspektiven, Weinheim 1997. Lagemann, J./Gloy, K.: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida – eine Einführung, Aachen 1998. Lehmann, K./Kasper, W. (Hg.): Hans Urs von Balthasar – Gestalt und Werk, Köln 1989. Leitch, V. B.: Deconstruktive Criticism. An Advanced Introduction, New York 1983. Lesch, W./Schwind, G. (Hg.): Das Ende der alten Gewißheiten. Theologische Auseinandersetzung mit der Postmoderne, Mainz 1993. Letzkus, A.: Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach Jacques Derrida und Emmanuel Levinas, München 2002. Lévinas, E.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 31992. (Eine Auswahl aus: En découvrant l'existance avec Husserl et Heidegger, Paris, 1949, 2. Stark vermehrte Ausgabe 1967). Lévinas, E.: Die Zeit und der Andere. Hamburg, 1984. (Le temps et l'autre. In: hrsg. v. J. Wahl: Le choix, le monde, l'existence, Paris 1947, 125-196). Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg, 1989. (Humanisme de l'autre homme, Montpellier 1972). Lévinas, E.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg-München 1987. (Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974). Lévinas, E.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München, 1987. (Totalité et infini. Essai sur l'extériorité, Den Haag, 1961). 263 Lévinas, E.: Vom Sakralen zum Heiligen. Fünf neue Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1988. (Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudques, Paris 1977). Levy, Z.: Der Begriff der Spur bei E. Lévians und J. Derrida. In: Prima philosophia, 4. Jg., Heft 2, April-Juni 1991. Licht, T.: Karl Rahners Theorie vom ‚übernatürlichen Existential‘ – ein fundamentaltheologisches Problem? In: Larcher, G./Müller, K./Pröpper, Th. (Hg.): Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 139-147. Lies, L.: Sakramententheologie. Eine personale Sicht, Graz 1990. Link, Ch.: Ist Theologie ohne Metaphysik möglich? In: Knapp, M./Kobusch, Th. (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, Berlin-New York 2001. Lochman, J. M.: Glaube im Kontext der Postmoderne. In: Theologische Zeitschrift 55 (1999), 2/3, 176-186. Lohfink, N.: Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg u. a. 1987. Lorenzer, A.: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt/M. 1984. Luckmann, Th.: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1991. Luibl, H. J. (Hg.): Spurensuche im Grenzland. Postmoderne Theorien und protestantische Theologie, Wien 1996. Lyotard, J. F.: Postmoderne für Kinder, Wien 1987. Lyotard, J.-F.: Beantwortung der Frage: Was ist Postmoderne? In: Welsch, W (Hg.): Wege aus der Moderne, 193-203. Lyotard, J.-F.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989. Lyotard, J.-F.: Das postmoderne Wissen, Ein Bericht, Wien 1986. Lyotard, J.-F.: Der Widerstreit, München 1987. Lyotard, J.-F.: Die Moderne redigieren. In: Welsch, W. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 204-214. Mai, K.: Die Phänomenologie und ihre Überschreitungen. Husserls reduktives Philosophieren und Derridas Spur der Andersheit, Stuttgart 1996. Man, P. de.: Ästhetische Ideologie, hg. von Ch. Menke, Frankfurt/M. 1993. Man, P. de: Allegorien des Lesens, übers. v. W. Hamacher und P. Krumme, Frankfurt/M. 1988. Marx, W.: Die Phänomenologie Edmund Husserls. Eine Einführung, München 21987. Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, übers. und hrsg. v. J. Quint, München 61985. Menke, K.-H.: Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003. Menke, K.