Gesundheit ist eine Frage der Philosophie

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Vorlesung Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin im Wintersemester 2012/13:
Gesundheit ist eine Frage der Philosophie
(30.10.2012, Prof. Borck)
Auf den ersten Blick scheint die Sache doch ganz einfach: Kranksein gehört zu den
Grunderfahrungen des menschlichen Lebens, und deshalb wissen wir eigentlich alle,
was Krankheiten sind. „Krankheit ist eine Störung der Lebensvorgänge, die den
Organismus oder seine Teile so verändert, dass das betroffene Individuum subjektiv,
klinisch oder sozial hilfsbedürftig wird,“ schreibt ein modernes Lehrbuch der Pathologie
(Böcker et al., 2008: 4). Krankheit ist ein alltägliches Ereignis, allerdings eines mit
oft folgenschweren Konsequenzen. Und gelegentlich führen Krankheiten sogar zum
Tod, ja es gibt eine Debatte, ob Sterben nicht immer mit einer Krankheit verbunden sein
muss, wenn man einmal vom Unfalltod absieht.
„Krankheit ist und war immer ein alltägliches, aber rätselhaftes und oft folgenschweres
Ereignis, dem sich ebenso das Denken der Magier, der Priester, der Philosophen wie
der Forscher zugewendet hat,“ wie Karl Rothschuh im einschlägigen Begriffslexikon der
Philosophie schreibt. Auch heute noch mögen einzelne Krankheiten rätselhaft
erscheinen, aber für die Mehrzahl von ihnen trifft das sicher nicht mehr zu. Die Medizin
kann sie erklären, weil sie deren Ursache erkannt hat, selbst wenn sie damit nicht
automatisch beherrschbar oder therapierbar geworden sind. Und vor allem gilt für alle
Krankheiten heute, dass nur noch und ganz ausschließlich die Medizin für sie zuständig
ist. Was immer Magier, Priester oder Philosophen über Krankheiten sagen, aus unserer
heutigen Sicht trägt das nichts zur Sache bei, denn die Sache – das ist die biologische
Funktionsstörung, so wie die medizinische Forschung sie aufzuklären verspricht. Das
ist die erste wichtige Einsicht dieser Stunde: Auch wenn die heutige Medizin noch
nicht alle Krankheiten erklären kann und manche Krankheits- und auch
Heilungsereignisse rätselhaft bleiben, gelten Krankheiten heute nicht mehr in dem
Sinne als Rätsel, wie das für alle anderen Gesellschaften zuvor galt und für viele
immer noch gilt (übrigens auch für viele Menschen hier bei uns). Was immer da noch
rätselhaft ist unter den Krankheiten (z.B. in der Psychiatrie), die Richtung steht doch
schon fest: Medizinische Forschung wird ihre Ursachen feststellen und sie erklären –
oder es stellt sich eben heraus, dass bestimmte Störungen gar keine echten
Krankheiten waren, in verschiedene Krankheiten aufzuteilen sind oder erst
zusammengenommen eine richtiges Bild von der Krankheit ergeben.
Wo früher Magier den Mitgliedern ihrer Gesellschaft Märchen aufgetischt haben und wo
Priester nicht mehr tun konnten, als den Gläubigen Trost angesichts menschlichen
Leidens zu spenden, da bietet die Medizin etwas ganz anderes: Erklärungen und, was
wir einzig als echte Hilfe anerkennen können, Therapie; also Wissen und Macht. Magie,
Religion, Philosophie und Wissenschaft stehen in unserer Gesellschaft nicht
gleichberechtigt nebeneinander, sondern Wissenschaft steht über den anderen, löst alle
anderen Erklärungen als unzureichend ab und verweist diese als Aberglauben in den
Bereich des Irrtums. Das ist der zweite Punkt der heutigen Vorlesung, genauer
gesagt, die Umkehrung des ersten: Heutzutage werden Krankheiten nur noch als
biomedizinisches Rätsel verstanden, diese Perspektive lässt keinen Platz mehr
für eine andere Sicht auf Krankheiten. Solche anderen Perspektiven auf Krankheiten
und auf menschliches Kranksein gelten als unwissenschaftlich und als Aberglauben,
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bestenfalls sind sie Privatsache, aber eigentlich ein Zeichen dafür, dass der Mensch,
der sie vertritt nicht wirklich ernst genommen kann – und auch nicht ernst genommen zu
werden braucht.
Was diese Ausschließlichkeit der wissenschaftlichen Perspektive bedeutet, was diese
Rangordnung gegenüber anderen Weltbildern heißt, lässt sich aus dieser Perspektive
selbst heraus nur noch ganz schwer nachvollziehen: Einerseits stellt sie eine
bemerkenswerte Entlastung dar, weil Menschen jetzt nicht mehr für ihre
Krankheiten verantwortlich gemacht werden können (wenigstens nicht mehr so
leicht) bzw. weil Krankheiten nun nicht mehr als Strafe für bestimmte Vergehen oder
Verfehlungen gelten. Außerdem weisen wissenschaftliche Erklärungen einen Weg aus
der Ohnmacht einer allmächtigen und unkalkulierbaren Natur gegenüber; gerade als
Erklärungen machen sie Natur verständlich, weniger unheimlich und typischerweise
führen sie zu neuen, wirkungsvollen Strategien der Intervention in die Natur. Aber auf
der anderen Seite lassen wissenschaftliche Erklärungen keine anderen Weltbilder
neben sich gelten und delegieren mit Gesundheit und Krankheit einen ganz
zentralen Bereich menschlichen Lebens an die Medizin. Das ist nicht nur an sich
schon problematisch (man denke nur an die Selbstverständlichkeit, mit der heute eine
Hausgeburt als unkalkulierbares Risiko gilt, als hätte die Evolution zuerst das
Krankenhaus erfinden müssen, bevor sie den Menschen entstehen ließ), sondern
schafft auch kulturell eine völlig neue Situation, weil die Medizin ehemals
gleichberechtigte Umgangsweisen mit Gesundheit und Krankheit nicht mehr gelten
lässt. Es ist die für unsere Kultur typische Perspektive, allein die Biomedizin für
Gesundheit und Krankheit zuständig zu erklären (Rosenberg, 1992).
Sie werden sich fragen, was das heute noch heißen kann, weil doch die Medizin
selbstverständlich dabei ist festzustellen, was Krankheiten „wirklich“ sind – und nur
dann lässt sich doch auch wirkungsvoll etwas gegen sie tun. Das ist gerade der Punkt:
Die Medizin – und nur die Medizin – kann heute sagen, was Krankheit ist; tertium
non datur. Einzelne Krankheitserklärungen mögen zwar wahnsinnig kompliziert sein,
und vor allem das Medizinstudium, in dem Sie jetzt gleich alle Krankheiten
kennenlernen und verstehen müssen, ist als Ganzes kompliziert, aber die Sache selbst
scheint heute doch sonnenklar: Gesundheit und Krankheit sind eine Sache der Medizin.
Sie stellt fest, wann ein Organismus nicht mehr normal, also krank ist, sie identifiziert
die vorliegende Krankheit, und wenn es gut läuft, hat sie ein paar handfeste Ratschläge
oder effiziente Therapien parat, um den Organismus wieder in die richtigen Bahnen zu
lenken.
Wie könnte es anders sein? Und was soll es dann heißen, dass Gesundheit eine Sache
der Philosophie ist?
Die erste – und eigentlich schon eine ganz erstaunliche – Antwort auf diese Frage lautet
schlicht, dass die Medizin selbst offenbar nicht zu wissen scheint, was Gesundheit
ist. Wenigstens kommt Gesundheit bei ihr nicht vor, weder im Studium, noch in den
Lehrbüchern, noch in der Praxis: Harrison’s Principles of Internal Medicine beginnen
z.B. mit einer großen „Introduction to Clinical Medicine“ und auch dem neuen Thema
Gender wurde eigens ein ganzes Kapitel gewidmet, aber über Gesundheit gibt’s nichts,
nicht einmal einen Eintrag im Register. Das ist in der deutschen Ausgabe genauso, und
der Vergleich mit anderen Lehrbücher beweist, dass dies keine Ausnahme oder schlicht
Zufall, sondern ein systematischer Trend ist: Der Schettler beginnt klassisch mit der
Kardiologie, der Siegenthaler jetzt modisch mit der Genetik, auch hier fehlt überall
„Gesundheit“ als Stichwort in den Registern. Kaum besser sieht es in den PathologieBüchern aus, auch hier nirgends ein Kapitel zur Gesundheit oder ein entsprechender
Register-Eintrag, allerdings oft ein paar einleitende Bemerkungen zur Geschichte der
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Pathologie, zur Krankheitslehre und zum Begriff Krankheit, wie eingangs aus dem
Böcker zitiert. Der Befund ist eindeutig: Gesundheit ist kein Gegenstand der
heutigen Medizin. Natürlich darf man daraus jetzt nicht schließen, der Medizin sei ihr
Gegenstand abhanden gekommen. Vielmehr ist es wohl eher umgekehrt: Für die
Medizin ist es so selbstverständlich, was gesund und krank heute meinen, dass
sie sich gar nicht mehr mit diesen Fragen aufhält. Es mag viele gute Gründe geben,
warum in der Medizin nicht mehr über Gesundheit nachgedacht wird, und warum
„Krankheit“ auch nur noch für Fachphilosophen ein problematischer Begriff ist. Offenbar
funktioniert die Medizin ja sehr gut mit dem pragmatischen Überspringen dieser Fragen,
aber deshalb sind diese Fragen eben noch nicht beantwortet.
Gesundheit kommt im Denken der Medizin aber auch deswegen nicht mehr vor, weil für
Gesundheit ganz wesentlich ist, dass sie sich kaum auf eine Definition bringen lässt –
und schon gar nicht auf eine rein naturwissenschaftliche. Diese eigentümliche
Besonderheit von Gesundheit hat der französische Chirurg René Leriche auf eine
wunderbare Formel gebracht: „Gesundheit ist das Leben im Schweigen der
Organe.“ (Encyclopedie francaise, 1936). So wie die Medizin gut damit fährt,
Gesundheit zunächst einmal als unproblematisch gegeben anzunehmen, erleben wir
alle uns selbst ja meist erstmal schlicht als gesund dadurch, dass uns unser Körper
stillschweigend zur Verfügung steht und nicht auf sich aufmerksam macht. Genau ein
solches Auf-sich-aufmerksam-Machen des Körpers ist ja der Zustand des Krankseins,
des Leidens an einer Krankheit, wenn nämlich die Organe nicht mehr schweigend ihren
gewohnten Dienst tun. Außerdem besticht diese Definition dadurch, dass sie offen lässt,
worin genau die Leistung der Gesundheit besteht, wie sie sich positiv beschreiben
ließe. Gesundheit bleibt hier absichtlich inhaltlich unterbestimmt als ein Bereich,
in dem die Organe schweigend munter mittun. Wie immer das im Einzelfall aussieht,
fest steht, dass hier nicht von vornherein an Normalparameter, Durchschnittswerte und
Standardabweichungen gedacht ist.
An diesem Punkt berührt sich Leriches Definition von Gesundheit mit einer noch viel
berühmteren, die Sie alle kennen und die genau zehn Jahre später ganz und gar nicht
wissenschaftlich gefunden, sondern regelrecht politisch aufgestellt wurde, nämlich die
Gesundheitsdefinition der WHO:
Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und
sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder
Gebrechen.
Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not
merely the absence of disease or infirmity.
So heißt es im ersten Paragraphen der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation,
wie er 1946, also unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkriegs, als Beitrag der
Weltgesellschaft zu Frieden und Wohlergehen beschlossen wurde. Diese Definition
taugt für den Alltag wenig. Man darf mit Recht bezweifeln, ob überhaupt jemals ein
Mensch nach dieser Definition wirklich als gesund bezeichnet werden kann. Auf keinen
Fall taugt diese Definition als Richtschnur ärztlichen Handelns, sie ist schlicht nicht
operationalisierbar. – Und dennoch hat sich diese Definition gehalten, nicht nur als
Gründungsdokument der WHO, der heute ohne Zweifel wichtigsten internationalen
Gesundheitsorganisation, sondern auch als fortbestehende Mahnung daran, dass
Gesundheit eben mehr ist, als eine Reihe von Parametern, die begründen, dass keine
akute medizinische Hilfe erforderlich ist. Gesundheit, das besagt die WHO-Definition,
bemisst sich an einer je individuellen Utopie, am Gelingen des Lebens, das eben
immer schon mehr als dessen bloßes Funktionieren.
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Gesundheit hat von vornherein immer schon mehrere Dimensionen als allein die
Organfunktionen, wie sie von der Biomedizin ins Zentrum gestellt werden. Das sagt die
WHO-Definition ganz deutlich: Wohlergehen vollzieht sich mindestens entlang der drei
Achsen Körper, Geist, Gesellschaft. Aber für diese Gesundheit gibt es per definitionem
keine Normen; was zählt, ist allein das Wohlergehen. Dafür lassen sich hinsichtlich der
genannten körperlichen Dimension vielleicht noch gewisse Erwartungsparameter aus
der medizinischen Erfahrung heranziehen, aber die klinische Praxis kann ein Lied
davon singen, wie oft Wohlergehen mit eigentlich pathologischen Messwerten verknüpft
ist und umgekehrt auch bei hochgradigem auf ein Organ gerichtetem Leiden
gelegentlich doch nur Normalparameter zu finden sind. Gerade hier beweist die WHODefinition ihre Stärke, weil sie sich gar nicht auf eine Diskussion einlässt, wie
Normalwerte und Gesundheit zusammenpassen sollten.
Was sind eigentlich Normalwerte, welche Rolle spielen sie in der gegenwärtigen
Medizin und wie verhalten sie sich zu einem angemessenen Verständnis von
Gesundheit? Die moderne Biomedizin beruht auf der Leitvorstellung, dass Gesundheit
und Krankheit sich nicht radikal ihrem Wesen nach, sondern lediglich qualitativ ihrem
Ausprägungsgrad nach unterscheiden. Ein quantitativer Begriff von Gesundheit:
Das Gesunde ist das Normale, das um einen bestimmten Mittelwert herum streut,
sobald die Streuung größer wird, bekommt sie Krankheitswert. Hochdruck,
Blutzucker, Körpertemperatur, Entzündungsenzyme: Sobald eine bestimmte
Körperfunktion über einen als normal definierten Schwankungsbereich noch oben oder
unten hinaus ragt, kommt ihm deshalb ein Krankheitswert zu. Nach diesem Modell der
funktionellen Störungen oder ihrem Gegenstück der morphologischen Abweichung sind
die verschiedenen Sparten der Pathologie konzipiert. Eine genetische Anomalie führt zu
einer Verschiebung in der enzymatischen Ausstattung der betroffenen Zellen, mit der
die normalen Schwankungsbreiten für bestimmte Stoffwechselfunktionen nicht mehr
erfüllt werden, oder zu ihrer kanzerogenen Entartung; in beiden Fällen treten deshalb
körperliche Störungen auf. Selbst noch eine Infektion, also der Überfall durch einen
Krankheitskeim und dessen Einnisten führen letztlich erst durch die Störungen im
Stoffwechsel oder die Veränderung der betroffenen Zellen, durch bestimmte Blockaden
oder durch die Konsequenzen der Infektabwehr zu den Symptomen einer bestimmten
Infektionskrankheit. So erfolgreich dieses Modell quer über die verschiedenen
Spezialisierungsrichtungen der klinischen Medizin und auch als Framework für die
laborwissenschaftliche Forschung funktioniert, um so stärker hat sich damit auch die
Vorstellung gefestigt bzw. verbreitet, dass mit diesem Konzept zugleich auch schon
inhaltlich fixiert sei, was eigentlich Gesundheit sei, nämlich die Summe der normaler
Weise zu erwarteten Funktionsparameter. Das ist die Konzeption von Gesundheit,
wie sie sich im Zuge des Siegeszuges des Laborwissenschaften in der Medizin
allgemein durchgesetzt hat. Und sie treibt die medizinische Forschung permanent zu
weiteren Höchstleistungen auf dem Feld der Identifizierung von pathologisch relevanten
Reaktionsmechanismen und Funktionsketten an.
Dieses Normalisierungs-Konzept von Gesundheit ist neben allen biomedizinischen
Forschungen vor allem auch sozial fest und tief in unseren westlichen Gesellschaften
verankert. Wann immer einer pathologischer Parameter gefunden werden kann,
beweist sich damit eine medizinische Diagnose, mit der der Betroffene zugleich
von der Verantwortung für die Krankheit entlastet, zur Mitwirkung bei der
Wiederherstellung der Gesundheit verpflichtet und juristisch-sozial von seinen
Alltagsaufgaben entbunden ist. Neben dem medizinischen Erfolg dieses
Forschungsprogramms ist es gerade die fest verankerte, bewährte soziale Relevanz,
die wesentlich dazu beiträgt, Gesundheit nicht mehr utopisch positiv zu bestimmen,
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sondern pragmatisch mittels eines Ausschlussverfahrens, nämlich als das Vorliegen
bestimmter Messzahlen von einem untersuchten Körper, die alle im Rahmen der
üblicherweise zu beobachtenden Streubreite liegen und (noch) nicht mit einem
pathologischen Befund korrelliert sind. Diese Enthaltsamkeit der modernen Biomedizin
hinsichtlich einer substanziellen, positiven Bestimmung von Gesundheit (jenseits bzw.
diesseits des Vorliegens pathologischer Befunde) ist dabei gerade die Voraussetzung
dafür, dass sie in eine besonders starre, weil leere, Definition von Gesundheit im
Sinne eines Sets von Normalparametern umschlägt. Was Gesundheit ist, kann die
Medizin eigentlich nicht sagen, aber mit jeder Untersuchung und erst recht entlang des
medizintechnischen Fortschritt kann die moderne Medizin immer besser sagen, welche
Krankheiten (vorläufig) ausgeschlossen werden können.
Was hat nun dieser philosophische Exkurs gebracht, warum sollten Sie als Mediziner
noch mehr über Gesundheit und Krankheit wissen, als Ihnen Ihre Textbücher andeuten
(bzw. vorenthalten)?
Der erste Punkt ist ganz einfach und nahe liegend: Sie haben bereits eine ganze Reihe
Erfahrungen mit Kranksein (und vielleicht auch mit der Medizin), Sie wissen, wie die
Biomedizin, die Sie jetzt gerade lernen, dieser erfahrungsmäßigen Dimension von
Krankheit keinen Platz einräumen kann. Vielleicht engagieren Sie sich deshalb auch in
entsprechenden medizinischen und gesundheitspolitischen Gruppen bzw. in
Fachschaftsinitiativen zur persönlichen Fortbildung und im internationalen Austausch.
Zweitens behalten Sie im Kopf, dass subjektive Beschwerden und objektive Befunde
immer zwei verschiedenen Welten entstammen und nur punktuell, nur in glücklichen
Augenblicken tatsächlich stimmig, überzeugend und restlos zusammen passen. Der
Fehler liegt nicht bei der Behauptung ihres Zusammenhangs, sondern bei der
Vorstellung, keine anderen Zusammenhänge berücksichtigen zu tun dürfen. Gerade als
Ärztin, als Arzt benötigen Sie zusätzlich zu Ihrer medizinischen Kompetenz die
Fähigkeit, Ihren Patienten gegenüber ein offenes Ohr dafür zu bewahren, wie
medizinischer Befund und lebensweltliche Perspektive möglicherweise
auseinanderklaffen. Nur dann haben Sie eine Chance, das medizinisch Richtige auch in
der richtigen Weise wirken zu lassen.
Dieses Auseinanderklaffen von lebensweltlicher und medizinischer Perspektive auf
Gesundheit und Krankheit zeigt sich zur Zeit vor allem in drei Bereichen, in der Genetik,
bei psychischen Störungen und bei chronischen bzw. terminalen Erkrankungen. Auf
diese drei Bereiche soll zum Abschluss dieser Vorlesung jeweils noch kurz
eingegangen werden, wobei sich zugleich bereits abzeichnen wird, warum und in
welcher Weise Gesundheit zur einer Frage der Philosophie wird.
Genetik: Die enormen Erfolge der molekularbiologischen Forschung haben in den
vergangenen Jahrzehnten auf der einen Seite dazu geführt, viele Krankheiten, die bis
vor kurzem noch als funktionelle Störungen (Bluthochdruck, Herzinfarkt) oder spontane
Erscheinungen (diverse Krebsformen) galten, als genetisch verursachte Krankheiten zu
begreifen. Obwohl diese Forschungen heute in den allermeisten Fällen keine
eindeutigen kausalen Erklärungen im Sinne echter mechanistischer Erklärungen,
sondern vielmehr nur Assoziationen von bestimmten Mutationen mit erhöhten
Erkrankungswahrscheinlichkeiten liefern, hat sich dennoch der Eindruck eingestellt, die
Molekulargenetik würde diese Krankheiten vollständig aufklären und die genetische
Abweichung wäre der eindeutige Defekt, der die jeweilige Krankheit wie ein
Computerprogramm determiniert. Obwohl diese Forschungen also eigentlich die das
Konzept von Kausalerklärungen aufweichen und unterminieren, haben die zahlreichen
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Entdeckungen genetischer Faktoren den Eindruck entstehen lassen, die Gesetze der
Krankheiten freizulegen. – Die weiteren Fortschritte dieser Forschungen werden dieses
falsche Bild zwar rasch korrigieren, aber zur Zeit stabilisiert die Molekularbiologie noch
ein veraltetes und falsches Konzept mechanistischer Krankheitserklärungen, das der
Komplexität organischer Prozesse nicht gerecht wird. Dieses Paradox zeigt sich
insbesondere bei der Anwendung genetischer Diagnostik zu präventiven Zwecken, weil
hier genetische Befunde nicht erst aufgrund entsprechender klinischer Symptome,
sondern auch bei deren vollständigem Fehlen zusammengetragen werden. Diese Tests
machen damit gesunde Menschen zu Patienten ohne subjektive Beschwerden und mit
fraglichem Krankheitswert, weil keiner sagen kann, ob sich eine Erkrankung aufgrund
einer genetischen Disposition auch tatsächlich manifestieren wird. Hier argumentiert die
Medizin zu recht mit der Beruhigung, die von einem Ausschluss einer genetischen
Belastung ausgeht. Aber weder sie noch die Ethik noch unsere Gesellschaft hat bislang
geeignete Strategien entwickelt, wie mit „positiven“ Befunden umzugehen ist, die Anlass
zur Beunruhigung bieten, aber nicht in den Bereich genetischer Determinismen fallen.
Psychische Störungen: Seit gut einhundert Jahren gilt auch für den Bereich
psychischer Erkrankungen das Erklärungsparadigma der Biomedizin, letztlich
organische Veränderungen für alle Krankheiten aufsuchen und dingfest machen zu
wollen. Neben der grundsätzlichen und uralten philosophischen Frage, wie sich Gehirn
und Psyche angemessen zueinander ins Verhältnis setzen lassen, besteht in diesem
Bereich vor allem auch das Problem, wie individuelle und gesellschaftliche
Wahrnehmungen zur Herausbildung bestimmter Auffälligkeiten beitragen. Bis vor
kurzem kalt Homosexualität eindeutig als eine Krankheit und viele hielten sie auch für
organisch verursacht. Heute gilt sie als individuelle Äußerungsform menschlichen
Lebens, dessen organische Verankerung kein größerer Krankheitswert zuzusprechen
ist als etwa einer Linkshändigkeit. Das Beispiel verweist also darauf, dass erstens die
Grenzen zwischen normal und pathologisch nicht eindeutig, exakt und biologisch
definiert sind, und dass zweitens jedes Ziehen einer solchen Grenze zugleich auch eine
gesellschaftlich verbindliche Norm setzt, also mehr ist als die Feststellung eines
naturwissenschaftlichen Sachverhalts.
Chronische Erkrankungen: Die moderne Medizin hat ihren Leistungsschwerpunkt
eindeutig im Bereich akuter Störungen. Dank des medizinisch-technischen Fortschritts
überleben Menschen heute eine Vielzahl von Erkrankungen, die noch bis vor kurzem
tödlich verliefen. Nicht alle diese Erfolge führen aber zu einer völligen Wiederherstellung
der Gesundheit, sondern zu einem Zustand teilweiser Einschränkung. Hinzu kommen
die vielen Menschen, bei denen eine chronische Erkrankung vorliegt, die von der
Medizin ohnehin nur eingeschränkt bewältigt wird. Diese Krankheiten sind nicht nur
deswegen problematisch, weil sie zwischen die klare Unterscheidung von Gesundheit
und Krankheit fallen, und weil sie eine besondere Herausforderung für die Medizin
darstellen, für die nicht so recht etwas anzubieten hat. Im Hinblick auf unsere
Diskussion des Gesundheitsbegriffs geben sie vor allem aber den entscheidenden
Hinweis darauf, dass es offenbar sehr verschiedene Formen gibt gesund zu sein, die
mit dem Normalwertkonzept nur wenig zu tun haben.
Allerdings kommt es hier auf die richtige Perspektive an: Es kann nicht darum gehen,
einen leidvollen und eingeschränkten Zustand beschönigend als individuelle Form von
Gesundheit kaschieren zu wollen. Vielmehr kann umgekehrt gerade die philosophische
Analyse solcher Fälle den Blick dafür schärfen, wie die Medizin mit einem falschen und
verengten Gesundheitsbegriff zusätzlichen Schaden anrichtet. Ein besonders
drastisches Beispiel liefern dafür die Bemühungen der Orthopäden, Kinder der
Contergan-Katastrophe per Prothesen auf Normalmaße zu trimmen. Selten wird so
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krass deutlich, wie ein Normalwerte immer auch als Norm zum Zwang wird, wenn nicht
danach gefragt wird, was im konkreten Fall denn die angemessene Form, also die
Gesundheit dieses Patienten und seines Körpers wäre. Es kann deshalb auch nicht
überraschen, wenn in den vergangenen Jahren vor allem von Behindertengruppen und
den so genannten Disability Studies fruchtbare Impulse ausgingen, Gesundheit und
Krankheit neu zu denken, nämlich als Fähigkeit zur gelingenden Interaktion mit je
spezifischen Umwelten. – Einen ähnlichen Gedanken hat Canguilhem auch in seiner
Arbeit zum Normalen und Pathologischen formuliert: Gesundheit ist nicht so sehr das
Entsprechen einer vorgegebenen Norm, als vielmehr die Fähigkeit zur Normsetzung,
das Aufrechterhalten der Lebensvorgänge in und mit der Umwelt. In diesem Sinne gibt
es keine allgemeingültige Definition des Gesundheit entlang dem Konzept der
Normalwerte, aber Gesundheit kann gedacht werden als die Wahrheit eines je
individuellen Körpers. – Gesundheit ist eine Frage der Philosophie, die von der
Medizin in der Regel verfehlt wird, so fern sie nicht um deren Grenzen weiß.
Literatur
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Elsevier, Urban & Fischer, 2008.
Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser, 1974.
Canguilhem, Georges: Gesundheit - eine Frage der Philosophie, Berlin: Merve, 2004
Illich, Ivan: Medical Nemesis: The Expropriation of Health, London: Calder & Boyars,
1975. Dt.: Die Enteignung der Gesundheit, Reinbek: Rowohlt, 1973.
Rosenberg, Charles E.: Framing disease: illness, society, and history. In: ders. & Janet
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Baltimore, The Johns Hopkins University Press2007.
Rothschuh, Karl Eduard (Hg.): Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975.
Rothschuh, Karl Eduard: Krankheit. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch
der Philosophie, Bd. 4, Basel: Schwabe 1976, Spp. 1184-1190.
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