Kriegstheologie und ihre Satiriker Viele unbequeme Erinnerungen und ein Ausblick Von: Ulrich Tietze, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 5 / 2012 Die Kirche war in ihrer Geschichte auf unangenehme Weise mit der Kriegspolitik verknüpft - auch die protestantische. Im Spiegel satirischer Literatur aus den Zwischenkriegsjahren des 20. Jh. nimmt Ulrich Tietze kriegstheologische Missgriffe unter die Lupe. "Warum ist unsere Kirche keine Friedenskirche geworden?" Es ist viele Jahre her, dass ein Kollege bei einem Konvent diese Frage stellte, auf die er keine Antwort erhielt. Aber die Frage blieb ihm - und auch mir. "Kästner ist als Zeuge brauchbar. Wie und wodurch hat die Kirche ihre Glaubenswilligen verraten und verloren?"(1), fragt Werner Schneyder in seiner nach wie vor lesenswerten Biographie dieses Schriftstellers. "Eine Kirche des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit hätte einen Erich Kästner niemals zum Feind gehabt"(2), so beantwortet Schneyder die von ihm selbst gestellte Frage. Im Weltkrieg stand Kirche für das Gegenteil. 1. "Drüben wird aber mehr gelogen als bei uns" - Deutsche Kriegstheologie 1914-1918 Kein ernstzunehmender Theologe wird noch bestreiten, dass der Erste Weltkrieg fast ausnahmslos von den offiziellen Vertretern der Kirchen begrüßt und bejaht wurde. Zwar gab es durchaus Entsetzen einzelner, etwa Karl Barths: "Es bedeutete für mich konkret ein doppeltes Irrewerden: einmal an der Lehre meiner sämtlichen theologischen Meister in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschien - sodann am Sozialismus, von dem ich gutgläubig genug noch mehr als von der christlichen Kirche erwartet hatte, dass er sich jener Ideologie entziehen werde, und den ich nun zu meinem Entsetzen in allen Ländern das Gegenteil tun sah."(3) Es überwog jedoch eindeutig das Ja zum Krieg auf der Seite der Theologen, etwa im bekannten "Manifest der Intellektuellen", das eine vollständige Unterwerfung unter die Kriegspläne Kaiser Wilhelm II. bedeutete und das fast alle bedeutenden Theologen unterschrieben, ferner Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann und Naturwissenschaftler wie Wilhelm Röntgen. Die Inanspruchnahme Gottes für die deutsche Sache - keineswegs ein Phänomen nur bei der deutschen Nation bzw. ihren Herrschenden - wurde kirchlich mit größter Selbstverständlichkeit hingenommen.(4) Und es ging nicht selten noch in erschreckendem Maße darüber hinaus, etwa mit Formulierungen wie: "Wenn Russland Gott anruft, ist das Gotteslästerung. Wir können es tun."(5) Denn die Kriegsursache war nur in der Politik anderer Länder zu suchen, selbstredend nicht in der deutschen: "Wir sind überfallen worden, seit Jahren bereits von allen Seiten planmäßig eingekreist." Wie extrem menschenfeindlich und -verachtend im Ersten Weltkrieg Theologen sich nicht selten äußerten - und zwar keineswegs nur auf deutscher Seite - , soll in der Folge anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden. Das wohl schlimmste von mir gefundene Zitat lautet: "Unsere Schuld ist es nicht, wenn wir in der Blutarbeit des Krieges auch die des Henkers verrichten müssen. Dem Soldaten ist das kalte Eisen in die Hand gegeben. Er soll es führen ohne Scheu; er soll dem Feinde das Bajonett zwischen die Rippen rennen; er soll sein Gewehr auf ihre Schädel schmettern; das ist seine heilige Pflicht, das ist sein Gottesdienst."(6) Um gleich eines deutlich zu machen: es gab auch andere Stimmen, die freilich selten waren. Sie blieben die Ausnahme. Meist klang es so: "Seinem Volke drückt Gott selbst das Schwert in die Hand; wir müssen es zücken, um unsere heiligsten Güter zu verteidigen. Wir hatten geglaubt, ihrer uns im Sonnenschein erfreuen zu dürfen. Gott hat es anders gewollt."(7) "Es steigert der Krieg den wahren Wert des Menschen, weil er ihm die Gelegenheit bietet, seine besten Kräfte zu entfalten, seine Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/11 heiligsten Opfer zu bringen, und somit höheres, ewiges Leben zu gewinnen."(8) Gereimt wurde oft und gern, in manchmal schon grotesker Weise und weit entfernt von aller Wirklichkeit, so etwa von Karl Rosner in seiner Legende "Herr Jesus auf dem Schlachtfeld", in der zunächst beschrieben wird, wie brutal die Soldaten anderer Nationen zum Kriegseinsatz gezwungen worden seien und wie wenig Sinn sie erkennen konnten, während das deutsche Heer natürlich für alles Edle kämpfte und der sterbende deutsche Soldat, anders als diejenigen aus anderen Ländern, auch auf das Verständnis Jesu bauen durfte: "Herr Jesus nahm die welke Hand, / die ruhte in der seinen. / Er dachte: "Und in deutschem Land / wird eine Mutter weinen." / ... Und eh Herr Jesus weiterschritt, / hat er zurückgesehen. / Von seinem Mund ein Grüßen glitt: / "Dich konnte ich verstehen.""(9) Aber es gab eben nicht nur simple Reimereien wie diese, wenn Jesus zum Unterstützer der deutschen Sache und letztlich zum Garanten des deutschen Sieges gemacht wurde. Auch in höchstem Maße anerkannte Theologen äußerten sich, wie mit schier unzähligen Zitaten belegt werden könnte, in diesem Sinne. Reinhold Seeberg (1915): "Durch den dunklen Sack, der die Lebenssonne umhüllt, brechen doch Lichtstrahlen hindurch; sie künden den Sieg. Und über dem Strom des Blutes schweben selige Geister in lichtem Reigen und singen die gewaltige Melodie vom weltgeschichtlichen Fortschritt ..."