Apostelandacht am 24.3.2013 zu Paul Tillich

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Apostelandacht am 24.3.2013 zu Paul Tillich
Paul Johannes Tillich
„Wenn ich schlecht drauf bin, gehe ich ins Kino, doch wenn ich ernsthafte Sorgen habe, gehe
ich zu Tillich.“ Dieser Satz kursierte in den fünfziger und sechziger Jahren unter
Theologiestudenten in den USA. Er passte zu Tillichs Konfirmationsspruch, der ein Leitmotiv
seines Lebens werden sollte.
„Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“
Mit diesem Vers aus dem Matthäusevangelium stellte er sich auch persönlich in die
Nachfolge Christi, und wir haben ihn deswegen auch auf unserem Einladungsplakat
abgedruckt.
Der Deutsche Paul Tillich war also nach dem Krieg in Amerika also zur Kultfigur geworden.
Wer war dieser Mann?
Paul Johannes Tillich wurde am 20. August 1886 als Sohn eines märkischen Pfarrers und
einer rheinisch geprägten Mutter im brandenburgischen Starzeddel geboren. Seine Mutter
starb bereits, als er 17 Jahre alt war. Dies verstärkte seine schwermütige Grundstimmung und
sein ohnehin vorhandenes Interesse an Theologie und Philosophie.
Und so studierte er Theologie an den Universitäten Berlin, Tübingen und Halle.
Nach seinem theologischen Examen vertrat er zunächst einen Pfarrer in Berlin, übernahm als
23jähriger die volle Verantwortung für eine Gemeinde und studierte daneben intensiv die
Werke des Philosophen und Theologen Friedrich Schelling, einem wichtigen Vertreter des
deutschen Idealismus und der Romantik. Über ihn schrieb er dann auch eine philosophische
Doktorarbeit.
1911 wurde er Vikar in der Stadt Nauen im Havelland und schrieb gleichzeitig eine
theologische Lizentiatenarbeit, wieder über Friedrich Schelling. 1912 bestand er sein zweites
theologisches Examen, wurde anschließend Hilfsprediger in Berlin-Moabit.
Hier kam er zum ersten Mal mit Menschen der unteren sozialen Schicht in Berührung. Tillich
lernte hautnah das menschliche und wirtschaftliche Elend des Arbeitermilieus kennen – es
war seine erste Begegnung mit dem Proletariat. Diese Eindrücke legten den Grund für seinen
späteren Weg zum religiösen Sozialismus.
Nach dem Ende seiner Hilfspredigerzeit begann er 1913 die Arbeit an einer theologischen
Habilitationsschrift. Er wollte eine akademische Laufbahn einschlagen.
1914 heiratete er Greti Wever, die er im Sommer 1913 kennengelernt hatte. Bekannte warnten
Tillich vor diesem Schritt, weil Greti Atheistin war. Wenige Tage nach der Heirat meldete
sich Tillich als freiwilliger Feldgeistlicher in den Ersten Weltkrieg. Er erlebte schwere
Kämpfe mit, auch die Hölle von Verdun. Nach dieser Schlacht erhielt er Urlaub für seine
Habilitation in Halle.
Anschließend arbeitete er weiter als Feldgeistlicher, erlitt Ende März 1918 einen nervlichen
Schwächeanfall, was zu einem kurzen Lazarettaufenthalt führte. Im Juli wurde er schließlich
in die Heimat versetzt und im Dezember 1918 aus dem Heer entlassen.
Während der Kriegsjahre wandte sich seine junge Ehefrau Greti dem Tillich-Freund Richard
Wegener zu. Ein erstes Kind aus dieser Beziehung starb kurz nach der Geburt, ein zweites
Kind kam bereits 1919 zur Welt. Die Scheidung von Greti im Jahre 1921 gab ihm die
Freiheit, in ein Leben zu tauchen, das er verklärend Bohème nannte. Seine Stimmung des
Weltuntergangs schlug um in eine elementare Daseinsfreude und einen Hunger nach
Vergnügungen. Er traf sich mit Freunden in Cafés und Bars, besuchte Bälle und Kostümfeste
und geriet in erotische Abenteuer. Mit seinen Depressionen und Schuldgefühlen vertraute er
sich vorzugsweise Frauen an. Auf einem Faschingsball begegnete ihm Hannah Werner, mit
der sich eine qualvolle, leidenschaftliche und konfliktreiche Liebesbeziehung entwickelte.
