Humboldt Universität Potsdam Institut für Slawistik Prof. Dr. Peter Kosta Jenny Bluhm SS 2006 HS Gruppensprachen, Soziolekte und gesprochene Varietäten im Slavischen ‚мат’ Vulgärsprache im Russischen Jenny Bluhm 729428 Slawistik (MA) Naugarder Strasse 14/2 10409 Berlin [email protected] ‚мат’ - Vulgärsprache im Russischen 0. Einleitung............................................................................................2 1. Kulturell-religiöser Hintergrund……………………………...................3 2. Russische Vulgärsprache im öffentlichen und wissenschaftlichen Kontext ………………………...................................4 3. Verwendung und Rezeption………………………………..……………6 4. Lexikalische Beispiele..………………..…………………………………9 5. Geschlechtsspezifische Asymmetrie………………………………….11 6. Zusammenfassung...........................................................................13 7. Ausblick............................................................................................14 8. Literatur............................................................................................16 1 0. Einleitung In der vorliegenden Arbeit beschäftige ich mich mit der russischen Umgangssprache und hierbei insbesondere mit der Vulgärsprache ‚мат’. Ich konzentriere mich dabei auf geschlechtsspezifische Aspekte dieses Sprachphänomens. Für meine Arbeit ist es mir wichtig, zu Beginn den politischgesellschaftlichen Hintergrund der Verwendung der Umgangssprache im Russischen zu erläutern. Schwerpunkte sind Vorraussetzungen und Ursachen für die heutige Unlesbarkeit der russischen Vulgärsprache im slavischen Sprach- und Kulturraum. Hierbei gehe ich auf kulturellreligiös begründete Verbote sowie die Entstehung von Leerstellen ein. Auf dieser Grundlage stelle ich anschließend anhand des digitalen Mediums Internet sowie des Wissenschaftsdiskurses zwei Beispiele vor, in denen ‚мат’ Anwendung findet. In Kapitel drei gehe ich der Frage nach, welche SprecherInnen in welchen Situationen ‚мат’ verwenden. Anhand lexikalischer Beispiele nähere ich mich anschließend dem stark sexuell konnotierten Wortschatz der russischen Vulgärsprache. Den Schwerpunkt meiner Analyse bildet hierbei die geschlechtsspezifische Asymmetrie des russischen ‚мат’. Nach einer Zusammenfassung gebe ich einen Ausblick auf die kommenden Jahre. Von besonderer Bedeutung sind hierbei mögliche Strategien eines veränderten Gebrauchs und der damit verbundenen Rezeption von ‚мат’. 2 1. Kulturell-religiöser Hintergrund Die Einteilung der Menschheit in zwei eindeutig voneinander getrennte Geschlechter wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts in heutigen westlichen Gesellschaften durch das Wesen der Natur begründet.1 Die Annahme der Existenz der beiden unterschiedlichen Geschlechter wird mit der Behauptung verknüpft, dass die fundamentale Verschiedenheit von Mann und Frau Grundlage für die ihnen jeweils zugeordneten Eigenschaften und Fähigkeiten ist. Dies wird zur Legitimation der unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufgaben, Rechte, Pflichten und Stellungen innerhalb der Gesellschaft herangezogen.2 Diese dichotome Einteilung der Menschen und die damit verbundenen Zuschreibungen sind in Russland auf den Domostroij zurückzuführen. Die Gesetze dieses altrussischen Hausbuches aus dem 16. Jahrhundert, welches u.a. das Verhalten des Mannes gegenüber seiner Ehefrau regelt, sind ein Ursprung des Geschlechterdualismus im nachzaristischen Russland. Die daraus resultierende, den Mann über die Frau stellende Wertehierarchie, verändert sich mit dem auf Gleichheit ausgerichteten sozialistischen Menschenbild nach der Oktoberrevolution vor allem auf politischer Ebene. Im Privaten werden diese Reformen als staatlicher Eingriff in das Familienleben empfunden. Von einer gesellschaftlich akzeptierten Gleichheit der Geschlechter kann bis heute nicht ausgegangen werden. Feministin ist in Russland auch in Frauenkreisen ein vor allem pejorativ verwendeter Begriff, mit dem männerhassende, männlich gekleidete Frauen, die die Mutterschaft ablehnen, assoziiert werden. Mit dem Hintergrund, dass das in der Bevölkerung als entweiblicht wahrgenommene Frauenbild in der Sowjetunion gleichzeitig die Mütterlichkeit und die arbeitende Kameradin betont, ist im heutigen 1 2 vgl. Laqueur 1992, S. 174 vgl. Maihofer 1995, S. 32 3 Russland in Bezug auf Feminismus oft das Argument „Aber eine Frau muss eine Frau bleiben!“3 zu vernehmen. Mit diesem Hintergrund ist feministische Sprachwissenschaft im westeuropäischen Verständnis schwer umsetzbar. Nicht nur in der russischen Sprache sondern auch bei anderen Völkern des ostslavischen Sprachraumes kommt es im Zusammenhang mit der starken Anbindung aller Bevölkerungsschichten an die orthodoxe Kirche zu einem Verbot der offenen Verwendung sexueller Lexik. Zeitgleich wird jegliche Form der Sexualität tabuisiert. Die sprachliche Thematisierung von Erotik, Pornographie und anderen als obszön verurteilten, sexuell konnotierten Themen sind dementsprechend bis heute ‚Problemzonen’ innerhalb der slavischen Sprachwissenschaft. 2. Russische Vulgärsprache im öffentlichen und wissenschaftlichen Kontext Die russische Vulgärsprache4 wird im allgemeinen Sprachgebrauch als ‚мат’ bezeichnet. Synonym werden auch матерщина oder матерный язык verwendet. Es handelt sich bei dieser nahezu ausschließlich gesprochenen Varietät um eine tabuisierte Vulgärsprache, welche vorwiegend im engen Familienkreis und unter Freunden Anwendung findet. Das gesellschaftlich pejorativ konnotierte ‚мат’ wird von den meisten muttersprachlichen SprecherInnen nur in vertrauter Umgebung nicht als primitiv und peinlich wahrgenommen. Diese Annahme fand während meines Referates im Seminar ‚Gruppensprachen, Soziolekte und gesprochene Varietäten im russische Teilnehmerinnen in internationalen Diskussionen, zitiert nach Lissjutkina 2003, S. 229 4 vulgär (aus dem Lateinischen) - gewöhnlich, alltäglich, gemein 3 4 Slavischen’ ihre prompte Bestätigung. Die Mehrzahl der anwesenden russischen MuttersprachlerInnen war unangenehm berührt, in einem universitären Seminar, das heißt im öffentlichen Raum, ‚мат’ zu hören und vor allem auch zu lesen. Mein Hinweis, dass es sich hierbei um eine rein wissenschaftliche gesprochenen Varietät Auseinandersetzung handelt, konnte die mit oben einer genannten Widerstände nur teilweise zerstreuen. Auch bei meiner Recherche im Internet hat sich dieser Eindruck bestätigt. Im russischsprachigen Eintrag zu ‚мат’ auf wikipedia wird mit einem roten Achtungszeichen auf den folgenden, möglicherweise als unanständig oder beleidigend empfundenen Inhalt hingewiesen.5 Der meines Erachtens rein informative Charakter des Artikels wird somit bereits vor dem Lesen mit dem Hauch des Verbotenen und Unanständigen belegt. Interessanterweise sind Filme der Nach-Perestrojka-Zeit, in denen ‚мат’ gesprochen wird, erst ab 16 bzw. 18 Jahren freigegeben. Sie werden damit allein aufgrund des Sprachgebrauches in Bezug auf ihre Gefährdung Jugendlicher mit gewaltverherrlichenden und Sexfilmen auf eine Stufe gestellt. Einen besonderen russischsprachigen Aspekt bietet der Umgang Wissenschaftsdiskurs. So mit ‚мат’ werden im in Untersuchungen zum Jugendsprachgebrauch im Speziellen oder auch ‚мат’ im Allgemeinen die Beispiele selten ausgeschrieben. An ihre Stelle werden drei Punkte (…) gesetzt oder als weniger beleidigend und neutraler empfundene Latinismen verwendet.6 Für das Verb ебаться – ficken steht dann futuere. Als Grund hierfür kann die bis heute nachwirkende Angst aus Zeiten der Sowjetunion vor der Zensur der jeweiligen 5 Texte und ein damit einhergehendes Berufs- Внимание! Содержание этой статьи или раздела может показаться некоторым читателям непристойным