Dokummentation Sexuelle Orientierung

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FACHTAGUNG
Donnerstag, 11. Mai 2006
10 bis 17 Uhr
Haus der Jugend
Deutschherrnufer 12
60594 Frankfurt
EINE VERANSTALTUNG
DES JUGEND- UND SOZIALAMTES FRANKFURT/M
IMPRESSUM
Herausgeber
Stadt Frankfurt am Main
Jugend- und Sozialamt, Fachreferat Grundsatz
51. F13 Präventive Jugendhilfe für Kinder,
Jugendliche und Familien
Redaktion
Günter Bauer, Jugend- und Sozialamt
Margot Kaiser, Jugend- und Sozialamt
Nachbestellungen
Jugend- und Sozialamt, 51. F13
Eschersheimer Landstr. 241-249. 60320 Frankfurt
M. Kaiser, Tel.: 069/212-36623
E-mail: [email protected]
Für die Beiträge sind die AutorInnen verantwortlich.
Alle Rechte liegen bei den jeweiligen AutorInnen.
August 2006
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT.................................................................................Seite 2
TAGUNGSPROGRAMM............................................................Seite 5
1.
VORTRÄGE
1.1. Prof. Dr. Ulrike Schmauch, FH Frankfurt/M
Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema –
Homosexualität in der Arbeit mit Jugendlichen............................................Seite 7
1.2. Dr. Ben Khumalo-Seegelken, Proviak Berlin e.V.
Erlebniswelten und Konflikterfahrungen jugendlicher
homosexueller Migranten und Migrantinnen.
Hintergründe und Denkanstöße...................................................................Seite 16
2.
ARBEITSGRUPPEN
2.1. „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“
Gender und sexuelle Identität als Themen
in der Arbeit mit Jugendlichen
Stephanie Nordt und Thomas Kugler,
Diplom-SozialpädagogInnen und BildungsreferentInnen,
KomBi – Kommunikation und Bildung, Berlin .............................................Seite 35
2.2. Pädagogische Arbeit zum Thema mit dem Medium Film
Prof. Dr. Ulrike Schmauch, Fachhochschule Frankfurt ...............................Seite 40
2.3. Vom Hinhören und Hinsehen –
Zwischentöne und Facetten sexueller Identitäten
Bettina Hendler, Pro Familia Bildungswerk Hessen und
Werner Szeimis, Pro Familia-Beratungsstelle Frankfurt City ……………… Seite 43
2.4. „…sagte das Wort aber nicht!“
Homosexualität als Thema sozial-pädagogischen
Umgangs mit jugendlichen Migrantinnen und Migranten
Zeycan Yesilkaya und Dr. Ben Khumalo-Seegelken,
Proviak Berlin e.V. – Pro Vielfalt und Akzeptanz in Berlin ..................................Seite
1
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Vorwort
VORWORT
„Sexuelle Orientierungen –
Ein relevantes Thema in der Arbeit mit Jugendlichen“
So lautete der Titel der Veranstaltung, die am 11.05.2006 vom Jugend- und
Sozialamt Frankfurt am Main durchgeführt wurde.
Angelehnt war dieser Titel an die Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Landesjugendämter vom Mai 2003, in der es unter anderem heißt:
㤠1 (3) SGB VIII verpflichtet die Jugendhilfe, junge Menschen in ihrer individuellen
und sozialen Entwicklung zu fördern und einen Beitrag zu leisten, Benachteiligungen
zu vermeiden oder abzubauen. … Ca. 1 % der Kinder wächst in Familien mit einem
lesbischen bzw. schwulen Elternteil auf. … Ca. 5 % der Kinder werden später eine
lesbische, schwule oder bisexuelle Orientierung entwickeln. Das Coming Out, der
Prozess des Sich-Bewusstwerdens der eigenen Homosexualität, ist für lesbische,
schwule und bisexuelle Jugendliche nach wie vor häufig mit dramatischen
Umständen verbunden, vor allem im familiären Umfeld.“
Die Beschäftigung mit dem Thema in der Kinder- und Jugendhilfe ist also angesagt;
die Tagung sollte Hilfestellung dazu geben. An ihrem Zustandekommen waren viele
direkt und indirekt beteiligt. Einen wesentlichen Anstoß gab der „Runde Tisch zur
Situation von Lesben und Schwulen in Frankfurt“.
Der Runde Tisch wurde 2002 auf einen Beschluss der
Stadtverordnetenversammlung hin eingerichtet und hatte das Ziel, Diskriminierung
von lesbischen Frauen und schwulen Männern abzubauen. Es wurden verschiedene
Untergruppen gebildet, so auch die „Fachgruppe Jugend“. Sie wurde von Elke Kress
(Lesben Informations- und Beratungsstelle) und von Jürgen Esch (Rosa Hilfe)
geleitet. Die Gruppe setzte sich aus Stadtverordneten und VertreterInnen des
Frauenreferates, des Stadtschulamtes und des Jugend- und Sozialamtes zusammen,
außerdem arbeiteten Frau Prof. Dr. Schmauch von der Fachhochschule Frankfurt,
ein Vertreter des Jungenarbeitskreises und VertreterInnen der SchwuLesBischen
Jugendclique Ourgeneration mit.
Die Fachgruppe Jugend entwickelte in zwölf Treffen eine Reihe von Vorschlägen
dazu, wie in Schule und Jugendhilfe das Thema stärker in die Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen integriert werden könnte. Diese Empfehlungen wurden als Teil des
gesamten Berichtes des Runden Tisches im Dezember 2004 von der
Stadtverordnetenversammlung beschlossen.
Im Rahmen der Umsetzung der Empfehlungen wurde die Tagung geplant. In einer
kleinen Gruppe, in der wiederum ein Teil der Fachgruppe Jugend, aber auch
TrägervertreterInnen und MitarbeiterInnen von Einrichtungen der Kinder- und
Jugendarbeit mitarbeiteten, wurde das Konzept entwickelt. Hilfreich waren dabei
auch die Beiträge aus Kinder- und Jugendeinrichtungen, die mit einem Fragebogen
zum bisherigen Umgang mit dem Thema Homosexualität und zu möglichen
Wünschen nach Unterstützung ermittelt worden waren.
2
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Vorwort
Leitende Fragestellungen für die Tagung waren:
Wie können wir Mädchen und Jungen beim Entwickeln einer ihnen entsprechenden
sexuellen Identität unterstützen? Was wissen wir über Homosexualität in anderen
Kulturen? Welche Möglichkeiten und guten Beispiele gibt es, das Thema sexuelle
Orientierung in der Praxis lebendig werden zu lassen und langfristig in den
Tätigkeitsfeldern der Jugendhilfe zu verankern?
Dabei sollte die Arbeit mit allen, nicht nur mit homosexuellen, Jugendlichen im Blick
sein. Zum einen sind sich nicht alle Jugendlichen ihrer sexuellen Identität sicher manche wechseln auch die Orientierungen. Zum anderen sind Jugendliche häufig
die ersten AnsprechpartnerInnen, wenn andere über ihre Vermutung, anders als
heterosexuell orientiert zu sein, reden wollen.