-H.: Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln-Freiburg 21997. Metz, J. B.. Anamnetische Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissenschaften. In: Honneth, A. u. a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, 733-738. Metz, J. B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992. Metz, J. B.: Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne. In: Stimmen der Zeit 125 (2000) Heft 3, 147-159. Möde, E.: Die neue Einsamkeit der Postmoderne, München 1995. Möde, E.: Fundamentaltheologie in postmoderner Zeit. Ein anthropotheologischer Entwurf, München 1994. Möller, J.: Art. „Vermittlung“. In: Fries, H. (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. II, München 1963, 769-773. 264 Müller, G. L.: Die einzigkeit der Heilsmittlerschaft Christi im Kontext des religiösen Pluralimus. In: Schwager R. (Hg.): Relativierung der Wahrheit? Kontextuelle Christologie auf dem Prüfstand, Freiburg-Basel-Wien 1998, 156-185. Müller, K. (Hg.): Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998. Müller, W. W.: Das Symbol in der dogmatischen Theologie. Eine symboltheologische Studie anhand der Theorien bei K. Rahner, P. Tillich, P. Ricoeur und J. Lacan, Frankfurt/M. u. a. 1990. Neu, D.: Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“ unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion, Berlin 1997. Nocke, F.-J.: Sakramententheologie. Ein Handbuch, Düsseldorf 1997. O’Donohue, J.: Person als Vermittlung. Die Dialektik von Individualität und Allgemeinheit in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Mainz 1993. Ouellet, M.: Die Botschaft der Theologie Hans Urs von Balthasars an die neuzeitlichen Theologie. In: Vermittlung als Auftrag, hrsg. v. Hans Urs von Balthasar – Stiftung, Einsiedeln-Freiburg 1995, 173-206. Pemsel-Maier, S.: Rechtfertigung durch Kirche?, Würzburg 1991. Plümacher, M.: Art. „Symbol/symbolische Form. In: Sandkühler, H. J. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, 1572. Plüss, D.: Das Messianische. Judentum und Philosophie im Werk Emmanuel Levinas, Stuttgart 2001. Prechtl, P.: Saussure zur Einführung, Hamburg 1994. Puntel, L.B.: Zu den Begriffen „transzendental“ und „kategorial“ bei Karl Rahner. In: Vorgrimler, H. (Hg.): Wagnis Theologie. Erfahrungen mit der Theologie Karl Rahners, Freiburg-Basel-Wien 1979, 189-198. Raffelt, A./Verweyen, H.: Karl Rahner, München 1997. Rahner, K./Arnold, F. X./V. Schurr, V./Weber, L. M. (Hg.): Handbuch der Pastoraltheologie, hrsg. von F.X. Arnold, K. Rahner, V. Schurr, L. M. Weber, 4 Bde., Freiburg-Basel-Wien 19641969. Rahner, K./Vorgrimler, H.: Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg 1961. Rahner, K.: Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung. In: Rahner, K./Ratzinger, J.: Offenbarung und Überlieferung, Freiburg 1965, 11-24. Rahner, K.: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg-BaselWien 1985 (Sonderausgabe). Rahner, K.: Hörer des Wortes. Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie, Sämtliche Werke / Karl Rahner. Hrsg. von der Karl-Rahner-Stiftung unter Leitung von K. Lehmann u. a. Bd. 4, Freiburg-Zürich 1997. Rahner, K.: Kirche und Sakramente, Freiburg-Basel-Wien 1960. Rahner, K.: Schriften zur Theologie, Band 1-16, Einsiedeln-Zürich-Köln 1954-1984. Rahner, K.: Über die Sakramente der Kirche. Meditationen, Freiburg-Basel-Wien 1985. Rahner, K/Darlap A. u. a (Hg.): Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, 4 Bde., Freiburg-Basel-Wien 1967-1969. Ricoeur, P.: Die lebendige Metapher, München 1986. Rorty, R.: Dekonstruieren und Ausweichen. In: Eine Kultur ohne Zentrum, Stuttgart 1993, 104ff. Rorty, R.: Derrida on Language, Being and Abnormal Philosophy. In: The Journal of Philosophy 74 (1977), 673-681. Rorty, R.: Philosophy as a Kind of Writing. An Essay on Derrida. In: ders.: Consequences of Pragmatism, Minnesota 1982, 90-109. Rosenzweig, F.: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988. Rötzer, F. (Hg.): Französische Philosophen im Gespräch: Baudrillard, Castoriadis, Derrida, Lyotard, Serres, Raulet, Lévinas, Virilio, München 1986. 