Das Evangelium predigen Gedanken zu Theorie und Praxis einer textorientierten Predigt Von: Günter Scholz, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 2 / 2017 Zum Profil der evangelischen Kirche gehört die Predigt. Daher dient die Reflexion der ­Predigt auch der Schärfung des konfessionellen Profils. Günter Scholz beleuchtet die ­Predigt hinsichtlich des ihr zugrunde liegenden Auftrags, sodann als Gespräch und ­schließlich als Rede. Im Zeitalter der Angebotsvielfalt, der Besinnung auf die eigenen Wurzeln im ökumenischen Dialog, der zwangsläufigen Konzentration auf das Wesentliche ist es geboten, das je eigene Profil zu definieren und es in der praktischen Arbeit herauszustellen und zu pflegen. Zum Profil der evangelischen Kirche gehört eindeutig die Predigt(1). Seit der Reformationszeit tritt neben den Altar die Kanzel, und sie bekommt als Ort der Predigt immer mehr Gewicht gegenüber dem Altar als Ort der Sakramentsverwaltung. In manchen Kirchen werden Bilder an der Altarwand zugunsten von Schriftworten zurückgedrängt. Der Talar, auch Kleidung des akademischen Lehrers, tritt an die Stelle bunter liturgischer Gewänder. Wenn und weil die Predigt zum Proprium der evangelischen Kirche gehört, dient eine ständige Reflexion des eigenen Ansatzes der Schärfung des konfessionellen Profils. Die folgenden Ausführungen betrachten erstens die Predigt als Auftrag, zweitens die Predigt als Gespräch, drittens die Predigt als Rede. 1. Predigt als Auftrag Wortverkündigung gehört zum "Kerngeschäft" kirchlichen Handelns. Das ergibt sich aus dem Beispiel Jesu. Ein Wesensmerkmal seines Wirkens war es, "ihnen das Wort" zu sagen (Mk. 2,1). Es ist mit dem anderen, der Heiltätigkeit, eng verbunden. Bei der Gelähmtenheilung scheint es der Heilung sogar als Sündenvergebung (Mk. 2,5) vorgeordnet zu sein. Andernorts endet die Wundertat in einem kerygmatischen Satz über die Wirkung des Glaubens ("Dein Glaube hat dir geholfen" (Mt. 9,22/Lk. 8,48; vgl. Mk. 5,34)). Matthäus gliedert das Wirken Jesu in Lehr- (Mt. 5-7) und Heiltätigkeit (Mt. 8-9), auch wieder unter Vorordnung der "Lehre" vor dem Heilen, und die Jünger werden zu gleicher Arbeit mit gleichen Schwerpunkten ausgesandt (Mt. 10). Jesus selbst sieht sich nach der Darstellung des Markus (Mk. 1,14f) und Matthäus (Mt. 4,17; vgl. 3,1f) zusammen mit Johannes dem Täufer in der Nachfolge prophetischer Wortverkündigung (vgl. das Zeugnis Jesu über den Täufer Mt. 11,7-19/Lk. 7,24-35) und zugleich als deren unüberbietbarer Kulmination (F. Mussner, Traktat über die Juden, München 1979, 353) (vgl. das "Zeichen des Jona" (Mt. 8,38-41/Lk. 11,29-32)). Die Vollmacht, in der er lehrt (Mk. 1,27), gibt er an seine Jünger weiter (Mt. 10) und als Auferstandener an alle, die seither in seiner Nachfolge stehen (Mt. 28,20). So wirkt der Missionsauftrag weiter durch die Zeiten als Auftrag auch an uns, Menschen durch Lehre und Taufe für das Evangelium von Jesus Christus zu ge­winnen. Der Inhalt der Predigt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/8 Inhalt des Evangeliums ist Jesus Christus selbst (Mk. 1,1). Der johanneische Christus hat diesen Inhalt in ein Kernwort gefasst, das auch für die Verkündigung bestimmend ist: "Ich lebe, und ihr sollt auch leben" (Joh. 14,19). Der Prediger hat den Auftrag, Christus als den noch heute zu uns Sprechenden und darin als den Lebendigen zu verkündigen. Der Christus praesens ist es, der seine Jünger und Nachfolger zur Verkündigung beauftragt, der (freilich bei Lk.) den Emmaus-Jüngern als Begleiter, Maria als Gärtner, den Jüngern als Geist und Thomas als alle Zweifel hinwegnehmender Gekreuzigter und zugleich Auferstandener erscheint. Die Erscheinungsgeschichten verweisen auf die unsichtbare und nichtsdestoweniger reale Präsenz Christi auch in unserer Welt heute. Das ist die Kernaussage des Evangeliums und damit auch der Verkündigung: "Ich lebe ...". Es geht darum weiterzusagen, was mich trägt und hält, wem ich mein Leben anvertrauen kann: dem Christus, dessen Geist das All erfüllt (vgl. GL 249), also auch mich in Glück und Leid, in aller Alltäglichkeit. So wird der Christus praesens auch in populären Liedern ("Ist auch mir zur Seite ...") und Gebeten ("Komm, Herr Jesus, sei unser Gast ...") bekannt. Im kerygmatischen Kernsatz "Ich lebe, und ihr sollt auch leben" ist die Christusgegenwart als Beziehungsgeschehen qualifiziert. Sie ist kein Selbstzweck, sondern wie Christologie und Soteriologie untrennbar miteinander zusammenhängen, so ist seine Gegenwart Lebensgabe auch für uns. Es ist daher für die evangelische Predigt konstitutiv zu zeigen, wie sich die Gegenwart Christi auf mein Leben auswirkt: Freude stiftend, befreiend, rechtfertigend, in die Verantwortung rufend. Freude stiftend, denn er ist der Freudenmeister, der schales Wasser in Wein verwandelt, also auch Grund meiner Lebensfreude; befreiend, denn er ist der Herr über alle Herren, vor dem alle Mächte und Gewalten ihre Knie beugen, also fürchte ich weder Mensch noch Mächte, die mich auch in ihren Bann ziehen wollen, sondern weise ihnen ihren Platz zu; rechtfertigend, denn er bringt mein Leben zurecht, lässt es gelten (Joh. 8,3-11) und tritt vor Gott für mich ein (Röm. 8,34); in die Verantwortung rufend, denn Rechtfertigung schließt letzte Verantwortung nicht aus, sondern gerade ein; und die letzte Verantwortung "kommt" ("von dort wird er kommen") auch für mich (Mt. 25,31-46; 2. Kor. 5,10). Eine Predigt, die sich dem Evangelium verpflichtet weiß, darf das allerdings nicht als Drohung transportieren, sondern als Ernstnahme der Verantwortung hier und jetzt und als Aufruf zu bereitwilliger Wahrnehmung derselben. Die Auswirkung des Beziehungsgeschehens zwischen Christus und mir sind noch weitreichender. Sie bestimmen nicht nur mein Leben in der Welt, sondern sie reichen über dieses Leben hinaus. Wenn Christus von seinem Leben gibt, dann gibt er auch das ewige Leben an uns weiter. "... ihr sollt auch leben" heißt in diesem Zusammenhang: Ihr sollt an meinem Sein bei Gott teilhaben. Nichts anderes bekennen wir in den letzten Zeilen des Glaubensbekenntnisses, nichts anderes sagt auch das Johannesevangelium in seiner jetzigen Redaktion (vgl. z.B. die Brotrede 6,35-40), egal, wie man die futurisch-eschatologischen Stellen einordnet. Evangelische Predigt kommt nicht umhin, das Gehalten-Sein meiner Person über den Tod hinaus zu verkündigen, wenn sie denn wahrhaft evangelisch (nicht im konfessionellen Sinn!) sein will. Die Angst, man laufe damit Gefahr, Menschen nur aufs Jenseits zu vertrösten, ohne ihre Not hier wahrzunehmen, war in der Vergangenheit oftmals der Grund dafür zu betonen: "Es gibt ein