(10) Die tatsächliche Brutalität des Krieges wurde auf allen Seiten, keineswegs nur auf deutscher, zwar mit Blick auf die "eigentlichen Kriegshandlungen" eher bagatellisiert. Zugleich aber gab es extreme Propaganda auf allen Seiten gegenüber dem jeweiligen Feind über barbarische Folter- und Tötungsmethoden an Gefangenen.(11) Die ja nicht prinzipiell und uneingeschränkt ganz freiwillig kämpfenden Soldaten mussten dies als massive Beleidigung erleben, und so darf die Reaktion auch eines so kritischen Geistes wie Erich Maria Remarque in seinem berühmtesten Roman nicht verwundern. Er lässt einen Soldaten im Gespräch über Ursachen, Sinn und Unsinn des Krieges sagen: "Drüben wird aber mehr gelogen als bei uns ... denkt mal an die Flugblätter der Gefangenen, in denen stand, dass wir belgische Kinder fräßen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhängen. Das sind die wahren Schuldigen."(12) Viele Kommentare von Theologen im Krieg waren unbegreiflich. Es ist mit guten Gründen zu vermuten, dass Karl Kraus in seinem großen Theaterstück "Die letzten Tage der Menschheit" die Theologen in den Mund gelegten Äußerungen weitgehend oder komplett aus originalen Reden übernehmen konnte: "Darum ist es aber auch der Wille Gottes, dass die Völker im Kriege alle ihre Kräfte und Waffen, die er ihnen in die Hand gegeben hat, Gericht zu halten unter den Völkern, zur vollen Anwendung bringen sollen. Darum mehr Stahl ins Blut!"(13) Und es ist zugleich bemerkenswert, dass dieses Theaterstück das letzte Wort Gott lässt, der (nach einer "Stimme von oben", die als vorletzten Satz des Werkes ausspricht: "Zerstört ist Gottes Ebenbild!") laut ausruft: "Ich habe es nicht gewollt!"(14) Pointiert gesagt: ein Agnostiker betonte, dass Gott keinen Krieg wolle - die Theologen aller Krieg führenden Länder sagten weithin das Gegenteil. Gehorsam galt als wichtigste Tugend. Ein Beispiel, das drastisch und zugleich sicher nicht untypisch war: "Da hatte beispielsweise in den 60er Jahren ein notorisch irrsinniger Hauptmann in Graudenz seiner Landwehrkompanie den Befehl erteilt, mit gepacktem Tornister einen reißenden Fluss zu durchschwimmen. Die ganze Kompanie wäre ertrunken, hätte sie den Befehl ausgeführt. Aber als sich die Soldaten weigerten und den mit gezogenem Säbel auf sie eindringenden Hauptmann entwaffneten, wurde die Kompanie sämtlich ins Zuchthaus gesteckt. Einige waren darin gestorben. Wilhelm I. hatte keinen Mann begnadigt, erst Wilhelm II. holte die letzten aus dem Kerker."(15) Dieser geforderte blinde Gehorsam wurde - mit weitestgehender Unterstützung der Kirchen - auch nach dem Krieg noch gefordert und gefördert. 2. "Wir Deutsche sind geborene Monarchisten" - Kirche und Weimarer Republik Der Danziger Konsistorialrat D. Dr. Kalweit führte in einer seiner "Vaterländischen Reden" aus: "Wir Deutsche sind geborene Monarchisten. ... Fürst und Volk treten für uns nicht in Gegensatz zueinander. ... Kaiserherrlichkeit und Volksmacht sind Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/11 keine feindlichen Gegensätze."(16) Noch deutlicher wurde der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring: "Das Königtum in Preußen ist uns Evangelischen tausendmal mehr als eine politische Frage, es ist uns Glaubensfrage."(17) Auch Theologen, die durchaus menschenfreundliche Bestrebungen verfolgten - etwa in Fragen des Strafvollzugs und des Umgangs mit Straffälligen - wie Johann Hinrich Wichern, lehnten die Demokratie ab. Die "Dolchstoßlegende" wurde nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen gläubig aufgenommen und war einer der Aspekte, die zur Ablehnung der ersten deutschen Demokratie führten. Wenn noch immer behauptet wird, die Weimarer Republik sei an ihren Gegnern von rechts und links zugrunde gegangen, so ist das nach wie vor falsch - die erste deutsche Demokratie war, pointiert gesagt, nicht "eine Republik ohne Republikaner", sondern die ernsthaften Demokraten waren "Republikaner ohne Republik". Im Laufe der Weimarer Republik verstärkten sich bekanntlich alle Probleme, und der Trend zu autoritären Regierungen, zu massiven sozialen Ungerechtigkeiten, zu einer extrem rechtslastigen Justiz und zur drohenden Diktatur war nicht mehr zu übersehen. Es ist nicht zu bestreiten, dass summa summarum alles als "links" Geltende von den Kirchen, zumal von ihren offiziellen Vertretern, als Feindbild betrachtet wurde. Demgegenüber gab es bemerkenswerte Geduld gegenüber "rechten" Positionen. Ein Beispiel mag genügen: Der NS-Ideologie Alfred Rosenberg schrieb in seinem "Mythos des 20. Jahrhunderts: "Das nordische Blut stellt jenes Mysterium dar, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat." Der Autor Dietrich Pinkerneil fragt: "Hatte diese Art rüdester Blasphemie nicht einen sofortigen Aufschrei der christlichen Kirche zur Folge? Weit gefehlt. Das Zentrum, politische Organisation des Katholizismus, beabsichtigte sogar noch im Herbst 1932 ernstlich, mit Hitler zu paktieren und gemeinsam mit ihm eine Regierung zu bilden; auch die Evangelische Kirche zumindest zu einem Teil - begann sich rasch zu arrangieren."