265 Sandherr, S.: Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmauel Lévinas’, Stuttgart u.a. 1998. Saussure, F. de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin-New York 32001. Schilson, A.: Das Sakrament als Symbol. In: Zadra, D./Schilson, A.: Symbol und Sakrament, FreiburgBasel-Wien, 1982. Schlochtern, M. zu: Sakrament Kirche, Freiburg-Basel-Wien 1992. Schlör, V.: Hermeneutik der Mimesis. Phänomene, Begriffliche Entwicklungen, Schöpferische Verdichtung, Bonn 1998. Schmidinger, H. (Hg.): Religiosität am Ende der Moderne, Innsbruck-Wien 1999. Schmidt, B.: Postmoderne – Strategien des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Frankfurt/M. 1994. Schneider, Th.: Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramententheologie, Mainz 71998. Schnell, M.: Die Herausforderung der Postmoderne-Diskussion für die Theologie der Gegenwart. Tübingen 1994. Scholem, G.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 71992. Schönborn, Ch.: Gott sandte seinen Sohn. Christologie, Paderborn 2002. 139. Schwerdtfeger, N.: Gnade und Welt. Zum Grundgefüge von Karl Rahners Theorie der „anonymen Christen“, Freiburg-Basel-Wien 1982. Schwind, G.: Das Andere und das Unbedingte. Anstöße von Maurice Blondel und Emmanuel Levinas für die gegenwärtige theologische Diskussion, Regensburg 2000. Silverman, H. J. (ed.): Derrida and Deconstruction, New York-London, 1989 Silverman, H. J.: Textualitäten. Zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, Wien 1997. Spaemann, R./Löw, R.: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des theologischen Denkens, München 1985. Splett, J.: „Realsymbol“ – Zur Anthropologie des Sakramentalen. In: Oberhammer, G./Schmücker, M. (Hg.): Raum-zeitliche Vermittlung der Transzendenz. Zur „sakramentalen“ Dimension religiöser Tradition, Wien 1999, 323-351. Stegmaier, W.: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“. Jacques Derrida. In: Jurt, J. (Hg.): Zeitgenössische französische Denker. Eine Bilanz, Freiburg 1998, 163-185. Stegmaier, W.: Die Zeit und die Schrift. Berührungen zwischen Lévinas und Derrida. In: Freyer, Th./ Schenk, R. (Hg.): Emmanuel Lévinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996, 51-72. Stolina, R.: Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, Berlin-New York 2000. Strasser, S.: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas' Philosophie (Phaenomenololgica 78), Den Haag 1978. Ströker, E./Janssen, P.: Phänomenologische Philosophie, München 1989. Taureck, B. H. F.: Emmanuel Lévinas zur Einführung, Hamburg 1991. Taylor, M. C.: Erring. A postmodern A/Theology, Chicago-London 1984. Tewes, U.: Schrift und Metaphysik. Die Sprachphilosophie Jacques Derridas im Zusammenhang von Metaphysik und Metaphysikkritik, Würzburg 1994. Tholen, T.: Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, Heidelberg 1999. Tracy, D.: Theologie als Gespräch. Eine postmoderne Hermeneutik, Mainz 1993. Türk, H. J.: Postmoderne. Christliche Orientierung im religiösen Pluralismus. Stuttgart 1992. Valentin, J./Wendel, S. (Hg.): Jüdische Traditionen in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Darmstadt 2000. Valentin, J./Wendel, S. (Hg.): Unbedingtes Verstehen? Fundamentaltheologie zwischen Erstphilosophie und Hermeneutik, Regensburg 2001. Valentin, J.: Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, Mainz 1997. Valentin, J.: Das Echo Jacques Derridas in der angelsächsischen Theologie. In: Theologische Revue 97 (1/2001), 18-29. 