Leseprobe - Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH

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Kreisgruppe
Das Tabu:
Sexuelle
Gewalt
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Impressum
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Das Tabu: Sexuelle Gewalt
Verantwortlich für den redaktionellen Teil:
Dirk Bange
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12/2016/xx
www.VDPolizei.de
Sexualisierte Gewalt
an Mädchen und Jungen
• Einleitung: Sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen
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• Was ist sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen?
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• Zum Ausmaß und den Umständen sexualisierter Gewalt
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• Sexualisierte Gewalt in Institutionen
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• Sexualisierte Gewalt und die organisierte Kriminalität
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• Welche Gefühle und Gedanken löst sexualisierte
Gewalt bei Mädchen und Jungen aus?
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• Wie helfe ich betroffenen Mädchen und Jungen?
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• Beratungs- und Hilfeangebote für Betroffene
und ihre Bezugspersonen
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• Die Aufgaben der Polizei und ihr Umgang mit Betroffenen
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• Wer sind die Täter?
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• Wie sieht eine gute Prävention aus?
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Dmitri Maruta/Fotolia.com
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Sexualisierte Gewalt
an Mädchen und Jungen
Sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen ist immer ein Verbrechen – auch wenn es Delikte gibt, die
strafrechtlich nur als Vergehen bewertet werden. Sie ist für Kinder ein einschneidendes Widerfahrnis, das
bei vielen zu dauerhaften und massiven Beeinträchtigungen ihres Lebens führt.
Mädchen und Jungen sind für sexualisierte Gewalt niemals verantwortlich. Verantwortlich ist und bleibt
immer der Täter. Er lädt durch seine Taten Schuld auf sich. Die Mädchen und Jungen tragen – egal wie sie sich
verhalten haben – niemals die Schuld!
Sexualisierte Gewalt muss von der Gesellschaft konsequent verfolgt werden. Dem Täter muss klar sein, dass
sein Handeln geächtet ist und Konsequenzen haben wird. In diesem Sinne ist in eine effektive Strafverfolgung
ein wichtiger Teil des Opferschutzes.
Diese Broschüre möchte Sie über die wichtigsten Erkenntnisse zur sexualisierten Gewalt an Mädchen und
Jungen informieren und Ihnen Hinweise geben, was zu tun ist, wenn Sie mit einem entsprechenden Verdacht
konfrontiert werden.
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Sexualisierte Gewalt und die
organisierte Kriminalität
Über den Zusammenhang von sexualisierter Gewalt an Kindern und organisierter Kriminalität fehlen für
Deutschland valide Zahlen. International lässt sich ebenfalls nicht genau sagen, wie viele Mädchen und Jungen
Opfer kommerzieller sexueller Ausbeutung werden.
ße ins Internet gewandert. Die digitalisierten Bilder lassen sich über
das Internet schnell und ohne große Kosten verbreiten. Um sich vor
Strafverfolgung zu schützen, werden die Bilder von Servern aus ins
Netz gestellt, die sich in Ländern befinden, die nicht mit deutschen
Strafermittlungsbehörden kooperieren. Der weltweite Umsatz, der
mit Kinderpornographie gemacht wird, wird auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt.
Kinder- und Jugendprostitution ist ein weltweites und uraltes Phänomen. Vor allem in vielen Ländern der Dritten Welt ist sie weit ver-
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In den letzten Jahren sind insbesondere im Bereich der Kinderpornographie – in den USA aber auch gegen Kinderhändler – der Polizei
große Schläge gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung geglückt.
Diese Fälle belegen eindeutig, dass es bei der Kinderpornographie,
der Kinder- und Jugendprostitution, dem Sextourismus und dem Kinderhandel Strukturen organisierter Kriminalität gibt. In vielen Fällen
bestehen länderübergreifende kriminelle Netzwerke.
Die bereits seit den 70iger Jahren bestehende „Kinderpornographieindustrie“ hat sich durch das Internet rasant vergrößert und erheblich
verändert. Die Produktion ist durch Digitalkameras leichter und wesentlich
billiger geworden. Der
Vertrieb, der früher
riskant war, ist
von der Stra-
Rafael Ben-Ari/Fotolia.com
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Organisierte Kriminalität
Das „Gesicht der Täter“ hat sich ebenfalls gewandelt. Zwar machen
immer noch Männer aus der „ersten Welt“ einen großen Teil der Täter aus, aber einheimische Männer und Männer auf Geschäftsreisen
sind mittlerweile für viele Taten verantwortlich. Oft handelt es sich bei
den Tätern nicht mehr um den klassischen Pädosexuellen, sondern um
Personen, die sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen ausüben, weil sich die Gelegenheit bietet und sie das Gefühl haben, keine
strafrechtlichen Konsequenzen befürchten zu müssen.