Leben vor dem Tod." So richtig dieser Satz auch ist, so sehr ändert sich zurzeit auch der gesellschaftliche Kontext, der nach Antwort auf letzte Fragen verlangt. Da die Fragen nach Woher, Wozu und Wohin dieses Leben überschreiten, müssen auch die Antworten dort gesucht werden. Da ein intellektuelles Finden nicht möglich ist (vgl. Pred. 3,11), können sie uns nur gegeben werden, und zwar von der Bibel, deren Antwort in der Predigt weiterzusagen ist. Vernachlässigt die Verkündigung diesen Aspekt, springen andere Religionen oder Pseudoreligionen hier ein. Das Ziel der Predigt Vom Inhalt der Predigt war die Rede(2). Das Ziel ist jetzt zu benennen. In klassischer Ausrichtung finden wir es bereits bei Matthäus, der Jesu Worte in Reden zusammenfasst, deren bekannteste die Bergpredigt ist. Zu Beginn und am Ende der Predigt-Tat-Einheit (Kap. 5-7; 8-9) erscheinen gleichlautend die Absichten, zu lehren (didaskein) und zu verkündigen (keryssein) (4,23; 9,35). Die übrigen Reden des Matthäusevangeliums sind wesentlich unspezifischer im Blick auf eine Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/8 Zielangabe; die Aussendungsrede (Kap. 10) verbindet sich allenfalls noch mit "gebieten", und das heißt: etwas zu tun oder zu unterlassen. Daraus ließe sich die Zielangabe "Aktion" für die Predigt ableiten, was im Einzelfall angemessen sein mag, aber nicht die ­Regel sein kann. Die Zielangaben "Verkündigungen" und "Lehren" freilich sprechen für sich und bedürfen keiner weiteren Ableitung. Dementsprechend gilt auch für die Predigt heute: Sie hat eine kerygmatische und/oder eine didaktische Intention. Darüber hinaus hat sie auch eine poimenische Funktion. Diese ist zwar in der mt. Predigt-Tat-Einheit nicht wörtlich benannt, was wohl daran liegt, dass Jesus nicht als ausgesprochener Seelsorger aufgetreten ist. Aber sie ist nicht vergessen und aus dem, was über Jesus und seine Worte gesagt wird, erschließbar. Zum einen erwähnen die Rahmenverse neben dem Verkündigen und Lehren auch das Heilen. Und das kann auch in seelsorgerlicher Achtsamkeit die Predigt. Sie kann heil-sam sein, und sie soll es auch. Im unmittelbaren Anschluss an 9,35 lässt Jesus sich die seelische Not und Orientierungslosigkeit des Volkes angelegen sein (es "jammerte" ihn), und er erkennt sein Hirtenamt (poimen) - um es gleich zu delegieren (9,37f). Anderswo nimmt er es freilich wahr: in der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Gemeinderede Mt. 18, in der Vergebungsbereitschaft (Joh. 8,3-11) und in Vollmacht (Mk. 2,5). Somit ergeben sich für die Predigt nach wie vor drei Intentionen bzw. Funktionen(3): Kerygmatik, Didaktik, Poimenik. Kerygmatik, Didaktik und Poimenik Die kerygmatische Intention wird da verwirklicht, wo die Predigt getragen wird von der ausdrücklichen Überzeugung: "Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen", was untrennbar mit dem Aufruf verbunden ist, sein Leben darauf einzustellen und Christus zu vertrauen. "Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern", verkündet das Lied von Jochen Klepper (EG 16) im Anschluss an Röm. 13,11-14. Die kerygmatische Intention kommt da zum Ziel, wo deutlich wird: "Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils" (2. Kor. 6,2). Die didaktische Intention legt sich bei manchen Texten und Sachverhalten nahe. Sie findet sich in der Gleichnisrede Mt. 13, in der das Himmelreich, die Gottesherrschaft, anschaulich werden soll, sie ist eng verbunden mit Texten, die die Mosaiksteine für die Rechtfertigungslehre liefern, und sie wird in den Vordergrund treten bei christologischen Texten, deren soteriologischer Bezug nicht sehr stark ausgebildet ist (z.B. Phil. 2,6-11), oder auch bei Texten, die Christologie und Soteriologie in so komprimierter Form enthalten, dass es selbst dem geübten Auge schwer fällt, die gehäuften abstrakten Substantiva zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen (z.B. 2. Kor. 4,3-6). Bei alledem jedoch ist die Predigt keine Lehrveranstaltung; der didaktische Schwerpunkt muss daher von kerygmatischen und ggfs. auch seelsorgerlichen Elementen umschlossen sein. Ein gutes Beispiel dafür ist wiederum die Bergpredigt(4). Sie hat einen eindeutigen didaktischen Schwerpunkt, ausgewiesen durch die Antithesen, Richtlinien für das Almosengeben, Beten, Fasten, Sprüche über den wahren Schatz, das Sorgen, das Richten, das Bitten und schließlich die Goldene Regel. Das alles aber unter dem Vorzeichen des schon jetzt Gesegnet-Seins. Denn die allgemein Seliggepriesenen sind die hier im Besonderen Angesprochenen ("ihr"). Die Seligpreisungen sind Evangelium vor dem Gesetz (Joachim Jeremias) und bauen Menschen von vornherein auf (Mt. 5,13f), bevor ihnen die Eingangsbedingungen ins Himmelreich (7,13.21) erläutert werden. Didaktik ist hier eingefangen von der Poimenik. Der poimenische Akzent der Predigt Jesu wird auch in der mk. Einleitung zur Speisung der 5000 deutlich angesprochen. Auch hier: Es "jammert" Jesus ob des vielen Volkes, das wie Schafe ohne Hirten ist, und er hält "eine lange Predigt" (Mk. 6,34). In heutigen Predigten ist der poimenische Schwerpunkt angezeigt, wenn sich Text und aktuelle seelsorgerliche Fragestellung treffen - die nötige Achtsamkeit des Predigers wird vorausgesetzt; er bietet sich an bei bestimmten Tagen im Jahreslauf (z.B. Totensonntag/Ewigkeitssonntag) und er ist bei Anlässen im Lebenslauf, insbesondere bei Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/8 Beerdigungsansprachen, nicht wegzudenken. Am Ende dieser Ziel- und Funktionsdiskussion sei betont, dass die Differenzierung der Intentionen lediglich methodische bzw. erkenntnistheoretische Bedeutung hat. In jeder Predigt liegen diese Intentionen selbstverständlich ineinander, sie müssen es sogar, damit die Predigt nicht zu unverstehbarer Wiedergabe kerygmatischer Formeln wird oder zu einer Lehrveranstaltung oder zu einem bloßen empathischen "Jammern". Trotz des in der Praxis untrennbaren Ineinanders manchmal mag die Zuordnung "kerygmatisch" oder "poimenisch" nicht eindeutig sein (vgl. die Seligpreisungen) - sind allerdings Schwerpunkte auszumachen und anzustreben. Sich der Schwerpunkte der Predigt bewusst zu werden ist Ziel der methodischen Differenzierung. 