Denn Hannah war mit einem anderen verlobt, den sie auch heiratete. Nach kurzer Zeit ließ sie
sich wieder scheiden und heiratete anschließend Tillich im Jahre 1924.
In diese frühe Zeit fiel auch Tillichs Entscheidung für den Sozialismus. Er begriff den Krieg
als Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung und bestimmter, damit verknüpfter
Ideen.
Er schrieb: „Vielleicht wirkten auch die Prophetenworte gegen die Ungerechtigkeit und die
Worte Jesu gegen die Reichen, die mich tief beeindruckt hatten – Worte, die ich in früher
Jugend auswendig gelernt hatte.“
Es entstand ein Kreis religiöser Sozialisten, der von 1920 bis 1927 eine Zeitschrift herausgab,
die „Blätter für Religiösen Sozialismus“.
Tillich verlangte darin von der Kirche und ihren Vertretern eine positive Stellungnahme
gegenüber dem Sozialismus und der Sozialdemokratie, und er glaubte an die Möglichkeit
einer Vereinigung von Christentum und Sozialismus.
Ab 1919 bot Tillich als Privatdozent Lehrveranstaltungen an der Theologischen Fakultät an.
Seine erste Vorlesung trug den Titel „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der
Gegenwart“. Spätere Vorlesungen befassten sich u.a. mit Religionsphilosophie, dem
religiösen Gehalt und der religiösen Bedeutung der griechischen und abendländischen
Philosophie, der mittelalterlichen Philosophie, den staats- und wirtschaftspolitischen
Richtungen. Diese Bandbreite seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wurde und wird bis heute
selten von Theologen erreicht.
Nach fünfjähriger Tätigkeit als Privatdozent und vielen wissenschaftlichen
Veröffentlichungen wurde er schließlich 1924 an die Universität Marburg berufen.
Ihn beflügelte die Idee, die Welt durch ein System des Denkens zu erobern. In seine
Marburger Zeit fiel auch seine Begegnung mit der Existenzphilosophie Martin Heideggers. Er
übernahm deren Denkansatz und Begrifflichkeit in seine Theologie.
1925 wurde Tillich zum Ordinarius für Religionswissenschaft nach Dresden berufen. Dresden
war zu dieser Zeit eine Stadt mit höchst anregender geistig-kultureller Atmosphäre.
Tillich fühlte aber, dass Dresden für ihn auch nur ein Übergang sein konnte. So bemühte er
sich schon seit 1928 intensiv darum, an der Theologischen Fakultät in Berlin eine Professur
zu erhalten. Aber dort hatte man Bedenken gegen seine Theologie und lehnte ihn ab.
Schließlich entschied er sich, als Ordinarius für Philosophie und Soziologie an die Universität
Frankfurt am Main zu gehen. Dort arbeitete er eng mit Max Horkheimer und Theodor W.
Adorno zusammen, den Gründern der sogenannten „Frankfurter Schule“.
Im April 1933 wurde er aufgrund seines Einsatzes für jüdische Studenten und wegen seiner
programmatischen Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ suspendiert. Er war der erste
nichtjüdische Hochschullehrer, der dieses Schicksal erlitt.
In dieser Schrift hieß es: „Der Aufweis der Disharmonie in der bürgerlichen Gesellschaft, die
Enthüllung der Klassensituation, war die größte und erfolgreichste Leistung der
marxistischen Ideologielehre. Durch sie wurde das sozialistische Prinzip zu allererst erfasst,
wurde das Wissen des Proletariats um sich selber geschaffen, wurde der proletarische Kampf
zu weltgeschichtlicher Bedeutung erhoben. Die materialistische Geschichtsauffassung gehört
darum wesenhaft und untrennbar zum Sozialismus, solange er im Kampf steht mit der
bürgerlichen Gesellschaft. Aber auch darüber hinaus behält sie ihre Gültigkeit.“
Das sind für einen christlichen Theologen sicher ungewöhnliche Worte. Sie sind wohl nur aus
der historischen Situation zu erklärbar. Bereits 1929 war Tillich in die SPD eingetreten, ohne
jedoch nennenswerte parteipolitische Aktivitäten zu entwickeln. Er schrieb darüber:
„Nur schwer und unter dem Zwang der politischen Situation konnte ich mich entschließen,
einer so verbürgerlichten Partei wie der deutschen Sozialdemokratie beizutreten.“
Im Oktober 1933 erhielt er unerwartet vom Theologischen Seminar in New York das
Angebot, dort erst einmal für ein Jahr als Gastprofessor zu lehren. Tillich sagte zu und so
zogen er, seine Frau Hannah und ihre siebenjährige Tochter Anfang November nach New
York. Im Vordergrund stand für ihn zunächst das Erlernen der englischen Sprache, mit der
Tillich bis zu seinem Lebensende Schwierigkeiten hatte.
Schnell wurde Tillich durch seine ausgedehnte Vortragstätigkeit bekannt.
In diesen Jahren rückte in wachsendem Maße die Tiefenpsychologie und ihr innerer Bezug
zur Religion in Tillichs Blickfeld. Er bezog sie in sein theologisches Denken ein und konnte
auf diese Weise in der Sprache der Gegenwart alte theologische Begriffe erläutern.
Ein damaliger Student Tillichs erinnerte sich später:
„Wenn Tillich in seinem gebrochenen Englisch sprach, spürte jeder von uns Hörern, dass er
lebendige Wahrheiten hörte; viele von uns erlebten das ein erstes Mal.“
Nachdem sich Tillich nach Ausbruch des Krieges in verschiedenen Publikationen gegen das
nationalsozialistische Deutschland ausgesprochen hatte, wurden amerikanische
Regierungsstellen auf ihn aufmerksam und forderten ihn auf, an der psychologischen
Kriegsführung gegen Deutschland teilzunehmen. So verfasste er für einen Rundfunksender
mehr als hundert Reden mit dem Titel „an meine deutschen Freunde“.
Nach dem Krieg konnte Tillich 1948 zum ersten Mal wieder nach Deutschland reisen. Er hielt
in vielen Städten Vorträge, auch bei uns in Hamburg, wo er eine Gastprofessur erhielt, aber
eine dauernde Rückkehr kam für ihn nicht mehr in Frage. Eine neu aufgekommene
Orthodoxie, also Strenggläubigkeit, hatte sich inzwischen breitgemacht, und man sah in der
Theologie Tillichs eher eine Gefahr.
Neben vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen predigte Tillich häufig und
veröffentlichte seine Predigten in mehreren Büchern. Wenn Tillich gefragt wurde, welches
der beste Weg sei, in sein Denken einzudringen, antwortete er meist:
„Lest zuerst meine Predigten!“
Nach seiner Pensionierung 1955 war Tillichs akademische Laufbahn noch längst nicht
abgeschlossen. Noch im Herbst desselben Jahres wurde er an die Harvard-Universität
berufen; das bedeutet in den USA akademisch das Höchste, was man erreichen kann.
Seine Bekanntheit wuchs auch durch seine Vortragstätigkeit weiter.
Gemeinsame Seminare mit dem Religionshistoriker Mircea Eliade in Chicago ließen in
Tillich sein Interesse an den nicht-christlichen Religionen wachsen.
Am Morgen nach seinem letzten Vortrag 1965 über „Die Bedeutung der Religionsgeschichte
für den systematischen Theologen“ erlitt Tillich einen schweren Herzanfall, von dem er sich
nicht mehr erholen konnte. Er starb am 22. Oktober 1965 in Chicago.
Tillichs Urne wurde auf dem Friedhof von East Hampton beigesetzt, wo die Familie ein Haus
besaß.
Am Pfingstsonntag 1966 wurde seine Asche der Erde des Paul-Tillich-Parks in New Harmony
im Bundesstaat Indiana anvertraut. Dort erprobten bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts
ausgewanderte Europäer genossenschaftliche Produktions- und Lebensformen, die einen
christlichen utopischen Sozialismus vorwegnehmen sollten.