In einem engen Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendprostitution und dem Sextourismus steht der Kinderhandel. Die Handelsrouten
verändern sich ständig, je nachdem wo es gerade Krisengebiete gibt
und wie sich die „Nachfrage“ entwickelt. Es wird vermutet, dass 60
Prozent des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung
geschieht und 20 Prozent der Opfer Kinder sind.
Ein besonderes Problem im Zusammenhang der kommerziellen und organisierten sexuellen Ausbeutung ist der rituelle sexuelle Missbrauch.
Darunter wird „die systematische Anwendung schwerer körperlicher,
psychischer und sexueller Gewalt etwa in Sekten (zum Beispiel Satanismus, schwarze Magie), in Gruppen, die einer extremen Ideologie verfallen sind (zum Beispiel Faschismus) und insbesondere in Sex-Ringen“
verstanden (UBSKM 2016). Bisher gibt es dazu aber wenig verlässliche
Zahlen, Erkenntnisse und keine Verurteilungen. Es liegen aber viele
überzeugende Berichte betroffener Frauen und Männer über diese
Form der sexualisierten Gewalt vor. Damit bestehen – trotz kontroverser Diskussionen – keine Zweifel an der Realität solcher Fälle.
In den letzten Jahren sind völkerrechtliche Vereinbarungen getroffen
worden, um Mädchen und Jungen vor kommerzieller sexueller Ausbeutung zu schützen. Insbesondere das Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention zum Verkauf von Kindern, der Kinderprostitution
und der Kinderpornografie und die „EU-Richtlinie 2011/36 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner
Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des
Rates“ sind hier zu nennen.
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breitet. Sie hat aber schon seit langer Zeit auch ihren Platz in europäischen und deutschen Metropolen. Insbesondere Straßenkinder und
-jugendliche prostituieren sich, um ihr Überleben auf der Straße zu
sichern. Sie werden dabei oftmals von Zuhältern ausgenutzt.
Die Kinder- und Jugendprostitution in der Dritten Welt ist durch die
dort herrschende Armut und den fehlenden Kinderschutz mitbedingt.
Sie wird von einheimischen und ausländischen Männern ausgenutzt.
Der Sextourismus ist ein immer noch boomendes Geschäft, obwohl es
internationale Abkommen zu seiner Bekämpfung gibt. Die von ECPAT
International im Mai 2016 veröffentliche „Global Study on Sexual Exploitation of Children in Travel and Tourism 2016“ belegt eine deutliche Zunahme der sexuellen Ausbeutung von Kindern auf Reisen und
im Tourismus. Sie macht deutlich, dass sich die Erscheinungsformen
durch
• den stark wachsenden Tourismus,
• veränderte Strukturen im Tourismus wie zum Beispiel den zunehmenden Voluntourimus, bei dem sich der Reisende während seines
Urlaubs für die Verbesserung der Lebensverhältnisse vor
Ort einsetzt,
• sowie das Internet und mobile Technologien
drastisch verändert haben. Beim Voluntourimus ist zum Beispiel zu
beobachten, dass Täter gezielt Projekte aussuchen bzw. von Reiseveranstaltern angeboten bekommen, durch die sie leichten Zugang zu
Kindern haben.
Literatur-Tipps:
ECPAT International (2016). Offenders on the Move. Global Study on Sexual Expoitation of Children in Travel and Tourism 2016. Bangkok.
https://www.defenceforchildren.nl/images/13/4519.pdf
SZ-Designs/Fotolia.com
Maurer, M. (2015). Kommerzielle Formen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.
In. Fegert, J.M. u.a. (Hg.) (2015). Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und
Intervention für Fachkräfte im medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Bereich (S. 421-429). Berlin & New York:
Springer.
Enders, U. (Hg.) (2001). Zart war ich, bitter war´s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch (S. 425-453). Köln: Kiepenheuer
& Witsch.