или оскорбительным. (http://ru.wikipedia.org) 6 oder vgl. Wurm 2002, S. 261f 5 Veröffentlichungsverbot angenommen werden. Des Weiteren kann eine bewusste oder unbewusste Vermeidung, Frauen im wissenschaftlichen Kontext durch die Verwendung von ‚мат’ zu beleidigen, angenommen werden. Selbst gender ForscherInnen verstecken sich hinter Euphemismen und Höflichkeitsgeboten, obwohl ihr wissenschaftlicher Hintergrund ihnen beispielsweise mittels des Dekonstruktivismus andere Methoden bietet. Als ein Grund für die zurückhaltende öffentliche Auseinandersetzung mit ‚мат’ durch Wissenschaftlerinnen kann gesehen werden, dass der in der russischen Vulgärsprache quantitativ stark vertretene Mutterfluch als Travestie wahrgenommen wird, sobald er von weiblichen Sprechern vorgetragen werden. Als legitim gilt er nur aus dem Mund von Männern. 3. Verwendung und Rezeption In welchen Situationen und von welchen SprecherInnen kommt es zur Verwendung von ‚мат’? Unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Schicht ist eine starke Verbindung zwischen emotionalem Zustand und der Verwendung von Vulgärsprache im Russischen zu verzeichnen. Motive des Fluchens sind das Entladen psychologischer Anspannung oder aber auch das Beleidigen oder Erniedrigen des/ der AdressatIn. Äußerungen im ‚мат’ sind performative Sprechakte, das Fluchen und Schimpfen unter Verwendung obszöner Lexik kann demnach für das jeweilige Gegenüber beleidigend sein. Für Kinder und Jugendliche ist das Sprechen in ‚мат’ von jungen Jahren an ein Zeichen für ihr eigenes Erwachsensein. Sie demonstrieren mit der Verwendung der verbotenen Lexik ihre Unabhängigkeit, SprecherInnen Freiheit erzeugen, und Coolness. indem 6 sie Auch Mat erwachsene sprechen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihrem Gegenüber. Sie können gleichzeitig dem/ der GesprächspartnerIn die eigene ablehnende Reaktion auf das vorhande Verbotssystem verdeutlichen. Dies trifft heute bei Weitem nicht mehr so stark zu, wie es vor der Perestrojka der Fall war. In seiner 2003 erschienen Untersuchung «Русский мат как мужской обсценный код» unterstreicht Michajlin, dass ‚мат’ bis zum 20. Jahrhundert ausschließlich innerhalb reiner Männerkollektive gesprochen wurde: «Мат есть непременная принадлежность всякого чисто мужского коллектива, в женскую же среду мат начал 7 проникать сравнительно не давно […].» . Nur bei männlichen Sprechern, so Michajlin weiter, wurde der Sprechakt unter Verwendung von ‚мат’ nicht als Sünde empfunden. Als Ursprung dieser geschlechtsspezifischen Trennung führt er die unterschiedlichen Wirkungskreise von Männern und Frauen an. Demnach entsteht der männliche tabuisierte Code an Orten, die als Charakteristikum den Ausschluss von Frauen tragen. Nur dort «[...] на вполне определенной воинской/охотничьей территории «Дикого Поля […]»8 sei stereotyp männliches Verhalten einschließlich des Sprachgebrauchs legitim. 7 8 vgl. Михайлин, В.Ю. 2003, S. 4 ebda, S. 13 7 Das Tabu der schriftlichen Verwendung von ‚мат’ hat im Zuge der Glaznost’ und Perestrojka in den vergangenen 15 Jahren stark abgenommen. So gehört es bei zeitgenössischen russischen SchriftstellerInnen wie Viktor Pelevin oder Irina Denežkina zum‚ guten Ton’, ihren ProtagonistInnen ‚мат’ in den Mund zu legen: «Ну вы, суки позорные... – и повторила, подумавю – Суки. И козлы.»9 Auch in der Rockmusik widersetzen sich Bands wie Leningrad, Sektor Gaza, Graždanskaja Oborona dem ungeschriebenen gesellschaftlichen Kodex, ‚мат’ ausschließlich im privaten Raum zu verwenden. So wird ihre Musik häufig in eben jenen nicht-öffentlichen Räumen gehört. Mit ihrer Massentauglichkeit und der damit verbundenen Popularität sind sie jedoch auch im Radio und auf Live-Konzerten zu erleben. In diesem Rahmen verlassen sie den privaten Raum und begeben sich in die Öffentlichkeit. Laut einer Umfrage des ‚Allrussischen Zentrums für die Erforschung der öffentlichen Meinung’10 im Jahr 2004 empfanden achtzig Prozent der russischen Bevölkerung die Verwendung von ‚мат’ im öffentlichen Raum als negativ. Diese Wahrnehmung kann als ein Grund für die steigende Popularität der oben genannten Bands besonders bei Jugendlichen gesehen werden. 