Die Ankündigung der Tagung stieß auf große Resonanz. Unter den circa 60
TeilnehmerInnen waren knapp die Hälfte MitarbeiterInnen in Kinder- und
Jugendeinrichtungen. Von der anderen Hälfte waren zwei Drittel aus
Sozialrathäusern, Ambulanten Hilfen und aus Beratungsstellen, und ein Drittel aus
einzelnen Jugendhilfebereichen, von Ämtern oder Trägern. 2/3 der TeilnehmerInnen
waren Frauen, 1/3 Männer.
Der Tag war voller Informationen und Anregungen.
Frau Prof. Dr. Schmauch von der Fachhochschule Frankfurt, die schon bei den
Vorarbeiten zur Tagung beteiligt war, führte vormittags in das Thema ein. Danach
hörten wir Herrn Dr. Khumalo-Seegelken aus Berlin, der eingeladen war für die
besonderen Aspekte, die das Thema Sexuelle Orientierungen für Jugendliche mit
Migrationshintergrund hat.
Nachmittags gab es die 4 angekündigten Arbeitsgruppen.
o Für die AG 1 konnten wir Frau Nordt und Herrn Kugler von „KomBi –
Kommunikation und Bildung“ aus Berlin gewinnen, die viel Erfahrung
mitbrachten auch in der Berücksichtigung der selbstreflexiven
Auseinandersetzung von PädagogInnen mit dem Thema.
o In der AG 2 von Frau Prof. Dr. Schmauch ging es darum, wie das Medium
Film in der Arbeit mit Jugendlichen genutzt werden kann für die
Auseinandersetzung mit dem Thema.
o Die 3. AG wurde von Frau Hendler und Herr Szeimis von Profamilia geleitet,
die bei einigen TeilnehmerInnen schon bekannt waren, weil sie in Frankfurt
wichtige KooperationspartnerInnen für die Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen sind.
o In der 4. AG vertiefte Herr Dr. Khumalo-Seegelken mit seiner Kollegin, Frau
Zeycan Yesilkaya, Aspekte seines Vortrages und bezog sie auf die
pädagogische Praxis der Arbeit mit Mädchen und Jungen/jungen Frauen,
jungen Männern.
Einen herzlichen Dank an die ReferentInnen aus Berlin und Frankfurt und ebenso an
Elke Kress vom LIBS und Sven Hinze, Georg Hoppe und Serdar Kavi von
ourgeneration, von denen die Bücher- und Materialtische betreut wurden. Bedanken
möchten wir uns auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Haus der Jugend,
die uns tatkräftig unterstützt haben. Nicht zuletzt ein Dank an die Teilnehmerinnen
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Vorwort
und Teilnehmer, die entscheidend waren für den guten Ablauf und die gute
Arbeitsatmosphäre.
Wir freuen uns, nun relativ zeitnah die Dokumentation von „Sexuelle Orientierungen Ein relevantes Thema in der Arbeit mit Jugendlichen“ vorlegen zu können. Sie soll
zum einen dazu beitragen, die inhaltlichen Aspekte besser erinnern und während der
Tagung angefangene Diskussionen fortsetzen zu können. Zum anderen soll sie all
denjenigen, die nicht teilnehmen konnten, einen kleinen Einblick geben in die
Vielschichtigkeit der Thematik.
Die Beschäftigung mit dem Thema wird weitergehen. Die Tagungsteilnehmerinnen
und Teilnehmer beurteilten in den Rückmeldungsbögen die hier dokumentierte
Veranstaltung als guten Einstieg. Viele wünschten sich aber auch eine Fortsetzung
und Intensivierung vor allem der Diskussion darüber, wie Sensibilisierung und
Wissen bezüglich der Vielfalt von sexuellen Orientierungen und Lebensformen in der
alltäglichen Arbeit mit Jugendlichen umgesetzt werden kann.
Dieses Interesse soll aufgegriffen werden. Ein erstes Treffen der Gruppe, die schon
die Tagung vorbereitet hat, fand bereits statt.
Günter Bauer und Margot Kaiser
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Programm
PROGRAMM
10.00 Uhr: Begrüßung
10.15 Uhr: Vortrag
Prof. Dr. Ulrike Schmauch, FH Frankfurt
Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema – Homosexualität in der
Arbeit mit Jugendlichen
10.45 Uhr: Vortrag
Dr. Ben Khumalo-Seegelken, Proviak Berlin e.V.
Erlebniswelten und Konflikterfahrungen jugendlicher homosexueller Migranten
und Migrantinnen. Hintergründe und Denkanstöße
12.00 Uhr: Pause
Mittagessen, Bücher- + Materialtisch
13.30 Uhr: Parallele Arbeitsgruppen
1. „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ Gender und sexuelle Identität als
Themen in der Arbeit mit Jugendlichen
Stephanie Nordt und Thomas Kugler
Diplom-SozialpädagogInnen und BildungsreferentInnen
KomBi – Kommunikation und Bildung, Berlin
2. Pädagogische Arbeit zum Thema mit dem Medium Film
Prof. Dr. Ulrike Schmauch
Fachhochschule Frankfurt
3. Vom Hinhören und Hinsehen – Zwischentöne und Facetten sexueller
Identitäten
Bettina Hendler, Pro Familia Bildungswerk Hessen und
Werner Szeimis, Pro Familia-Beratungsstelle Frankfurt City
4. „…sagte das Wort aber nicht!“ Homosexualität als Thema sozialpädagogischen Umgangs mit jugendlichen Migrantinnen und Migranten
Zeycan Yesilkaya und Dr. Ben Khumalo-Seegelken
Proviak Berlin e.V. – Pro Vielfalt und Akzeptanz in Berlin
17.00 Uhr: Ende
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Programm
ARBEITSGRUPPEN
1. „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“
Gender und sexuelle Identität als Themen in der Arbeit mit Jugendlichen
Die Diskussionen um Gender und die zunehmende Öffentlichkeit
gleichgeschlechtlicher Lebensweisen erfordern einen professionellen Umgang
pädagogischer Fachkräfte mit den Themen Gender und sexuelle Identität. Mädchen
und Jungen brauchen Begleitung bei ihrer Identitätsentwicklung. Junge Lesben und
Schwule benötigen Informationen und Unterstützung im Coming-out. Diese
Arbeitsgruppe richtet sich an pädagogische Fachkräfte, die sich einen konstruktiven
Umgang mit vielfältigen Lebensweisen und Lebensentwürfen erarbeiten wollen. Die
TeilnehmerInnen erhalten Fachwissen über die komplexen Zusammenhänge von
Gender und Identität und setzen sich selbst-reflexiv mit den Themen Vielfalt und
Diskriminierung auseinander. Sie erweitern ihre fachliche und persönliche
Kompetenz im Umgang mit Geschlechtervielfalt und vielfältigen Lebensweisen.
Leitung:
Stephanie Nordt und Thomas Kugler
Diplom-SozialpädagogInnen und BildungsreferentInnen
KomBi – Kommunikation und Bildung, Berlin
2. Pädagogische Arbeit zum Thema mit dem Medium Film
An Ausschnitten aus Unterhaltungs- und Dokumentarfilmen zu lesbisch-schwulen
Themen soll gezeigt und diskutiert werden, wie das Medium Film in der Arbeit mit
Jugendlichen zur Auseinandersetzung mit sexueller Orientierung genutzt werden
kann.