Gallwitz, A. & Paulus, M. (1999). Die Kinder-Sex-Mafia in Deutschland. Berlin: Ullstein.
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Welche Gefühle und Gedanken
löst sexualisierte Gewalt bei
Mädchen und Jungen aus?
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Von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein, löst bei den Mädchen und Jungen eine Reihe unangenehmer Gefühle
und Gedanken aus. Die meisten Kinder fühlen sich verraten, sind verzweifelt und sprachlos. Ein Mensch, dem sie
vertraut haben, hat ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ausgenutzt, um seine eigenen (sexuellen) Bedürfnisse zu befriedigen. Sie haben Angst, dass sich die sexualisierte Gewalt wiederholt. Sie haben Angst vor den durch
die sexuellen Handlungen ausgelösten Schmerzen und vor den Reaktionen ihrer Eltern, ihrer Freunde und anderer
Menschen. Mädchen haben manchmal Angst vor einer Schwangerschaft. Jungen befürchten, als homosexuell oder
als unmännlich bewertet zu werden. Angst ist bei betroffenen Mädchen und Jungen oftmals ein lebensbestimmendes Gefühl.
Die meisten Kinder fühlen sich mitschuldig, weil sie zum Beispiel mit
zum Täter in die Wohnung gegangen sind oder sich bei ihm angekuschelt haben. Von den Tätern werden solche Gefühle oftmals bewusst
verstärkt, um die Kinder am Sprechen zu hindern. „Du hast es doch
selbst so gewollt, sonst wärst du doch nicht mitgekommen“ oder „es
hat dir doch auch großen Spaß gemacht, sonst wärst du doch nicht
erregt gewesen“ sind entsprechende, oftmals erfolgreiche Versuche.
Sie nähren den Zweifel der Kinder an ihrer eigenen Wahrnehmung und verstärken ihre Schuldgefühle. Die
Mädchen und Jungen sind deshalb oft sprachlos
und fühlen sich der Situation hilflos ausgeliefert. Ihre Schuldgefühle sind oft sehr tiefgreifend und nur schwer zu überwinden,
da die Übernahme von Schuld als Schutz
gegen das Gefühl der Ohnmacht und
des Verrats dienen kann. Die Mädchen und Jungen erhalten sich so
die Illusion, sie hätten die Situation
durch ihr Handeln zumindest ein wenig kontrolliert. Es muss aber noch
einmal deutlich gesagt werden: Egal
was die Mädchen und Jungen getan oder
nicht getan haben, die Schuld an der Tat
trägt immer der Täter.
Ein weiteres tiefgreifendes Gefühl ist eine
tief empfundene Trauer. Es gibt so vieles,
was durch die sexualisierte Gewalt verloren
gehen kann: die Vorstellung einer gerechten
Welt, das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in sich selbst und andere, der Verlust einer
positiven Beziehung zum eigenen Körper, der
Verlust einer guten Beziehung zu den Eltern
und familiärer Geborgenheit.
Die meisten Mädchen und Jungen sind von ihren Eltern
enttäuscht – selbst,
wenn diese nicht die
photographee.eu/Fotolia.com
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Fast alle Mädchen und Jungen schämen sich für das, was ihnen passiert ist. Sie denken zum Beispiel, sie seien schwach, fehlerhaft oder
dreckig, weil ihnen sexualisierte Gewalt widerfahren ist. Sie sind der
festen Überzeugung, keine wertvollen und achtenswerten Menschen
mehr zu sein. Bei vielen Betroffenen sind diese Gefühle tief und dauerhaft verwurzelt. Sie sind nichts was vom Verstand einfach abgeschaltet werden kann und begleiten deshalb viele Mädchen und Jungen
über Jahre hinweg und manche gar ihr Leben lang.
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Gefühle und Gedanken
Täter waren. Sie hätten den Missbrauch doch bemerken und mich beschützen müssen, sind Gedanken vieler Mädchen und Jungen.
Welche Folgen zeigen sich bei den
Mädchen und Jungen?
Welche Signale geben die Kinder und
wie erkenne ich sie?
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Kurzfristige körperliche Folgen sexualisierter Gewalt wie körperliche
Verletzungen im Genital- oder Analbereich sowie an die Innenseiten der Oberschenkel und Geschlechtskrankheiten sind eher selten.
Manchmal kommt es bei geschlechtsreifen Mädchen zu Schwangerschaften.
In Untersuchungen wurde ein erhöhtes Risiko für bestimmte langfristige körperliche Erkrankungen festgestellt. Betroffene sexualisierter
Gewalt weisen demnach ein erhöhtes Risiko für einen generell reduzierten Gesundheitszustand, für gynäkologische Erkrankungen, für Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, für Schmerzerkrankungen und
Essstörungen auf.
Die meisten betroffenen Mädchen und Jungen entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme. Infolge sexualisierter
Gewalt sind bei Kindern fast alle bekannten Symptome und Verhaltensauffälligkeiten beobachtet worden. Sie reichen von Kopf- und
Magenschmerzen ohne erkennbare organische Ursachen, über Essstörungen, Schlafstörungen, depressiven Reaktionen, Suizidgedanken
und -versuche, Alkohol- und Drogenmissbrauch, distanzlosen Verhalten bis hin zu sexuell auffälligen und/oder sexuell aggressiven Verhaltensweisen.
Sexuell auffällige Verhaltensweisen werden bei etwa einem Drittel
der betroffenen Mädchen und Jungen beobachtet. Sie können ein
wichtiger Hinweis auf sexualisierte Gewalt sein. Dennoch sei vor einer
Überinterpretation sexualisierten Verhaltens ausdrücklich gewarnt.
„Doktorspiele“, Zeichnungen, auf denen Genitalien dargestellt sind
oder ein sexuell provokanter Wortschatz finden sich häufig auch bei
nicht betroffenen Kindern. Zudem treten solche Verhaltensweisen
oft auch in Folge körperlicher Misshandlungen, von Vernachlässigung
oder häuslicher Gewalt auf.
Die neurobiologische Forschung hat bei erwachsenen Betroffenen
sexualisierter Gewalt Veränderungen der Hirnfunktionen – und in
der Hirnsubstanz sowie Störungen im Hormonhaushalt nachgewiesen. Diese Veränderungen stehen mit der Regulierung von Gefühlen,
der Speicherung und des Abrufs von Gedächtnisinhalten und der Aufmerksamkeitsfähigkeit in Verbindung. Bei einigen Mädchen und Jungen auftretende Schulschwierigkeiten könnten zum Beispiel darauf zurückzuführen sein. Die Kinder können sich den Lerninhalt einfach nicht
merken bzw. dem Unterricht nicht dauerhaft und konzentriert folgen.
Die psychischen Probleme und Verhaltensauffälligkeiten variieren und
unterscheiden sich je nach Alter, Entwicklungsstand und der Persönlichkeit des betroffenen Kindes sowie den Reaktionen ihrer Eltern bzw.
Vertrauenspersonen während der Taten und nach der Aufdeckung. Sie
können zudem andere Ursachen haben (zum Beispiel Scheidung der
Eltern, Tod eines Elternteils, Gewalt gegen Kinder). Ein spezifisches
Syndrom bzw. Symptom konnte aus diesen Gründen trotz aller Anstrengungen von Wissenschaftlern/innen bis heute nicht beschrieben
werden. Sexualisierte Gewalt ist nicht anhand ihrer Folgen eindeutig
zu erkennen. Es gibt keine Monokausalität zwischen sexualisierter Gewalt und ihren Folgen.
Bei vielen der betroffenen Mädchen und Jungen setzen sich die Folgen bis ins Erwachsenenleben fort und beeinträchtigen ihr Leben teilweise erheblich. Es gibt allerdings auch Mädchen und Jungen, die die
sexualisierte Gewalt gut verarbeiten und bei denen keinerlei Folgen
festzustellen sind.
Wenn ein Mädchen oder Junge plötzlich ohne offensichtlichen Grund
Rückzugstendenzen, psychische Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten – insbesondere sexuell auffälliges oder sexuell aggressives
Verhalten – entwickelt, sollte sexualisierte Gewalt als eine mögliche
Ursache betrachtet und in die weiteren Überlegungen einbezogen
werden. Die Mädchen und Jungen signalisieren ihren Eltern oder Bezugspersonen manchmal durch die beschriebenen Verhaltensweisen
bewusst, dass bei ihnen etwas nicht stimmt. Sie erwarten dann von
den Erwachsenen eine unterstützende Reaktion und wirksame Hilfen.