Gedanken über das Werk Paul Tillichs
Tillichs Denken ist ein Denken „auf der Grenze“. So heißt auch seine autobiografische
Schrift. Sein schriftstellerisches Werk bewegte sich permanent auf der Grenze zwischen
Philosophie und Theologie. Er wechselte zwischen den Fakultäten, zwischen der
europäischen und amerikanischen Kultur, zwischen der Alten und der Neuen Welt.
Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Karl Barth oder Rudolf Bultmann hat er nie eine
theologische Schule gebildet. Aber viele Menschen hat er mit seinen Gedanken getröstet. Er
war ein Seelsorger mittels des Gedankens.
Karl Barth schaut in die Höhe empor zum Himmel und lauscht dem ewigen Wort der
Dreifaltigkeit. Tillich dagegen blickt hinab in die Tiefe der Wirklichkeit und ist fasziniert von
dem ständigen Wechselspiel der Geschichte. Barth ist darum bemüht, die Identität und
Reinheit und Unveränderlichkeit der christlichen Botschaft zu bewahren.
Tillich dagegen will diese Botschaft neu deuten und in die veränderte Situation unserer Zeit
und Welt übersetzen. Wir können mit unseren heutigen Worten sagen: Er sieht das Verhältnis
zwischen Gott und den Menschen als Kommunikationsprozess,
Zwar ist Gott in seiner ewigen Verborgenheit unabhängig vom Menschen, in seiner
Selbstoffenbarung aber tritt er zu ihm in das Verhältnis einer freien, lebendigen
Gegenseitigkeit von Person zu Person. Gott handelt, der Mensch reagiert darauf, Gott reagiert
seinerseits wieder und so fort. Auf diese Weise entsteht nach Tillich eine lebendige
Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch.
Diese Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch zeigt sich zunächst im „religiösen
Erleben“. Religion ist „der Name für das Empfangen der Offenbarung“. Gott offenbart sich
und der Mensch empfängt diese Offenbarung.
Die christliche Offenbarung hätte von den Menschen nicht verstanden und aufgenommen
werden können, wäre sie nicht in der Religion und Kultur zurzeit Christi vorbereitet gewesen.
Sie hätte dann nicht zu den Menschen gesprochen, sondern wäre ein Fremdkörper in ihrer
Geschichte geblieben. So ist die Bibel sowohl ein Dokument für die Selbstoffenbarung Gottes
als auch für die Art und Weise, wie Menschen diese Offenbarung aufgenommen haben. Das
Ereignis, auf dem das Christentum beruht, hat zwei Seiten: das Faktum Jesus von Nazareth
und die Aufnahme dieses Faktums durch die, die ihn als den Christus anerkannt haben. Das
Christentum wurde nicht in dem Augenblick geboren, als der Mensch Jesus von Nazareth
geboren wurde, sondern als einer seiner Jünger von ihm bekannte: „Du bist der Christus“
(Matth. 16,16). Und es wird nur so lange leben, als es Menschen gibt, die diese Aussage
wiederholen.
In Tillichs Theologie geht es sehr zentral um die Rolle des Symbols im christlichen Glauben.
Religiöse Symbole sind dem Material der erfahrbaren Wirklichkeit entnommen; sie benutzen
etwas Endliches, um unsere Beziehung zum Unendlichen auszudrücken.
Von Gott kann nur in indirekten, symbolischen Aussagen gesprochen werden, z.B. Gott als
„Vater“. Aber es kommt darauf an, dass die Symbole nicht wörtlich verstanden und für das
Göttliche selbst genommen werden. Tillich schrieb:
„Religiöse Symbole vermitteln durch ihr Teilhaben am Heiligen die Erfahrung des Heiligen
an Dingen, Personen und Ereignissen; eine Erfahrung, die durch keine Erkenntnis vermittels
philosophischer oder theologischer Begriffe ersetzt werden kann. Ein Glaube allerdings, der
seine Symbole wörtlich versteht, wird zum Götzenglauben. Der Glaube aber, der um den
symbolischen Charakter seiner Symbole weiß, gibt Gott die Ehre, die ihm gebührt.“
Tillich lehnte die Entmythologisierung der biblischen Texte ab, wenn durch sie die Mythen
und Symbole als Formen religiöser Aussage überhaupt beseitigt und durch die
Wissenschaften ersetzt werden sollen. Darin unterschied er sich von Rudolf Bultmann, der
eine konsequente Entmythologisierung forderte. Tillich kommentierte:
„Es gibt keinen Ersatz für Symbole und Mythen, sie sind die Sprache des Glaubens.“
Die Folge einer Entmythologisierung wäre, dass die Religion ihrer Sprache beraubt und die
Erfahrungen des Heiligen zum Schweigen gebracht würden.
