Die doxa entlarven

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Lena Simon
Universität Potsdam Zu Gast in der Freien Universität Berlin
Institut für Philosophie
Wintersemester 2007/08
Hausarbeit zum Hauptseminar: Platons Weg zur Erkenntnis
Dozent: PD Dr. Rudolf Schrastetter Die doxa entlarven
Meinungen und Gerechtigkeit der Höhlenbewohner im Kephalosdialog
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nice try nice nice try nice try nice nice try nice 7. Fachsemester
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung................................................................................................................................3
2 Einordnung und Fragestellung................................................................................................4
2.1 Einordnung des ersten Buches.........................................................................................4
2.2 Einordnung des Kepahlosdialogs....................................................................................5
2.3 Gliederung des Kephalosdialogs.....................................................................................5
3 Die Höhlenbewohner und die doxa.........................................................................................6
4 Der Kephalosdialog.................................................................................................................8
4.1 Anfang des Gesprächs.....................................................................................................8
4.2 Glück durch die richtige Einstellung...............................................................................9
4.3 Reichtum als Glückshelfer.............................................................................................10
4.4 Entkräftung von Kephalos' Gerechtigkeitsdefinition.....................................................13
4.5 Polemarchos: Jedem das Gebührliche ..........................................................................15
4.6 Thrasymachos: Paraderolle der 'doxa'............................................................................18
5 Konklusion............................................................................................................................18
6 Literaturverzeichnis...............................................................................................................20
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1 Einleitung
Im Höhlengleichnis seiner Politeia beschäftigt sich Platon mit dem Erkenntnisweg des Philosophen. Dabei ist für ihn unstrittig, dass nur wenige einer Gesellschaft diesen Weg hinaus aus der Höhle hin zur Sonne gehen können. An vielen Stellen in der Politeia wird jedoch deutlich, dass auch die anderen Mitglieder einer Gesellschaft große Bedeutung haben. Mit diesen Menschen, also mit den Höhlenbewohnern die im Gleichnis in der Höhle bleiben, möchte ich mich in dieser Arbeit beschäftigen. Nach Platon funktioniert der beste Staat, indem die Philosophen Herrscher werden oder die Herrscher philosophieren. Doch dabei spielen auch die Höhlenbewohner des Höhlengleichnisses eine wichtige Rolle. Im Gleichnis weist Platon darauf hin, dass die Menschen, die in der Höhle geblieben sind, den Zurückkehrenden keinen Glauben schenken, sie nicht ernst nehmen. Platon kritisiert, dass die Menschen nicht über genug Wissen, epistéme verfügen und sich zum Treffen von Entscheidungen auf die allgemeine Meinung, die doxa verlassen. Es waren diese Menschen die damit, dass sie in der doxa das wahre Wissen vermuteten, Platon den Glauben an die Demokratie raubten. Um seiner Demokratiekritik näher zu kommen und diese genau verstehen zu können ist es hilfreich nachzuvollziehen, welchen Stellenwert die doxa für Platon hat und weshalb sie seiner Ansicht nach die Demokratie schädigte. Hierzu wende ich mich dem ersten Buch der Politeia und insbesondere dem Kephalosdialog zu. Ich werde versuchen weitgehend auf Fachliteratur zu verzichten, um mir einen freien Geist zu erhalten und unabhängig von vorgefassten Meinungen zu bleiben.
Nachdem ich das erste Buch der Politeia in seinen Zusammenhang eingeordnet habe werde ich den Kaphalosdialog einordnen und den Aufbau darstellen. In Kapitel 3 möchte ich einen Zusammenhang zwischen den Höhlenbewohnern und der doxa herstellen. Kapitel 4 wird sich genauer mit dem Kephalosdialog beschäfitgen und am Ende kurz auf Polemarchos' und Thrasymachos' Bedeutung für die doxa­Diskussion eingehen. In Kapitel 5 möchte ich mal sehen.
2 Einordnung und Fragestellung
2.1 Einordnung des ersten Buches
Die Politeia ist Platons wahrscheinlich bekanntestes Werk. Darin entwirft Platon einen 3
perfekten Staat. Eigentlich sucht er nach der Antwort auf die Frage, was Gerechtigkeit sei. Dies erläutert er anhand eines perfekten Staates, dessen Gerechtigkeit man seiner Ansicht nach gut mit der der menschlichen Seele vergleichen könne. Platon beschäftigt sich in diesem Werk mit zwei zentralen Themen: Erstens stellt er die Frage nach Gerechtigkeit, als philosophisches Motiv und als Tugend. Zweitens schafft er einen Entwurf einer idealen Gesellschaftsstruktur, beschäftigt sich also mit der Frage, wie die Menschen am besten mit einander zusammenleben können und sollten. Beides ist innerhalb seiner Demokratiekritik von zentraler Bedeutung. Der Kephalosdialog bildet dem ersten Anschein nach nur die Hinleitung zur Frage nach der Gerechtigkeit. Tatsächlich wird diese hier erstmals aufgeworfen. Sie kommt auf innerhalb eines Gesprächs, das völlig alltäglich mit der Frage nach dem Befinden eines alten Mannes begonnen hatte. Doch der Kephalosdialog und das gesamte erste Buch bergen mehr als nur das Aufwerfen der Frage. Viele betrachten das erste Buch gesondert vom Rest des Werks. Ordnen es zeitlich früher ein, halten es für weniger wichtig, da es keine Antworten zu geben scheint.1 Ein Kapitel, am Anfang eines Buches, das nur Fragen aufwirft und keine beantwortet – es ist nicht verwunderlich, dass einige dazu neigen dies als reine Exposition zu verstehen. Und dennoch muss man es differenzierter betrachten. Denn die Feststellung, dass eine Definition nicht korrekt ist, ist auch eine Erkenntnis. Und darüber hinaus gibt es vieles zu entdecken im ersten Buch von Platons Politeia. 2.2 Einordnung des Kepahlosdialogs
Der Kephalosdialog bildet den Anfang des ersten Buches der Politeia und leitet die Diskussion um die Gerechtigkeit ein. Vor diesem Dialog befindet sich lediglich die Schilderung der Aufhaltung des Sokrates durch Polemarchos und die Einladung zum Gespräch bei sich zu Hause. Nach dem Gespräch mit Kephalos folgt der Dialog zwischen Polemarchos und Sokrates, der dann durch Thrasymachos unterbrochen und weitergeführt wird. Inhaltlich entwickelt sich der Versuch einer Definition von Gerechtigkeit in folgender Weise: Kephalos bringt eine erste, schlichte Definition: Gerechtigkeit ist Wahrhaftigkeit und 1 Vgl. u.a. Höffe: Einführung in Platons Politeia, in: Höffe: Platon – Politeia
zur Information über die gängige Meinung siehe auch unter www.wikipedia.de
Demandt erwähnt in seiner Schilderung des ersten Buches ausschließlich Thrasymachos und lässt Kephalos und Polemarchos gänzlich wegfallen. Siehe Demandt, Idealstaat, S.77.
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Wiedergeben von Empfangenem. Dies entkräftet Sokrates indem er darlegt, dass es nicht gerecht wäre, einem wahnsinnig gewordenen Freund Waffen auszuleihen, die er einem zuvor anvertraut hatte. Polemarchos eilt seinem Vater zur Hilfe und verändert die Definition seines Vaters mithilfe einer These des Simonides: Gerechtigkeit ist jedem das Gebührliche, also Freunden Gutes und Feinden Böses, zu tun. Auch hier widerspricht Sokrates. Es kann nicht Sache des Gerechten sein, jemandem etwas böses anzutun. Thrasymachos tritt nun in Erscheinung und teilt mit, Gerechtigkeit sei immer das dem Stärkeren zuträgliche.2 Auch dies entkräftet Sokrates, indem er herleitet, dass der Stärkere oft gar nicht wisse, was das ihm Zuträgliche sei. So endet das erste Buch von Platons Politeia ähnlich den früheren Dialogen und unähnlich dem Rest des Werks in einer Aporie. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist aufgeworfen und die Erkenntnis gefunden, dass es keine leichte Antwort geben kann. 2.3 Gliederung des Kephalosdialogs
Der Kephalosdialog kann in vier Gedankengänge unterteilt werden:
1) Sokrates stellt die Frage nach dem Leben aus der Sicht eines alten Mannes. Wie sieht das Leben aus dem Alter betrachtet aus? (327e)
2) Kephalos' phänomenologisch orientierte Antwort bietet zwei Möglichkeiten:
a) Das schlechte Leben: Hierzu kommt es, wenn man sein Lebensglück von den äußeren Umständen abhängig macht. Das Alter und die Armut zu beklagen sind die hierzu passenden Handlungen (329a­e)
b) Das gute Leben: Weitgehend unabhängig von den äußeren Umständen erreicht man dieses durch die richtige Einstellung (329d). Diese drückt sich in gemäßigtem Verhalten und einem Streben nach Ausgleich sowohl gegenüber den Göttern, als auch in Bezug auf die äußeren und sozialen Umstände aus.
3) Kephalos definiert: Gerechtigkeit ist Wiedergeben und Ehrlichkeit. (331 b­d)
4) Sokrates widerlegt die Definition des Kephalos mit dem Waffenbeispiel. (331c­e)
3 Die Höhlenbewohner und die doxa
Die doxa bildet einen großen Ansatzpunkt für Platons Demokratiekritik. Anders als die 2 Auch aus der These des Thrasymachos kann man viele Voraussetzungen der Demokratie herausarbeiten.
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Sophisten suchte Platon stets nach wahrem Wissen. Dieses wahre Wissen wird für die Entscheidungsfindung benötigt. Eine Gesellschaft, die sich nur an Meinungen orientiert ist anfälliger für Fehlentscheidungen. Die Menschen neigen dazu, Meinungen zu schnell für die Wahrheit zu halten, lassen sich verblenden und folgen der doxa, halten sie für die Wahrheit. Die Demokratie setzt diesem Prozess nichts entgegen und ist daher gerade an dieser Stelle sehr anfällig. Für die Untersuchung der platonischen Philosophie in Hinsicht auf das Phänomen der doxa, ist es sehr fruchtbar, die gewöhnlichen Menschen, von mir in Anlehnung an das Höhlengleichnis als Höhlenbewohner bezeichnet, zu betrachten. Da sie die doxa produzieren und reproduzieren sind sie für unsere Betrachtung von zentraler Bedeutung. Platons persönliche Geschichte wird vielfältig besprochen.3 Als Sohn eines Aristokraten hätte er eigentlich in die Politik gehen sollen, wurde dann aber Schüler des Sokrates und war über dessen Verurteilung zum Tode derartig erschüttert, dass er den Glauben an die Demokratie verlor. Die Verurteilung des Sokrates war eine der Entscheidungen der Höhlenbewohner, wofür Platon sie und damit die gesamte Demokratie kritisierte.
„Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte, mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit des Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?“(516e­517b)
In dieser Textstelle des Höhlengleichnisses, wird deutlich, wie wenig Vertrauen Platon in seine Mitmenschen hatte. Gleichzeitig finden wir in ihr die doxa in Form der Schatten auf der Wand. Das Volk ist nicht fähig, wichtige Dinge zu erkennen, urteilt schnell und undifferenziert. Was ihm nicht bekannt ist, das verurteilt es, lehnt es ab, vernichtet es. Neue Erkenntnisse der Philosophie haben dort wenig Platz. Dabei müsste doch die Liebe zur Weisheit in der Politik eine wichtige Rolle spielen. Denn Entscheidungen sollten immer auf Basis genauen Wissens geschehen. Wenn aber die Höhlenbewohner nicht in der Lage sind, die Philosophie in ihre politischen Entscheidungen einzubeziehen und sogar die Wahrheit mit der doxa verwechseln, so kann die Demokratie keine gute Regierungsform sein. 3 u.a. in Störing: Kleine Weltgeschichte der Philosophie
und Skirbekk/Gilje: Geschichte der Philosophie
und Annas: Platon 6
„Wenn nicht [...] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, [...] eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten [...] und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht“ (473c­e). Die Demokratie kann nicht funktionieren, weil nur die Philosophen zum Herrschen befähigt sind. Denn nur die Philosophen lassen sich nicht von der doxa blenden, und suchen nach dem wahren Wissen. Angenommen, der im Höhlengleichnis zurückgekehrte Philosoph schafft es, die Höhlenbewohner davon zu überzeugen, dass nur die Philosophenherrschaft funktionieren kann. Wie müssen sie sich in einer solchen Regierungsform verhalten? „Dieses also [...] scheint die Gerechtigkeit zu sein, dass jeder das Seinige verrichtet.“ (433b) Sie müssen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten das gesellschaftliche Zusammenspiel in Gang halten und dürfen nicht hinterfragen, was die Philosophenkönige entscheiden. Ich möchte hier nicht Platons „Staat“ kritisieren. Dies ist bereits umfangreich geschehen4 und verspricht mir keinen großen Erkenntnisgewinn. Wesentlich fruchtbarer scheint mir die Untersuchung von Platons Grunds, für seine Demokratiekritik, die Kritik an der Volksmeinung, der doxa. Dies ist um so bedeutender, als zu ahnen ist, dass auch die moderne Demokratie ähnlich durch das Phänomen der doxa geschwächt werden könnte, wie die des antiken Griechenlands. Gerade für die Betrachtung der Höhlenbewohner und der doxa ist das erste Kapitel sehr hilfreich, da es sich mit konventionellen Ansichten über Gerechtigkeit beschäftigt.
4 Der Kephalosdialog
In diesem Kapitel betrachte ich den Kephalosdialog. Dies möchte ich mit einem Blickwinkel auf die doxa und auf andere Hinweise, die sich auf die Höhlenbewohner bieten, tun. Die Gerechtigkeit, dient hier als Gesprächsthema. Der Versuch der Definition der Gerechtigkeit soll hier nicht im Mittelpunkt stehen. Dabei kann sie natürlich auch nicht außenvor bleiben. Am Ende des Kapitels wage ich einen kurzen Blick in die Dialoge von Polemarchos und Thrasymachos und suche dort nach der doxa.
4.1 Anfang des Gesprächs
Kephalos, der Vater von Polemarchos ist ein alter frommer Mann, der die Zeit vor und nach seinem Gespräch mit Sokrates mit dem Opfer verbringt. Als Kaufmann ist er zwar ein 4 u.a. durch Aristoteles, Nietzsche und Popper
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Höhlenbewohner, doch gehört er zu denen, die zumindest versuchen, eine von der allgemeinen Meinung abweichende Position einzunehmen. Er begrüßt Sokrates freundlich und lädt ihn ein, ihn häufiger besuchen zu kommen. Wäre er körperlich dazu in der Lage würde auch er den Sokrates häufiger besuchen. „O Sokrates, du kommst auch gar nicht fleißig zu uns herunter in den Peiraieus. Du solltest aber doch. Denn wenn ich noch genug bei Kräften wäre, um leicht nach der Stadt zu gehen: so hättest du nicht nötig, hierher zu kommen, sondern wir kämen zu dir. Nun aber solltest du häufiger hierher kommen.“ (327c­e) Da Sokrates für einen Besuch durchaus noch in der Lage ist, soll er nun häufiger zu Kephalos zu Besuch kommen. In dieser Botschaft Kephalos' findet sich bereits eine sehr wichtige Aussage über die Meinung des alten Mannes. Es ist richtig und sogar notwendig, dass jeder tut, wozu er in der Lage ist. Bei näherer Betrachtung fällt hier bereits eine erste Definition von Gerechtigkeit auf: Kephalos hält es für gerecht, dass Sokrates häufiger als er die Anstrengung des Weges auf sich nimmt, um ein Treffen zu ermöglichen. Denn er selbst ist schon recht alt und für ihn wären die Anstrengungen wesentlich größer als für den noch jungen Sokrates. Für ein gutes Zusammenleben schließt Kephalos hier also gleich zu Beginn die Definition von „jedem gleich viel“ als gerecht aus. Die Fähigkeiten und Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft spielen eine bedeutende Rolle im Bezug auf die Gerechtigkeit. Wenn einer mehr zu leisten in der Lage ist, als ein anderer, dann ist es gerecht, wenn er auch mehr leistet. Kephalos zeigt hier bereits eine intuitive Ahnung von dem, was Sokrates später als die Definition der Gerechtigkeit anführen wird. Gleichzeitig widerspricht er in gewisser Hinsicht den Konsequenzen seiner eigenen Definition von Gerechtigkeit.