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Sehr viele Mädchen und Jungen, je nach Untersuchung zwischen 30
und fast 70 Prozent der Betroffenen, sprechen bis ins Erwachsenenalter hinein nicht über die sexualisierte Gewalt. Sie schweigen, weil sie
sich schämen, sich schuldig fühlen, bei innerfamilialer sexualisierter
Gewalt ihre Familie nicht zerstören möchten oder denken, dass ihnen
nicht geglaubt wird und sie ausgeschimpft werden.
Ein Teil der Mädchen und Jungen versucht sich aber entweder direkt
nach der Tat oder nach einigen Wochen, Monaten oder Jahren jemandem mitzuteilen. Sie sprechen entweder klar und deutlich aus, dass ihnen sexualisierte Gewalt widerfahren ist oder sie deuten dies zumindest an. Gerade letzteres führt oft zu gegenseitigen Irritationen oder
später zu Schuldzuweisungen. Die Mädchen und Jungen meinen, sie
hätten zum Beispiel die Eltern in deutlichen Worten informiert, während die Eltern die Aussagen nicht verstanden, anders interpretiert
und deshalb nicht reagiert haben. Die Reaktionen von Eltern zeigen
vielfältige Erklärungs- und Interpretationsmuster. Sie schreiben zum
Beispiel die sexuellen Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes seinem
Alter oder anderen Bedingungen zu. „In dem Alter machen sich doch
alle Kinder noch in die Hosen oder malen Bilder mit sexuellen Inhalten“, „Mein Sohn hat im Moment einfach einen schlechten Umgang.
Dort spielt Sex eine große Rolle. Da ist dieses Verhalten doch kein
Wunder“ oder „Mein Mann und ich sind uns in der Erziehung gerade
nicht einig und streiten uns viel. Das verwirrt unsere Tochter und führt
zu diesem komischen Verhalten“ sind Beispiele dafür.
Diese kurzen Hinweise zeigen welch vielfältige Möglichkeiten bestehen, ein und dasselbe Verhalten bzw. sprachliche Hinweise unterschiedlich auslegen zu können. Die Signale, Hinweise und manchmal
auch die verbalen Äußerungen der Kinder sind oftmals schwer zu
interpretieren. Wenn man als Elternteil, als Erzieher/in oder Lehrer/
in ein komisches Gefühl hat, sich nicht sicher ist, was das Kind einem
sagen oder zeigen möchte, wenn man keine vernünftige Erklärung für
die Verhaltensweisen findet, sollte man sich deshalb in jedem Fall Rat
bei dafür ausgebildeten Spezialisten holen.
Literatur-Tipps:
Goldbeck, L. (2015). Auffälligkeiten und Hinweiszeichen bei sexuellem Kindesmissbrauch. In. Fegert, J.M. u.a. (Hg.) (2015).
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Bereich (S. 145-153). Berlin & New York: Springer.
Moggi, F. (2004). Folgen sexueller Gewalt. In. Körner, W. & Lenz, A. (Hg). Sexueller Missbrauch. Band 1 (S. 317-325).
Göttingen: Hogrefe.
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Wie helfe ich betroffenen
Mädchen und Jungen?
Sexualisierte Gewalt ist für Mädchen und Jungen eine extreme emotionale Belastung. Wenn Kinder darüber
sprechen oder auf andere Art und Weise ein entsprechender Verdacht entsteht, ist das für sie eine sehr stressbelastete Situation. Viele Eltern und andere Bezugspersonen versuchen dann durch eine Befragung der Kinder
mit teilweise bohrenden Fragen die Fakten zu klären und/oder reagieren sehr emotional. Ein solches Verhalten
setzt die Kinder weiter unter Druck und erschwert später die Planung der Hilfen und des weiteren Vorgehens.
Dies gilt insbesondere für ein möglicherweise noch folgendes Strafverfahren, da dort die Entstehung der Aussage
von besonderer Bedeutung ist.
Nach einem solchen Gespräch sollten die Umstände, die am Gespräch
Beteiligten, die Inhalte, der Verlauf des Gesprächs, die gestellten Fragen und die Angaben des Kindes möglichst detailliert – am besten
wortgetreu – und vollständig aufgeschrieben werden. Dabei sollten
widersprüchliche Angaben des Kindes, nicht gelungene Fragen oder
störende Einflüsse unbedingt aufgeführt werden. Ein geschöntes Gesprächsprotokoll hilft keinem – insbesondere nicht dem betroffenen
Mädchen oder Jungen. Bewertungen des Gesprächs bzw. seiner Inhalte sollten deutlich erkennbar gemacht und vom Gesprächsprotokoll
abgegrenzt dargelegt werden.
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Gespräch mit einem Kind
über sexualisierte Gewalt
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Wenn ein Kind „spontan“ eine Person ins Vertrauen zieht, kann sie
eigentlich nicht viel falsch machen, wenn sie die folgenden Hinweise beachtet: Sie sollte ruhig und einfühlsam reagieren. Sie sollte die
Absicht des Kindes über die sexualisierte Gewalt zu sprechen, unterstützen und es für seinen Mut loben. Es ist zwar alles andere als leicht,
ruhig zu bleiben, wenn ein Kind – bei Eltern sogar das eigene Kind!
– von sexualisierter Gewalt berichtet. Es ist aber notwendig! Die Vertrauensperson des Kindes sollte aktiv zuhören, es sprechen lassen und
nicht durch unnötige Fragen unterbrechen. Durch gelegentliches Nicken oder zustimmendes Räuspern kann sie ihm signalisieren, dass sie
zuhört, ihm glaubt, es ernst nimmt und versteht. Sie kann allgemein
nachfragen, ob das Kind noch mehr erzählen möchte. Dem Kind wird
dadurch der Hinweis gegeben, mehr bzw. alles erzählen zu können
und zu dürfen. Die Aussagen des Kindes sollten aber nicht hinterfragt
und es sollte auf keinen Fall bedrängt werden, etwas über die Details
der sexualisierten Gewalt zu erzählen. Suggestive Fragen sind strikt zu
vermeiden. Wichtig ist es dagegen, dem Kind zu vermitteln, dass man
seine Ängste und Gefühle versteht. Eine deutlich sicht- und spürbare
emotionale Aufregung vermittelt dem Kind den Eindruck, dass man
das Gespräch nicht aushalten kann. Die Kinder brechen solche Gespräche dann oft ab und „verstummen“. Zudem sollte man sich nicht dazu
hinreißen lassen, vor dem Kind massive negative Gefühle gegenüber
dem Täter zu äußern. Dies kann das Kind ebenfalls zum Schweigen
bringen, da oftmals eine Loyalitätsbindung besteht. Schließlich sollten
ihm keine Versprechungen gemacht werden, die später nicht eingehalten werden können.
Wann mache ich eine Anzeige?
Hat sich ein Kind einer Person anvertraut und erscheinen die Anschuldigungen plausibel, sollte immer daran gedacht werden, die Strafermittlungsbehörden einzuschalten. Durch strafrechtliche Ermittlungen
können die in vielen Fällen vom Täter aufgebauten Machtstrukturen,
die es ihm ermöglicht haben, ein Kind oder auch verschiedene Kinder
wiederholt zu missbrauchen, zerstört werden. Den betroffenen Mädchen und Jungen ermöglicht es – zumindest wenn sie älter sind – das
ihnen widerfahrene Unrecht öffentlich zu benennen. Außerdem erfährt das Mädchen oder der Junge, dass Erwachsene nicht wegsehen
und gegen den Täter vorgehen. Wenn es vor Gericht zu einer Verurteilung kommt, können mögliche weitere Opfer des Täters geschützt und
zukünftige Taten verhindert werden.
Bei der Polizei wird das betroffene Kinder bzw. der oder die Jugendliche von Spezialisten altersgerecht vernommen. Insbesondere die
frühzeitige Vernehmung durch die Polizei und eine begleitende
rechtsmedizinische Untersuchung können wichtige Beweise sichern.
Die Beweissicherung und die fachlich fundierte Dokumentation der
Aussage des betroffenen Kindes bzw. der oder des Jugendlichen durch
die Ermittlungsbehörden tragen entscheidend dazu bei, dass ein Täter ermittelt, vor Gericht gestellt und letztlich auch verurteilt werden
kann. Die Spezialisten der Polizei helfen im Übrigen bei der Suche nach
weiteren Hilfemaßnahmen weiter. Deshalb sollte möglichst frühzeitig
eine Anzeige bei der Polizei gemacht werden.
Wenn sich Mädchen oder Jungen aus einer öffentlichen oder privaten
Einrichtung (zum Beispiel Kita, Schule, Internat, Sportverein), in der
sie sich in Abhängigkeits- oder Machtverhältnissen befinden, einer
Person anvertrauen und ein Tatverdacht besteht, sollte in der Regel Anzeige erstattet werden. Die Leitungsebene der Institution
sollte zuvor überprüfen, ob die Aussagen des Kindes oder an-
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Elvira Schäfer/Fotolia.com
Wie helfe ich?
Mädchen und Jungen machen ihre Eltern – teilweise zu Recht – für die
ihnen widerfahrene sexualisierte Gewalt mitverantwortlich. Das Kind
sollte deshalb dafür gelobt werden, dass es Hinweise gegeben oder
über die sexualisierte Gewalt gesprochen hat.
Die Eltern und genauso andere Bezugspersonen sollten mit den Kindern schöne Dinge unternehmen, ohne die sexualisierte Gewalt zu
verdrängen. Mit den Kindern getroffene Absprachen sollten eingehalten und es sollte auf eine verlässliche Tagesstruktur geachtet werden.
Einschlafrituale oder andere feste Rituale können den Kindern zusätzliche Sicherheit gegeben. Wenn das Kind nicht zu tolerierende Verhaltensweisen an den Tag legt, müssen ihm Grenzen gesetzt werden,
ohne allerdings das Kind als Person abzuwerten. So sind zum Beispiel
sexuell grenzverletzende Verhaltensweisen gegenüber anderen Kindern nicht zu tolerieren. Ohne eine deutliche Aussage, dass es nicht in
Ordnung ist, kann sich ein solches Verhalten manifestieren. Die Eltern
sollten auf Verhaltensänderungen bei ihrem Kind achten, und wenn
sie solche wahrnehmen, mit der/dem für das Kind zuständigen Therapeutin/Therapeuten sprechen.
Die Folgen sexualisierter Gewalt fallen in der Regel deutlich weniger
schlimm und massiv aus, wenn die Eltern bzw. Bezugspersonen einfühlsam sind und sie ihre Kinder unterstützen.
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dere Anhaltspunkte plausibel sind. Nur wenn dies offensichtlich nicht
der Fall ist, die Belastung durch ein Strafverfahren die körperliche und
psychische Gesundheit des Kindes gefährdet und das Kind bzw. seine
Erziehungsberechtigten nach Abwägung aller Argumente keine Anzeige möchten, kann auf sie verzichtet werden. An dieser Abwägung und
an der Planung der Hilfen zum Schutz des betroffenen Kindes sollte
eine externe und unabhängige Fachkraft mitwirken. Die betroffenen
Mädchen und Jungen entsprechend ihres Alters bzw. ihre Erziehungsberechtigten sind an der Entscheidung zu beteiligen. Die Plausibilität
der Tatvorwürfe zu überprüfen, bedeutet im Übrigen nicht, über die
Erfolgsaussichten eines Strafverfahrens zu spekulieren oder gar eigene Ermittlungen durchzuführen. Dies ist Aufgabe der Polizei bzw. der
Staatsanwaltschaft. Durch diese Vorgaben der Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden soll die Vertuschung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Institutionen verhindert
werden.
Bei Mädchen und Jungen, die Familienmitglieder oder andere ihnen
bekannte Täter aus dem Umfeld der Familie beschuldigen, ist es ebenfalls meist ratsam, die Polizei einzuschalten. Allerdings gilt es auch in
diesen Fällen abzuwägen, ob die Aussage des Kindes plausibel ist, es
den Belastungen eines Strafverfahrens gewachsen ist und ob es bzw.
seine Erziehungsberechtigten einer Anzeige zustimmen. Mit den Kindern sollte altersgemäß, ruhig und ohne Druck auszuüben, darüber
gesprochen werden. Die Kinder haben oft Angst vor dem Täter und
seinen Reaktionen, sie schämen sich oder befürchten mitverantwortlich gemacht zu werden. Ihre Sorgen müssen ernstgenommen und sie
müssen von ihnen entlastet werden. Nur so können sie eine angemessene Entscheidung treffen. Die Eltern sollten selbstverständlich nur
dann einbezogen werden, wenn sie nicht in die sexualisierte Gewalt
verstrickt sind. Ist man unsicher, wie die Aussagen des Kindes einzuschätzen sind, was eine Anzeige für einen selbst und welche Belastungen ein Strafverfahren für ein Kind bedeuten kann, sollte man sich
vorher beraten lassen (siehe Kapitel „Beratungs- und Hilfeangebote
für Betroffene und ihre Bezugspersonen“).