Religion ist das Ergriffensein von etwas, das uns unbedingt angeht. Es gibt unserem Sein
den letzten Sinn. Und so ist auch der Begriff „Gott“ ein Symbol für das, was uns unbedingt
angeht. Er ist überall dort, wo man von etwas unbedingt ergriffen ist. Ein religiöses Moment
ist dann sogar in antireligiösen und antichristlichen Bewegungen verborgen, weil man in ihr
ein unendliches Anliegen hat, etwas, das unbedingt angeht, ein Heiliges in profanem, in
weltlichem Gewand. Das war der Grund, weswegen Tillich nach dem Ersten Weltkrieg die
Bewegung der „Religiösen Sozialisten“ in Deutschland mitbegründete. Ihrer Meinung nach
hat Gott durch die nichtreligiöse, damals sogar noch atheistische Sozialdemokratie stärker
gesprochen und mehr von seinem Willen kundgetan als durch das meiste kirchliche Handeln
und die meiste kirchliche Frömmigkeit zur gleichen Zeit.
Tillich schrieb idealistisch, gleichsam visionär: „Christentum und Sozialismus – das ist nicht
ein Problem vergleichender Begriffsanalyse, sondern das ist ein Wille, eine schaffende
Synthese, ein Wurf in unbekannte Weiten. So müssen Christentum und Sozialismus sich
fortentwickeln und eins werden in einer neuen Welt- und Gesellschaftsordnung, deren Ethos
eine Bejahung jedes Menschen um deswillen, dass er Mensch ist, und deren religiöser Gehalt
ein Erleben des Göttlichen in allem Menschlichen, des Ewigen in allem Zeitlichen ist.“
Und er schrieb an anderer Stelle:
„Ist somit weder in der sozialistischen Idee noch in den sozialistischen Parteien und
grundsätzlicher, im Wesen liegender Gegensatz gegen Christentum und Kirche vorhanden, ist
vielmehr die Sehnsucht nach einer Erfüllung mit sittlich-religiösem Geist in weiten Kreisen
des Sozialismus lebendig, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer positiven
Stellungnahme der Kirche gegenüber Sozialismus und Sozialdemokratie.“
Und Tillich dachte nicht an eine systemimmanente Sozialreform, in heutigen Worten an eine
Reparatur des Kapitalismus, sondern an eine radikale Veränderung des Systems selbst, und
zwar unter ausdrücklicher Berufung auf die verwandelnde Liebe Christi.
„Es entspricht dem Geist der Liebe mehr, das Übel selbst auszurotten, als die Leiden, die es
immer wieder bringt, durch Teilmaßnahmen mildern zu wollen; es ist das höhere Ziel, die
Voraussetzungen des Almosengebens aufzuheben, als die Armut durch Almosen zu lindern; es
ist das höhere Ziel, die Grundlagen des wirtschaftlichen Elends zu vernichten, als die
Verelendeten durch die Werke der christlichen Liebestätigkeit oder eine soziale Gesetzgebung
aus dem Schlimmsten zu retten; es ist ein höheres Ziel, die Möglichkeit des wirtschaftlichen
Egoismus zu unterbinden als ihn durch Arbeiterschutzgesetze oder den Appell an die Pflicht
patriarchalischer Fürsorge einzuschränken.“
Tillich litt an der Zertrennung und Entfremdung der Welt und war daher von einer
unstillbaren, fast romantischen Sehnsucht nach der Wiedergewinnung ihrer verlorenen Einheit
erfüllt. Er wollte verbinden, vereinigen, heilen, versöhnen. Damit droht allerdings die Gefahr,
dass Tillich die christliche Offenbarung überall in der Welt findet und auf diese Weise ihre
Besonderheit einebnet.