266 Valentin, J.: Dekonstruktion. Theologie. Eine Anstiftung. In: Lesch, W./Schwind, G. (Hg.): Das Ende der alten Gewißheiten. Theologische Auseinandersetzungen mit der Postmoderne. Mainz 1993, 13-27. Valentin, J.: Der Talmud kennt mich. Jacques Derridas Judentum als Unmöglichkeit des Zu-sichKommens. In: ders/Wendel, S. (Hg.): Jüdische Traditionen in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Darmstadt 2000, 279-296. Vattimo, G.: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990. Vattimo, G.: Glauben - Philosophieren. Stuttgart 1997. Verweyen, H.: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 32000. Verweyen, H.: Maurice Blondels Philosophie der Offenbarung im Horizont „postmodernen“ Denkens. In: Archivo Di Filosofia. Anno LXII – 1994 N. 1-3, 423-437. Verweyen, H.: Pluralismus als Fundamentalismusverstärker? In: Schwager, R. (Hg.): Christus allein? Der Streit um die pluralistische Religionstheologie, Freiburg-Basel-Wien 1996, 132-139. Verweyen, H.: Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, Regensburg 2000. Verweyen, H.: Warum Sakramente? Regensburg 2001. Völkner, P.: Derrida und Husserl. Zur Dekonstruktion einer Philosophie der Präsenz, Wien 1993. Vorgrimler, H.: Sakramententheologie, Düsseldorf 31992. Vries H. de: Theologie im pianissimo und zwischen Rationalität und Dekonstruktion. Die Aktualität des Denkfiguren Adornos und Lévinas’, Kampen 1989. Vries, H. de: Philosophy and the turn to religion, Baltimore 1999. Waldenfels, B.: Das Un-ding der Gabe. In: Gondek, H. D./Waldenfels, B. (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie Jacques Derridas, Frankfurt/M. 1997, 385-409. Waldenfels, B.: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1987. Waldenfels, B.: Voranfänge des Derridaschen Denkens. In: Philosophische Rundschau 40 (1993), 115-120. Ward, G.: Cities of God. London 2000. Weber, E. (Hg.): Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit Pierre Vidal-Naquet, Jacques Derrida, Rita Thalmann, Emmanuel Lévinas, Léon Poliakov, Jean-François Lyotard, Luc Rosenzweig, Frankfurt/M. 1994. Weger, K-H., Karl Rahner. Eine Einführung in sein theologisches Denken, Freiburg-Basel-Wien 1978. Weimann, R./Gumbrecht, H. U. (Hg.): Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt/M. 1991. Wellmer, A.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 5 1993. Welsch, W. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 21994. Welsch, W.: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 51997. Wendel, S.. Jean-François Lyotard. Aisthetisches Ethos. München 1997. Wendel, S.: Postmoderne Theologie? Zum Verhältnis von christlicher Theologie und postmoderner Philosophie. In: Müller, K. (Hg.): Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, 193-214. Wendel, S.: Zeugnis für das Undarstellbare. Die Rezeption jüdischer Traditionen in der postmodernen Philosophie Jean-François Lyotards. In: Valentin, J./Wendel, S. (Hg.): Jüdische Traditionen in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Darmstadt 2000, 264-278. Wenzel, M./Rabaté, J.-M. (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993. Wohlmuth J. (Hg.): Emmanuel Levinas – Eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998. Wohlmuth, J.: Chalkedonische Christologie und Metaphysik. In: Knapp, M./Kobusch, Th. (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Text der Moderne/Postmoderne, Berlin-New York 2001, 333-354. 267 Wohlmuth, J.: Gott – das letzte Wort vor dem Verstummen. Gotteserfahrung bei Karl Rahner und Emmanuel Lévinas. In: Wenzler. L: (Hg.): Die Stimme in den Stimmen. Zum Wesen der Gotteserfahrung, Düsseldorf 1992, 51-73. Wohlmuth, J.: Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn u. a. 1996. Zadra, D./Schilson, A.: Symbol und Sakrament, Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 28, Freiburg-Basel-Wien, 1982. Zeillinger, P.: Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida. Münster 2002. Zichy, M.: Neostrukturalismus und Theologie. Zwischenbericht einer Bestandsaufnahme. In: Salzburger Theologische Zeitschrift 5 (2001), 193-205. Zima, P. V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel 1994. Zima, P. V.: Moderne/Postmoderne, Tübingen 1997.