Leitung:
Prof. Dr. Ulrike Schmauch
Fachhochschule Frankfurt
3. Vom Hinhören und Hinsehen - Zwischentöne und Facetten sexueller
Identitäten
Die Vielfältigkeit sexueller Identitäten und Lebens-weisen selbstverständlich in die
tägliche pädago-gische Arbeit zu integrieren, stellt nicht grundlos für die meisten eine
Herausforderung dar. Um alle Jugendlichen achtsam zu begleiten und zu unterstützen, gilt es oft, genauer hinzusehen und hinzu-hören. Dieser Workshop soll
Anregungen und Hilfe-stellungen für das tägliche Handeln vorstellen. Da-bei wird es
zum einen um die eigene Haltung zum Thema gehen und auch um persönliche
Grenzen. Zum anderen werden wir Methoden und Materialien vorstellen, die sich
eignen, gleichgeschlechtliche und andere Lebensweisen angemessen zusammen
mit Jugendlichen zu thematisieren.
Leitung:
Bettina Hendler, Pro Familia Bildungswerk Hessen und
Werner Szeimis, Pro Familia-Beratungsstelle Frankfurt City
4. „…sagte das Wort aber nicht!“ Homosexualität als Thema sozialpädagogischen Umgangs mit jugendlichen Migrantinnen und Migranten
Was kann und muss ich dazulernen, um im Beruf unbefangener mit Fragen zur
Homosexualität und mit Erfahrungen von Jugendlichen als lesbische Migrantinnen
oder schwule Migranten umgehen zu können? Durch Rollenspiel und den Austausch
über „Fallbeispiele“ entwickeln wir ein Gespür für die angemessene Einstellung im
beruflichen Alltag.
Leitung:
Zeycan Yesilkaya und Dr. Ben Khumalo-Seegelken
Proviak Berlin e.V. – Pro Vielfalt und Akzeptanz in Berlin
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
1.1. Prof. Dr. Ulrike Schmauch
Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes ThemaHomosexualität in der Arbeit mit Jugendlichen
Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie als Fachkräfte aus den
verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe ganz herzlich auf dieser Fachtagung und
bedanke mich ebenso herzlich bei den Verantwortlichen, Frau Kaiser und Herr Bauer
vom Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt für die Einladung an mich, an der
Veranstaltung mitzuwirken! Mein Vortragsthema – Homosexualität in der Arbeit mit
Jugendlichen - ist aufgestellt zwischen den zwei hässlichen Gesichtern der
Diskriminierung:
dem
„Schimpfwort“
als
Stellvertreter
für
aggressive
Verächtlichmachung und Gewalt, und der „Leerstelle“, die für das Leugnen
der
Existenz homosexueller Menschen und homosexueller Gefühle steht. Die beiden
hässlichen Gesichter gibt es, und wir kennen sie gut, aber der Titel präsentiert noch
etwas Drittes – die Behauptung, dass Homosexualität in der Arbeit mit Jugendlichen
ein spannendes Thema sein kann. Nicht eine Bürde, die man politisch korrekt hinter
den ablehnenden Jugendlichen hertragen muss, sondern ein lustvoll-ernsthaftes
Thema, das Jugendliche bereichern kann.
Wer hat Angst vor offenen Türen?
Bevor ich Ihnen einige sexualwissenschaftliche Informationen und methodische
Anregungen zur Umsetzung in Einrichtungen der Jugendhilfe gebe, erlauben Sie mir
noch eine Bemerkung zur aktuellen Situation: aus meiner langjährigen Erfahrung in
der fachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der sexuellen Orientierung kann
ich feststellen, dass wir heute dafür so offene Türen vorfinden wie zu keiner anderen
Zeit. Wir rennen geradezu offene Türen ein, - wenn wir denn rennen würden; aber ich
nehme bei sozialen Einrichtungen und Fachkräften zum Teil eher passives Abwarten
wahr. Wie kommt das?
Der
politische
Wille,
die
rechtliche
Absicherung/Legitimation,
Begründung- all das ist doch endlich gegeben.
die
fachliche
Die Politik will den Abbau von
Diskriminierung und die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen:
7
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
•
auf EU-Ebene schon lange
•
auf Bundesebene mit entsprechenden Gesetzen (Abschaffung des §175;
Lebenspartnerschaftsgesetz) und mit Aktivitäten des Bundesfamilienministeriums
(BZgA; Aidshilfe; Projekt Regenbogenfamilien)
•
in etlichen Länderministerien - so auch im Hessischen Sozialministerium - mit
Gleichstellungs-Referaten und deren Aktivitäten (Fachtagungen, Runder Tisch,
Broschüren)
•
auf kommunaler Ebene durch Kooperationsformen zwischen Verwaltung,
fachlicher Seite und Ausbildung (FH), so z.B. hier in Frankfurt, wo Fachgruppen
dem Runden Tisch zur Verbesserung der Lebenssituation von Lesben und
Schwulen in Frankfurt zuarbeiteten und die Stadtverordneten schließlich einen
entsprechenden Maßnahmenkatalog beschlossen. Durch ihn soll auch die
Situation lesbisch/schwuler Jugendlicher verbessert werden.
•
Vorschläge, das Thema nach dem KJHG in
jeden Bereich der Jugendhilfe
einzubinden, liegen auf dem Tisch (Lähnemann 2000). In der Fachdiskussion ist
unbestritten, dass es gesetzliche Aufgabe und professionelle Verantwortung der
Sozialen Arbeit ist, Jugendliche gegen Diskriminierung und Benachteiligung zu
schützen und sie bei der Verwirklichung ihrer Grundrechte, so auch bei der Wahl
ihrer Liebes- und Lebensform zu unterstützen (vgl. den Beschluss der BAG LJÄ
2003).
Homosexualität kann glücklich, aber auch unsicher und aggressiv machen, sie kann
Konflikte, Ekel und Angst auslösen. Es ist leicht, progressiv und abstrakt dafür zu
sein und konkret lieber die Finger davon zu lassen, keine Zeit dafür zu haben. Es ist
schwerer und braucht Mut, sich trotz der offenen Türen in den spannungsvollen,
konflikthaften Raum dieses Themas hineinzubegeben.
Zur Situation homosexueller Jugendlicher
Entwicklungsaufgaben
Zunächst einmal ist
festzuhalten,
dass
homosexuelle
Jugendlichen
alle
Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben, die Jugendliche generell in modernen
Gesellschaften unter den Vorzeichen der Individualisierung bestehen müssen:
Pubertät – Autonomie – Erwachsenwerden - Integration.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
Die Pubertät fordert von ihnen, sich mit ihrer Geschlechtsreife und ihrem Geschlecht,
mit sexuellen und aggressiven Strebungen auseinanderzusetzen und Autonomie und
Ablösung von den Eltern zu wagen. Jugendliche sind gefordert, ihren Platz in der
Gesellschaft außerhalb der Familie zu finden – in der Peergroup, im Bildungs- und
Ausbildungssystem, in Arbeit bzw. in Arbeitssuche, Arbeitslosigkeit. Sie müssen sich
mit kulturellen, ökonomischen und sozialen Spannungen auseinandersetzen und sich
individuell um Bewältigung und Integration bemühen.
Coming out
Zusätzlich
zu
den
allgemeinen
Entwicklungsaufgaben
haben
homosexuelle
Jugendliche das coming out zu bewältigen. Viele AutorInnen differenzieren hier
zwischen innerem und äußerem coming out, also innerer Gewissheit und äußerem
Sich-Zeigen.