Die Grenzen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt drohen sich zu
verwischen. Gott scheint so weltlich und die Welt so göttlich zu werden, dass beide ihre
Konturen verlieren. Das wurde Tillich häufig vorgeworfen. Oder, wie Karl Barth es
formulierte: „Gott ist im Himmel und du bist auf der Erde.“
Man kann das aber auch positiv bewerten: Tillichs Theologie will Gott nicht in einem Jenseits
der Geschichte, nicht über und außerhalb der Welt, auch nicht in einem fernen, fremden Land
oder in irgendeiner fernen, fremden Zeit suchen, sondern in der Wirklichkeit der Welt und
unseres Lebens, als ihre letzte wahre Wirklichkeit.
Für seine Examenspredigt wählte Tillich das Pauluswort 1.Korinter, 3,23: „Alles ist euer, ihr
aber seid Christi, Christi aber ist Gottes.“
Er predigte: „Die ganze Welt ist euer, sagt Paulus, das ganze Leben, das gegenwärtige und
das zukünftige, nicht nur Teile davon. Diese bedeutsamen Worte sprechen von
wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Leidenschaft, von künstlerischer Schönheit und ihrer
erregenden Kraft, von der Politik und ihrem Machtgebrauch, vom Essen und Trinken und von
der Freude, die wir daran haben, von geschlechtlicher Liebe und ihrer Ekstase, vom
Familienleben und seiner Wärme, von der Freundschaft und Innigkeit, von der Gerechtigkeit
und ihrer Klarheit, von der Natur und ihrer Macht und Ruhe, von der durch den Menschen
geschaffenen Welt, die die Natur umformt und sie verwandelt in technische Gestalten mit
ihrer Faszination, von der Philosophie und ihrer Tiefe, in der sie die Frage nach dem
Unbedingten zu stellen wagt. In all dem ist Weisheit und Macht dieser Welt, und all das ist
unser. Es gehört uns, und wir gehören ihm, wir schaffen es, und es erfüllt uns.“
Tillich beschäftigte sich auch ausführlich mit Geschichtsphilosophie, aus theologischer Sicht
war das für ihn Heilsgeschichte.
Der Begriff des Kairos war für ihn dazu ein Schlüsselbegriff.
Kairos ist der Augenblick, da das Ewige in das Zeitliche einbricht, es erschüttert und
umwendet. Er bereitet darauf vor, das Ewige zu empfangen. Er ist der Augenblick des
Ergriffenseins durch einen offenbarten geschichtlichen Augenblick. Es ist also ein zentraler
Wendpunkt der Geschichte, wo Gottes Einwirken auf die Welt zu spüren ist.
Das Urbild eines jeden Kairos ist für den christlichen Glauben die Erscheinung Jesu als des
Christus, des Sohnes Gottes. Sie bildet für ihn die Mitte der Geschichte, wo in einer konkreten
Wirklichkeit das sinngebende Prinzip anzuschauen ist, das der ganzen Geschichte ihren Sinn
gibt, vom Anfang bis zum Ende,. Was in diesem einmaligen, besonderen und universalen
Kairos geschehen ist, das wiederholt sich, in abgeleiteter Form, in jedem Wendepunkt der
Geschichte. Von jedem Kairos gilt, dass in ihm das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist.
Als einen solchen Kairos hat Tillich auch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren
gesellschaftlichen Umwälzungen gedeutet und erlebt. Es war für ihn ein erfüllter und
geschichtlicher Augenblick, der viele schöpferische Möglichkeiten bot. Dieses Gefühl, in
einem Moment des Kairos zu leben, gab Tillich und seinen Freunden den Impuls, die religiössozialistische Bewegung zu begründen. Der Religiöse Sozialismus verstand sich als „der
Deutungs- und Gestaltungsversuch des Sozialismus vom Kairos her“.
Die Hoffnung der Religiösen Sozialisten ging auf ein neues „theonomes“, also von Gott
erfülltes Zeitalter. Anlass zu dieser Hoffnung gab ihnen der Zusammenbruch der bürgerlichidealistischen Kultur und des Bündnisses der protestantischen Kirche mit ihr. Dadurch schien
die Möglichkeit gegeben zu sein, die tiefe Kluft zwischen der sozial-politischen Revolution
und der kirchlichen Tradition, überhaupt zwischen profaner, also weltlicher Kultur und
Religion zu schließen. Aber das Unternehmen misslang. Auf politischem und sozialem Gebiet
erwies es sich als unmöglich, den Materialismus der Arbeiterparteien zu zerbrechen. Tillich
schrieb später: „Die alte Garde siegte über uns und über die Jugend ihrer eigenen
Bewegung.“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es für Tillich kein derartiges „ekstatisches Erlebnis“
gegeben wie nach dem Ersten. An die Stelle einer utopischen Hoffnung trat ein „zynischer
Realismus“, wie er schrieb.