2. Predigt als Gespräch Predigt ist, auch wenn sie monologisch erscheint, ein Kommunikationsgeschehen. Sie ist in statu nascendi ein Gespräch zwischen dem Ich des Predigers und dem Predigttext sowie zwischen dem Ich und der Gemeinde, wobei das Gegenüber von Ich und Gemeinde eine Distanz aufweisen kann, die Kommunikation möglich und sinnvoll macht, die aber auch gegen Null gehen kann, weil ich selbst Teil der Gemeinde bin. Geht es um die Reflexion gesellschaftlich relevanter Themen, ist die Distanz nahezu aufgehoben; geht es um die Reflexion lebensgeschichtlicher Situationen (Konfirmation, Jubiläum, Trauung) ist die Distanz am größten; das Bedenken gemeindlicher Probleme und Erfahrungen im engeren Sinn liegt dazwischen. Zugleich ­begegne ich dem Text bzw. er begegnet mir. Damit meine ich, dass ich mir bei der Erstbegegnung den Text erschließe bzw. dass er sich spontan öffnet. Bei der Erschließung geht es um Eingrenzung der Perikope, d.h. z.B.: Predige ich über die Zebedaidenfrage insgesamt (Mk. 10,35-45) oder nur über das Gesetz der Macht in der Welt und das Gesetz des Dienens unter den Jüngern (Mk. 10,42-45). Die Eingrenzung kann im Extremfall die Geistesbeschäftigung auf einen Satz fokussieren. Gelegentlich ist die historische Einbettung des Textes in der Vorbereitung und später auch in der Predigt zu erhellen, besonders bei prophetischen Texten oder in der Briefliteratur. Ebenso sinnvoll kann es sein, literarische Einbettung zu beleuchten, insbesondere bei erzählenden Texten. Wenn ich schließlich den Predigttext auf seine Gliederung hin befrage, kann mir das bereits gute Anstöße für den Aufbau meiner Predigt geben. Dass Predigttexte auch ohne vorherige Erschließungsschritte spontan selbstredend sind, kommt immer wieder vor, am ehesten bei Psalmen (die nun gerade nicht in den sechs Perikopenreihen zu finden sind), aber auch bei Texten von jeweils aktueller gesellschaftlicher Relevanz (Stichwort: Schöpfung, hier Gen. 2,15; Bergpredigt, hier Mt. 5,43-48). Das schließt aber ein Gespräch, das ich meinerseits mit dem Text führe, nicht aus(5). Aus meinem Gespräch mit Text und Gemeinde entsteht in einem fruchtbaren Moment die Predigtidee. Ihr Zustandekommen ist methodisch nicht verrechenbar, ich spreche daher vom "fruchtbaren Moment". Sie ist zwar durch die vorangehende Geistesbeschäftigung vorbereitet, aber letztlich Geschenk, Gabe des Heiligen Geistes - so wie es über der Kanzel der Nicolai-Kirche zu Elstorf zu lesen ist: "Sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden" (Mt. 10,19)(6). In der Idee verschränken sich Text und Gemeinde (deren Teil auch ich bin), miteinander, genauer: historische und gegenwärtige Situation, erzählte Welt und unsere Welt. Beispiel Mk. 10,42-45: Wer sind die "weltlichen Fürsten", die ihren "Völkern" "Gewalt antun", heute? - Ich denke an eine unerwartete Produktionsverlagerung ins billiger produzierende Ausland und die damit verbundenen plötzlichen Massenentlassungen. Die Entscheidung scheint rein wirtschaftlichen Erwägungen zu folgen ohne Rücksicht auf soziale Probleme. So sind die "Fürsten" heute die Großaktionäre und das Management und die "Völker" die Belegschaft, erst recht die Angelernten und die sog. Leiharbeiter, auch die, für die die halbjährige Probezeit im Aus endet. - Kann ich daraus im Sinne des Predigttextes etwas machen? "Im Sinne des Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/8 Predigttextes" heißt: die Idee noch mal abgleichen mit dem Text. Besteht eine Korrespondenz mit dem Text, kann ich bei der Idee bleiben. Es folgen Überlegungen zur Durchführung bzw. Entfaltung. Mein Gespräch mit der Gemeinde/Gesellschaft und mit dem Text geht weiter. Die "Gesprächsbeiträge" werden in eine Ordnung gebracht, die dem Verlauf der Predigt entsprechen könnte, z.B. Darstellung der durch die Produktionsverlagerung ausgelösten Situation; Vergleich mit einer programmatischen Erklärung zur sozialen Marktwirtschaft der 50er Jahre; Predigttext verlesen: das Konzept Jesu; evtl. Vergleich mit Joh. 13,1-20; die "Ersten" werden nicht abgeschafft, es muss "Erste" geben, aber "Erster" zu sein verpflichtet - ebenso wie z.B. auch Eigentum verpflichtet. Vorsicht: Die Gedankenführung nimmt ethische und damit gesetzliche Züge an(7). Indes: Es ist Evangelium zu verkündigen: Als Erster dienen ist möglich. Richte dich an Christus aus. Werde ihm immer ähnlicher. Er ist der Allererste gewesen, Gottes Sohn, Menschensohn(8). Und er ist der Allergeringste geworden, hat unsere Schuld am Kreuz auf sich genommen, und er reicht uns von dort heute noch die Hand (hier evtl. Bild von Otto Kokoschka vom gekreuzigten Christus einbeziehen: Gespräch mit dem Bild?). Die Entfaltung ist wiederum am Bibeltext zu überprüfen. In diesem Fall scheint sie konform. Sie führt zum Zielgedanken: Wer leiten will, lasse sich leiten vom Bild des Menschensohns. Auch dieser Gedanke ist kurz im Sinne des Zielgedankens - zu entwickeln in Konformität zum Text (bzw. Bild) und im Licht der ermutigenden Botschaft: Du kannst es, weil es unter Christen durch Christus so ist(9). 3. Predigt als Rede Predigt als Ruf in die Freiheit Wie die 10 Gebote nicht 10 Verbote sind, die das wahre Leben behindern, sondern 10 Angebote, die wahres Leben in Freiheit durch Bindung ermöglichen(10), so soll auch die Predigt gehalten sein: Angebot, das wahres Leben in Freiheit durch Bindung an Christus ermöglicht (Gal. 5,1). Das muss im Stil zum Ausdruck kommen. Die Predigt muss überzeugen (argumentativer, didaktischer Charakter), sie darf nicht zwingen. Die Predigt muss Lebensmöglichkeiten eröffnen, aber die Freiheit lassen, sie zu ergreifen oder andere Wege zu gehen (seelsorgerlicher Charakter). Die Predigt muss zeigen, wie befreiend, entlastend, orientierend, kurz: wie schön es ist, "in Christus" - Christ - zu sein. Sie kann dabei Lebensbeispiele erzählen, die Entscheidung aber bleibt ganz beim Hörer. Die Rede darf ihn nicht bedrängen, vereinnahmen, nicht den Eindruck vermitteln, es besser zu wissen (kerygmatischer Charakter). Das christliche Profil, geprägt durch die Gabe der Freiheit, durch die Haltung der Toleranz und durch das Bekenntnis zu Jesus Christus, muss zum Ausdruck kommen auch im Stil der Predigt gegen den Fundamentalismus jeglicher Provenienz. Predigt als authentische Rede Wenn Predigt überzeugen, gewinnen und Lebensmöglichkeiten eröffnen soll, kurz: "ankommen" soll, muss sie authentisch sein. Ich bemühe mich, so zu reden, wie ich bin. Natürlich beeinflussen Ort und Kasus meine Rede. Ich gebe mich und rede im Grenzbereich von Dienst und Freizeit (z.B. beim Feuerwehrfest) anders als beim wissenschaftlichen Vortrag und wieder anders bei der Predigt. Und doch ist unterschiedlicher Habitus durchaus authentisch, weil Ort und Kasus jeweils Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 5/8 unterschiedliche Facetten meiner Persönlichkeit ansprechen. Ein völlig einförmiger Habitus wäre schon fast unecht; denn z.B. in der Freizeit sich pastoral zu geben, wirkt aufgesetzt. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit der Person, was sich dann auch negativ auf das Hören der Predigt auswirkt. Authentizität ist Deckungsgleichheit von Reden und Sein; zur Authentizität hilft der Grundsatz, dass ich in der Predigt dem Hörer nicht mehr zumute als ich selbst leisten kann. Zur Authentizität hilft auch, dass ich mich ausdrücklich mit einbeziehe, wenn ich von der Menschlichkeit des Menschen vor Gott rede. Vor Gott sind Prediger und Hörer gleich, in Christus sind sie eins, wenn sie auch unterschiedliche Gaben und Aufgaben haben. Ich gebe zu: In diesem Satz spreche ich authentisch. Ein anderer würde es vielleicht anders sagen und auch authentisch sprechen, aber eben anders. Aber an der Authentizität der Rede kommt auch er nicht vorbei, will er überzeugen, gewinnen, Lebensmöglichkeiten eröffnen. Predigt als gegliederte Rede Die Predigt sollte gut gegliedert sein. Das erleichtert das Zuhören und die Transparenz. Darüber hinaus wirkt sich eine vorgängige Gliederung auch positiv auf die Ordnung der Gedanken des Predigers aus. Die Gliederung ergibt sich entweder aus dem Text oder aus der Thematik. Aus Gründen der Auffassungskapazität sollte die Struktur der ­Predigt neben Einleitung und Schluss nicht wesentlich mehr als drei Hauptpunkte aufweisen. Predigt als lebendige Rede Predigt lebt mehr als jede andere Rede vom Hören. "Der Glaube kommt aus dem Hören" (Röm. 10,17). Das Hören soll also zum Glauben führen. Das bedeutet, dass ich den Hörer in ganz besonderer Weise ansprechen und mitnehmen muss. Das geschieht, indem ich mich in seine Welt hineinversetze und ihn dort abhole. Am ehesten ist das durch Anschaulichkeit, durch Beispiele möglich. Beispiele müssen gut gewählt sein, d.h. sie müssen der Lebenswelt des Hörers entnommen sein, sie müssen in Affinität zum Text bzw. zum verhandelten Thema stehen und sie müssen qualitativ in den Rahmen des Gottesdienstes passen. Was ich sagen will, wird durch Beispiele anschaulich. Eine ähnliche Funktion haben Bilder. Ich kann sie präsentieren oder auch beschreiben, so dass im Hörer ein inneres Bild entsteht. Auf jeden Fall müssen sie treffend sein. Dann wirken sie auch erhellend über den Augenblick hinaus. Entsprechendes gilt für die Erinnerung an Musikbeispiele: Welch eine Macht des Ewigen hallt in den hohen Chorälen des Himmels wider! ("Die Himmel rühmen ..."). Predigt als andeutende Rede Predigt soll etwas in mir aufleuchten, etwas anklingen lassen. Und es soll nachklingen. Aufleuchten und Nachklang wirken nach, bewirken, dass ich mich unbewusst mit den angedeuteten Wahrheiten, Weisheiten, Bildern beschäftige; gelungene bekannte Metaphern (z.B. "Wind und Weite", "Licht von Bethlehem") machen biblische Sätze und Predigtgedanken ein-leuchtend, denn das Angedeutete kenne ich, der Sprung zu dem in der Predigt Gemeinten ist - wenn auch bewusst vom Hörer selbst zu vollziehen - einfach. Predigt als nachhaltige Rede Es gibt eine Nachhaltigkeit filigraner und eine Nachhaltigkeit robuster Art. Die Nachhaltigkeit filigraner Art wurde soeben bereits behandelt. Hier geht es um die Nachhaltigkeit robuster Art. Dazu gehören die Redundanz und einprägsame Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 6/8 Merksätze, z.B. "Es wird heller!" Der Begriff der Redundanz meint nicht allein Wiederholungen wörtlicher, sondern auch gedanklicher Art. Was wichtig