4.2 Glück durch die richtige Einstellung
Kephalos stellt seine Altersgenossen nicht sehr positiv dar. Sie jammern und hängen den „Vergnügungen der Jugend“ (329a) nach, halten also an körperlichen Freuden, wie Sexualität, Essen und Alkoholgenuss fest. Das Älterwerden ihres Körpers, stellt für sie eine Entwicklung dar, die sie um ihr Glück beraubt. Doch offensichtlich ist es nicht nur der ältere Körper, der Anlass zur Beschwerde gibt. Auch das Verhalten Anderer ihnen gegenüber scheint den Altersgenossen des Kephalos zunehmend Last zu bereiten. Es müsste ein großer Zufall sein, 8
dass sich derartig viele äußere Umstände gleichzeitig mit zunehmendem Alter verschlechtern. Dies ist vor allem auch deshalb interessant, da sich jüngere Zeitgenossen beispielsweise über keine Veränderung des Verhaltens ihrer Mitmenschen beklagen. Für Kephalos ist es kein Zufall. „Aber die Klagen hierüber (den Verlust der körperlichen Gelüste. Anm. d. Aut.) sowohl als über die Angehörigen haben einerlei Ursache; nicht das Alter, o Sokrates, sondern die Sinnesart der Menschen.“ (329d) Nicht die äußeren Umstände sind verantwortlich für ein gutes Leben, sondern die innere Einstellung. Diese ist eng mit der doxa verknüpft. Wenn sie besagt, dass das Altern beklagenswert ist, so werden die, die sich an ihr orientieren bald beginnen mitzuklagen. So könnte man die körperlichen Veränderungen auch anders betrachten: 'Anlass zum Jammern haben die jungen Männer. Denn diese sind von körperlichen Gelüsten abhängig, lassen sich davon beeinflussen. Mit zunehmendem Alter befreit sich der Mensch von diesen Fesseln und kann sich mehr und mehr dem Geist widmen.' Es sind also nicht objektiv schlechte Umstände, die Kephalos' Altersgenossen zur Beschwerde verleiten, sondern ihre eigene Auslegung. Diese wird von der doxa, der allgemeinen Meinung, die sich wechselseitig verstärkt, stark beeinflusst. Für Kephalos ist es die „Sinnesart der Menschen“ (329d), die für die Wahrnehmung des eigenen Lebens verantwortlich ist. Denn wer sein Lebensglück von den äußeren Umständen abhängig mache, wird auch als junger Mensch viele Erlebnisse als Unglück empfunden haben: „einem solchen wird Alter sowohl als Jugend schwer durchzumachen“ (329d) sein. Das Alter selbst könne nicht die Ursache sein, denn ihm, Kephalos, gehe es ja auch nicht schlecht. Mit diesem Gegenbeispiel falsifiziert Kephalos die Allaussage.5
Hier distanziert sich Kephalos von der allgemeinen Meinung, von der doxa. Sollte es eine funktionierende Demokratie geben können, so ist Kephalos ein Beispiel dafür, wie die Teilnehmer darin beschaffen sein müssten. Denn diese lassen sich nicht von der doxa verleiten und gehen, in Platons Sinne, dem nach, was sie am besten können.
4.3 Reichtum als Glückshelfer
Um die Diskussion anzuregen vertritt Sokrates argumentativ die Seite der kritisierten alten Menschen. Er schlüpft in die Rolle eines Höhlenbewohners, um die doxa weiter ins Rampenlicht zu rücken, und sie dann widerlegen zu können. Dies ist für unsere Untersuchung 5 Im Alter geht es einem schlecht: ∀ x [X ist alt ­­> X geht es schlecht]; Kephalos ist alt; Also müsste es ihm schlecht gehen. Es geht ihm aber nicht schlecht. Also muss die Annahme verworfen werden.
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besonders interessant. Denn wir haben die Gelegenheit, zu beobachten, wie sich Sokrates die Meinung der Höhlenbewohner vorstellt. „O Kephalos, ich glaube, die meisten, wenn du das sagst, werden es dir nicht gelten lassen, sondern meinen, du tragest das Alter so leicht nicht deiner Sinnesart wegen, sondern weil du ein großes Vermögen besitzt; denn die Reichen, sagen sie, hätten immer viele Erleichterungen.“ (329e) Er greift Kephalos Falsifikation auf und versucht ihn als Ausnahme aus der Gleichung herauszustreichen: Sein Reichtum lasse ihm das Alter weniger schwer erscheinen. Seine Sinnesart wäre auch eine andere, wenn er nicht durch Geld vielerlei Erleichterungen erhielte. Hier lässt sich beobachten, wie sich die doxa zu verteidigen weiß. Sie findet stets einen, meist auf Gefühlen basierenden Grund dafür, weshalb ihre Widerlegung inkorrekt war. In diesem Fall ist es der Neid, mit dessen Hilfe sich die doxa rechtferrtigt. Kephalos antwortet mit der Stadtparabel6 (329d­330a). Er gibt zu, dass die zwei Phänomene (Wohlbefinden und Reichtum) miteinander zusammenhängen. Doch letztlich bewirken sie einander nicht. So wie ein Mensch aus einer berühmten Stadt es sicher leichter hat berühmt zu werden, hat es auch ein reicher Mensch leichter, in einer guten Gesinnung zu sein. Doch nicht jeder Mensch aus einer berühmten Stadt wird berühmt. Dafür muss er von sich selbst etwas Besonderes mitbringen. Ebenso verhält es sich für Kephalos auch mit dem Reichtum. Dieser macht nicht automatisch glücklich. Auch ein reicher Mensch braucht die richtige Einstellung, um glücklich zu werden. Reiche Menschen verlieren ebenso wie Arme Menschen ihre körperlichen Fähigkeiten und haben somit den gleichen Anlass zur Beschwerde über das Alter, wenn sie nicht die richtige Einstellung haben. Umstände: jung Umstände: alt
Umstände: arm
Umstände: reich
richtige Einstellung
gutes einfach
Leben gutes Leben gutes Leben gutes erschwert
erschwert
einfach
Leben falsche Einstellung
gutes Leben schlechtes Leben schlechtes Leben gutes Leben erschwert
erschwert
6 Eine große Stadt bringt große Männer hervor. Aber große Männer können auch aus kleineren Städten kommen und nicht jeder Mann aus einer großen Stadt ist selber groß. Außerdem wird eine Stadt erst durch die Größe ihrer Männer groß.
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(eigene Tabelle)
In der Tabelle wird deutlich, dass die äußeren Umstände ein gutes Leben erleichtern oder erschweren können. Es ist jedoch die Einstellung, die maßgeblich bestimmend ist. Mit der richtigen Einstellung können auch schlechte Umstände zu einem guten Leben verwandelt werden. Mit der falschen Einstellung ist selbst bei guten äußerlichen Bedingungen ein gutes Leben nicht garantiert. Die Macht, die hier von der doxa ausgeht, ist deutlich zu erkennen. Schließlich hängt das Lebensglück vieler Menschen von den Einstellungen und damit von der doxa ab. Bei der Frage nach seinem Reichtum nimmt Kephalos den Mittelweg ein. Er lebt im Mittelmaß aus Geiz und Verschwendung. Sein Reichtum ist ihm nicht das Wichtigste, er hat ihn nicht über das Maß vergrößert, aber er hat ihn auch nicht verkleinert. Zwischen seinem Großvater, der große Gewinne gemacht hat und seinem Vater, der große Verluste gemacht hat findet Kephalos eine Balance. Kephalos pflegt das maßvolle Verhalten und ist auch damit ein Positivbeispiel (330c) für einen Höhlenbewohner. Der Größte Vorteil des Reichtums ist für Kephalos die bessere Möglichkeit, zur Gerechtigkeit beizutragen. Kurz vor dem Tod belasten einen Menschen Gedanken, die ihn zuvor nicht so sehr berührten. So auch die Frage, ob man ein gerechtes Leben geführt und somit die Götter nicht verärgert hat. Die Ahnung, dass begangenes Unrecht im Jenseits bestraft werden könnte führt dazu, dass man es noch korrigieren möchte. Und gerade hierfür hilft, laut Kephalos, der Reichtum. Wenn man begangenes Unrecht wieder gut machen könne, verlebe man sein Alter in guter Erwartung auf den Tod. Diese ruhige Erwartung wirke wie eine „Alterspflegerin Hoffnung“ (331a). Auch hier verhilft der Reichtum nicht automatisch zu guter Hoffnung im Alter. Er hilft nur dem Wohlgesinnten zur Gerechtigkeit. Dem Reichen fällt es leichter, Schulden zu begleichen. Der Wohlgesinnte strebt danach, Empfangenes wiederzugeben. Somit verhilft, nach Kephalos, der Reichtum dem Wohlgesinnten zur Gerechtigkeit. 4.4 Entkräftung von Kephalos' Gerechtigkeitsdefinition
Die Tragweite dieser Feststellung erfordert eine nähere Betrachtung und soll hier den Lebenseinstellungen der Altersgenossen des Kephalos gegenübergestellt werden. Im Jenseits widerfährt, laut Kephalos, demjenigen Gutes, der zu Lebzeiten gerecht war. Deshalb strebt jeder spätestens gegen Ende seiner Lebenszeit danach Ungerechtigkeiten aus vergangener Zeit 11
auszuräumen. Nehmen wir an, Kephalos hätte mit dieser Annahme Recht, und wirklich alle Menschen strebten nach Gerechtigkeit mindestens um der Götter Wohlgesonnenheit wegen. Die Menschen, die es augenscheinlich gibt, welche auch im Alter nicht nach Gerechtigkeit streben, wissen in unserer Annahme nur nichts davon, dass sie ein ein besseres, beruhigteres Leben führten, wenn sie gerecht wären. Schenken wir also Kephalos dieses Argument und gehen davon aus, dass jeder sich im Alter wohler fühlte, wenn er auf ein gerechtes Leben zurück blicken könnte. Dennoch ist die Verknüpfung von Reichtum und Gerechtigkeit ins Besondere aus moderner Perspektive nicht eindeutig nachvollziehbar. Empfangenes zurück geben ist in Kephalos' Sinne gerecht. Von diesem Gedanken ausgehend, und so sagt es ja auch Kephalos, fällt dem Wohlhabenden Gerechtigkeit leichter als dem Armen. Gerechtigkeit als Tugend betrachtet, die derart wichtig ist, dass sie sogar über die Zeit im Jenseits entscheidend ist, müsste allerdings jedem gleich schwer fallen. Denn sonst würde sich diese Tugend wohl kaum als Entscheidungsmerkmal für die Behandlung im Jenseits eignen. Wem Gerechtigkeit leichter fällt, der müsste eigentlich viel gerechter sein, als der dem Gerechtigkeit weniger leicht fällt. So würde beispielsweise die Bibel auf Kephalos damit antworten, dass die Größe der Gabe in Abhängigkeit zur