9 vgl. Денежкина 2004, S. 12 Всероссийский Центр Изучения Общественного Мнения 10 8 4. Lexikalische Beispiele Der russische ‚мат’ kann lexikalisch in drei Begriffsgruppen unterteilt werden. Die erste und in ihrer Quantität produktivste ist die Bezeichnung der weiblichen (бункер, пирожок) und männlichen Geschlechtsorgane (вентиль, градусник, инструмент) sowie des Geschlechtsaktes. Daraus werden Personenbezeichnungen abgeleitet, was die zweite Gruppe bildet. Die quantitativ unproduktivste Gruppe bildet jene, in welcher neutrale Lexik pejorativ verwendet wird und damit Eingang in den Vulgärsprachgebrauch erhält. Das neutrale Lexem кондом als neben Präservativ international verwandte Bezeichnung für ein Kondom erfährt in seiner Verwendung im ‚мат’ eine Abwertung. Als гондон aber auch кондом ist es unter Jugendlichen populär und bietet Anlass für großes Gelächter. Сука ist in der ursprünglichen Bedeutung die Bezeichnung für einen weiblichen Hund. Im Rahmen von ‚мат’ erhält es eine Umdeutung (analog zum englischen bitch) zu Schlampe oder Nutte. Die Referenz auf ein Tier wird somit humanisiert, pejorativ erweitert und erhält eine vollkommen neue Bedeutung. Der Verlust der Ursprungsbedeutung ist auch bei пиздеть zu beobachten. In «Не пизди!» ist zwar noch die Semantik lügen zu finden, es ist aber eher von einer vom Sprecher angenommenen und Empfänger auch verstandenen semantischen Nähe zu пизда – Fotze auszugehen. 9 Besonders produktiv sind Schlüsselbegriffe, die durch Präfigierung und Suffigierung eine Vielzahl an Substantiven, Adjektiven und Verben ergeben: 1. хуй - Schwanz ist zurückzuführen auf хвоя – Baumnadeln. • хуйство – leeres Gespräch • захуякивать – etwas sehr schnell tun 2. хер - Schwanz wird nahezu identisch mit хуй verwendet, wobei ein konkreter Bezug auf 'Schwanz' nicht zwingend ist. • херовый – schlecht • херство – Quatsch, Blödsinn 3. пизда - Fotze als abwertende Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsorganes geht etymologisch auf писать – pinkeln zurück und erhält damit erst im ‚мат’ eine pejorative sexuelle Konnotation. • напиздяшиться – sich betrinken • пиздюливаться - ficken 4. ебать – ficken hat seinen Ursprung im Altkirchenslavischen *jebti – schlagen. Die wahrscheinlich nur wenigen SprecherInnen bekannte Etymologie verbindet körperliche Gewalt und Sexualität miteinander. • заебический – gut, hochwertig • оёбывать - schlagen 5. блядь – Nutte ist auf блуд - Laster, Unzucht zurückzuführen. Das Nomen блудница – Sündigerin, Nutte verdeutlicht die Verbindung von weiblicher Sexualdienstleistung und ihrer Konnotation mit Sünde, also religiös motivierter Verwerflichkeit. • блядьмо – älterer Schwuler • блядовиты – jemand, der gern Sex hat 10 5. Geschlechtsspezifische Asymmetrie Die sexuelle Konnotation der russischen Vulgärsprache legt eine Beschäftigung mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Lexik, Semantik und Verwendung nahe. Es existiert eine Vielzahl geschlechtsunbhängig gebrauchter Pronomina. Hierzu zählen пизда - Votze, блядь/ курва - Nutte, жопа Arsch, говно - Scheiße, сука - Hure, хуй - Schwanz. Sie rekurrieren in ihrer Bedeutung zwar auf ein Geschlecht, ihre Verwendung ist aber davon unabhängig. So kann ein neutrales Ereignis mit «Это пиздец!» als schlecht bezeichnet werden. Ein Mann, der aufgrund seines biologischen Geschlechts keine weibliche Prostituierte sein kann, kann sich dennoch selbst als ebensolche verfluchen «Блядь буду!». Ebenso kann eine Frau, die keinen Penis besitzt, mit «Иди ты на хуй!» sinnbildlich zum Teufel geschickt werden. In Verbindung mit Tätigkeiten kann eine stark dichotom geprägte Referenz auf das weibliche oder männliche Geschlecht beobachtet werden. So sind die für Männer abwertenden Bezeichnungen говноед Scheißefresser sowie говноеб-Scheißeficker vor allem in Bezug auf Schwule anzutreffen. Die weiblichen Äquivalente говноебка und говноедка hingegen sind sehr selten. Die Bezeichnung für das männliche Geschlechtsorgan хуй kann neutral oder pejorativ verwendet werden. Im Gegensatz dazu haben пизда und блядь stets eine pejorative Konnotation. Auf der morphologischen Ebene fällt auf, dass он ебет aber nicht она ебет verwendet wird. Frauen wird damit im übertragenen Sinn eine aktive Rolle in der Sexualität abgesprochen, sie können nicht ficken, nur gefickt werden. Deshalb erscheint es logisch, dass Passivkonstruktion она ебена häufiger zu hören ist, als он ебен. 11 die Phraseologisch ist aus dem gleichen Grund die Konstruktion «Ебла твоего отца!» undenkbar. Der Mutterfluch «Ёб твою мать!» ist nach meinen Beobachtungen als geschlechtsneutral verwendet zu bezeichnen, obwohl die bei weiblichen Adressaten dieser Äußerung implizierte lesbische Handlung keine Rolle spielt. Auf der lexikalischen Ebene ist zu betonen, dass es sich bei den im ‚мат’ verwendeten Bezeichnungen für das männliche Geschlechtsorgan meist um längliche Gegenstände oder Werkzeuge handelt. Болт Bolzen, пырка - Stößel, резак – Messer und кляп - Pflock implizieren eine Kraft- und Gewaltanwendung11. Auch die zumeist transitiven Verben wie долбать - meißeln, напырать - hineinstoßen, пихать rempeln, пилить - sägen, отработать – bearbeiten rekurrieren auf gewaltsame Tätigkeiten. Die nach Wurm sonst im russischen ‚мат’ fehlende sexuelle Konnotation ist bei хуй - Schwanz, пизда - Fotze, хуезос - Schwanzlutscher, пиздазос - Fotzenlecker, жопаеб Arschficker vorhanden. Geschlechtsverkehr wird, so Wurm weiter, mit einem Dienstleistungs- oder Verrichtungsverhältnis gleichgesetzt und abgewertet. Diese Kombination von männlichem Geschlechtsorgan und Gewalt spiegeln die dichotome Gesellschaftsordnung Russlands sprachlich wider. Sie können als Ausdruck von Macht und Gewalt gesehen werden, welche unter anderem in als normativ verstandenen sexuellen Verhaltensmustern ihren Ausdruck finden. So sind Heterosexualität und stereotype Geschlechterrollen sprachlich markiert und die Norm, gesellschaftlich Abweichungen nicht werden akzeptiert. Die dichotomen und geschlechtlich eindeutig verorteten Bedeutungspaare männlich - weiblich, Subjekt - Objekt, aktiv - passiv, beweglich unbeweglich, transitiv - intransitiv, zielgerichtet - anvisiert, Gewalt - 11 Wurm 2002, S. 264f 12 Unterwerfung, positiv - negativ, Sieger - Besiegte stehen somit auch für die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. 6. Zusammenfassung Die Besonderheit des russischen ‚мат’ im Vergleich zu anderen europäischen Vulgärsprachen liegt nicht im Wortschatz sondern in der Häufigkeit der Anwendung. Russische Muttersprachler und Muttersprachlerinnen verfügen nahezu ausnahmslos über ein breit gefächertes Repertoire der ‚мат’-Lexik. Sie wenden diese unabhängig von Bildungsstand Sprachgebrauch und an. Im sozialer Zugehörigkeit Gegensatz zum im Deutschen, privaten dessen Vulgärsprache ähnlich dem Französischen zum Anal-Exkremental-Typ gehört, handelt es sich beim russischen Mat um den Sex-Typ. Eine überproportionale Häufung der Lexik des russischen ‚мат’ gruppiert sich um Wortnester aus den Bereichen der Sexualität und zumeist männlichen Geschlechtsteile. Eine Sonderstellung nimmt die sexuelle Triade хуй - пизда – ебать ein. Sie ist besonders häufig anzutreffen und tritt sowohl in euphemistischen als auch in phraseologischen Äußerungen auf. Die wohl bekannteste und neben dem Russischen auch im Englischen am häufigsten verwendete dieser Äußerungen