(18) Die Haltung, die weithin während der gesamten Weimarer Republik den deutschen Bürger und sein Verständnis zu Kirche bestimmte, ist mit großer Genauigkeit in Heinrich Manns "Der Untertan" festgehalten, in dem die Titelfigur sich entschlossen zeigt, "daheim in seinem Betrieb eine ganz andere Zucht einzuführen. Sozialdemokraten wurden nicht mehr geduldet, und sonntags gingen die Leute zur Kirche!"(19) 3. "Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht!" - Satiriker über Glauben und Kirche Die vielleicht genaueste Formulierung, wie vermutlich bessere Startbedingungen für die erste deutsche Demokratie hätten erreicht werden können, stammt von keinem der hier dargestellten Satiriker, sondern von Erich Maria Remarque in seinem Buch "Der Weg zurück". Als einer der Heimkehrer seinen Rivalen erschießt, der ihm die Frau nahm, und vom Gericht die Tatsache völlig ausgeblendet wird, dass er jahrelang mit größter Selbstverständlichkeit Menschen im Krieg erschoss, lässt der Autor einen Kameraden des Angeklagten sagen: "Ihr alle gehört vor unser Gericht! Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht! ... Was habt ihr denn für uns getan, als wir wiedergekommen sind? Nichts! Nichts! Von allen Kanzeln hättet ihr es predigen müssen, bei der Entlassung vom Kommiss hättet ihr es uns mitgeben müssen, immer wieder hättet ihr es uns sagen müssen: "Wir haben alle furchtbar geirrt! Wir wollen gemeinsam zurückfinden!""(20) In der Tat: der Krieg wurde nicht verarbeitet, die wirklich Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Der verlorene Krieg, dessen ernsthafte Verarbeitung kaum oder gar nicht stattfand, bestimmte in seinen Folgen (u.a. Versailler Vertrag!) die gesamte "Weimarer Zeit"; wesentliche Teile der Literatur aus dieser Zeit, zumal die hier behandelten Autoren, waren Aufarbeitung des Krieges. Die vier Schriftsteller, um die es gehen soll, waren wesentlich durch die Kriegserlebnisse und -jahre geprägt. 3.1. "und Gott wär deutscher General" - Erich Kästner Kästner hat, zumal in seinen Gedichten, wesentliche Teile der Weimarer Republik genau und treffsicher kommentiert; auch bezogen auf das Thema "Kirche". Vielleicht konnte nur er solche Verse schreiben wie im Gedicht "Die andere Möglichkeit": "Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, / dann wär der Himmel national. / Die Pfarrer trügen Epauletten, / und Gott wär Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/11 deutscher General."(21) Immer wieder kommt "Gott" vor in den Kästner-Gedichten, und durchweg wird er auf der Seite der Mächtigen, der Kriegstreiber und Kriegsgewinnler gesehen, so etwa im "Chor der Ruhrbarone", der merkwürdigerweise nicht ins Gesamtwerk Kästners aufgenommen wurde: "Ja, Gottes Güte reicht so weit / wie Kabel und Kanonen. / Er ist stets mit der Minderheit / und nicht mit den Millionen. / Das möchten wir betonen. / ... / Wir sind - mit Gott - die Herrn im Haus / und wissen, was wir sollen. / Wir sperren ein. Und sperren aus. / Und machen, was wir wollen. / Wir fürchten nichts auf dieser Welt. / Not lehrt die andern beten. / Ein feste Burg ist unser Geld. / Und von der Maas bis an den Belt / hilft da kein Volksvertreten. / ... / Ach, wer noch nie Direktor hieß, / der braucht auch keine Rechte. / Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / der wollte weiter nichts als dies: / Knechte!"(22) Die bittere Rückschau auf die Rolle der Kirche im Krieg findet sich in vielen Kästner-Gedichten aus dieser Zeit, u.a. in diesem: "Stimmen aus dem Massengrab (Für den Totensonntag, anstatt einer Predigt)": "Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren, / wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun. / Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren / und lässt euch sagen: Lasst die Toten ruhn! / Ihr dürft die Angestellten Gottes loben. / Sie sprachen schön am Massengrab von Pflicht. / Wir lagen unten, und sie standen oben. / "Das Leben ist der Güter höchstes nicht!""(23) Kästner nannte sich, anders etwa als Tucholsky, eindeutig einen Freigeist. Aber sowohl in seinen ersten Beiträgen für die "Weltbühne" als auch nach der Katastrophe von Faschismus und Weltkrieg blickte er, zeitweise nicht ohne Sympathie, auf kirchliche Fragestellungen. Die Tatsache, dass 1965 eine Jugendgruppe des "Bundes Entschiedener Christen" seine Bücher öffentlich am Rheinufer bei Düsseldorf verbrannte (zusammen mit Werken Albert Camus’, Francoise Sagans, Wladimir Nabokovs und Günter Grass’) und dies wenig später auf der Bundestagung der "Entschiedenen Christen" lebhaft gebilligt wurde(24), dürfte jedenfalls nicht zur Annäherung an Kirche beigetragen haben. Dem Humanismus als Ideal und einer vernünftigeren, friedlicheren Gestaltung des Miteinanders von Menschen blieb Kästner bis zum Schluss verpflichtet, auch der Ironie. Eines - aus meiner Sicht - seiner schönsten Epigramme trägt den Titel "Eine Feststellung" und lautet: "Wir haben’s schwer. / Denn wir wissen nur ungefähr, / woher. / Jedoch die Frommen / wissen gar, wohin wir kommen. / Wer glaubt, weiß mehr."