Größe des Vermögens steht.7 Man braucht jedoch gar nicht auf die Bibel zurückzugreifen, um dieses Argument zu unterfüttern. Kephalos selbst hat ja zu Anfang gesagt, dass ihn Sokrates häufiger besuchen kommen müsse, da er selbst nicht mehr so viele Kräfte dazu habe. Hier vertritt er also selbst die These, dass wer mehr hat auch mehr geben müsse. Auch in der griechischen Mythologie findet sich eine Geschichte, die dieses Gerechtigkeitsmodell vertritt: So soll Apollo an den Gerstenkornschrotkörnern eines armen Bauern mehr Freude gehabt haben, als an riesigen Opfern, die Tyrannen nach ihrem Sieg über die Karthager ihm brachten. Gerade bei der Frage, wie die Götter einen Menschen nach seinem Tode beurteilen, spielt dieser Mythos eine große Rolle. Denn warum sollten sie eher jemanden belohnen, dem Gerechtigkeit leicht fiel? Lassen wir auch diese Frage außenvor, hat sich immer noch nicht erklärt, warum es einem Wohlhabenden leichter fällt, als einem Armen, Empfangenes zurück zu geben. Mit „Empfangenem“ meint Kephalos unverdient erhaltene Wohltaten und Ähnliches. Also 7 Vgl. Markus 12,41­44: „ Als Jesus eimal dem Opferkasten gegenüber saß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.“
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Wohltaten, die noch nicht vergütet wurden. Selbst erarbeiteten Reichtum8 kann er nicht meinen, denn er ist ja die Vergütung9 bereits vollbrachter Arbeit und daher die Erfüllung der Gerechtigkeit. So muss es Kephalos um den Ausgleich der unverdient erhaltenen Güter gehen, welche unabhängig vom Reichtum stehen. Unverdiente Wohltaten kann man beliebig viele erhalten, sie haben auch keine zwangsläufigen Auswirkungen auf den Reichtum des Empfängers. Die Prämisse, die Kephalos' Argument voraussetzt ist, dass jeder gleich viele Wohltaten verdient, dass also die Unterstützung eines armen Menschen ebenso unverdient ist, wie wenn es ein reicher Mensch wäre. Unter dieser Voraussetzung fällt es tatsächlich dem wohlhabenden Menschen leichter, unverdient Empfangenes zurück zu erstatten, denn er hat ja die finanziellen Mittel dazu, und kommt ohnehin nicht so häufig in die Situation etwas unverdient zu empfangen. Bereits vor Sokrates' Einwand ist Kephalos' Argumentation schon sehr wackelig. Implizit gibt Kephalos mit seiner These an, dass jeder für seine soziale Situation selbst verantwortlich ist. Denn wenn jeder gleich viele Wohltaten verdient, ist das, was dem Armen gegenüber dem Reichen fehlt nicht Sache des Gerechten, und daher selbstverantwortet. An dieser Stelle stellt sich mir die Frage, wie die anderen Höhlenbewohner und also die doxa zu dieser Aussage stehen. Kephalos' Altersgenossen würden sich sicherlich nicht gerne anhören, dass es ihre Einstellung ist, die ihnen ihr Unheil bringt. Schließlich würde das bedeuten, dass sie ihr Leben falsch geführt hätten. Sie würden zwar Kephalos' Argument von daher akzeptieren, da es ja aufzeigt, welchen Vorteil Kephalos ihnen gegenüber von vorne herein hatte. Andererseits würden sie sich darüber beklagen, dass ihnen die volle Verantwortung für ihre soziale Situation gegeben würde. Ob berechtigt, oder nicht, sie würden wohl die äußeren Umstände wenigstens teilweise dafür verantwortlich machen. Die Klügeren unter ihnen würden eventuell darauf hinweisen, dass es sehr ungerecht wäre, wenn es den Wohlhabenden leichter fiele gerecht zu sein als den Armen. Und dass Ungerechtigkeit nicht Sache des Gerechten sein kann wird Sokrates uns später noch beweisen. Zunächst entkräftet er Kephalos' Definition der Gerechtigkeit, sie sei Empfangenes wiedergeben und Wahrheit, indem er aufweist, wie unrecht es wäre, einem Freund seine Waffen auszuhändigen, wenn dieser offensichtlich wahnsinnig geworden sei.
8 Hierzu gehört natürlich auch der Reichtum, den meine Vorfahren erarbeitet haben und mir vererbten.
9 also die Rückgabe von damit verdient Empfangenem.
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4.5 Polemarchos: Jedem das Gebührliche Polemarchos greift nun das Argument seines Vaters auf und baut es mit Hilfe einer These des Simonides weiter aus, damit es gegen Sokrates' Einwand stabil ist. Kephalos verabschiedet sich und geht zum Opfer, während Polemarchos das Erbe seines Vaters antritt und das Gespräch weiterführt. Gerecht sei, „einem jeden das Schuldige zu leisten“ (331e). Freunden sei man schuldig, Gutes zu tun. Im Falle des wahnsinnig gewordenen Freundes wäre es gut, die Ausgabe der Waffen zu verweigern. Man schulde es dem Freund, ihn keinem Unheil auszusetzen. Somit wäre es also durchaus Sache des Gerechten, in diesem Beispiel die Waffen nicht zurück zu geben. Feinden schuldet man im Umkehrschluss also Böses und genau so vertritt es Polemarchos. Dies bietet für unsere Untersuchung interessante Hinweise auf das Menschenbild des Polemarchos, der als Sohn eines Höhlenbewohners selbst ebenfalls ein Höhlenbewohner ist. Für diesen Höhlenbewohner ist es legitim, einander gegenseitig Schaden zuzufügen. Indem er akzeptiert, dass er seinen Feinden Böses tun darf, akzeptiert er auch, dass ein Anderer seinen Freunden, deren Feind der Andere ist, Schaden zufügt. Diesem gegenüber muss er daher nicht unbedingt kritisch eingestellt sein, da es innerhalb seiner Gerechtigkeitsdefinition legitim ist, den Feinden zu schaden. Ist es nun Wissen, oder Meinung, dass es legitim ist, einem anderen Menschen zu schaden? Bevor man sich eine solche Einstellung als Entscheidungsgrundlage heranzieht, sollte man sie sorgfältig darauf überprüfen, ob sie zur doxa gehört. Hier fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, welche Fehler entstünden, wenn an dieser Stelle statt Wissen die doxa als Entscheidungsgrundlage dienen würde. Polemarchos' Einstellung kann dennoch nicht einfach entkräftet werden. Es scheint etwas Natürliches zu sein, dass man den Feinden schaden möchte. Toleranz führt dann dazu, auch bei anderen zu akzeptieren, dass sie ihren Feinden schaden möchten. Gerade weil sie, obwohl sie argumentativ leicht zu entkräften ist, so gut nachvollziehbar ist, ist diese Einstellung ein gutes Beispiel für die doxa, denn diese weiß sich mit unter anderem emotionalen Mitteln gut zu verteidigen.
Sokrates schafft es Polemarchos in verschiedene Richtungen zu verwirren. Zunächst stellt er die Gerechtigkeit als eine Spezialtugend dar und sucht die ihr eigentümliche Kunst. Die Kriegskunst muss als eigentümliche Kunst der Gerechtigkeit herhalten. Doch auch in Friedenszeiten ist die Gerechtigkeit von Nutzen: bei Verhandlungen. Doch alle anderen Spezialtugenden scheinen gegenüber der Gerechtigkeit in Bezug auf die eigene Tugend im 14
Vorteil zu sein. In Geldangelegenheiten, und wenn es darum geht, etwas zu verwahren scheint die Gerechtigkeit allen anderen Tugenden im Vorteil zu sein. Dinge, die verwahrt werden müssen werden gerade nicht gebraucht, sind also für den Moment „unnütz“ (333d). „Keineswegs also, Freund, wäre wohl die Gerechtigkeit etwas sehr Wichtiges, wenn sie nur in bezug auf das Unnütze nützlich ist.“ (333d) Sokrates leitet her, dass man in Fachkenntnissen auch am besten zum Entgegengesetzten befähigt ist, woraus er wiederum folgert, dass Gerechtigkeit dazu befähigt, Geld zu unterschlagen. Gerechtigkeit in Polemarchos' Sinne sei nichts anderes als „Überlistung“ (334b). Polemarchos gibt zu verwirrt zu sein, hält aber weiterhin daran fest, dass Gerechtigkeit den Freunden gut tut und den Feinden schadet. Nun geht Sokrates der Definition der Wörter Freund und Feind auf den Grund. So gebe es solche, die man für Freunde hält, die jedoch keine sind. Und es gibt solche, die man nicht als Freund erkennt und ihnen als vermeintliche Feinde böses tut.
Polemarchos korrigiert sich erneut und findet nun, „daß gerecht sei, dem Freunde, weil er gut ist, wohltun und dem Feinde, weil er böse ist, schaden“ (335a). Sokrates weist hier auf ein weiteres Problem innerhalb des Umgangs der Menschen untereinander hin. Denn Unsicherheit in Bezug auf die Wahrheit spielt nicht nur bei politischen Entscheidungen, sondern auch im privatem Umgang mit Menschen eine Rolle. So lange man sich seines Urteils über die anderen Menschen nicht sicher sein kann, kann man auch nicht wissen, wie mit ihnen umzugehen ist. Wenn ich von einem Menschen die Meinung habe, er sei mein Freund, so kann es passieren, dass ich einen wahren Feind wie einen Freund behandle. So führen falsche Annahmen, die verfrüht für Wissen gehalten werden zu unangemessenem und bisweilen schädlichen Verhalten. Polemarchos' Argument hatte von dem Moment an gegenüber Sokrates keine Chance mehr, wo es besagte, dass es gerecht sei, Feinden zu schaden. Denn eine Kunst kann nicht sich selbst schaden. So wie einer, der die Reitkunst beherrscht nicht mit dieser Fähigkeit dazu beitragen kann, dass ein anderer diese verlernt, kann auch ein gerechter Mensch einen anderen Menschen nicht durch seine Gerechtigkeit ungerechter machen. Jemandem Schaden zuzufügen führe jedoch dazu, dass der Mensch schlechter, also ungerechter würde. „Also ist es nicht die Sache des Gerechten zu schaden, o Polemarchos, nicht nur seinem Freunde nicht, sondern auch sonst keinem, sondern seines Gegenteils, des Ungerechten.“ (335d) 15
4.6 Thrasymachos: Paraderolle der 'doxa'
Nun bringt Thrasymachos seine Definition dar: Das Gerechte ist „das dem Stärkeren Zuträgliche“ (S. 224). Durch Gesetzte werde Gerechtigkeit bestimmt und die Gesetze gewährleisteten immer den Vorteil der Regierung: in der Tyrannei dem Tyrannen und in der Demokratie den Demokraten. „Diese aber hat die Gewalt, so daß also, wenn einer alles richtig zusammennimmt, herauskommt, daß überall dasselbe gerecht ist, nämlich das dem Stärkeren zuträgliche.“ (339a) Im Laufe des Gesprächs stellt sich mehr und mehr heraus, dass Thrasymachos gar nicht nach dem Gerechten strebt, sondern geleitet ist von der Angst, zu kurz zu kommen. Wenn er der Stärkere wäre, so würde er sich seinen Vorteil selbst nehmen und bräuchte die Gerechtigkeit gar nicht mehr.