Aber gerade damit schien für Tillich die Möglichkeit eines neuen Kairos gekommen zu sein:
Im Sommer 1961 predigte Tillich in unserer Hamburger Katharinenkirche, und seine damals
formulierten Sätze sind meines Erachtens bis heute gültig:
„Wir leben in einer Periode, in der Gott für uns der abwesende Gott ist. Es ist das Werk des
göttlichen Geistes selbst, dass Gott unserer Sicht entrückt wird, nicht nur einzelnen
Menschen, sondern auch ganzen Zeiten. Der Geist Gottes verbirgt Gott unserem Blick. Wenn
wir Gott als den Abwesenden erfahren, wissen wir um ihn; wir erleben sein Nicht-bei-unssein als eine leere Stelle, wie sie bleibt, wenn jemand oder etwas, das zu uns gehörte, uns
verlassen hat.
Und dann mag wohl der Abwesende zurückkehren und den Platz einnehmen, der ihm gehört,
und die Gegenwärtigkeit des göttlichen Geistes mag wieder in unser Bewusstsein einbrechen,
uns aufweckend zur Erkenntnis dessen, was wir sind, uns erschütternd und verwandelnd. Und
wenn wir nicht die rechten Worte finden, weil Gott für uns der Abwesende ist, dann dürfen
wir ohne Worte auf IHN, auf Jesus Christus blicken, in dem das Leben und der Geist Gottes
ganz offenbar waren.“
Abschließend fragen wir uns: Was bleibt uns im 21. Jahrhundert von der Person und dem
Werk Paul Tillichs?
1. Tillich bekannte sich zum Grenzgängertum, das für ihn aber zugleich eine Aufforderung
zur Synthese ist, zu einer Aufhebung aller Widersprüche auf einer höheren Ebene:
Der Mensch erlebt sich existenziell auf der Grenze zwischen Immanenz – der Diesseitigkeit,
der Endlichkeit – und Transzendenz, der Ewigkeit. Dies lässt ihn nach Gott fragen. Damit
relativiert sich für Tillich die Spaltung des Christentums in verschiedene Konfessionen,
Gruppierungen und Sekten. Die Ökumene ist sein Programm. Damit lässt sich aber auch die
Forderung nach Toleranz, nach Dialog mit anderen Religionen wie dem Islam und den
östlichen Religionen begründen. Sie haben nach Tillich alle ihre Berechtigung, weil sie
Ausdruck des Religiösen, der Suche nach Gott in der Welt und jenseits unserer Endlichkeit
sind.
2. Sein Wissen war fast enzyklopädisch, umfasste theologische, philosophische, politische,
psychologische, technische und naturwissenschaftliche Kenntnisse, die er im Sinne einer
Synthese zusammenführen wollte. Das fasziniert an seinen Texten bis heute, macht allerdings
das Lesen und das Verständnis sehr schwierig. Er formulierte auf einem sehr hohen
sprachlichen Niveau mit einer gewöhnungsbedürftigen Begrifflichkeit.
3. Tillichs Programm eines religiösen Sozialismus ist für mich und sicher auch für andere
nach wie vor aktuell. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren hatte es uns
Jugendliche hier an der Apostelkirche inspiriert, geradezu beflügelt – und damit die Energie
verschafft, die Welt verändern, verbessern zu wollen. Um mit Tillichs Worten zu sprechen:
Wir sahen 1968 die Zeit eines neuen Kairos gekommen und traten damals zusammen mit
unserem Pastor Gerhard Schaefer auf den Spuren Tillichs in die SPD ein. Tillich war für uns
Jugendliche so etwas wie ein moderner Apostel und kann es uns bis heute sein. Er hat es
verdient, nicht vergessen zu werden.
Rolf Polle
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