ist, muss wiederholt werden; denn bei der Rede gibt es - anders als bei der Schriftform keinen Fett- oder Kursivdruck. Wenn einprägsame Merksätze sich mit Redundanz in wortwörtlicher Weise verbinden, wird eine sehr hohe Wirkung erzielt. Der Hörer wird den Merksatz "Es wird heller" als frohe Botschaft nicht nur mit nach Hause, sondern auch in sein Herz nehmen. Merkbegriffe können die Gliederung bestimmen und umgekehrt. Am wirksamsten ist hier die Stilfigur des Trikolon, bekannt in der Form "das Wahre, Gute und Schöne" oder "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" oder: "Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit" (Hebr. 13,8). Die Stilmittel der Rhetorik stehen zur Verfügung, um die Predigt als das Proprium des evangelischen Gottesdienstes stilvoll zu gestalten. Anmerkungen: 1 "Die evangelische Kirche ist eine Kirche des Wortes und sie ist gut beraten, auf dieses Wort weiterhin den Schwerpunkt zu setzen" (Isolde Karle, Welche Pfarrerinnen und Pfarrer braucht das Land?, in: DPfBl 112/2012, 617). 2 Wenn auch das Evangelium von Jesus Christus wesentlicher Inhalt der Predigt ist, muss sie nicht immer direkt und wörtlich auf den historischen oder auferstandenen Christus Bezug nehmen. Der Bezug kann auch implizit bestehen. Er besteht auch da, wo christlicher Glaube bezeugt, Hoffnung als Lebensperspektive eröffnet und Liebe zur realen Möglichkeit bzw. erfahrbar gemacht wird. 3 Unter Intention verstehe ich die bewusste Absicht der Predigt, die Funktion ist das, was mitläuft. Hat eine Predigt also eine klare poimenische Absicht, schließt das ein Mitlaufen der Kernverkündigung mit ein. 4 Sie wird hier als Ganzes, d.h. als redaktionelles Predigtbeispiel des Mt. betrachtet, so wie er Jesus als Lehrer und Prediger der neuen Tora versteht. Eine Schichtenanalyse kann daher hier unberücksichtigt bleiben. 5 Ich setze dabei (bei mir und anderen) Hintergrundkenntnisse zur Auslegung des Textes und zur Theologie des Verfassers voraus. Sie begleiten mich stillschweigend, ggfs. kann man auch mal nachschlagen; aber ein Schulbeispiel einer kompletten Exegese zu geben, ist in aller Regel nicht leistbar. 6 Der Vers ist zwar verkürzt wiedergegeben, aber er beschreibt die Gabe der Idee sehr treffend. Außerdem unterstreicht er mein Eintreten dafür, dass es nicht auf die Person des Predigers ankommt, sondern auf das durch ihn verkündigte Wort. Weshalb ich in den kirchlichen Zeitungsnachrichten nie Namen nenne. 7 Zu einer evangelisch verantworteten ethischen Predigt vgl. Ruth Conrad, Sine vi, sed verbo. "Frieden" als Aufgabe ethischer Predigt, in: DPfBl 116/2016, 256-261. 8 Zur mk. Gleichsetzung vgl. Mk. 14,62. 9 In älteren Lutherübersetzungen heißt es ethisierend: "So soll es unter euch nicht sein" (V. 43). Das ist nicht korrekt. Die im Griechischen bevorzugte Leseart ist: "So ist es unter euch nicht" (Indikativ!). Selbst die abweichende Koine-Lesart denkt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 7/8 nicht an eine Wunschform, sondern an das Futur: "So wird es unter euch nicht sein." Auch das ist Evangelium! 10 Die neu gewonnene Freiheit nach dem Auszug aus den (allzu) festen ägyptischen Lebensstrukturen bedurfte der Kultivierung, um nicht in Anarchie umzuschlagen (vgl. Ex. 16,1-12; 17,1-7). Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 8/8