(25) 3.2. "Ich möcht in dieser Zeit nicht ­Herrgott sein" - Mascha Kaleko Ihr "Lyrisches Stenogrammheft", erst im Schicksalsjahr 1933 erschienen und somit Jahre später als die bereits breit publizierten Gedichtbände von Erich Kästner, Walter Mehring und die unterschiedlichen Zusammenfassungen von Arbeiten Kurt Tucholskys, wurde ein sehr großer Erfolg. Aber ihr Leben verlief weithin tragisch. Es gelten beide Aspekte der Aussage von Marcel Reich-Ranicki über sie: "... eine sehr gute Poetin, die heute zu Unrecht beinahe vergessen ist."26 Kaleko war Jüdin und vielleicht von den vier hier dargestellten Autoren diejenige, die am unmittelbarsten ein Ja zum Glauben sagen konnte; was ihre Sicht von und ihre Beziehung zur Kirche angeht, lässt sich wohl kaum eine klare Aussage treffen. Aber Bissigkeit musste sein: "Ich möcht in dieser Zeit nicht Herrgott sein / und wohlbehütet hinter Wolken wohnen, / allwissend, dass die Bomben und Kanonen / den roten Tod auf meine Söhne spein. / Wie peinlich, einem Engelschor zu lauschen, / da Kinderweinen durch die Lande gellt. / Weißgott, ich möcht um alles in der Welt / nicht mit dem Lieben Gott im Himmel tauschen."27 Dass diese Schriftstellerin aber mit diesem Gedicht durchaus eine theologische Herausforderung geboten hat, zeigt sich z.B. in der Reaktion Helmut Gollwitzers, der ihr vorwarf, sich "als weiser, gerechter und liebevoller über Gott (zu) erheben."28 Eine interessante Wirkungsgeschichte eines einzelnen Gedichtes, wie ich finde. Kaleko, dem Judentum zugehörig wie viele der besten deutschen Autorinnen und Autoren der damaligen Zeit, hat ihren Glauben an Gott nie verleugnet. Allein das Stichwort "Gebet" als Überschrift zu Gedichten findet sich regelmäßig bei ihr, und dies ist kaum nur ein "literarischer Kunstgriff", sondern hat etwas mit Lebensinhalten zu tun. Ein paar Beispiele: konkret eine Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/11 Anrede an Gott ist ihr "Gebet", in dem es etwa heißt: "Wer sind wir denn, um richtend zu entscheiden? / Uns ward bestimmt, zu glauben und zu tun. / Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen. / Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn. / Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen."29 In dieser Sammlung findet sich noch ein Gedicht mit dem Titel "Gebet", das ebenfalls die unmittelbare Anrede Gottes und die Bitte um sein Eingreifen beinhaltet.30 Das bittere Schicksal der Emigration - als Jüdin hatte sie wohl keine andere Wahl - benennt sie in einem weiteren Gedicht, das sie "Fast ein Gebet" genannt hat: "Herr, gib du allen, die das Schwert vertrieb, / ein Dach, ein Brot, ein Kind, ein eigen Kissen."31 Ihr Gedicht "Überfahrt" enthält die provozierende Aussage "Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. / Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben."32 Die große Genauigkeit und sprachliche Schönheit zeigt: eine begabte Autorin musste ihr Heimatland verlassen - und die oft weniger bis gar nicht Begabten konnten bleiben. Mascha Kaleko hat übrigens die Tradition des Epigramms aufgenommen und eine Vielzahl dieser speziellen Gedichte geschrieben. Es sei summarisch auf weitere "geistliche Gedichte" dieser Autorin hingewiesen: "Stilles Gebet", "Kurzes Gebet", "Geistliches Lied", "Die sogenannten "letzten Dinge"", "An meinen Schutzengel".33 Ihre vielfältige Nachdenklichkeiten und die tiefen Glaubenszeugnisse zu entdecken, lohnt sich. Noch immer hat nach meiner Auffassung das Christentum hier eine "Bringschuld" gegenüber dem Judentum. 3.3. "Seelenmesse für Agnostiker, ­Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister" - Walter Mehring Zweifellos war Walter Mehring einer der interessantesten und auch begabtesten der Satiriker in dieser Zeit; der Kabarett-Chronist Klaus Budzinski schreibt über ihn: "Mehrings Sprachgewalt und lyrische Potenz hob das Chanson im Kabarett auf ein Niveau, das vor ihm nur Frank Wedekind und nach ihm niemand mehr erreicht hat."34 Mehring hat, vielleicht mehr als andere Autoren der "Neuen Sachlichkeit", religiöse Formen und Überschriften benutzt: eines seiner Bücher (eine Zusammenstellung von 1966, die Formen stammen aus der Weimarer Zeit), noch heute erhältlich und in vielfacher Hinsicht unvermindert lesenswert, trägt den bezeichnenden Titel "Neues Ketzerbrevier"35 mit dem Untertitel "eine Seelenmesse für Agnostiker, Wortgläubige und unbekehrbare Freigeister" und beinhaltet tatsächlich eine Vielzahl von religiösen Anspielungen und - natürlich satirisch verfremdeten - Formen. Beispiele: "Litanei" mit den Versen "Kyrie eleison - / alle Stätten / die dich loben / die uns ketten / an das Droben / mit Gelübden / und Geboten / in den Krypten / der Zeloten / von der Qual / und allem Jammer / in Spital / und Folterkammer / Alle die dich loben, Gott, / blutverwoben und bigott, / Herr, befreie uns davon - / Kyrie eleison!"36 Wird hier auf das Auseinanderklaffen der Lehre Jesu und der kirchlichen Praxis angespielt, so lässt sich diese Kritik auch in anderen Versen Mehrings entdecken. Verdienstvoll bleibt aus meiner Sicht bei diesem Schriftsteller insbesondere eines: er stellte einen schlüssigen Zusammenhang zwischen dem "Hexenhammer" und Hitlers "Mein Kampf" her. In der Bibliothek seines Vaters, genauer in der Abteilung "Giftschrank", fand Mehring den "Hexenhammer". Er las ihn "wollüstig angeekelt", verspürte allerdings "eine unvergessliche Schockwirkung"37 und unterzog ihn später einer gründlichen Analyse, bei der er weitgehende Parallelen zum Hitler-Buch fand: "Den Hexenwahn hat der Rassemythos ersetzt"; der Jude sei "in seiner Gemeinheit so riesengroß, dass sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibliche Gestalt des Juden annimmt."38 Mehring sah viel früher als viele andere, dass sowohl durch die Hexenjagden als auch durch die NS-Verbrechen "das Martern von Menschen in ein geregeltes System gebracht" wurde - und er sah vor allem: "... all diese Henkersknechte waren ja nicht verhungerter, rachesüchtiger Pöbel. Ehrsame Bürger waren sie; pflichttreue Schinder, gewissenhafte Akademiker der Bestialität." Im Grund stellt sich auch bei Mehring die Frage nach dem Verhältnis von Gehorsamsforderung durch Staat, Kirche, Militär und dem Recht auf eine eigene Meinung. Dass Mehring Deutschland nach Hitlers Machtantritt unter Lebensgefahr verlassen musste, gehört, wie bei vielen der besten Schriftsteller damals, zu den tragischen Aspekten des Lebens dieses Autors. Er selbst hätte diese Zeit in Deutschland kaum überlebt. Seine Schriften bleiben aktueller, als er selbst es wohl für möglich gehalten hat. 3.4. "Es schmeckt nach Schafstall" - Kurt Tucholsky Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 5/11 Von den vier hier skizzierten Autoren ist Tucholsky derjenige, der sich mit Abstand am häufigsten in den verschiedensten Formen (Gedicht, Kabarettszene, Erzählung, Essay, Artikel) mit Kirche und allgemein mit Religion auseinandergesetzt hat. Mir scheint: die Geschichte seiner Auseinandersetzung mit diesen Themen ist noch nicht geschrieben. Tucholsky hat sich ausdrücklich davon distanziert, ein "patentierter Freidenker" zu sein, wie er es in seinem "Brief an eine Katholikin" formuliert.39 Er empfand sich als Suchenden, der aber beide Großkirchen als Gegner erlebte. Tucholsky ist vielleicht das deutlichste Beispiel dafür, dass die Erfahrung mit den Kirchen im Weltkrieg eine bedrückende, schlimme, zutiefst erschreckende Sache war. Er unterscheidet mit Blick auf dieses Thema einmal wie folgt (interessanterweise in einem längeren Aufsatz über den damals sehr bekannten katholischen Priester Carl Sonnenschein): "Die Katholiken haben sonst ihr gerüttelt Maß Schuld. Es ist nicht so groß wie das der protestantischen Hofprediger; für die gibt es keine Bezeichnung, die nicht unter das Strafgesetz fiele."40 Ein weiterer Punkt, der zugleich auf ein wesentliches Problem der damaligen Zeit hinweist: die Kirchen waren schnell und gründlich bei dem Versuch, sich juristische Hilfe bei den Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden zu holen. Dies war geschehen: Der Zeichner George Grosz hatte ein Bild eines gekreuzigten Christus veröffentlicht, der eine Gasmaske trägt, und darunter den Satz gesetzt: "Maul halten und weiterdienen." Die Kirchen protestierten scharf, und es kam zu einem langwierigen Prozess, in dessen Verlauf Grosz zwar letztlich freigesprochen wurde, aber doch unter erheblichen Vorbehalten der Justiz. Tucholsky hat hierzu 1929 in seinem vielleicht schon "klassisch" zu nennenden Artikel "Die Begründung" Stellung genommen; der Jurist hatte natürlich das Handwerkungszeug mit Blick auf die gesetzliche Problematik, der kritische Schriftsteller aber traf darüber hinaus mit diesen Sätzen: "Christus ist im Sinne des § 166 von der eignen Kirche geschändet worden. ... Denn eine Landeskirche, die im Kriege so jämmerlich versagt hat, die die Jugend eines ganzes Landes in das Schlachten hineinsegnete; eine Kirche, die kein Wort gegen den Staatsmord fand, sondern ihn im Gegenteil noch propagierte: eine solche Institution hat allen Anlass, still zu schweigen, wenn aufgezeigt werden soll, wer hier schändet."41 Mit Schärfe zieht er die Konsequenzen: "Die Kirche hat nach ihren völlig negativen Leistungen im Kriege kein Recht: uns ihre Feiertage aufzuzwingen; unsern Kindern ihre Lehre aufzuzwingen; ... sie versuche zu überzeugen - sie siege im Zeichen des Kreuzes, nicht im Zeichen des Landgerichtsdirektors. Sie schweige."42 Den Krieg ausblenden - das konnte Tucholsky auch nicht bei seiner Betrachtung der Zehn Gebote. Es hatte 1929 eine "Rundfrage" gegeben: "Was soll mit den Zehn Geboten geschehen?" Er reagierte darauf mit "keinem kleinen Schreck. Nun wäre es gewiss sehr einfach, an das Bücherbrett zu gehen, die dicke Bibel vom Bord zu holen und eine feine Abhandlung in betreff jedes Gebots zu schreiben. Bitte, lassen Sie mich sitzen bleiben - wir wollen einmal sehen, was herauskommt, wenn ich nicht nachblättere. Ich weiß die zehn Gebote gar nicht. Ich weiß: Du sollst nicht töten (das weiß wieder die Kirche nicht); du sollst nicht stehlen; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht begehren deines ... und dann einen Genitiv, den ich vergessen habe."43 Und mit geschliffener Schärfe weist er in der Folge auf den Widerspruch der Lehre der Bibel, "die einmal revolutionär gewesen ist"44, und die praktische Kirchenpolitik hin. Seine Fragen lauten, was da denn gemeint sei - etwa mit dem Stehlen: "Was ist das, "stehlen"? ... wie ist es mit der Arbeitskraft? Darf man sie stehlen? Ist das göttliche Ordnung? ... es schmeckt nach Duckmäusertum, was da gelehrt wird, nach Schafstall, nach allem, was gute Untertanen macht. Nein, so geht es nicht."45 Nun mögen manche, die sich mit Tucholsky nur beiläufig beschäftigt haben, mit dem Satz reagieren: "Kein Wunder, dass er das alles ablehnt - er war ja Kommunist." Aber nach wie vor gilt, was Kästner im Vorwort zu einer Zusammenstellung von Tucholsky-Texten nach 1945 schrieb: "Er war bereit, dem arbeitenden Volk und dem Sozialismus von Herzen alles hinzugeben, nur eines niemals: die eigene Meinung!"46 Und es darf nicht übersehen werden: Tucholsky konnte nicht nur die Dogmatik der Kirchen massiv angreifen, sondern auch die der Kommunisten: "Ein skeptischer Katholik ist mir lieber als ein gläubiger Atheist."47 Die Kommunisten blieben ihm zeitlebens suspekt - er wünschte sich Menschen "frei von Kirche und wirtschaftlicher Sklaverei. Frei auch von kommunistischer Theologie, die drauf und dran ist, den Sinn ihrer Anhänger erst so zu erweitern und dann so zu verengen, wie es die katholische mit ihren Leuten schon getan hat".48 Aber dieser Schriftsteller Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 6/11 wäre nicht der, der er war, hätte er nicht zugleich auch formuliert: "Es gibt deutsche Katholiken, die zerreißen sich fast das Maul darüber, dass die Kommunisten "ihre Befehle aus Moskau entgegennehmen". Und woher bekommen jene ihre Befehle? Aus Rom. Wird jemals ein deutscher Katholik Papst?"49 Es ließe sich eine Unmenge an Äußerungen Tucholskys zum Thema "Kirche" finden - der bei weitem größte Teil, das sei als pauschale Behauptung hier gewagt, hat seine kritische Haltung in der Erfahrung mit den Kirchen während des Krieges, und diese Erfahrung geht über Kirche hinaus: "Neben den evangelischen Pastören hat es im Kriege noch eine Menschengattung gegeben, die gar nicht genug Blut saufen konnte: das war eine bestimmte Schicht, ein bestimmter Typus der deutschen Frau."50 Tucholsky bestritt nicht, dass er an dieser Stelle Hass verspürte, einen Hass, der ihm selbst größer schien als die Zuneigung zu den Opfern des Krieges und aller ihm folgenden Gewalt. Seine Sehnsucht nach einer anderen eigenen Haltung blieb Theorie: "Lass mich noch kämpfen, Toller. Kämpfe du mit dem Kreuz, ich kann es noch nicht. Ich will zu dir kommen und dir sagen, wenn ich den langen Weg gegangen bin, der zur Liebe führt."51 Diesen Weg ging er nicht; freilich ist dies kein moralisches Urteil über ihn. Aber gerade mit Blick auf die im Menschen schlummernden Abgründe und den Umgang mit ihnen bleibt Tucholsky ein weiser Mahner und von tiefer Einsicht Geprägter. Zwei Beispiele: "Eine leere Zelle" und "Das schwarze Kreuz auf grünem Grunde". Im erstgenannten Text geht es darum, dass ein Mann, der auf schreckliche Weise ein Kind ermordet hat, nun aus der Zelle geführt und hingerichtet wird. Nachdem gewissermaßen die Rachegedanken der Mutter vom Autor ausgesprochen wurden, zieht er eine Konsequenz, die erstaunen mag: "Du Hund! Nein. Du Stückwerk Gottes."52 Dass hier Gott genannt wird, zeigt aus meiner Sicht deutlich: Tucholsky war dieser Gedanke nicht fremd, er war eben kein schlichter Freidenker, sondern real ein Suchender. Wenn es uns heute gelänge, dies zu verdeutlichen: auch der Straftäter, dessen Tat wir - begründet - verabscheuen, bleibt ein Geschöpf Gottes und hat elementare Rechte mit seiner Tat nicht aufgegeben - es gäbe weniger Missverständnisse und fatale Fehlurteile bei der Diskussion um menschliche Schuld und die Rolle der Kirchen dabei. Und dass kirchliche Gruppen und Einrichtungen, wenn sie in die Gefängnisse gehen, dies nicht missbrauchen dürfen, zeigt der zweite Text, dessen Aktualität aus Sicht eines Gefängnisseelsorgers nicht zu übersehen ist. Ein Kriterium Jesu in der Bergpredigt, nämlich die Barmherzigkeit von Menschen untereinander, hatte Tucholsky schon als letzten Satz in seinem "Merkblatt für Geschworene" benannt: "Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug."53 Und gegenüber christlichen Gruppen in der Gefängnisarbeit wurde er notwendigerweise noch deutlicher:54 Tucholsky: "Menschen, die sich nicht wehren können, werden gezwungen, sich, wenigstens mit dem Munde, zu einer Weltanschauung zu bekennen, die fast jeder von ihnen in der Freiheit nicht akzeptiert. ... Es ist eine Dreistigkeit und eine Unverfrorenheit, in Strafgefangenen Objekte zu religiösen Experimenten zu sehen." Der Beitrag endet mit den Worten: "Zu fordern ist, immer wieder: Das Recht für die Rechtsbrecher." 4. Überlegungen für die Gegenwart "Warum ist unsere Kirche keine Friedenskirche geworden?" Die mich nie ganz loslassende Frage kann vielleicht nicht befriedigend beantwortet werden. Berechtigt ist unverändert die Kritik an den Großkirchen: sie haben sehr oft engen Kontakt zu den Mächtigen gesucht und die Ohnmächtigen dabei vergessen. Was lässt sich, in aller Vorläufigkeit, zu Konsequenzen aus den hier skizzierten Problemen sagen? Kirche, gleich welcher Konfession, hat sich nie und nirgendwo aus den Konflikten ihrer Zeit heraushalten können gleichgültig, wie ihre konkrete Haltung aussah. Kirche hat zwar auch den Dialog mit den Mächtigen zu suchen; aber zugleich hat sie primär die Ohnmächtigen, die Verlierer und die Randgruppen der entsprechenden Gesellschaft in den Blick zu nehmen und für sie einzutreten. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 7/11 Es gibt nicht "die" christliche Ethik. Wird aber das biblische Zeugnis, nicht nur das des Zweiten Testaments, als Ausdruck des Willens Gottes gedeutet, so lässt sich sagen: die Einforderung von Frieden und Menschenrechten sind auch kirchliche Aufgaben. Für keine Weltanschauung, für keine Ideologie und auch für keine Theologie darf Gott als Garant der Richtigkeit des entsprechenden Denkens vereinnahmt werden. Was vor bald 50 Jahren Bob Dylan in seinem Lied "With god on our side" formulierte, nämlich: "Du hast keine Fragen mehr, wenn Gott auf deiner Seite ist", bleibt als radikale Anfrage an jede Vereinnahmung Gottes bestehen und gilt weiterhin. Christliche Theologie kann nur um die Wahrheit ringen, sie aber nicht als Eigenbesitz beanspruchen. Jede Form des Fundamentalismus ist von der Theologie her kritisch zu betrachten. Aufgabe der Theologie ist weiterhin die kritische Auseinandersetzung auch mit Fragen der Zeit - aber nicht eine Gegenüberstellung etwa nach dem Motto: "Heiliger Geist gegen Zeitgeist". Keine christliche Verkündigung kann in ihrer Substanz aus der jeweiligen Zeit, aus der sie bestimmenden Kultur und auch dem geographischen Raum herausgenommen werden. Von Aussagen wie etwa "Es geht ohne Gott in die Dunkelheit" (ein Lied von Manfred Siebald) muss abgesehen werden. Wege von Individuen wie von Gesellschaften können, mit und ohne Gott, in die Dunkelheit führen, haben es oft getan und werden es auch in Zukunft tun.55 Christliche Theologie braucht ebenso für sich selbst wie auch für die Begegnung mit anderen religiösen Entwürfen als unverzichtbare Elemente Toleranz, Humor56 und Selbstkritik. Dies alles gedeiht insbesondere im demokratischen Rahmen. Deshalb ist auch von den Kirchen demokratisches Denken und Handeln zu fördern. Kirche wird nie einfach "Friedenskirche" sein können, so wünschenswert dieses Ziel auch sein mag. Sie hat aber jeder Form von Totalitarismus, Kriegshetze, Menschenverachtung so eindeutig wie nur möglich zu widerstehen. Neben der Militärseelsorge hat Kirche zwingend die Aufgabe, seelsorgerliche Begleitung für diejenigen anzubieten, die aus Kriegen traumatisiert heimkehren. Hierfür sind eigene Stellen erforderlich, ähnlich wie in der Gefängnis- und Krankenhausseelsorge. Es muss in der theologischen Arbeit auf allen Ebenen darum gehen, Erwachsenwerden und Eigenverantwortlichkeit von Menschen zu fördern. Dies gilt auch für das eigenständige Nachdenken über Gott und die Entwicklung eigener Formen, den Glauben zu leben. In aller theologischen Arbeit muss - eher verstärkt - betont werden, dass Gott auch eine uns unbegreifliche Seite hat. Er mutet uns auch das schwerste Leiden zu, er greift eben nicht einfach in die geschichtlichen Prozesse ein, er kann uns so verborgen bleiben, dass wir ihn nicht zu erkennen vermögen. Anmerkungen: 1 Werner Schneyder: Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor, München 1982, 81. 2 Schneyder, a.a.O., 81 (Kursivschrift im Original). 3 Bernd Jaspert (Hrsg.), Karl Barth - Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1922-1966, Zürich 1971, 306f. 4 Es wäre interessant, einmal detailliert zu untersuchen, inwieweit die uneingeschränkte Akzeptanz monarchischer Regierungsformen ("Thron und Altar") auf den häufigen biblischen (im AT wie NT) Bildern Gottes als König, sitzend auf einem Thron usw. basiert. Hier wäre ich für Hinweise dankbar, ob solche Untersuchungen bereits existieren. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 8/11 5 Der Theologe D.F. Lahusen am 31.07.14 (also noch vor Kriegsbeginn!) in einem Brief an seinen Sohn; Karl Hammer, a.a.O., 37. 6 Pfarrer Scheltler, zit. in: Weimarer Republik (Hrsg. Kunstamt Kreuzberg, Berlin, und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln), Berlin 1977, 62 (Hervorhebungen im Original gesperrt). 7 Karl Hammer, a.a.O., 47. 8 Herbert Koch, Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt, Düsseldorf 2009, 121. 9 Gerhard Besier, Krieg - Frieden - Abrüstung. Die Haltung der europäischen und amerikanischen Kirchen zur Frage der deutschen Kriegsschuld 1914-1933. Ein kirchenhistorischer Beitrag zu Friedensforschung und Friedenserziehung, Göttingen 1982, 33. 10 Karl Hammer, a.a.O., 249. Seeberg überschrieb 1915 einen Aufsatz mit der Formulierung "Das sittliche Recht des Krieges" und nannte ihn ein "unvermeidliches Elementarereignis" (Besier, a.a.O., 31). 11 Beispiele dokumentiert in Bild und Text bei Besier, a.a.O., 49. 12 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Frankfurt/Berlin/Wien 1970, 146. 13 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt/M. 1986, 356. S.a. in der daran anschließenden Szene das abschließende Gedicht, in dem es u.a. heißt: "Aus den Schlünden der Kanonen / unsre stärkste Liebe spricht. ... / Kameraden, lasst Schrapnelle- / Kugeln als Weihwasser streun. / ... / Wir sind einmal Henkersknechte, / Gott hat selbst uns ausgewählt!" (a.a.O., 358f) 14 Karl Kraus, a.a.O., 770 (Im Original Hervorhebung durch Sperrung). 15 Winfried Löschburg, Ohne Glanz und Gloria. Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick, Berlin 1978, 47. 16 Herbert Koch, Die Kirchen und ihre Tabus. Die Verweigerung der Moderne, Düsseldorf 2006, 103. 17 Ebd. 18 Dietrich Pinkerneil, Anmerkungen zur Weltbühne, in: Das Drama der Republik. Zum Neudruck der Weltbühne zwei Essays von Axel Eggebrecht und Dietrich Pinkerneil, Königstein/Ts. 1979, 45-110 (Zitat: 69). 19 Heinrich Mann, Der Untertan. Roman, München 1981, 57. Vgl. auch 351: "Auch dem Unglauben, sagte Diederich, sei er zu steuern entschlossen; jeden Sonntag werde er sich überzeugen, wer in der Kirche sei und wer nicht. "Solange in der Welt die unerlöste Sünde herrscht, wird es Krieg und Hass, Neid und Zwietracht geben. Und deshalb: einer muss Herr sein!"" 20 Erich Maria Remarque, Der Weg zurück, Frankfurt/Berlin/Wien 1971, 180f. 21 Erich Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene (von mir abgekürzt: GSE), Bd. 1 - Gedichte, München/Zürich 1969, 169-171 (Zitat: 170). 22 Dieses 1928 im "Montag Morgen" erschienene Gedicht zitiert Helga Bemmann in ihrer Kästner-Biographie Humor auf Taille. Erich Kästner - Leben und Werk, Frankfurt/M. 1985, 118. 23 Kästner, GSE I, 106f. 24 Kästner, GSE VIII, 185-187: "Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff". 25 Kästner, Kurz und bündig. Epigramme, Zürich 1950, 21. 26 Marcel Reich-Ranicki, Lauter schwierige Patienten. Gespräche mit Peter Voß über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Berlin/München 2002, 45. 27 Mascha Kaleko, Verse für Zeitgenossen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gisela Zoch-Westphal, Hamburg 1980, 49. 28 Helmut Gollwitzer, Krummes Holz - aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1982, 341. Gollwitzer argumentiert gegenüber Kaleko wie gegenüber Georg Büchner mit der Menschwerdung Gottes in Jesus und riskiert die Aussage, "dass nichts sinnlos war, was Gott tat und geschehen ließ" (342). Dass ein so weltoffener und reflektierter Theologe hier allem Geschehen auf der Erde noch einen Sinn abgewinnen will, zeigt das Dilemma. Haben Auschwitz, Hiroshima, Massenmorde weltweit einen Sinn? 29 Kaleko, Zeitgenossen, 11. 30 A.a.O., 31. 31 A.a.O., 43. 32 A.a.O., 47. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 9/11 33 Alle enthalten in: Mascha Kaleko, In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal, München 1986. 34 Klaus Budzinski, Pfeffer ins Getriebe. Ein Streifzug durch 100 Jahre Kabarett, München 1982, 129. 35 Walter Mehring, Neues Ketzerbrevier. Balladen und Songs, München 1966. 36 Mehring, Ketzerbrevier, 49. 37 Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur, Frankfurt/M. u.a. 1978, 68. 38 Ich zitiere hier in der Folge nach der Zusammenfassung der Analyse Mehrings in meinem Aufsatz zu seinem 100. Geburtstag: "Außer Reih und Glied. Walter Mehrings Sprachgewalt als Waffe des Gejagten", Luth. Monatshefte 4/1996, 24f. 39 Kurt Tucholsky, Briefe an eine Katholikin 1929-1931, Hamburg 1970, 33. Dieses Büchlein bleibt unter mehreren Aspekten ein hochinteressantes Dokument: es zeigt einen Briefwechsel voller Wärme und dem Versuch, auch einen andersdenkenden Menschen zu verstehen; und zugleich macht es deutlich, dass die öffentliche Antwort Tu­chols­kys - in der "Weltbühne" - etwas völlig anderes ist als die oft durchaus sehr privaten und persönlichen Briefe an die Katholikin Marierose Fuchs. 40 Carl Sonnenschein, in: GW 9, 103-109 (hier: 106). 41 Kurt Tucholsky, Die Begründung, in: GW 7, 52-56 (hier: 55). 42 Ebd. 43 Was soll mit den Zehn Geboten geschehen?, in: GW 7, 93-95 (hier: 93). 44 A.a.O., 94. 45 Ebd. 46 Erich Kästner, Begegnung mit Tucho, in: GSE VIII, 195-198 (hier: 197). Spätestens mit der neueren Tu­chols­ky-Forschung allerdings - etwa der umfassenden Biographie von Michael Hepp - ist dieses heroische Bild etwas ins Wanken geraten, ohne dass die Größe Tucholskys deshalb geschmälert wird. Seine Widersprüchlichkeit, ein Volksschriftsteller zu sein, "der sich das Volk vom Leibe hielt" (Hepp, Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen, Hamburg 1999, 306 - dieses Reich-Ranicki-Zitat wurde vom so Charakterisierten selbst sogar ironisch noch überboten: "Ist sehr beliebt bei sie und ihnen weltenfern" (ebd.). 47 GW 10, 61. 48 Von den Kränzen, der Abtreibung und dem Sakrament der Ehe, in: GW 9, 130-134 (hier: 134). 49 Ebd. - Welch eine Ironie des Schicksals, dass wir nun tatsächlich seit Jahren einen "deutschen Papst" haben! Aber hat die Bemerkung Tu­chols­kys deshalb ihre Gültigkeit verloren? Es hat sich an Machtstrukturen, am Prinzip von Befehl und Gehorsam, an autoritärem Vorgehen gegen Kritiker ja nichts verändert. 50 Der Krieg und die deutsche Frau, in: GW 5, 267-269 (hier: 267). 51 Tollers Publikum, in: GW 2, 202-204 (hier: 204). 52 Eine leere Zelle, in: GW 7, 39-40 (hier: 39). 53 Merkblatt für Geschworene, in: GW 7, 158-160 (hier: 160). 54 Das schwarze Kreuz auf grünem Grunde, in: GW 9, 184-188 (dort die folgenden Zitate). 55 Es kann nicht übersehen werden, dass die "Wege mit Gott" etwa bei den "Tea-Party"-Fundamentalisten in den USA in die Dunkelheit der Lieblosigkeit, der Erbarmungslosigkeit und der Intoleranz bis hin zu massiver Gewaltanwendung und Kriegsbejahung führen, auch zur prinzipiellen Bejahung der Folter! 56 Ein letztes Tucholsky-Zitat hierzu; eine für mich unverändert hilfreiche Definition des Humors: "Humor: zu wissen, dass es, nachdem man tapfer gewesen ist, alles nicht so schlimm ist. Humor: zu fühlen, dass es von oben reichlich unsinnig aussieht, was wir hier aufführen. Und dennoch zu seiner Sache stehen. Und abends um neun, wenn alles fertig ist, zu wissen: es lohnt sich kaum - aber man muss ran." Kurt Tucholsky, Der deutsche Mensch, in: GW 5, 293-299 (hier: 297). Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 10/11 Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 11/11