Rauchfleisch
(1996) nimmt fünf Phasen an: die Prä-coming out-Phase, das
eigentliche coming out, die explorative Phase, das Eingehen erster Beziehungen und
die Integrationsphase. Dieser mehrjährige Prozess ist auch heute, in liberalisierten
Zeiten, ein oftmals schwieriger und schmerzhafter Prozess.
Das Ausmaß dieser Belastungen wird durch drei neuere deutschsprachige
Untersuchungen zur psychosozialen Situation lesbischer, schwuler und bisexueller
Jugendlicher belegt (Schupp 1999, Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit
und Soziales (Hg.) 2001, Watzlawick 2003). Jugendliche reagieren vielfach mit Panik
und Verzweiflung, wenn sie sich ihrer sexuellen Orientierung bewusst werden.
Zusätzlich zu ihrem inneren Konflikt erleben sie Ablehnung, Verächtlichmachung
und Ausschluss durch Gleichaltrige oder sie befürchten dies, häufig zu Recht. Ihr
größtes Problem ist Einsamkeit; sie fühlen sich wie im Niemandsland. Viele erfahren
Ignoriertwerden oder direkte Diskriminierung, einige Gewalt. Die Jugendlichen leiden
unter Depressionen, neigen zu alarmierenden Bewältigungsformen wie Alkohol- und
Drogengebrauch und sind in viermal so hohem Maß suizidgefährdet wie ihre
heterosexuellen Gleichaltrigen. Über Homosexualität haben sie keine bzw. negative
Informationen erhalten. Die Erfahrung, akzeptiert zu werden, erleben sie am ehesten
mit eng befreundeten Gleichaltrigen, später zum Teil mit Eltern; die Ablehnung des
Vaters wird besonders gefürchtet und auch deutlich häufiger als von Seiten der
Mutter erlebt. Die befragten Jugendlichen gaben an, kaum je Unterstützung durch
Lehrkräfte und therapeutische oder soziale Fachkräfte erlebt zu haben.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
Innerhalb der Gesamtheit homosexueller Jugendlicher gibt es nun Unterschiede, die
für das Verständnis und die Arbeit mit ihnen wichtig sind:
Festlegung bzw. Flexibilität der sexuellen Orientierung
Bis vor einiger Zeit war die herrschende wissenschaftliche Auffassung, dass die
sexuelle Orientierung früh festgelegt ist - sei es aufgrund genetischer Disposition, sei
es aufgrund sozialer Erfahrung in der Kindheit oder eines Entgegenkommens
zwischen beiden Faktoren -, dass sie stabil und unveränderbar ist und nicht zur Wahl
steht (Money 1988). Empirische Studien, darunter auch die von Kinnish, Strassberg
und Turner (2004) haben darauf hingewiesen, dass die sexuelle Orientierung nicht
bei allen Menschen gleichmäßig festgelegt, sondern in unterschiedlichem Grad
flexibel ist. Dies gilt für hetero- wie homosexuelle Menschen. Dabei legen mehrere
neuere Studien für Frauen eine flexiblere, für Männer eine stabilere sexuelle
Orientierung nahe (ebd.:28).
Dieser Sicht folgend ist davon auszugehen, dass wir auch unterschiedlichen
Jugendlichen begegnen: den einen, bei denen sich ein offenes, sich veränderndes
Nebeneinander
von
Phantasien,
Attraktion,
Gefühlen,
Verhalten
und
Selbstdefinitionen findet. Und den anderen, die eine früh festgelegte, unverrückbare
sexuelle Orientierung haben und das Gefühl: “Ich habe schon immer in der und der
Weise empfunden“.
Geschlecht
Damit kommen wir zu Unterschieden, die mit dem Geschlecht zu tun haben.
Lesbisch werdende Mädchen durchlaufen die weibliche Sozialisation mit all ihren
bekannten vor- und nachteiligen Wirkungen. Schwul werdende Jungen sind
männlicher Sozialisation mit ihren spezifischen Chancen und Risiken ausgesetzt. Ein
Beispiel hierfür ist der sog. „Schwuchteldiskurs“: eine Studie (Pascoe 2006) macht
deutlich, dass die Schimpfworte „Schwuchtel“/Schwule Sau“ unter männlichen
Jugendlichen Waffen sind, um sich der eigenen Männlichkeit zu versichern, indem
anderen das Mannsein abgesprochen wird.
Manchen Studien zufolge entwickeln Jungen mit durchschnittlich 13 Jahren die
subjektive und, wie es heißt, häufiger definitive Gewissheit, homosexuell zu sein,
während bei Mädchen eher ein typischer Suchprozess im Alter zwischen 14 und 16
Jahren beschrieben wird. Gleichzeitig sollten wir darauf eingestellt sein, dass es auch
10
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
andersherum sein kann, eben vielfältig – dass manche Mädchen „schon immer so,
das heißt, lesbisch, empfunden haben“ und dass manche Jungen wechselnd und
suchend in ihrer sexuellen Orientierung sind.
Seelische Gesundheit
In modernen sexualwissenschaftlichen und klinisch orientierten Konzepten wird
davon ausgegangen, dass sich homo- wie heterosexuelle Entwicklungen auf
unterschiedlichen
unneurotischen,
Entwicklungsniveaus
einem
neurotisch
beschreiben
und
einem
lassen:
auf
frühkindlich
einem
gestörten
Entwicklungsniveau (Poluda 2000, Zeul 1993, Dannecker 2000).
Wir werden also in Jugendhilfeeinrichtungen wiederum auf unterschiedliche
Jugendliche treffen: auf Mädchen mit lesbischer und auf Jungen mit schwuler
Entwicklung, die relativ unneurotisch und stabil sind und die Krise des inneren und
des äußeren Coming out insgesamt unbeschadet bestehen, auch weil ihnen
ausreichend Ressourcen in ihrem sozialen Umfeld zur Verfügung stehen. Daneben
werden wir auf Jugendliche treffen, die emotional gestört sind, etwa unter
neurotischen .Ängsten leiden, depressiv oder drogenabhängig sind.
Erfahrungsgemäß bringen manche Jugendliche, denen wir in Einrichtungen der
Jugendhilfe begegnen, ungünstige innerpsychischen Voraussetzungen mit, um den
Bruch im Selbstwertgefühl zu überbrücken, der durch die Zurückweisung ihrer
Homosexualität entsteht (vgl. Dannecker 2000). Für diese Mädchen und Jungen
kann es besonders schwer und überfordernd sein, das innere Andersfühlen und
Anderssein zu ertragen und das äußere Nicht-Dazugehören, äußere Ausgrenzung/
Diskriminierung auszuhalten.
Jugendliche verfügen über unterschiedliche Ressourcen für die Bewältigung der
unvermeidlichen inneren und äußeren Konflikte rund um das Coming out. Zu den
Ressourcen würden tragfähige Beziehungen in familialen, jugendlichen,
institutionellen und subkulturellen Kontexten gehören oder zumindest eine gewisse
Anbindung an solche Zusammenhänge, Wissen über und Zugang zu Unterstützung
sowie genug Selbstbewusstsein, um Unterstützung zu bitten.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
Anregungen für die Praxis
Haltung
-
Es macht Sinn, das Thema nicht nur dem Über-Ich, d.h. der Einsicht in den
gesetzlichen Auftrag und in die professionelle Verantwortung zu überlassen. Das
Ich sollte mitbeteiligt werden, in Gestalt von Neugier und Ehrgeiz; etwas
Lustgewinn muß dabei sein, sonst wird sich das ausgeschlossene Es anderwärts
rächen.
-
Selbstreflexion kann helfen, innere Erlaubnisse und Verbote sich selbst und
anderen
gegenüber
wahrzunehmen.
Eine
Kinder-
und
Jugendlichenpsychotherapeutin sagte mir dazu im Interview:“ Der Knackpunkt ist
die Gegenübertragung. Viele Therapeuten wehren homosexuelle Übertragung
und Gegenübertragung ab. Sie ertragen es nicht und können dann nicht die
erforderliche innere Erlaubnis entwickeln“.
-
Sehr wirksam ist nach meiner Erfahrung das Experimentieren mit Einfühlung.
Das bedeutet, die Perspektive eines Jugendlichen einzunehmen, der Hass auf
Schwule und Lesben empfindet, oder eines anderen, der eigentlich nichts gegen
Lesbisch- und Schwulsein hat, es aber um keinen Preis selbst sein will, daran
leidet und dagegen ankämpft. Es heißt, mit innerem Perspektivwechsel zu
experimentieren:
sich
verlieben
in
eine
gleichgeschlechtliche/
in
eine
gegengeschlechtliche Person.
-
Bewusstere Wahrnehmung kann bewirken, dass Fachkräfte ein größeres
Spektrum von Ausdrucksformen gleichgeschlechtlicher Gefühle bei Jugendlichen
sehen. Nachdem ich zum Beispiel als Vorbereitung für ein Interview den
MitarbeiterInnen eines Horts einen differenzierten Fragebogen gegeben hatte mit
der Bitte, Gefühlsäußerungen und Verhaltensweisen von Kindern gegenüber
Erwachsenen, Kindern und Idolen gleichen Geschlechts zu beobachten, ergaben
sich recht genaue und reichhaltige Wahrnehmungen – im Vergleich zu der
vorherigen Haltung: „Da ist nichts, das gibt es bei uns nicht“.
So führte ich ein Interview mit vier MitarbeiterInnen eines Kinderhortes für sechsbis zwölfjährige Schülerinnen und Schüler zum Umgang mit dem Thema
Homosexualität.
Zwei Wochen vorher hatte ich ihnen einen Fragebogen
zugesandt, in dem es um die genaue Wahrnehmung von Gefühlsäußerungen und
Verhaltensweisen von Kindern gegenüber Erwachsenen, Kindern und Idolen
12
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
gleichen Geschlechts ging. Im Weiteren wurden eigene pädagogische Haltungen
und Werte im Umgang mit dem Thema Homosexualität in der Kindheit und
gleichgeschlechtliche Entwicklungen angesprochen und nach fachlichem Wissen
darüber gefragt.
Meine Gesprächspartner sagten, der Fragebogen habe ein ungewohntes Thema
berührt und neue Sichtweisen ausgelöst. Eine Pädagogin berichtete, ihre
bisherigen Einstellung - „Ich habe da doch kein Problem, ich bin doch offen“ - sei
einer anderen Haltung gewichen: “Ich habe da noch nicht speziell hingesehen“.
Und: “Es ist wenig Wissen da.“ Ihre veränderter Blick führte dazu, dass sie
beschreiben
konnten,
wie
Mädchen
und
Jungen
auf
vielfältige
Weise
gleichgeschlechtliche Gefühle zum Ausdruck brachten: Anlehnungs- und
Berührungsbedürfnisse, Zärtlichkeitswünsche, Verliebtheit, Anhimmeln, Schauund Zeigelust, erotische und genitale Interessen.
-
Wenn wir schließlich anerkennen, dass Homosexualität nicht als solches ein
Problem ist und dass nicht alles an homosexuellen Jugendlichen furchtbar
problematisch ist, dann gehört dazu, dass sie gleichwohl ein „Recht auf
Probleme“ haben, auf gewöhnliche Schwierigkeiten mit Entwicklungsaufgaben
und auf spezielle Probleme mit dem ersten Mal oder dem Finden der ersten
Liebe.
Strukturelle Bedingungen
-
Wie bei anderen wichtigen Themen in der Jugendhilfe – etwa Konflikten,
Migration, Gender – macht es auch hier Sinn, das Thema nicht als
EinzelkämpferIn zu bearbeiten, sondern im Team und mit der Leitung einen
Prozess mit der Suche nach einer gemeinsamen Haltung zu betreiben.
-
Wenn dies gelingt, kann das Thema ausdrücklich eingebettet werden in Leitbild
und Konzeption und kann ausdrücklich Teil der Qualitätsstandards werden.
-
Das Thema Homosexualität braucht Präsenz: es muss „verselbstverständlicht“
werden in der Alltagssprache, in Flyern, Programmangeboten, Broschüren. Es
wird Sichtbarkeit hergestellt – am schwarzen Brett, in Filmen, Einladungen,
Veranstaltungen. Voraussetzung dafür ist natürlich die einschlägige Informiertheit
(Newsletters,
Treffs,
„Bildungsgelegenheiten“
Adressen
usw.).
auch
Jugendarbeit
„Gelegenheiten“
kann
für
analog
zu
angstfreie
gleichgeschlechtliche Annäherungen schaffen. Dazu ein Beispiel aus dem von mir
13
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
untersuchten Hort: Die Pädagogen und Pädagoginnen haben mir berichtet:
„Wenn wir bei Tisch über das Schwulsein sprechen, so ist es das einzige Thema,
bei dem sie sich völlig verhärten. Bei allen anderen Themen - Unterschiede
zwischen Mädchen und Jungen, zwischen deutschen und ausländischen Kindern,
islamischem oder christlichem Glauben - lassen die Kinder im Gespräch
irgendwann Differenzen zu, akzeptieren sie und sind kompromissbereit. Aber
nicht beim Thema Schwulsein“. Im Verlauf des Gesprächs erinnerte sich das
Team aber daran, dass die Jungen unter besonderen Bedingungen, bei viel Zeit
und Vertrautheit miteinander, doch auch andere Gefühle gezeigt hatten. So
hätten sie in einer Ferienfreizeit mit Genuss stundenlang zusammen geduscht,
und anlässlich einer gemeinsamen Übernachtung im Hort im Toberaum aufgeregt
und begeistert nackt miteinander getobt. Aus Sicht der Hortmitarbeiterinnen und mitarbeiter sollte es geschützte Zeiten, Räume und Situationen geben, in denen
Zärtlichkeit als etwas Selbstverständliches entstehen könne, zwischen Mädchen
und Jungen ebenso wie unter Jungen und unter Mädchen. Dazu bedarf es
natürlich im Vorfeld einer wirklich guten Elternarbeit.
Methodisches Handeln
-
Für verunsichernde Gefühle, wie sie durch das Thema Homosexualität ausgelöst
werden, braucht es einen sicheren Rahmen, sonst schlägt die innere
Sicherheitspolizei d.h. die Abwehr zu. Es müssen also klare Regeln und
Rahmenbedingungen vorgegeben werden.
