Predigt im Evangelischen Gottesdienst am 26.03.2016 (Karfreitag) in St. Sebald Nürnberg Pfarrer Jonas Schiller Albrecht-Dürer-Platz 1 90403 Nürnberg Lebenswege. Kreuzwege Liebe Schwestern und Brüder, rund 1000 Schritte sind es vom Tiergärtner Tor in der Nürnberger Stadtmauer zum weltbekannten Johannisfriedhof. Unzählige Touristen sind heute auf dieser „Sightseeing“-Strecke unterwegs, meist in großen Reisebussen. Die Strecke ist seit Jahrhunderten ein viel begangener Weg, allerdings zu Fuß und nicht aus touristischen Gründen. Wer den Weg geht, wer die 1000 Schritte tut, kann am Straßenrand sieben, kunstvoll aus Sandstein gehauene Bildstöcke sehen. Sie zeigen die letzten Stunden Jesu vor der Kreuzigung, seinen Weg ans Kreuz. Schritt für Schritt kann der Pilger hier nachvollziehen, was Jesus erlebt hat, das schwere Kreuz auf seiner Schulter, das Hinfallen und wieder aufstehen. Sieben Mal kann man stehen bleiben, beten, nachdenken. Im Spätmittelalter ist dieser Kreuzweg entstanden. Der Bildhauer Adam Kraft hat ihn erschaffen. Er führt eben jene 1000 Schritte von der Altstadt zum Friedhof. Das Gehen des Kreuzweges ist eine Form der Andacht. Hier kann ich nicht nur über den Leidensweg Jesu nachdenken, sondern auch über mein eigenes Leben, meinen eigenen Lebensweg. Der Kreuzweg ist eine Andachtshilfe. Überall auf der Welt machen sich Menschen auf solche Gebetswege. Das geht soweit, dass z.B. in Jerusalem auf der berühmten via dolorosa, die Menschen sich große Holzkreuze auf die Schulter laden, um so Jesu letzten Weg geradezu zu imitieren. Man will die Botschaft nicht nur hören, sondern mit dem ganzen Körper miterleben. Ist das religiöse Übertreibung? Ist das mittelalterliche Frömmigkeit, die uns heute fremd ist? Ich glaube, dass der Kreuzweg ein gute geistliche Übung ist, weil er Herz und Verstand, weil er Körper und Geist, weil er die Zeit Jesu und unsere Gegenwart in Verbindung bringt. Ich glaube auch, dass man durchaus sagen könnte: Unser Leben ist ein Kreuzweg. Dass jeder „sein Kreuz zu tragen hat“ im Leben, erfahren die einen mehr, die anderen weniger, aber letztlich doch alle. Das Leben als Kreuzweg. Der Karfreitag ist der Tag, auf den unsere persönlichen Kreuzwege zulaufen, an dem sie ihr Ziel haben. Karfreitag – der Tag des größten Trostes, aber auch der Tag der größten Anfragen. „Für Dich gestorben“, hören wir. Das ist eine gewaltige Zusage. Beim Abendmahl wird sie jedem und jeder ganz direkt zugesprochen. Für manchen ist das zu gewaltig und kaum zu verstehen: Wieso sollte jemand für mich sterben? Stehe ich in der Schuld? Und freilich: Keine geschliffene Dogmatik, keine auswendig zu lernenden Lehrsätze können einem das ein für alle Mal erschließen. Wir sind auch mit unserem Glauben auf dem Weg. Und auf diesem Weg liegen viele Abschnitte, die nicht schön und erfüllend sind, sondern mit Schwerem und Traurigem zu tun haben. Ich kann mein Leben freilich auch in so einer Art „Reisebus“ verbringen und einfach an allem „vorbeifahren“, was mir wehtut und was tief in mir vergraben ist. Es erscheint ja auch einfacher, nicht stehen zu bleiben und genauer zu schauen, was mich traurig macht oder lähmt. Dann lieber Vollgas und weiter. Ich denke, wer stehen bleibt und den Kreuzweg, seinen Kreuzweg betrachtet, -anschaut, was weh tut,- der wird verändert. Wie er sein Leben lebt und wie er glaubt. Wer das Kreuz und wer sich selbst ernst nimmt, der kann über die Tiefen, die Brüche und Traurigkeiten des Lebens nicht hinweg gehen. Aber gerade auch darum geht es am Karfreitag. Karfreitag ist die Zeit der Anfrage, die Zeit, sich den Kreuzwegen zu stellen, den eigenen und den Kreuzwegen der Welt. Jesus stirbt. Er stirbt grausam, qualvoll, unter Schmerzen. Noch im Sterben wird er verspottet von den Menschen. Seine Kleidung haben sie schon vor dem Tod verteilt. Er stirbt einsam: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das Kreuz ist kein Ort besinnlicher Betrachtung. Das Kreuz ist ein Ort des Grauens. Es ist der Ort der Anfechtung. Und doch, / sooft sich Menschen unter dem Kreuz Jesu versammeln, wird sein Kreuz ein Ort des Trostes. Im Kreuz treffen sich Horizontale und Vertikale. Da begegnen sich Himmel und Erde, da begegnen sich Gott und Mensch. Das Kreuz ist wie ein Pluszeichen über meinem Leben. Unser Lebensweg steht unter dem Kreuz, als gutem Vorzeichen. Das Kreuz ist eben auch ein Ort des Trostes und der Stärkung. Das Kreuz ist das Zeichen, dass ich Gott nicht egal bin – egal, wie verlassen ich mich fühle. Das Kreuz ist das Zeichen, dass Gott auch in mein Leben kommt. Das Kreuz ist das Zeichen, dass er mein Leben kennt und meine Weg mitgeht, von der Geburt bis über den Tod hinaus. Jesus hat dieses Leben selbst gelebt, kennt es in allen Höhen und Tiefen, in aller Freude und in der größten Verzweiflung. Jesus geht aufs Ganze, er gibt sein Leben – für mich. Jesu Kreuz, sein Leiden und Sterben, seine Lebenshingabe wird zum Zuspruch Gottes für mich. Das nimmt das Kreuz meines Lebens nicht weg, aber es macht die Last, es zu tragen leichter. Sein „Leben zu geben“ ist für die meisten von uns vielleicht höchstens eine heldenhafte Vorstellung, aber hat das etwas mit unserem Leben zu tun, ist das für uns überhaupt vorstellbar? Wir haben vorhin zwei Menschen gehört, die von Ihren Lebenswegen erzählt haben. Die davon erzählt haben, dass das Leben sich auf Kreuzwegen abspielt. Wenn man an Leib und Leben bedroht wird, seinen Glauben nicht leben kann, fliehen muss. Wenn der geliebte Mensch krank wird und sich das gemeinsame Leben von einem Tag auf den andern ändert. Wir haben auch gehört, wie sehr der Glaube in solchen Momenten tragen kann. Dass Gottes Segen auch in den schweren Zeiten spürbar wird. Wer so seinen Weg geht, wird spüren, dass er ihn nicht alleine geht. Schmerzliche Erfahrungen, Trennungen und Abschiede von Menschen oder von Lebensplänen, all das hat seinen Platz unter dem Kreuz. Das ist Gottes großes Angebot an die Menschen. Dietrich Bonhoeffer hat es in einem Gedicht so formuliert: Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Und jetzt geht es plötzlich ganz anders weiter: Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. So wie wir Gott brauchen, braucht er auch uns, hören wir. Und abschließend heißt es: Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden. Christen stehen bei Gott in seinen Leiden, und Gott steht uns bei in unseren Leiden: Diese Erfahrung kann Menschen verändern, kann uns verändern. Vielleicht zerreißt dann wirklich der Vorhang in uns, wie der Vorhang des Jerusalemer Tempels? Vielleicht bebt dann der vermeintlich sichere Boden unseres Lebens. Und vielleicht braucht es das, um mit dem römischen Hauptmann unter dem Kreuz und den Menschen um ihn herum einstimmen zu können: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Die leidvollen Kreuzwege des Lebens auszublenden, ist bequem. Und deshalb ist es gut, dass sich der Glaube an Jesus an einem Kreuz entscheidet. Ein Glaube, der nur oben ist, der trägt auf Dauer nicht, das Kreuz gehört zum Leben dazu. Aus dieser Tiefe heraus, die wir alle aus unseren Leben kennen und in uns haben, aus dieser Tiefe heraus ist das Kreuz vom Symbol eines qualvollen Todes zum Symbol für Trost, Hoffnung und Mut geworden, gerade auch in finstersten Zeiten. Was für ein verständnisvoller, menschenfreundlicher Gott. Was für ein naher Gott. Dass ich gerade auch in all den Tiefen meines Lebens sehen kann, dass Gott da ist, dass er meinen Kreuzweg kennt, weil er selbst einen Kreuzweg gegangen ist, dass hilft mir, auch die schweren Schritte auf meinem Weg zu gehen. Das glauben zu können, das erleben zu dürfen, dazu helfe Gott uns allen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen