38 Autorin: Judith Eckert Institution: Institut für Soziologie der Universität Freiburg Thema/Projekt: Subjektive Unsicherheit in der Gegenwartsgesellschaft – mehr Prozesse als Ereignisse? Subjektive Unsicherheit in der Gegenwartsgesellschaft – mehr Prozesse als Ereignisse? Vorläufige Ergebnisse einer qualitativ-rekonstruktiven Studie Graduiertennetzwerk zivile Sicherheitsforschung, 6. Mai 2015, Berlin & Konferenz „Grenzenlose Sicherheit?“, 7./8. Mai 2015, Berlin Judith Eckert, M.A. | [email protected] Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Forschungskontext: Dissertationsprojekt „Subjektives Unsicherheitsempfinden und der Umgang damit“ • • • • Ausgangspunkt: Zeitdiagnose der Unsicherheit, aber offene Frage, wie es um die subjektive (Un-)Sicherheit der Menschen bestellt ist Ziel: Soziologische Antworten auf die Fragen, was Menschen gegenwärtig verunsichert und wie sie damit umgehen Betreuung: Prof. Dr. Baldo Blinkert (Soziologie, Universität Freiburg) und Prof. Dr. Hans Hoch (Soziologie, Universität Konstanz) Einbettung: Methodenmix-Projekt „Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten“ (Leitung: Prof. Dr. Baldo Blinkert; 2010-2013) als Teil des BMBF-geförderten Verbundprojektes „Barometer Sicherheit in Deutschland“ (BaSiD); Interviews des Projekts als Datenpool für die Dissertation Qualitative Methodik: themenoffene Erhebung mit face-to-face Interviews & rekonstruktive Auswertung Warum themenoffen? Warum qualitativ? Zum einen besteht das Risiko, dass durch Themenvorgaben methodische Artefakte erzeugt werden (Blinkert 1978). Zum anderen kann die (lebensweltliche) Bedeutung von Unsicherheit nur im Kontext angemessen verstanden werden: „survey-type research was losing sight of an understanding of whole people in reallife contexts” (Hollway/Jefferson 2000: 304) Das ist doch rein subjektiv, oder? Was heißt rekonstruktiv? Die Interviewpartner*innen sollen im Rahmen von Problemzentrierten Interviews (Witzel 2000) das für sie Wichtige erzählen können – auch Überraschendes. Jedoch fokussieren bisherige qualitative Studien i.d.R. auf bestimmte Themen und/oder bestimmte Samples. Das „risk perception ‚universe‘“ (Hawkes/Rowe 2009) ist somit nur teils erkundet. Ziel qualitativ-rekonstruktiver Forschung ist das Explizitmachen von Implizitem, Vorbewusstem (Kruse 2014). Ein solcher Ansatz ist für das Verstehen von Verunsicherung wichtig: “and we do think it makes sense to recognize that whilst some of these anxieties are observable, relatively straightforwardly, (…) some of the anxieties are not so straightforward and transparent.” (Taylor/Jamieson 1998: 161) Themen: Die Einzelfall-Rekonstruktion subjektiver Unsicherheit ist der erste Schritt. Im zweiten Schritt interessiert das Soziale im Subjektiven, also gemeinsame Themen in den Erzählungen der unterschiedlichen Interviewpartner*innen im Sinne homologer Muster (Mannheim 1980). Auswertung: a) Das Fremdverstehen erfolgt methodisch kontrolliert (Methode: Kruse 2014). b) Zentrale Interviewpassagen werden zur Herstellung von Intersubjektivität der Deutung in einer Analysegruppe ausgewertet. Vorläufige Ergebnisse: gemeinsame Kernthemen in den Interviews – mit einigen Beispielen Verunsicherungen im sozioökonomischen Bereich (Hat bzw. bekommt man, was man braucht bzw. verdient für ein gutes Leben?) Verknüpft mit biographischer Unsicherheit Prekäre Arbeit Arbeitslosigkeit Erhebliche Zuzahlungen bei Krankheit Unsichere Rente „Andere“ als ‚leistungsunwillige Sozialschmarotzer‘ Kapazität & Verteilungsgerechtigkeit des Wohlfahrtsstaats Kulturell als fremd Empfundene: andere, nicht verstehbare Normen & Werte (z.B. Jugendliche) Bevorzugung „Anderer“ Statusverlust & Lebensstandard nicht halten können als Ausdruck zunehmender Ungleichheit ‚integrationsunwillige Ausländer & Muslime‘ Aufspaltung der Kriminalität Verschlechterungen im Kontext Arbeit Krankheit (z.B. für Selbstständige) als materieller Schaden Berufliche Perspektiven der (Enkel-) Kinder Orientierungsverlust/mangelnde Orientierung Incivilites & Kriminalität als Zeichen des Niedergangs Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen Kultureller und normativer Niedergang Hemmschwelle bei Gewalt sinkt Beziehungen werden vorschnell beendet Zusammenfassung und theoretische Rückbindung: Verunsicherungen & sozialer Wandel Die bisher rekonstruierten homologen Muster ‒ sozioökonomische und -kulturelle Verunsicherungen ‒ dokumentieren sich in den Interviews auf unterschiedliche Weise (s.o.), manifest und latent. Empirisch sind diese Muster auch teils mit anderen Motiven verknüpft: Ungerechtigkeitsempfinden sowie politischem Kontrollverlust und eigener Ohnmacht. Theoretisch korrespondieren sie mit Prekarisierungstheorien (Wandel von Kapitalismus, Arbeit & Sozialstaat; z.B. Castel 2000), Anomie- sowie Beschleunigungstheorien (z.B. Durkheim 1995, Rosa 2011). Die gegenwärtigen Verunsicherungen werden dadurch in ihrer strukturellen Bedingtheit verständlich. Literatur: Blinkert, B. (1978): Methodische Realitätskonstruktionen oder soziale Tatbestände? Eine empirische Untersuchung über die Instrumentenabhängigkeit von Befragungsdaten. In: Soziale Welt 29 (3), S. 272–288. | Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Leiharbeit. Konstanz: UVK. | Durkheim, E, (1995): Der Selbstmord. 5. Aufl. FfM: Suhrkamp. | Hawkes, G.; Rowe, G. (2008): A characterisation of the methodology of qualitative research on the nature of perceived risk: trends and omissions. In: Journal of Risk Research 11(5), S. 617–643. | Heitmeyer, W. (2011): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt. Deutsche Zustände. Folge 10. Berlin: Suhrkamp. | Hollway, W; Jefferson, T. (2008): Researching defended subjects with the free association narrative interview method. In: Lisa M. Given (Hg.): The Sage encyclopedia of qualitative research methods. Los Angeles: SAGE, S. 296-315. | Kruse, J. (2014): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Weinheim: Beltz Juventa. | Mannheim, K. (1980): Strukturen des Denkens. FfM: Suhrkamp. | Rosa, H. (2011): Entfremdung in der Spätmoderne. Umrisse einer Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung. In: Koppetsch, C. (Hg.): Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität. Wiesbaden: VS, S. 221–252. | Taylor, I.; Jamieson, R. (1998): Fear of crime and fear of falling: English anxieties approaching the millennium. In: European Journal of Sociology 39(1), S. 149-175. | Witzel, A. (2000): Das problemzentrierte Interview [25 Absätze]. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 1(1), Art. 22). Verunsicherungen im soziokulturellen Bereich (Gibt es eine verstehbare und ‚gute‘ soziale Ordnung in der (Lebens-)Welt?) Ausblick: mehr Prozesse als Ereignisse? Heitmeyer (2011) unterscheidet schleichende, weithin unthematisierte Prozesse und in der öffentlichen Kommunikation präsente Signalereignisse als Quellen von Verunsicherung. Den vorläufigen Ergebnissen zufolge kommt Prozessen i.S.v. gesellschaftlichem (Struktur-)Wandel eine hohe Bedeutung zu. Promotionsförderung: Datenmaterial: