Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Christoph Schmitt-Maaß · Daniel Fulda (Hg.)
Vertriebene Vernunft?
Laboratorium Aufklärung
Herausgegeben von
Daniel Fulda, Stefan Matuschek, Hartmut Rosa
Wissenschaftlicher Beirat
Heiner Alwart (Jena), Harald Bluhm (Halle), Ralf
Koerrenz (Jena), Klaus Manger (Jena), Stefan Matuschek
(Jena), Georg Schmidt (Jena), Hellmut Seemann
(Weimar), Udo Sträter (Halle), Heinz Thoma (Halle)
Band 30
Christoph Schmitt-Maaß · Daniel Fulda (Hg.)
Vertriebene Vernunft?
Aufklärung und Exil nach 1933
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Umschlagabbildung:
Gotthold Ephraim Lessing: Titelblatt der Erstausgabe von „Nathan der Weise“ von 1779
(Copyright: Wikimedia: Foto H.- P. Haack).
Theaterzettel für die Broadway-Adaption von „Nathan the Wise“ durch
Ferdinand Bruckner und Erwin Piscator von 1942 (Copyright: New York, New School,
New School Publicity Office Record).
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© 2017 Wilhelm Fink Verlag,
ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande;
Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore;
Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn
ISBN 978-3-7705-6062-2
Inhalt
Christoph Schmitt-Maass
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. AUFKLÄRUNGSSKEPTIKER
Christoph Schulte
Das radikal Böse und das banal Böse im Werk von Hannah Arendt . . . . . . . 17
Paul Bishop
Ernst Cassirer: Die Philosophie im Exil und die Heimkehr zur Vernunft . . . 31
Thomas Meyer
Leo Strauss und die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Christoph Schmitt-Maass
Ludwig Marcuse: Pessimistische Aufklärung im Geiste eines skeptischen
Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Tilman Reitz
Unheilsgeschichten deutscher Ausgewanderten.
Die Dialektik der Aufklärung als ästhetische Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
II. LION FEUCHTWANGER UND
ANDERE AUFKLÄRUNGSEMPHATIKER
Linda Maeding
Arbeit am Subjekt als Aufklärungskritik in der Exil-Germanistik . . . . . . . . . 93
Anne Hartmann
Lion Feuchtwangers Beschwörung der Sowjetunion als
„Reich der Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Daniel Azuélos
Zwischen Aufklärung und Machtanbetung: Die beiden Gesichter
des Lion Feuchtwanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Kristina-Monika Kocyba
Ferdinand Bruckners Nathan the Wise als Exildrama . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
6
Inhalt
III. AUS DEM ARCHIV
Michaela Ullmann
Bücher und Autographen des Aufklärungszeitalters im Bestand
der Feuchtwanger Memorial Library, Los Angeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Christoph Schmitt-Maass
Einleitung
Der Begriff der Aufklärung war – darüber dürfte innerhalb der Geisteswissenschaften Einvernehmen herrschen – im Verlauf seiner Geschichte vielfältigen Wandlungen unterworfen.1 Die interdisziplinär arbeitende historisch ausgerichtete Aufklärungsforschung hat diesen Aspekt bislang eher vernachlässigt und sich auf die Analyse des 17. und 18. Jahrhunderts spezialisiert. Die Rezeptionsgeschichte des Aufklärungsbegriffs zwischen dem beginnenden 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts ist bislang nur partiell erschlossen:2 Relativ bekannt ist die Aufklärungskritik
der Romantik und der Klassik, ebenso die sogenannte ‚Dialektik der Aufklärung‘,
der untrennbar das pejorative Diktum Theodor W. Adornos und Max Horkheimers eingeschrieben ist. Das so betitelte Buch wurde seinerzeit in der amerikanischen Emigration verfasst, doch ist zu konstatieren, dass die Aufarbeitung der Aufklärungsrezeption im Exil ab 1933 unbefriedigend ist: einerseits ist die Exilforschung in der Regel zu wenig historisch orientiert, um der Rezeption der Philosophie und Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur nachzugehen; andererseits wurde das Diktum von Adorno
und Horkheimer v.a. im Zuge der 1968er Bewegung politisiert und besaß mehr
gegenwartsdiagnostischen als historisch-erkenntnistheoretischen Wert.
Anders verhält es sich mit dem Parallelentwurf und Gegenstück zur ‚Dialektik
der Aufklärung‘, nämlich Reinhart Kosellecks Dissertation von 1959, die die
Grundannahme von Adorno und Horkheimer – von einem Umschlagen der aufklärenden Kritik im historischen Prozess in ihr Gegenteil, in Despotie und umfassende Manipulation – teilt, die These jedoch geschichtswissenschaftlich erhärtet.
Während die Dialektik der Aufklärung einen universalistischen Begründungszusammenhang bietet und diese Dialektik menschheitsgeschichtlich an der Selbstbehauptung des Subjekts festmacht (dabei die Aufklärung mit wissenschaftlichem,
sozialem und historischem Fortschritt identifizierend), diagnostiziert Koselleck,
dass die aufklärende Kritik politischer Prozesse des 17. und 18. Jahrhunderts zu
1 Horst Stuke, Aufklärung, in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland,
8 (in 9) Bdn., Stuttgart 1972-97, hier Bd. 1 (1972), S. 243-342.
2 Vgl. etwa Heinz Thoma, Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1797-1914), Heidelberg
1976; Helmut Holzhey, Diltheys Sicht auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in seinen „Studien
zur Geschichte des deutschen Geistes“, in: Thomas Leinkauf (Hg.), Dilthey und Cassirer: Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte. Hamburg 2003, S. 97-108 sowie
die Beiträge in Holger Dainat/Wilhelm Voßkamp (Hgg.), Aufklärungsforschung in Deutschland,
Heidelberg 1999; Georg Neugebauer/Paolo Panizzo/Christoph Schmitt-Maaß (Hgg.), ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte, München 2014 (Laboratorium Aufklärung, Bd. 26).
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politischen Krisen und Revolutionen geführt haben, letztlich also Aufklärung in
Zerstörung gemündet sei. Während Adorno und Horkheimer auf der einen Seite
ihre Aufklärungskritik als aufklärerische Selbstkritik betreiben und nach einer universalistischen Erklärung für Nationalsozialismus und Weltkrieg suchen, unternimmt Koselleck einen konservativen „Frontalangriff“3 und analysiert die historischen Ursachen des Kalten Kriegs und des Kommunismus.4 Obwohl in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstanden (die Dialektik der Aufklärung wurde
1939 bis 1944 verfasst und 1947 publiziert; Kritik und Krise entstand 1947 bis
1953 und wurde 1954 publiziert), markieren beide Werke trotz ihrer gemeinsamen Intention einer Aufklärungskritik (oder, vorsichtiger ausgedrückt: einer kritischen Würdigung der historischen Aufklärung) nicht nur je eigene, weltanschaulich begründete Formen der Aufklärungsrezeption. Vielmehr unterscheiden sie
zwischen einer überzeitlichen Aufklärungspraxis (Adorno und Horkheimer) und
einem historischem Epochenbegriff (Koselleck); eine Unterscheidung, die auch für
die Rezeption des Aufklärungsbegriffs unter den Exilanten bestimmend wirkt,
jedoch bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts historisch vorgebildet ist in der
Auseinandersetzung zwischen weltanschaulichem Katholizismus und Frühliberalismus auf der einen, Linkshegelianismus auf der anderen Seite – ein direktes Erbe
in der Polarisierung und Politisierung des Aufklärungsbegriffs während und unmittelbar nach der Revolutionszeit 1789.5 In ihrer Polarisierung nimmt die Aufklärungsrezeption bei Adorno und Horkheimer wie auch bei Koselleck jedoch die
Auseinandersetzung um die Abgrenzung von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Aufklärung,
wie sie weite Teile der Diskussion unter Philosophen, Historikern und Theologen
des ausgehenden 18. und im größten Teil des 19. Jahrhunderts bestimmte,6 wieder
auf. Dabei ist eine noch deutlichere – mit teilweise leidenschaftlicher Vehemenz
geführte – Auseinandersetzung um die Valenz des „historischen Individualbegriffs“
bzw. den „Aktualitätscharakter“ des Aufklärungsbegriffs zu verzeichnen, der streckenweise zum „Instrumentalbegriff“ ideologisiert wird.7
Diese hier nur knapp erläuterten, unterschiedlichen disziplinären, aber auch ideologischen Voraussetzungen bedingen, dass die Aufarbeitung der Rezeption der
‚Aufklärung‘ in der Exilzeit von 1933 bis 1945 (und teilweise darüber hinaus) erst
am Anfang steht. Wulf Köpke, der im Rahmen der von uns initiierten Tagung
(deren Ergebnisse hiermit vorliegen)8 einen Abendvortrag halten sollte, hat 1987
3 Michael Schwartz, Leviathan oder Lucifer. Reinhart Kosellecks „Krise und Kritik“ revisited, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 (1993), H. 1, S. 33-57.
4 Ebd., S. 33f.
5 Stuke, Aufklärung (wie Anm. 1), S. 278f., 336f.
6 Ebd., S. 342.
7 Ebd.
8 Wir haben der Gerda-Henkel-Stiftung für die großzügige Finanzierung der Tagung zu danken, die
im Oktober 2010 am „Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung“ (Halle/S.) stattfand und in Kooperation mit dem „Leopold Zunz Center zur Erforschung
des europäischen Judentums“ (Halle/S.) und der „International Feuchtwanger Society“ (Los An-
Einleitung
9
einen Beitrag verfasst, in dem er seine Hauptarbeitsgebiete – die Aufklärung- und
die Exilforschung – erstmals aufeinander bezogen hat.9 Durch seine Beiträge zur
Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts (etwa zu Johann Gottfried Herder)
wie zur Literatur der Exilzeit (etwa zu Heinrich Mann, Alfred Döblin und Lion
Feuchtwanger) als Kenner der historischen Aufklärung ebenso ausgewiesen wie als
Kenner der Exilzeit, bleibt Köpkes Beitrag doch in Bezug auf sein historisches Verständnis wie auch seine begriffliche Tiefensemantik erstaunlich unscharf, wenngleich er die Aufklärungsforschung als eigentlichstes Thema der Exilforschung
(S. 122) ausweist. Köpkes Ausführungen schrecken davor zurück, die ideologische
Kurzsichtigkeit der Exilanten darzustellen, denen Köpke attestiert, sie hätten in
weiten Teilen getreu den Vorgaben der kommunistischen Komintern die „progressive Tendenz der deutschen Klassik“ (S. 116) als Erbe und Gipfelpunkt der Aufklärung aufgezeigt (namentlich Georg Lukács). Das positive Verhältnis der Exilautoren speist sich nach Köpke wesentlich aus ihrer Hoffnung, dass sich die Sowjetunion als „Heimat der Vernunft“ (S. 115) erweisen würde – diese Hoffnung war
jedoch eher romantisch als von der Aufklärung her begründet.
Durch wiederholte Gleichsetzung der Vereinigten Staaten von Amerika und der
Sowjetunion (statt – was hinsichtlich der adressierten ideologischen Ausrichtung
näher gelegen hätte – Hitlerdeutschlands mit dem Stalinreich) betont Köpke die
negativen Effekte einer rationalistischen Aufklärung, wobei er auf das ‚kulturkritische‘ Vokabular von Adorno und Horkheimer zurückgreifen kann. Köpke geht
von Karl Mannheim aus, der 1929 in Ideologie und Utopie die ‚sozial freischwebende Intelligenz‘ zur Leitfigur des „Zeitalter[s] der Ideologien“ (S. 117) erkoren hatte. Rechtsnationale Kreise hätten jedoch diese Figur ebenso abgelehnt wie Vertreter der radikalen Linken und stattdessen die Notwendigkeit des Aktivismus betont
(S. 115). Köpke konzentriert seine Darstellung im weiteren Argumentationsverlauf
auf die Reflexion der Rolle des Intellektuellen, die sicherlich die zeitgenössische
Debatte in weiten Teilen geprägt hat. Die selbstgestellte Gretchenfrage – „Waren
sie [die Exilautoren] zu sehr Aufklärer gewesen, die auf die Macht des Wortes und
der Vernunft vertrauten, oder zu wenig Aufklärer, so daß sie vielleicht selbst nicht
an ihre hohen Worte glaubten?“ (S. 119) – beantwortet Köpke dahingehend, dass
das Festhalten der Exilautoren am „aufklärerischen Glauben, […] daß geistige
Waffen am Ende doch mächtig, ja mächtiger seien als rohe Gewalt“ (S. 120), durch
die „politische[] Bedeutungslosigkeit und oft Hilflosigkeit“ (S. 120) motiviert
gewesen sei. Da die Exilautoren nicht, wie etwa die Autoren der vorrevolutionären
Zeit in Frankreich, die herrschenden Nationalsozialisten hätten belehren können,
hätten sie sich (auf meist erfolglose) ‚Volksaufklärung‘ konzentriert oder sich auf
die Reflektion und Definition der Aufgabe des Intellektuellen zurückgezogen
geles) durchgeführt wurde. Wir danken Giuseppe Veltri und Ian Wallace für die unkomplizierte
Zusammenarbeit und Christine Peter und Kornelia Grün für die logistische Unterstützung.
9 Wulf Koepke, Aufklärung und Exil: Eine Problemskizze, in: Uwe Faulhaber u. a. (Hgg.), Exile and
Enlightenment. Studies in German and Comparative Literature in Honor of Guy Stern, Detroit1987, S. 115-122. Im Folgenden mit Seitenzahl im Text zitiert.
10
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(S. 120) – dass zahlreiche Auseinandersetzungen um den intellektuellen Standort
unter den Exilautoren wenig mehr als intellektuelle Grabenkämpfe waren, die die
Positionen aus der Zeit vor 1933 verlängert und die Gräben in der Auseinandersetzung um eine ‚eigentliche‘ und ‚wahre‘ Aufklärung vertieft, übersieht Köpke dabei.
Mit Karl Mannheim und Georg Lukács hat Köpke zwei prominente Positionen
zur Aufklärungsrezeption der Vorexilzeit benannt. Zu ergänzen wäre noch die
Position Ernst Cassirers, die Köpke signifikanter weise nicht zitiert.10 Cassirers Philosophie der Aufklärung erschien im November 1932, also zwei Monate vor der
Ernennung Adolf Hitlers zum Reichkanzler; ab Oktober 1933 lehrte Cassirer dann
im Oxforder Exil. An die lebensphilosophische Methode seines akademischen Lehrers Wilhelm Dilthey anknüpfend, entwarf Cassirer eine Ideengeschichte der Aufklärung, die nicht „bloße Ergebnisse“ zusammentrug, sondern die „gestaltenden
Kräfte“ und die „dramatische Aktion“11 des Denkens der Aufklärung vermitteln
wollte. ‚Aufklärung‘ versteht Cassirer weder als rationalistisch-methodischen Bündelung der eklektizistischen Erkenntnisse des 17. Jahrhunderts noch „bloß historisch“ (S. XV). Vielmehr betonte er – gegen die romantische Aufklärungskritik –
die der Aufklärungsepoche innewohnende Kraft der Gedanken als Prinzip der
Lebensgestaltung, das wiederum in praktischen Gebrauch gemündet habe (S. XIV).
Doch könne es auch angesichts der sich ankündigenden Barbarei „kein einfaches
Zurück zu den Fragen und Antworten der Aufklärungsphilosophie mehr geben“
(S. XV); vielmehr müsse man sich das Erbe der Aufklärung immer wieder neu kritisch-produktiv aneignen. Cassirer legt dabei – in weiser Vorausschau auf die Vereinnahmung des Aufklärungsbegriffs von Rechts wie Links –Wert darauf, dass seiner Darstellung „jede unmittelbar polemische Absicht fernliegt“ (S. XV), sie aber
auch nicht versuche, „eine ‚Rettung‘ der Aufklärungsepoche zu vollziehen.“ (S. XV)
Cassirers Votum von 1932 und die Generalthese Adornos und Horkheimers
sowie Kosellecks von 1947 bzw. 1954 stellen sicherlich die Maximalpositionen
einer Aufklärungsrezeption in dieser Zeit dar. Unstrittig markiert die Vertreibung
Andersdenkender durch das nationalsozialistische Regime einen Bruch in der deutschen, aber auch in der abendländischen Geschichte, doch entgegen der (infolge
der politischen Deutung von 1968 dominierenden) Auffassung Adornos und
Horkheimers, demzufolge dieser Bruch das logische Resultat einer Dialektik der
Aufklärung ist (die „instrumentelle Vernunft“ der Aufklärung habe das NS-Regime
überhaupt erst ermöglicht) kann man auch nach den Kontinuitäten der Aufklärung und dem Festhalten an den Werten der Aufklärung bzw. deren Umdeutung
durch die Exilierten fragen. Angesichts der nationalsozialistischen Zäsur, deren
Auswirkungen vor allem nach 1945 in den Geisteswissenschaften virulent werden,
scheint eine Reflexion auf Transformations- und Überlieferungsprozesse aufgeklärten Denkens notwendige Voraussetzung auch für eine Aufarbeitung von Vertreibung und Vernichtung aufgeklärter Vernunft und vernünftiger Denker.
10 Vgl. a. den Beitrag von Paul Bishop in diesem Band.
11 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, hg. v. Claus Rosenkranz. Hamburg 2003 (= Cassirer: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 15), S. VIIIf. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
Einleitung
11
Bereits vor 1933 – das verdeutlichen die Positionen Mannheims, Lukács und
Cassirers – war der Aufklärungsbegriff höchst vieldeutig. Der vielfach angestrebte
Versuch, im Exil die kritische Verfasstheit der geistigen Lage (oder schlicht die
Existenznot) zu überwinden, ging oft mit der Überzeugung einher, sich von den
Idealen der Aufklärung emanzipieren zu müssen oder aber durch die verstärkt
(Schein-)Debatten über die Rückführung auf künstlerische Autonomie, die jedoch
den Diskussionsstand vor 1933 (mit allen ideologisch-politischen Implikationen)
weiterführte,12 die eigene Position zu behaupten. Während auf der einen Seite
vehemente Aufklärungskritiker mit dem ‚Rationalismus‘ abrechneten und ihre
Position (auch aufgrund ihrer Exilerfahrung) nach 1945 durchsetzten, findet sich
auch eine Vielzahl von Aufklärungsemphatikern, die jedoch selten über einen distinkten Aufklärungsbegriff verfügen und damit neuerlich den Aufklärungskritikern Gegenargumente liefern. Die für vorliegenden Band titelgebende Formel von
der ‚vertriebenen Vernunft‘ ist daher als argumentative Einschärfung zu verstehen,
die zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen ist.
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge setzen sich mit der Aufklärungsrezeption in der Exilzeit auseinander. Wenngleich sie das Thema aus ganz
unterschiedlichen disziplinären Perspektiven in Angriff nehmen, stimmen sie doch
darin überein, dass die Frage der Exulanten nach der ‚Aufklärung‘ in der Exilzeit
immer auch die Frage der Relevanz dieser Epoche und ihrer Ideale für die eigene
Gegenwart berührte. Im Folgenden soll der jeweils spezifische Zuschnitt der einzelnen Beiträge skizziert werden. Die Herausgeber haben sich entschlossen, die Beiträge auf zwei Hauptsektionen (‚Aufklärungsskeptiker‘ und ‚Aufklärungsemphatiker‘) aufzuteilen, die durch einen archivgeschichtlichen Beitrag ergänzt werden.
In seinem Eröffnungsbeitrag illustriert Christoph Schulte am Beispiel von Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Immanuel Kant die Relevanz eines kritischen
Umgangs mit Positionen der Aufklärungsphilosophie während der Exilzeit. Während Arendt zunächst in Anlehnung an Kants Überlegungen von 1784 Nationalsozialismus und Shoah als ‚radikal Böses‘ beschrieb, wandelte sich im Zuge des
Eichmann-Prozesses ihre Einschätzung hin zur „Banalität des Bösen“. Dass diese
Begrifflichkeit, die seinerzeit heftig kritisiert wurde, historisch an Arendts KantRezeption rückgebunden werden muss, um ihr (im Gegensatz zu Kants Individualbegriff nun gesamtgesellschaftlich verstandenes) Konzept des ‚Bösen‘ fassen,
arbeitet Schulte heraus. Dazu zieht er u.a. Arendt Spätwerk heran, in dem sie ihre
Kantrezeption reflektiert.
Paul Bishop schließt mit seinen Ausführungen direkt an, indem er in den späten Schriften des deutsch-jüdischen Philosophen Ernst Cassirer, die während seines europäischen und amerikanischen Exils verfasst wurden, eine auffallende Kontinuität mit seinen früheren aufweist. In beiden Werkphasen werde die Rolle der
12 Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik, etwa bei Eislers „Vierzehn Arten den Regen
zu beschreiben“ (entstanden 1941 in New York), vgl. Horst Weber, Betroffenheit und Aufklärung.
Gedanken zur Exilforschung, in: Musik in der Emigration 1933–1945, hg. v. H. Weber, Stuttgart/
Weimar 1994, S. 1–9, hier S. 2f.
12
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Vernunft untersucht, deren Funktion laut Cassirer eine symbolische sei. Dank dieser symbolischen Funktion der Vernunft könne man auf der ganzen Welt, auch im
Exil, zu Hause sein; führe doch die symbolische Funktion der Vernunft dazu, dass
Welt sich überhaupt erfassen lässt.
Der Aufklärungsrezeption von Leo Strauss ist der Beitrag von Thomas Meyer
gewidmet. Die spezifische Prägung der Begriffe ‚Aufklärung‘ und ‚Politische Philosophie‘ durch Strauss erkläre sich durch seine Auseinandersetzung mit der ‚Sprache
der Unmenschen‘ ebenso wie durch seine Auseinandersetzung mit dem Historismus, der nach Strauss bereits im späten 17. Jahrhundert zu verankern ist und als
Gegenposition seiner ‚Politischen Philosophie‘ bestimmt wird. Strauss’ intensive
Lessing- und Mendelssohn-Rezeption im Cambridger Exil bereite den Weg für
eine Wertschätzung der Errungenschaften der Aufklärung, die für Strauss einerseits
im argumentativen und formalen Bruch mit der Philosophie und Literatur der
Voraufklärung besteht und andererseits in der Leugnung der Offenbarungswahrheit. Seiner Lessing-Lektüre verdanke Strauss dann auch die Entwicklung seines
pragmatisch verwendeten Begriffspaares ‚Esoterik‘ und ‚Exoterik‘, die Praktiken
der ‚Politischen Philosophie‘ umreißen. Damit kann Strauss Kritik am ‚Historismus‘ – verstanden als ‚Vergeschichtlichung‘ der gesamten Philosophie – üben und
diesen zugleich überwinden. Dass Strauss das Programm seiner ‚Politischen Philosophie‘ nie verschriftlicht habe, liege in der Vertreibung der Vernunft aus Deutschland begründet: Strauss gehe es um die Restituierung eines Rationalismus, der sich
an seinen Ursprungsformen und -fragen orientiert, gleichsam eine aus der Antike
herkommenden Aufklärung der Aufklärung betreibt.
Der Beitrag von Christoph Schmitt-Maaß illustrierte am Fallbeispiel des Kulturphilosophen Ludwig Marcuse, der von 1933 bis 1962 im Exil in Los Angeles
wirkte, den indirekten Einfluss von Adorno und Horkheimer: Obwohl Marcuse
bereits in den dreißiger Jahren eine aufklärungskritische Position entwickelte, die
die Ausführungen Adornos und Horkheimer vorwegzunehmen scheint, ziehe er
seine Kritik an der unter den kalifornischen Exilanten idealisierten Aufklärungsepoche zurück und reaktiviere sie erst wieder in den 60er Jahren, bedingt durch die
Aufklärungskritik der studentischen Protestbewegung.
Ausgehend von den literarischen Präfigurationen in Adornos und Horkheimers
Dialektik der Aufklärung skizziert Tilman Reitz die selber wieder ästhetisch gewordenen Reflexionen zur Ästhetik, die Adorno-Horkheimer gegen eine kognitiv-rationalistische Erschließung der Aufklärungsepoche setzen. Durch Analyse von Adornos Musikästhetik und Thomas Manns Exil-Roman Doktor Faustus erweist Reitz
die über ästhetische Analogien bewerkstelligte Totalitätsinszenierung von ästhetischer Theorie, Faschismustheorie, Aufklärungskritik und Roman.
Unter die Aufklärungsemphatiker sind hingegen die beiden exilierten und in
den USA tätigen Germanisten Bernhard Blume (1901–1978) und Egon Schwarz
(geb. 1922) zu rechnen, zu denen Linda Maeding referierte: Beide kritisierten den
Traditionsgehalt des Aufklärungsbegriffs vor dem Hintergrund ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrung vehement – nicht in wissenschaftlichen Arbeiten, sondern
in erster Linie und auf sehr unterschiedliche Weise in ihren Autobiographien. Die-
Einleitung
13
se Kritik verlaufe bei beiden Autoren über die Subversion und Infragestellung einer
Gattung, die traditionell eher mit Verklärung (der Vergangenheit, des Subjekts)
denn mit Aufklärung assoziiert wird.
Als Aufklärungsemphatiker muss wohl auch Lion Feuchtwanger bezeichnet
werden, obwohl dessen Beschwörung der Sowjetunion als „Reich der Vernunft“ –
wie Anne Hartmann darlegt – ihren Ursprung nicht in der Aufklärung hat, der es
um die Selbstbestimmung des Individuums wider dogmatische Unterdrückung
und Autoritätsglauben ging, sondern in den frühneuzeitlichen Staatsutopien eines
Platon, Thomas Morus oder Tommaso Campanella. Die Analogien sind weitreichend – von der Besuchssituation bis zu den Inhalten: Vorführung eines überlegenen Gesellschaftsmodells, geometrische Strukturen, Überordnung des Gemeinwohls über die Interessen des einzelnen, auch wenn „das gemeinsame Bekenntnis“
die Ausschaltung jener bedeutet, die das harmonische Gleichgewicht stören. Doch
wider den Willen des Autors kommt, ebenfalls wie in den Staatsutopien, die totalitäre Kehrseite der „schönen neuen Welt“ und ihrer eindimensionalen Vernunft
zum Vorschein.
Ausgehend von der Fragestellung, ob sich Lion Feuchtwangers Verständnis der
Aufklärung durch Vertreibung und Exil veränderte, beleuchtet Daniel Azuélos
eine Dialektik, die sich in Feuchtwanger Werk niederschlage: einerseits habe dieser
in seinen literarischen Werken sowie in seinen essayistischen und publizistischen
Produktionen immer wieder und bis zuletzt der bolschewistischen Revolution, die
er mit der großen französischen und der amerikanischen auf eine Stufe stellte,
Bewunderung entgegengebracht. Andererseits habe die rechte Hand des handelnden Bourgeois und Humanisten manchmal ignoriert, was die linke Hand des Dogmatikers schrieb und Feuchtwanger habe sich bei allen Meinungsunterschieden
mehrmals dazu durchgerungen, den von den kommunistischen Diktaturen gefährdeten Freunden unter die Arme zu greifen.
Durch Auswertung bislang unerschlossener Exil-Archivalien erweist KristinaMonika Kocyba (née Hinneburg) in ihrem Beitrag, dass Lessings in der NS-Zeit in
Deutschland zensiertes Trauerspiel Nathan der Weise durch Ferdinand Bruckner
und Erwin Piscator 1942 im eigens gegründeten Studio Theatre des Dramatic
Workshop an der New School for Social Research (New York) als Nathan the Wise
revitalisiert wurde. Für die politische Anti-Nazi-Agitation im politischen Theater
Piscators lasse sich eine programmatische Verbindung zur „moralischen Anstalt“
des 18. Jahrhunderts und Lessings Bemühung um die affektive Beeinflussung des
Zuschauers feststellen.
Abschließend stellt Michaela Ullmann die Kontinuität von Aufklärung bzw.
Aufklärungsschrifttum im Exil anhand von Lion Feuchtwanger Privatbibliothek
dar, die sich noch heute in Los Angeles befindet. Feuchtwanger hatte von zahlreichen in die USA Exilierten Manuskripte des 18. Jahrhunderts erworben und so
eine bedeutende Sammlung von Aufklärungsdrucken und -Manuskripten zusammengetragen – ein Sammlungsbestand, der von der Aufklärungsforschung bislang
kaum zur Kenntnis genommen wurde und daher knapp vorgestellt und bewertet
wird.
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Die einzelnen Beiträge machen deutlich, wie unterschiedlich die Aufklärungsrezeption während der Exilzeit verlief – der pejorative Aufklärungsbegriff, der im
Anschluss an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung weitgehend
dominiert hat, erweist sich als keineswegs singulärer Rezeptionsstrang. Vielmehr
spielt die Aufklärungsrezeption, die einzelne Philosophen und Autoren im Rahmen ihrer intellektuellen Sozialisation während der Vorkriegszeit erlebten, eine
entscheidende Rolle: teils schrieben die Aufklärungskritiker Positionen der Vorexilzeit einfach fort; teils erwiesen sich die Aufklärungsemphatiker als erfahrungsresistent und hielten (auch angesichts der Zustände im ‚aufgeklärten‘ Sowjetreich) an
angestammten Positionen fest. Dass die Dialektik der Aufklärung eine derartige
Folgewirkung zeitigen konnte, hängt sicherlich auch mit der Tatsache zusammen,
dass sie viele unüberwindbare Widersprüche (hinsichtlich der historischen, praktischen und politischen Aufklärung), die während der Exilzeit klar zu Tage traten,
konzeptionell griffig bündelte. Die Frage ‚wie hältst Du es mit der Aufklärung?‘
setzte sich nach 1945 erst allmählich als Prüfstein kultureller Selbstvergewisserung
durch und erreichte in der Rezeption Adornos und Horkheimers 1968 einen vorläufigen Höhepunkt. Dass dieser Rezeptionsprozess in der komplizierten Verhältnisbestimmung von ‚Aufklärung‘, ‚Nationalsozialismus‘ und ‚Exil‘ begründet liegt
und damit bis in die Zeit unmittelbar vor 1933 zurückreicht, machen die hier
versammelten Beiträge deutlich. Selbstverständlich kann im Rahmen des hier vorliegenden Sammelbandes dieser Rezeptionsprozess nicht erschöpfend dargestellt
werden. Das Ziel der Herausgeber ist vielmehr, Anregungen zu liefern für die weitere Auseinandersetzung mit Bildern der Aufklärungsepoche, die jenseits der
Selbstwahrnehmung des 18. Jahrhunderts liegen. Für diesen Zusammenhang
kommt dem hier anvisierten Zeitraum eine Schlüsselrolle zu, da hier die Wurzeln
einer pejorativen Aufklärungsrezeption liegen, die in auffälligem Kontrast steht zur
gegenwärtigen, fast durchgängig positiven Sicht auf die Aufklärung.13 Die Aufklärungsrezeption der Exilzeit erweist sich unter dieser Perspektive als Laboratorium,
in dem eine Vielzahl von Perspektiven auf die Aufklärungsepoche möglich war, die
erst zwanzig Jahre nach Kriegsende im Sinne Adornos und Horkheimers verengt
wurde. Gegen die verbreitete Vorstellung einer ‚vertriebenen‘ Vernunft und eines
Zivilisationsbruchs lässt sich anführen, dass gerade die Exilsituation eine Rückbesinnung auf aufgeklärte Prämissen bedeuten konnte, zugleich aber existentiell die
Frage nach den Grenzen und Nutzen der Aufklärung neu stellte. Interpretation
und Bezug auf ‚Aufklärung‘ wird so als Deutungsmuster erklärbar, das der eigenen
Gegenwartssituation und den eigenen Zukunftsaussichten eine historische Tiefendimension verleiht.
13 Vgl. auch die Dokumentation einer ganz überwiegend positiv-emphatischen wissenschaftlichen
Aufklärungsrezeption nach 1968 in Michael Schlott/Lutz Danneberg (Hgg.), Wege der Aufklärung
in Deutschland. Die Forschungsgeschichte von Empfindsamkeit und Jakobinismus zwischen 1965 und
1990 in Experteninterviews, Stuttgart [u.a.] 2012 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der
Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, Bd. 83).
I. AUFKLÄRUNGSSKEPTIKER
Christoph Schulte
Das radikal Böse und das banal Böse
im Werk von Hannah Arendt
Das radikal Böse ist ein von Immanuel Kant zuerst verwendeter Begriff. Er bezeichnet in Kants Autonomie-Ethik, die sich nicht mehr an religiösen Normen und
Geboten orientiert, sondern durch die der Mensch sein Handeln vernünftig und
moralisch selbst bestimmt, eine fundamentale Verkehrung der Gesinnung und des
moralischen Urteilsvermögens. Radikal böse, so Kant, ist nämlich die Haltung,
andere Beweggründe als die unbedingte Achtung vor den Prinzipien der Moral
und deren Regeln zum Ausgangspunkt des selbstbestimmten moralischen Wollens
und Handelns zu machen. Nicht Karriere, eigener Vorteil, soziale Anerkennung,
Angst vor Strafe oder Bequemlichkeit, sondern allein der Wille, das als moralisch
gut Erkannte zu tun, soll für Kant das ausschlaggebende Motiv im Handeln einer
autonomen, moralisch selbstbestimmten Person sein. Beherrschen hingegen andere, z. B. eigennützige Motive die Haltung, das Urteilen und Handeln einer Person,
sei die Gesinnung an der Wurzel, und daher: radikal korrumpiert. Aus dieser Korruption der moralischen Gesinnung und Grundhaltung resultierten dann amoralisches Verhalten im Einzelfall.
Hannah Arendt hat nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck der
Shoah Kants Wort vom radikal Bösen wieder aufgenommen und über das radikal
Böse der Shoah geschrieben. Als Beobachterin des Eichmann-Prozesses 1961 in
Jerusalem hat sie dann jedoch ihre Position geändert und von der „Banalität des
Bösen“ gesprochen. Mit ihrer teilweise sarkastischen Darstellung der banalen
Motive des Massenmörders Eichmann löste sie eine heftige Debatte und starke
Kritik an dieser vermeintlichen Verharmlosung des Mordes an den Juden und an
der Entdämonisierung der Täter aus. Hannah Arendt hat sich gegen diese Kritik
verteidigt, reflektiert dann jedoch in der politischen Philosophie ihres Spätwerks
das Böse und seine Ursachen noch einmal von Neuem. Dieser Beitrag analysiert im
Ausgang von Kant Hannah Arendts verschiedenartige Erörterungen über das Böse.
I. Immanuel Kant
Immanuel Kants Wort vom radikalen Bösen ist der Ausgangspunkt einer beispiellosen Karriere des Bösen in der modernen Philosophie,1 in der Literatur und in den
1 Vgl. Christoph Schulte, radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988;
Susan Neiman, Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2004.
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