Spinale Muskelatrophien Unter der Diagnose "spinale Muskelatrophie" (SMA) wird eine heterogene Krankheitsgruppe zusammengefasst, die sich hinsichtlich des Schweregrades, des Verteilungsmusters der betroffenen Muskulatur und der Vererbung erheblich voneinander unterscheidet. Allen gemeinsam ist der pathoanatomisch nachweisbare Untergang von motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark, wodurch Muskelschwäche und Muskelatrophie resultieren. Die große Mehrzahl der Patienten zeigt ein proximales Verteilungsmuster und einen Beginn in der Kindheit bzw. Jugend und folgt einem autosomal rezessiven Erbgang. Diese Form wird auch als infantile SMA bezeichnet und nach dem derzeit gültigen Klassifikationssystem in die Typen I-III eingeteilt. Durch den Nachweis einer homozygoten Deletion/Mutation im Bereich der telomerischen Kopie des survival motor neuron (SMN1)-Gens kann die Diagnose einer infantilen SMA seit 1995 gesichert werden. Wir haben bereits in den 1980er Jahren Verlaufs- und Familienstudien bei der proximalen SMA durchgeführt, zu einem Zeitpunkt, als noch kein Gendefekt für die SMA bekannt war. Einen Teil unsere Daten haben wir in den 1990er Jahren zusammen mit der Arbeitsgruppe von Frau Prof. I. Hausmanowa-Petrusewicz (Warschau, Polen) anhand von großen Patientenkohorten ausgewertet. Nachdem sich bei Tiermodellen der SMA nach der Jahrtausendwende verschiedene hoffnungsvolle Therapieansätze ergeben haben, war die genaue Dokumentation des Krankheitsverlaufs in Abhängigkeit von der Zahl der SMN2-Kopien wichtig, um zum gegebenen Zeitpunkt Daten für Therapiestudien vorlegen zu können. In dieser Frage haben wir in den Jahren 2007-2009 zusammen mit der Arbeitsgruppe von Frau Prof. B. Wirth (Institut für Humangenetik der Universität Köln) eine umfassende klinische und genetische Beschreibung der schwer verlaufenden SMA Typ I erarbeitet. In diesem Zusammenhang konnten wir erstmalig zeigen, dass angeborene Herzfehler kausal mit der SMA zusammenhängen und meist auf einen schweren SMN-Mangel bei Vorliegen von nur einer SMN2-Kopie zurückgehen. Die genetischen Ursachen für andere SMA-Formen (autosomal dominante SMA; distale oder scapuloperoneale SMA, SMA-Sonderformen) sind vielfach noch ungeklärt und Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Aktivitäten. In der Differentialdiagnose der schwer verlaufenden SMA Typ I sind insbesondere folgende "SMA-plus"-Formen als klinisch und genetisch eigenständige Formen zu definieren: 1. Diaphragmatische SMA mit initial respiratorischer Insuffizienz = SMARD (autosomal rezessiv, heterogen, ein Genort für SMARD1 auf Chromosom 11q, Mutationen im IGHMBP2-Gen), 2. SMA plus (ponto)cerebelläre Hypoplasie = PCH-1 (autosomal rezessiv, 30-50% Mutationen im EXOSC3-Gen), 3. SMA mit Arthrogryposis und Frakturen (heterogene Krankheitsgruppe, Gendefekte praktisch unbekannt). In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Herrn Prof. Dr. C. Hübner (Universitätskinderklinik, Charité, Berlin) haben wir 1999-2004 wesentliche Beiträge zur genetischen und klinischen Charakterisierung der SMARD1 leisten können. Inzwischen setzen wir die Zusammenarbeit für die neurogen bedingte Arthrogryposis multiplex congenita fort. Mit dem EXOSC3-Gen, das wir 2012 in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Dr. Joanna Jen (University of California, USA) identifiziert haben,war nunmehr die wichtigste genetische Ursache der PCH-1 bekannt und erlaubte GenotypPhänotyp-Analysen. Derzeit wird im Rahmen eines DFG-Projektes die Identifikation weiterer Gene für die autosomal rezessive PCH-1 angestrebt. Die molekulargenetische Basis der autosomal dominanten SMA oder weiterer atypischer Formen ist komplex, die klinische Abgrenzung von anderen neuromuskulären Erkrankungen oder Motoneuronerkrankungen nicht immer einfach. In geeigneten Familien erfolgt eine Exomsequenzierung bzw. Gesamtgenomsequenzierung, um die verantwortlichen Gene zu identifizieren. Für die Arbeitsgruppe: Prof. med. Sabine Rudnik-Schöneborn (Stand September 2014)