Soziale Urteilsbildung: Wie gelangen wir zu Urteilen über uns selbst? "Tatsächlich wurzelt unser Selbstgefühl in der sozialen Interaktion, denn wenn wir uns niemals mit anderen Menschen auseinander setzen würden, würde unser Selbstbild verschwimmen, da wir unser Selbst nicht als ein von anderen Menschen abgegrenztes Selbst wahrnehmen könnten" (Aronson et al., S. 174) A. Selbstkonzept Unter dem Selbst - Konzept wird die Gesamtheit der Einstellungen zur eigenen Person verstanden - also die Summe der selbstbezogenen Kognitionen, Evaluationen und Intentionen. Die Objekte dieser Einstellung können sein: - eigene Kompetenzen und Fähigkeiten - Handlungsziele - eigene Handlungen - eigenes Aussehen - soziale Beziehungen - Motive und Emotionen - eigene Normen und deren Befolgen - etc. B. Welche psychologische Funktionen hat das Selbst? - Strukturierende Funktion: Interpretationshilfe für Informationen über mich und meine Beziehung zur Welt - Emotionale Funktion: Steuerung/Kontrolle der eigenen emotionalen Reaktionen (z. Bsp. über einen Vergleich zwischen dem "tatsächlichen Selbst" und dem "Selbstideal" oder dem "normativen Selbst". Ausführende Funktion: Regulation und Kontrolle des eigenen Verhaltens über den Rekurs auf eigenes Selbst. Diese Kontrollfunktion erfordert Aufmerksamkeit, die unter Stress häufig nicht verfügbar ist. C. Kulturelle Unterschiede bei der Selbstdefinition Interdependente Selbstsicht ("Asiatische Kulturen"): 1. Meine Freude ist abhängig von der Freude der Menschen in meiner Umgebung. 2. Ich werde für das Wohl der Gruppe, in der ich mich bewege, meine eigenen Interessen opfern. 3. Es ist mir wichtig, die Entscheidungen der Gruppe zu respektieren 4. Wenn mein Bruder oder meine Schwester versagt, fühle ich mich verantwortlich. 5. Auch wenn ich mit Mitgliedern der Gruppe überhaupt nicht übereinstimme, gehe ich einem Streit aus dem Weg. Unabhängige Selbstsicht ("Westliche Kulturen") 6. Ich fühle mich wohl, wenn ich ausgewählt werde, um Lob oder Belohnung zu empfangen. 7. Fähig zu sein, für mich selbst zu sorgen, ist mir ein ganz elementares Anliegen. 8. Ich bevorzuge es, mit Menschen, die ich gerade erst getroffen habe, direkt und offen umzugehen. 9. Ich genieße es in vielen Bereichen, etwas Besonderes und anders zu sein als andere Menschen. 10. Meine persönliche, von anderen Menschen unabhängige Identität ist mir sehr wichtig. (Skala zur Messung der Stärke der interdependenten bzw. unabhängigen Selbstsicht (Singelis, 1994)) D. Wie lernt man sich kennen? 1. Introspektion: (Selbstbetrachtung nach innen, Erforschen der eigenen Motive, Emotionen, Wissensbestände über sich selbst, etc. Dazu: Das Konzept der Selbstaufmerksamkeit (Duval & Wicklund, 1972). Vermutung: Selbstaufmerksamkeit führt oft zur Entdeckung von Missständen und damit zur Unzufriedenheit. Mittel dagegen: Alkohol und andere Drogen, Arbeitssucht, Selbstmord… aber auch positiv: Selbstaufmerksamkeit ist wichtig für Lernen und Gedächtnisaufbau! 2.Beurteilung der eigenen Gefühle als Quelle des Selbstkonzeptes Schwierig, voller (systematischer) Irrtümer, dennoch unvermeidlich und oftmals hilfreich. Auf der Suche nach der Erklärung von Gefühlen greifen wir oft auf soziale Konzepte zurück, die uns helfen, uns zu verstehen, auch auf Kosten der Genauigkeit. Zwei - Faktoren - Theorie der Emotion (Schachter, 1964) Emotionales Erleben ist das Resultat eines in zwei Schritten stattfindenden Interpretationsprozesses: 1. Wir nehmen eine physiologische Erregung (Veränderung) wahr 2. und suchen dann nach einer Erklärung dafür. 3. Selbsterkenntnis durch Beobachtung des eigenen Verhaltens (Bem's Theorie der Selbstwahrnehmungstheorie) Aspekt der unterstellten Freiwilligkeit des eigenen Verhaltens in bestimmten, wiederkehrenden Situationen Aspekt der intrinischen oder extrinsischen Motivation Effekt der Überrechtfertigung: Verminderung der Motivation zur Ausführung einer Handlung und damit der Selbstzuschreibung einer Handlungstendenz. 4. Selbsterkenntnis durch interpersonelle Vergleiche Festinger's Theorie des sozialen Vergleichs: Menschen erfahren etwas über sich selbst, indem sie sich mit anderen Menschen vergleichen. 1. In welchen Situationen? Wenn kein "objektiver" Maßstab existiert und er zugleich unsicher ist. 2. mit wem? am liebsten mit "Gleichartigen"/ Ähnlichen 3. Warum der Vergleich? 1. Selbsterkenntnis 2. Selbstwertgefühl - Steigerung Beides nicht selten widersprüchlich. E. Persönlichkeitsmerkmale und Selbstwahrnehmung A. Emotionale Intelligenz und Selbstwahrnehmung Drei Aspekte der "Selbstbetrachtung eigener Emotionen" 1. Emotionale Klarheit 2. Emotionale Aufmerksamkeit 3. Emotionale Korrekturen Die Ausprägungen dieser "Gewohnheiten", in bestimmter Weise auf seine eigene Emotionen zu sehen und mit ihnen umzugehen, korrespondieren mit dem Selbstbild und mit bestimmten sozialen Verhaltensweisen. B. Selbstwahrnehmung und Selbstaufmerksamkeit Unter "Private Selbstaufmerksamkeit" wird die Tendenz verstanden, die Aufmerksamkeit auf private Ereignisse zu richten, d.h. auf solche, die nur der Person selbst zugänglich sind. Dazu gehören z. B. interne körperliche Vorgänge, Gefühle, Meinungen, Motive. "Öffentliche Selbstaufmerksamkeit meint die Tendenz zur Aufmerksamkeitsausrichtung auf "öffentliche", das heißt auch von anderen beobachtbare Aspekte des Selbst. Dazu gehören z. B. Bewegungen, Körperhaltungen und Sprache. Eine deutsche Version der Self-Consciousness-Scale (SCS). Heinemann, W. (1983): 1. Es ist mir wichtig, meine eigenen Bedürfnisse zu erkennen. 2. Ich achte darauf, wie ich aussehe. 3. Ich erforsche gründlich meine Absichten. 4. Ich betrachte mich gern im Spiegel. 5. Ich mache mir Gedanken, wie ich auf andere Menschen wirke. 6. Ich versuche, über mich selbst etwas herauszufinden. 7. Ich denke über mich nach. 8. Ich mache mir Gedanken über die Art, wie ich die Dinge anpacke. 9. Ich spüre es, wenn sich meine Stimmung verändert. 10. Ich beobachte sorgfältig meine innersten Gefühle. 11. Ich denke im nachhinein darüber nach, welchen Eindruck ich auf andere gemacht habe. 12. Ich merke, wie ich mich selbst beobachte. 13. Ich glaube, ich kenne mich selbst sehr genau. 14. Ich achte darauf, dass ich in einem guten Licht erscheine. 15. Bevor ich aus dem Haus gehe, werfe ich einen letzten Blick in den Spiegel. 16. Ich spüre richtig, wie mein Kopf arbeitet, wenn ich ein Problem löse. 17. Es ist mir unangenehm, wenn andere mich beobachten. 18. Ich achte auf mein Aussehen. 19. Ich mache mir Gedanken darüber, wie ich mich in Gegenwart anderer geben soll. 20. Ich achte auf meine Bewegungen und meine Körperhaltung. 21. Ich ertappe mich dabei, wie meine Gedanken um mich selbst kreisen. 22. Ich überlege, was meine Freunde und Bekannten von mir denken. 23. Ich bin mir über meine eigenen Pläne und Ziele sehr gut im klaren. 24. Ich spüre es, wenn mich jemand beobachtet. 25. Ich denke über mich und mein Leben intensiver nach als andere Menschen. 26. Ich denke darüber nach, welchen Gesichtsausdruck ich gerade habe. 27. Es ist mir wichtig, was andere über mich denken. Auswertung: Summe Items Privat (1,3,6,7,8,10,12,13,16,21,23,25) Summe Items Öffentlich (2,4,5,11,14,15,17,18,19,20,22,24,26) Hohe Selbstaufmerksamkeit zeigt sich in: • der gedanklichen Beschäftigung mit dem eigenen, gegenwärtigen, vergangenen oder künftigen Verhalten • einer hohen Sensibilität für eigene Gefühlszustände • dem Gewahrsein eigener positiver und negativer Eigenschaften • introspektiven Aktivitäten • der Tendenz, Vorstellungsbilder und Phantasien über die eigene Person zu generieren • dem Gewahrsein der eigenen körperlichen Erscheinung und Darstellung nach außen • einer starken Besorgnis ob der Bewertung, die man durch andere erfährt. Im Falle öffentlicher Selbstaufmerksamkeit stehen solche Aspekte des Selbst im Vordergrund, die prinzipiell auch für Außenstehende zugänglich sind und in denen das Selbst gleichsam durch Einnahme der Perspektive einer anderen Person betrachtet wird. Öffentliche Selbstaufmerksamkeit bezieht sich demnach auf Merkmale der äußeren Erscheinung und des (sozialen) Verhaltens wie auch generell auf die imaginierten Bewertungen des Selbst durch die soziale Umwelt. Private und öffentliche Selbstaufmerksamkeit werden als unabhängige und unkorrelierte Dimensionen betrachtet. Literatur zur Stunde: 1. Aronson et al, Kapitel 5. 2. zur "Emotionalen Intelligenz" Neubauer, A.C. & Freudenthaler, H.H. (2001). Emotionale Intelligenz: Ein Überblick. In E. Stern & J. Guthke (Hrsg.). Perspektiven der Intelligenzforschung. Ein Lehrbuch für Fortgeschrittene. Lengerich: Pabst 3. Zur Selbstaufmerksamkeit: Robert Wicklund & Dieter Frey (1993). Die Theorie der Selbstaufmerksamkeit. In Dieter Frey und Martin Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, Band I. Bern: Huber (S.155-173).