-
Dann können Ich-stärkende Methoden verwandt werden, also nicht Über-Ichorientierte Methoden, die der bisherigen Norm: „Homosexualität soll abgelehnt
werden“ als neue Norm aufpfropfen: „Homosexualität soll akzeptiert werden“.
Was kann stärkend auf das Ich wirken?
-
Dies sind Methoden, die es darin unterstützen, mehr Spannung zu ertragen,
also etwas mehr Ängste, sexuelle und aggressive Gefühle, Ambivalenzen und
Verschiedenartigkeit zwischen Menschen auszuhalten.
-
Das Ich kann zu besserer Realitätsprüfung angeregt werden, also durch Filme,
Einladungen, Besuche, Infos mehr Wissen über sexuelle Vielfalt zu bekommen.
-
Es wird gestärkt, wenn es zu Kreativität, Spiel, Probehandeln und zu neuen
kommunikativen
Erfahrungen
angeregt
wird,
etwa
sexualpädagogische Gruppenarbeit oder Theaterarbeit.
14
durch
Rollenspiele,
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
-
Schmauch: Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema
Das Ich wird gestärkt in seiner Handlungsfähigkeit durch Elemente von
Coaching, praktische Tipps, Unterstützung und Intervention in Konflikten.
In Umkehrung meines Satzes aus der Einleitung meine ich abschließend:
Homosexualität kann unsicher und aggressiv, aber auch glücklich machen. Ich
wünsche Ihnen in dem anfangs von mir beschriebenen Raum mit den offenen Türen
und dem spannungsvollen Thema einen interessanten Tag!
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAG LJÄ) (2003): Beschluss zum Thema:
„Sexuelle Orientierung ist ein relevantes Thema des Jugendhilfe“. Köln 2003
Dannecker, Martin (2000): Probleme der männlichen Homosexualität. In: Volkmar Sigusch (Hg.),
Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart u. New York; 102 – 123.
Kinnish, Kelly K., Strassberg, Donald S., Turner, Charles W (2004): Geschlechtsspezifische
Differenzen der Flexibilität der sexuellen Orientierung. Zeitschrift für Sexualforschung, 17; 26 – 45.
Lähnemann, Lena (2000): Zur Einbindung des Themas “sexuelle Identität/junge Lesben, Schwule und
Bisexuelle” in die Jugendhilfe nach SGB VIII (KJHG).In: MJFJF Schleswig-Holstein (Hg.) (2000):
Dokumentation der Fachveranstaltung „Sexuelle Orientierung–Thema für die Jugendhilfe“. Kiel; 17- 24
Money, John (1988): Gay, straight and in-between: The sexology of erotic orientation. New York
Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales (Hg.) (2001).Schwule Jugendliche:
Ergebnisse zur Lebenssituation, sozialen und sexuellen Identität. Hannover
Pascoe, C.J. (2006): Männlichkeit in der Adoleszenz und der „Schwuchteldiskurs“. Zeitschrift für
Sexualforschung 2006; 19; 1 - 14
Poluda, Eva S. (2000): Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklung. In: Volkmar Sigusch
(Hg.), Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart u. New York, 97 – 101.
Rauchfleisch, Udo (1996): Schwule, Lesben, Bisexuelle. Lebensweisen, Vorurteile, Einsichten.
Göttingen/Zürich
Schmauch, Ulrike (2005): Homosexualität in der Kindheit – Wie offen sind wir für gleichgeschlechtliche
Entwicklungen von Mädchen und Jungen? Zeitschrift für Sexualforschung 2005; 18; 243 – 257
Schmauch, Ulrike (2003) Berufsrolle, sexuelle Orientierung und professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit.;
In: HSM: Diversity - Dokumentation der Fachtagung des Hessischen Sozialministeriums am 25.4. 2003; 2003
http: www.sozialnetz.de/homosexualitaet/referat
Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport Berlin (Hg.) (1999): Sie liebt sie. Er liebt ihn. Eine
Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler und Bisexueller in Berlin.
Watzlawick, Meike, (2003): Schwul, lesbisch, bi oder hetero – was bin ich? http://www.biblio.tubs.de/ediss/data /20030306a/20030306a.pdf.
Zeul, Mechthild (1993): Klinische Anmerkungen zur weiblichen Homosexualität. In: PSYCHE 1993; 47;
107 – 129.
15
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
1.2. Dr. Ben Khumalo-Seegelken
Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
jugendlicher homosexueller Migranten und Migrantinnen.
Hintergründe und Denkanstöße∗.
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Vorwort
Einleitung
Jugendliche mit Migrationshintergrund und Homosexualität
Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Denkanstöße
Nachtrag
Quellen und Literaturhinweise
Vorwort
Meiner Vorrednerin, Prof. Schmauch, danke ich für die aufschlussreiche und
anregende Einführung in die Thematik „Homosexualität in der Arbeit mit Jugendlichen – Schimpfwort, Leerstelle oder spannendes Thema“.
Im Mittelpunkt des von mir zu haltenden Vortrages stehen Jugendliche samt
den Sozialräumen und Erfahrungen ihres Alltages als gleichgeschlechtlich
veranlagte und lebende Menschen, Lesben und Schwule. Bewusst beschränke ich mich in meinen Ausführungen zum Thema auf eine sexuelle Orientierung - nämlich „Homosexualität“ (sprich: „lesbisch-schwule Orientierung“). Eine streiflichtartige Bestandsaufnahme gewonnener Erkenntnisse zum Thema
möchte ich vornehmen und zur Diskussion anregen1.
∗
Von „lesbischen und schwulen Jugendlichen“ statt von „homosexuellen ...“ ist in diesem Referat
die Rede. Die Fremdbezeichnung „Homosexueller/Homosexuelle“ lehnen wir u.a. deswegen ab,
weil sie den irreführenden Eindruck erweckt, bei Lesben und Schwulen gehe es nur oder vorrangig
nur um Sexualität (sprich Geschlechtlichkeit - Geschlechtsverkehr)! Dies gilt ebenfalls für den Begriff „Homosexualität“, der die lesbisch-schwule Orientierung eines Menschen zu etwas verabscheuungswürdigem und krankhaftem herabwürdigt.
1
Vorab einige Eckdaten zu meinem Werdegang: Geboren und aufgewachsen im Widerstand und im
Kampf gegen die Apartheid in Südafrika; Studium der Wirtschaftswissenschaften und des Bürgerlichen Rechts in Südafrika; politisches Asyl in Deutschland; Studium der Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaft und der Evangelischen Theologie in Deutschland; Promotion; Beruf; politisches
Engagement u.a. im schwul-lesbischen Verband „Homosexuelle und Kirche“; ... Zu den wichtigsten
Berufserfahrungen der jüngsten Zeit gehören die Mitentwicklung und Leitung des Antidiskriminierungszentrums für lesbische Migrantinnen und schwule Migranten (MILES) des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD), Landesverband Berlin-Brandenburg, sowie die Gründung und Leitung des Integrationsprojektes „Pro Vielfalt und Akzeptanz in Berlin (Proviak-Berlin) e.V.“
www.benkhumalo-seegelken.de
16
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Die sexuelle Orientierung „Bisexualität“ sowie die Geschlechtsidentitäten
„Transgender“2 und „Transsexualität“ sind Themenkomplexe, die jeder für sich
eigenständig und so besonders ist, dass sie meiner Meinung nach entweder
jeweils eigens für sich oder aber in einem erweiteten Kontext thematisiert werden sollten, was im Rahmen einer bewusst etwas enger gefassten Themenstellung nicht ohne weiteres möglich wäre. Die Erlebniswelten und Konflikterfahrung sind hier wie dort weitgehend deckungsgleich.
„Migranten/Migrantinnen“ nenne ich die in der Regel hierzulande geborenen
Jugendlichen und Heranwachsenden bewusst nicht. Ümit, Ciğdem, Zeycan,
Didem, Mehmet, Murat, Seyran, Nuran, ... Frankfurterinnen und Frankfurter,
Berlinerinnen und Berliner. Kinder unserer Nachbarn, Altersgenossen unserer
Kinder, Zielgruppe unserer Arbeit. Jugendliche mit Migrationshintergrund
nenne ich sie, wenn es zur Unterscheidung zwischen ihnen und den restlichen
ihrer Altersgenossen am Wohnort zweckdienlich erscheint.
Genug der Vorrede!
Einleitung3
Wenn wir von einem 5%igen Anteil von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und
Transgendern an der Gesamtbevölkerung4 ausgehen, bedeutet dies, dass
sich in jeder Klasse, in jeder Freizeitgruppe oder jedem Hochschulseminar
mindestens eine Person befindet, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder
transgender (kurz lsbt) definiert.
Mit einem Durchschnittsalter von etwa 16 Jahren werden sich lesbische und
schwule Jugendliche heute deutlich früher als noch vor einigen Jahren über ihr
gleichgeschlechtliches Begehren klar, bis zum 19. Lebensjahr erleben viele
von ihnen ihr Comig-out5.
2
„Als transgender bezeichnen sich Personen, für die das gelebte Geschlecht keine zwingende Folge
des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts ist und die ihre Geschlechtsidentität jenseits der binären
Geschlechterordnung Frau-Mann leben.“ Vgl. ABqueer e.V., Aufklärung und Beratung zu lesbischen,
schwulen, bisexuellen und transgender Lebensweisen, www.abqueer.de (Abqueer e.V. ist ein neu
gegründeter gemeinnütziger Berliner Trägerverein für Aufklärung und Beratung zu lesbischen,
schwulen, bisexuellen und transgender (kurz: lsbt) Lebensweisen vor allem Jugendlicher und junger
Erwachsener bis 27 Jahren).
3
HINWEIS: Zur Einleitung referiere ich im Nachfolgenden Positionen aus der Aufklärungs- und Bildungsarbeit von ABqueer e.V. (siehe Anmerkung 2 oben).
4
Homosexuelle sind eine Minderheit, die sich der statistischen Erfassung weitgehend entzieht.
Fachleute vertreten heute die Einschätzung, dass sich in den westlichen Gesellschaften etwa 3% der
über 20-jährigen Männer selbst als homosexuell verstehen und damit eine „homosexuelle Identität“
haben. Zusätzlich zu den 3% Schwulen weisen weitere 3% der Männer in ihrer Biographie längere
homosexuelle Phasen auf. ... Lesben?
5
Schwule und Lesben teilen die Liebe zum gleichen Geschlecht. Sie erfahren ähnliche rechtliche
Diskriminierungen. Ansonsten sind die Welten der Lesben und Schwulen mitunter recht verschieden. Das Coming-out wird Lesben schwerer gemacht als Schwulen. Sie müssen nicht nur mit Anfeindungen wegen der Homosexualität fertig werden, sondern auch mit der Benachteiligung als
Frau. Die ungleiche Verteilung von Macht, Geld und Einfluss zwischen den Geschlechtern spiegelt
sich in gewissem Maße auch im Organisationsgrad von Schwulen und Lesben wieder. Es gibt ein Viel-
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Sozialpädagogische Fachkräfte begegnen täglich in ihren Klassen und Gruppen lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender (lsbt) Jugendliche, die gerade ihr „inneres“ Coming-out bewältigen oder bereits (offen) lesbisch, schwul,
bisexuell oder transgender (lsbt) leben. Sie werden also in ihrem Arbeitsalltag
mit den speziellen Wünschen, Bedürfnissen und Problemstellungen von lsbt
Jugendlichen konfrontiert.
Die Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen ist für alle Jugendlichen ein heißes Thema, unabhängig davon, ob sie
sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender definieren. Informationen zu lsbt Lebensweisen sind für sie kaum verfügbar und der Druck zur
Konformität ist enorm. Deshalb wagen viele Jugendliche nicht, sich auf ihrer
Suche nach (sexueller) Orientierung Unterstützung zu holen.
„Schwul ist schwul. Lesbisch ist lesbisch. Transgender ist transgender. Oder
gibt es da doch irgendwelche Unterschiede?“
Wenn wir nun auf der heutigen Fachtagung zum Thema „Sexuelle Orientierungen. Ein relevantes Thema in der Arbeit mit Jugendlichen!“ Hintergründe
vermitteln und Denkanstöße austauschen wollen hinsichtlich der Erlebniswelten und der Konflikterfahrungen homosexueller Jugendlicher mit Migrationshintergrund, dann haben wir notwendigerweise darauf einzugehen, ob und
welche Faktoren der Sozialisation den Prozess der Wahrnehmung und der
Akzeptanz von Menschen einer bestimmten sexuellen Orientierung, nämlich
der Homosexualität, mitbestimmen. Uns ist dabei bewusst: Jugendliche mit
Migrationshintergrund durchlaufen Sozialisationsprozesse, die die Selbstfindung, die Wahrnehmung und Annahme der eigenen sexuellen Orientierung
recht oft schwieriger vonstatten gehen lassen als dies bei ihren sonstigen Altersgenossen/-genossinnen der Fall ist.
Jugendliche mit Migrationshintergrund und Homosexualität
`Ciğdem ist lesbisch! ... Kai ist schwul. Murat auch!´ verkünden die öffentlichkeitswirksam platzierten Aufklärungsplakate und regen zum Meinungsaus-
faches an Schwulenbars gegenüber Lesbenkneipen. Schwule Zeitschriften erscheinen weit auflagenstärker als Lesbenmagazine. Und lesbisches Engagement im Rahmen der Frauenbewegung wird oft
nicht als solches wahrgenommen.
Schwulen wird in der Öffentlichkeit mehr Beachtung geschenkt als Lesben, im positiven wie negativen. Der berüchtigte § 175 stellte nur männliche Homosexualität unter Strafe. Die Straffreiheit
der Frauenliebe hatte nichts mit Toleranz zu tun, sondern mit Geringschätzung der Frau und Ignoranz gegenüber weiblicher Sexualität. Männliche Homosexualität wird seit jeher stärker als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen. Sie hat Verfolger wie Verteidiger meist mehr
mobilisiert. Lesben haben dagegen immer damit zu kämpfen, dass sie totgeschwiegen werden.