ist der so genannte Mutterfluch «Ёб твою мать!». Hierbei muss nochmals betont werden, dass eine starke Trennung zwischen mündlicher und Schriftsprache existiert. ‚Мат’ ist als NichtSchriftsprache zu verstehen. Die russische Vulgärsprache ‚мат’ ist meines Erachtens als ein Beispiel für Sexismus und Chauvinismus zu sehen. Besonders jene Äußerungen mit sexueller Konnotation spiegeln ein männliches Weltbild sowie eine männliche Sicht von Sexualität wider. ‚Мат’ wird von männlichen Sprechern verwendet, um -zumeist unbewusst- ein starres Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen zugunsten ihrer selbst zu manifestieren. 13 7. Ausblick Welche Möglichkeiten der Subversion oder des Unterlaufens, welche Formen einer anderen Verwendung von ‚мат’ sind vorstellbar? Wie können vor allem reflektierte Frauen, aber auch ebensolche Männer den Gebrauch und das Verständnis von ‚мат’ verändern? Verbote sind, das hat die Politik der Sowjetunion gezeigt, nicht geeignet, um einem Volk etwas zu verbieten oder beispielsweise ein anderes als das gewohnte Verhalten nahe zu bringen. Eine Möglichkeit für weibliche Sprecherinnen, ‚мат’ in seinem heutigen Gebrauch und Verständnis zu unterlaufen und auch zu verändern wäre, sich den obszönen Diskurs anzueignen und ihn dadurch zu subvertieren. Im Sinne der Gendertheoretikerin Judith Butler ist die Performanz ein geeigneter Weg, um gesellschaftliche Normen zu karikieren, aufzudecken und zu verändern. Frauen könnten in der Übertretung der ungeschriebenen Gesetze der Sprechergruppe der russischen Vulgärsprache die darin implizierte Geschlechterdualität sowie die damit einhergehende Diskriminierung unterlaufen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, einen eigenen weiblichen Diskurs hervorzubringen. Es stellt sich nur die Frage, wie dieser aussehen könnte. Eine Kopie oder reine Reaktion auf den männlichen Diskurs erscheint mir nicht produktiv und vor allem nicht sonderlich sinnvoll. Sprache als DER Ort, an dem sich die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten vollzieht, darf besonders aus dem Aspekt der Gleichberechtigung nicht vernachlässigt werden. Sie muss, allen verklemmten oder peinlich berührten 14 Widerständen zum Trotz besonders im neoliberalen postkommunistischen Osteuropa untersucht werden. Es ist auf eine Öffnung der Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen in Bezug auf die russische Vulgärsprache zu hoffen – denn nur wenn über den Gegenstand gesprochen und auch geschrieben werden kann, ist er analysierbar und neu verhandelbar. Möglicherweise hilft die Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung an russischen Universitäten, dieses Thema in Zukunft kritischer zu reflektieren. 15 8. Literatur Денежкина, Ирина: Дай мне! Сакнкт-Петербург, Москва 2004 Laqueur, Thomas : Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main 1992. Lissjutkina, Larissa: Ein „Sorgenkind“ im Fernen Osten Europas: Die Russische Frauenbewegung und Genderforschung zwischen Hoffnung und Verzweiflung. In: Miethe, Ingrid/Roth Silke (Hg.): Europas Töchter. Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa. Opladen 20003, S. 225-255. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz. Frankfurt am Main 1995. Михайлин, В.Ю.: Русский мат как мужской обсценный код: проблема происхождения и эволюция статуса. Saratov 2003. Wurm, Barbara: Russkij Mat oder die Ohnmacht vor dem pornographischen Dilemma - genderspezifische Aspekte der russischen obszönen Sprache. In: Leeuwen- Turnovcova/ Wullenweber/ Doleschal/ Schindler (Hg.): Gender-Forschung in der Slawistik. Wien 2002, S. 259272. Wörterbücher Ахметова, Т.В.: Русский МАТ. Толковый словарь. Москва 2004 Ожегов, С.И./ Жведова, Н.Ю. Толклвый словарь русского языка. Москва 2005 Webseiten Wikipedia: http://ru.wikipedia.org http://de.wikipedia.org/wiki/Russischer_Mat 16