Therapie: Ja oder Nein?
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Nicht jedes Kind, dem sexualisierte Gewalt widerfahren ist, ist traumatisiert oder leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS). Eine Therapie ist deshalb nicht in jedem Fall erforderlich. Die
Mädchen und Jungen sollten aber zumindest einer Kindertherapeutin
bzw. einem Kindertherapeuten vorgestellt werden, um den Hilfe- und
Unterstützungsbedarf sowie die Notwendigkeit einer Therapie abzuklären. Einige therapeutische „Spielstunden“ schaden auf keinen Fall
und signalisieren dem Kind, dass es Personen gibt, die ihm helfen und
mit denen es über die sexualisierte Gewalt sprechen kann. Für Mädchen und Jungen, die unter erheblichen Folgen leiden und/oder eine
PTBS aufweisen, sind therapeutische Maßnahmen auf jeden Fall angezeigt.
Die Kinder sollten über das, was geschieht immer informiert werden.
Es sollte möglichst nichts hinter ihrem Rücken geschehen. Die Mädchen und Jungen haben sich bei der sexualisierten Gewalt hilflos gefühlt. Es ist daher unerlässlich, ihnen in möglichst vielen Situationen
das Gefühl der Selbstbestimmung zurückzugeben.
Die vorangegangenen Hinweise zum Verhalten gelten für Eltern und
– wie bereits kurz erwähnt – ebenso für pädagogische Fachkräfte in
Kitas, stationärer Unterbringung, der offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie für Lehrerinnen und Lehrer. Keine Fachkraft kann allein mit
dem Verdacht auf sexualisierte Gewalt umgehen und angemessene
Hilfen für das Kind einleiten. Sich bei Spezialistinnen und Spezialisten
Hilfe zu holen, ist deshalb der richtige Weg. Die unterschiedlichen Unterstützungsmöglichkeiten werden im folgenden Kapitel ausführlich
dargestellt.
Nicht missbrauchende Mütter und
Väter
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Mütter und Väter, bei denen der sexuelle Missbrauch ihres Kindes in
der Regel einen Schock auslöst, sollten unbedingt für sich selbst Hilfe und Unterstützung suchen. Sie müssen über ihre Zweifel, Ängste
und Beobachtungen mit einer dritten Person sprechen, um ruhig und
besonnen mit dieser Situation umgehen zu können. Sie machen sich
meist zu Recht Sorgen um die Zukunft ihres Kindes oder werfen sich
vor, nicht genügend aufgepasst oder Hinweise des Kindes übersehen
zu haben. Ihr eigenes Selbstbild als „gute Eltern“ gerät ins Wanken.
Diese und viele andere Sorgen und Ängste können Eltern nicht ohne
Hilfe selbst bewältigen. Die Ängste des Kindes und das Misstrauen
des Kindes ihnen gegenüber sind von den Eltern zu akzeptieren. Viele
Literatur-Tipps:
Volbert, R. (2015). Gesprächsführung mit von sexuellem Missbrauch betroffenen Kindern und Jugendlichen. In. Fegert, J.M. u.a. (Hg.) (2015).
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen,
therapeutischen und pädagogischen Bereich (S. 145-153). Berlin & New York: Springer.
Bundesministerium der Justiz (2012). Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch in einer Einrichtung – Was ist zu tun? Fragen
und Antworten zu den Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden. Berlin. https://www.hilfeportal-missbrauch.
de/fileadmin/user_upload/Informationen/Uebersicht_sexueller_missbrauch/Verdacht_auf_sexuellen_Kindesmissbrauch_
in_einer_Einrichtung.pdf
Bange, D. (2011). Eltern von sexuell missbrauchten Mädchen und Jungen - Reaktionen, Folgen und Interventionen.
Göttingen: Hogrefe: Göttingen.
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