Thrasymachos ist der Inbegriff eines Vertreters der doxa. Das zeigt sich sowohl an seinen Argumenten, als auch an seinem Verhalten den Gesprächspartnern gegenüber. Er möchte sie unterbrechen, und greift sie an (336b). Sokrates macht er den Vorwurf, allen andern die Sprache im Munde zu verdrehen und selbst keine Antwort zu geben, sich nur stets herauszureden. Er unterstellt ihm sogar Boshaftigkeit (338d) und Theaterspielchen. Er lässt sich nicht belehren und bezeichnet das, was sich nicht in sein Weltbild, in seine Meinung, in seine doxa einordnen lässt als Trickserei. Spöttisch gibt er an, sich nicht von Sokrates verblenden zu lassen und letztlich ist zwar auch seine These widerlegt, doch er selbst erkennt dies nicht an. 4 Konklusion
In Platons Philosophie ist der Unterschied zwischen doxa und epistéme von zentraler Bedeutung. Die Kritik der doxa führt dazu, dass Platon zu vielen Einstellungen Abstand gewann. So distanzierte er sich über diesen Gedanken von den Sophisten, deren verallgemeinertes Ziel es war, unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, zu überzeugen. Dabei ging es also genau darum, die doxa möglichst gut zu vertreten. Platon suchte aber nach der Wahrheit. Denn nur wer die Wahrheit kennt, kann regieren. Und wenn das Volk sich in seiner Wahl von der doxa beeinflussen lässt, dann regiert am Ende derjenige, 16
der den Umgang mit der doxa am besten Beherrscht. Nicht aber der, der wirklich weiß, wo es hingehen soll. Daher hängt die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der doxa auch eng mit Platons Demokratiekritik zusammen. Kephalos ist, wie die meisten Menschen, ein Höhlenbewohner. Seine Bestrebungen, sich möglichst nicht von der gängigen Meinung anstecken zu lassen machen ihn nicht automatisch zu einem Philosophen. Kephalos versucht sich eine unabhängige Meinung zu erhalten und ist sich dabei durchaus bewusst, dass er vieles auch nicht wissen kann. Er rechnet auch damit, Fehler aufgezeigt zu bekommen. Er verfügt über intuitive Ahnungen zu vielen Themen und interessiert für sie. Darüber hinaus betreibt er sein Leben ganz im Platonischen Sinne. Er geht seinen Geschäften nach, soweit ihm das noch möglich ist und erfüllt ansonsten seine Position innerhalb seiner Familie mit Würde und Verantwortung. Wenn es in Platons Sinne überhaupt möglich wäre, eine Demokratie gut zu führen, dann müssten die Höhlenbewohner wohl ähnlich wie Kephalos beschaffen sein. Denn Er hat eingesehen, dass er sich mit manchen Dingen besser auskennt und mit manchen weniger gut. Und er ist bereit, letztere Dinge denen zu überlassen, die es besser können. Doch er schaltet sich nicht gänzlich aus. Er wird weiterhin versuchen, die Geschehnisse zu verfolgen, zu verstehen und zu beurteilen. Er wäre vielleicht ausreichend weise und unabhängig von der doxa, um die auszusuchen, von denen er der Meinung ist, dass sie ihn am besten führen könnten. 17
5 Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Platon: Sämtliche Werke Band 2, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1994
Platon: Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, Band IV, Eigler, Gunther (Hrsg.), Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1990
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel, Herausgegeben im Auftrag der Bischöfe Deutschlande, Österreichs, der Schweiz, Luxemburg, Lüttich und Bozen­Bozen, Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 1980 Sekundärliteratur
Annas, Julia: Platon, in: Fetscher, Iring (Hg.), Münkler, Herfried (Hg.): Pipers Handbuch der Politischen Ideen, Band 1, R. Piper GmbH &Co KG, München 1988
Demandt, Alexander: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike. 3. Auflage, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2000
Höffe, Otfried: Einführung in Platons Politeia, in: Klassiker Auslegen Band 7 Platon – Politeia, Höffe, Otfried (Hrsg.), Akademie Verlag, Berlin 1997
Skirbekk, Gunnar und Gilje, Nils: Eine Einführung in die europäische Philosophiegeschichte, Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1993
Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Band 1, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981
Internetquelle:
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Politeia&oldid=44443754
Zugriff am 12.04.2008:
„Die Politeia besteht aus zwei Teilen. Im ersten Buch, das möglicherweise ursprünglich als eigenständiger Dialog konzipiert war ... In den Büchern zwei bis zehn läßt Platon Sokrates eine positive Bestimmung der Gerechtigkeit entwickeln.“ 18
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