Die Wissenschaft hat sich mit Lesben viel seltener beschäftigt als mit Schwulen. ... lückenhafter
Forschungsstand. Über schwule Lebensformen weiß man eher besser Bescheid. Da liegt allerdings
nicht allein an die Männerdominanz im Wissenschaftsbetrieb, sondern vor allem an der Krankheit
AIDS. Aus Gründen der AIDS-Verhütung interessierten sich plötzlich auch staatliche Stellen für die
Lebenssituation der Schwulen, weshalb in den vergangenen zwei Jahrzehnten einige (bescheidene)
öffentliche Mittel speziell in die Schwulenforschung geflossen sind.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
tausch und zu gesellschaftlichem Lernen auf6; denn Kai und Murat könnten als
gleichaltrige schwule Frankfurter Jungen gar dicke Freunde sein, aber sie
trennen Welten. Woran liegt das? Was ist es im Alltag von Ciğdem und Murat
in Frankfurt heute was sie im Prozess der Selbstfindung so beeinflusst und
bestimmt, dass sie sich von den gleichaltrigen und im ähnlichen Selbstfindungsprozess befindlichen Melanies und Kais unterscheiden
- und zwar nicht gerade im positiven Sinne?
Ein Blick in die Geschichte – ja in die Vorgeschichte - dieser Jugendlichen
könnte uns ein Stückchen weiterbringen; denn bewusst und unbewusst
schwingen Vorstellungen und Einstellungen in den Köpfen der Jugendlichen
heute mit, die das frühere Leben der Großeltern oder der Eltern bestimmten
und oft unbemerkt im Alltag der Jugend in Frankfurt heute weiterwirken.
Wir wissen:
Auch im Einwanderungsland geborene Jugendliche sind von der Vorgeschichte ihrer Eltern und Großeltern beeinflusst, als diese noch im
Herkunftsland lebten, sowie von einigen Auffassungen, Einstellungen
und Erwartungen ihrer Verwandtschaft, die weiterhin dort lebt.
Gerade in der Phase der Selbstfindung – des „coming-out“7 – spielen
Momente aus fernen Schichten der eigenen Persönlichkeitsentwicklung
– so auch aus der unbewusst mitschlummernden Vorgeschichte - oft
eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Migrationshintergrund ist nicht gleich Migrationshintergrund8:
6
Vgl. Infopaket und Unterrichtsmaterialien zum Einsatz des LSVD-Plakats
„Çiğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“, www.senbjs.berlin.de
7
ABqueer: Das Coming-out bedeutet einen biographischen Bruch: häufig einen Konflikt mit den
Erwartungen der Familie und der Umwelt, oft auch einen Widerstreit mit sich selbst, mit eigenen
Klischees und Vorurteilen gegenüber Schwulen und Lesben. Auch heute ist es anfänglich meist ein
großer Schreck, wenn man erkennt, `anders als die Anderen´ zu sein. Immerhin: Homosexualität ist
in unserer Gesellschaft kein Tabuthema mehr. Daher fällt vielen jungen Leuten das Comig-out heute leichter als noch vor dreißig Jahren. Ein gelungenes Coming-out heißt, die eigene Homosexualität zu akzeptieren. Danach kommt dann der zweite Schritt: Man spricht darüber mit Freunden und
der Familie. Man `outet´ sich.
Viele Schwule und Lesben gehen den zweiten Schritt des `Outens´ allerdings nicht mit. Fachleute
schätzen: Höchstens die Hälfte der Homosexuellen lebt „offen“, hat Familie, Freundinnen, Kollegen
oder Nachbarn informiert. Die andere Hälfte verschweigt weiterhin ihre Homosexualität – aus
Scham oder aus Furcht vor Anfeindungen, Ausgrenzung und Diskriminierung. Besonders außerhalb
der Großstädte sehen sich viele Schwule und Lesben gezwungen, ihre Homosexualität zu verstecken
und damit ein schwieriges Doppelleben zu führen. Auch deshalb befinden sich so viele Menschen in
dem Irrglauben, keine Homosexuellen zu kennen.
8
Michael Bochow (2004) 169-170: Die Migration der Türken/Türkinnen und Kurden/Kurdinnen aus
der Türkei nach Deutschland und Westeuropa ist die Konsequenz der innertürkischen Wanderungsturbulenzen (Elmas 1998:6-7). In der Türkei vollzog sich in den letzten Jahrzehnten eine Migration
aus den Ostprovinzen in die wohlhabenderen Westprovinzen. Die türkische Repression in den Kurdengebieten hat diese Bewegung beschleunigt. Ein Großteil der türkischen und kurdischen Bevölkerung, die seit Mitte der 60er Jahre in die Bundesrepublik zog, kam aus ländlichen Gebieten Zentralund Ostanatoliens, zum Teil über den Umweg der Vororte von Istanbul, Izmir, Adana u.a. Die Mentalitäten und Werthaltungen dieser Bevölkerungsgruppen sind wesentlich traditioneller als die der
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Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Zur Veranschaulichung nehmen wir einen arabisch- oder türkischstämmigen Jugendlichen männlichen Geschlechts als Beispiel.
Den typischen arabisch- oder türkischstämmigen Jugendlichen gibt es
zwar ebenso wenig wie den typischen Polnisch-, Italienisch- oder
Deutschstämmigen, dennoch beobachten wir, dass - ob in Frankfurt/M,
in München, oder in Berlin – gewisse Umgangsformen, Gewohnheiten,
weltanschauliche und religionsspezifische Positionen im Alltag dieser
Personengruppe etwas von einer Art gemeinsamen „Herkunftslandkultur“ vermuten lassen. Dem wollen wir nachgehen.
„Kai ist schwul – Murat auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“ stand auf
Plakaten zu lesen, die wir 2004 an öffentlichen Plätzen, U-/SBahnstationen, in Freizeitzentren und an Jugendtreffpunkten zur gesamtgesellschaftlicher Sensibilisierung und zur Förderung der Eigeninitiativen insbesondere schwuler Jugendlicher mit Migrationshintergrund
in Berlin aufgestellt hatten9.
„Na und?“ würden Sie vielleicht dazu sagen. Der Stein kam ins Rollen
– der `Stein des Anstoßes´!:
Neben dem erhofften Erfolg der Aufklärungsaktion entfachte sich eine
Kontroverse und entlud sich über die Aussage des Plakats ein Sturm
der Entrüstung in gewissen Kreisen vornehmlich arabisch- und türkischstämmiger Migrantencommunities weit über Berlin hinaus. Die
Reaktion männlicher Jugendlicher und junger Erwachsener zwischen
16 und 19 hat mich am meisten interessiert:
- schlicht und ergreifend leugnen: „Sowas gibt’s bei uns nicht!“
- schroff abweisend und persönlich beleidigt reagieren;
- zurückweisen: `Schon wieder was gegen Ausländer!´
- aggressiv anprangern, Mitwirkende bedrängen/bedrohen,
Plakate beschädigen, etc.
„Wenn Murat schon schwul sein soll, soll er den Namen Murat – den für
uns heiligen Namen - nicht mehr führen!“ Der Aufklärungsaktion zum
Plakat „Ciğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns – jederzeit!“ widerfuhr eine ähnliche auch wenn etwas gesprächsfreudiger verlaufende Auseinandersetzung, denn die Herkunftskultur stemmt sich in
der Regel dagegen, dass „Murat“ und „Ciğdem“ in Berlin – in Frankfurt
– heute ein selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der eigenen sexuellen Orientierung als Schwuler und als Lesbe führen können sollen.
Was steckt dahinter?
türkischen Mittelschichten in Istanbul, Ankara oder Izmir. Für Türken aus den westtürkischen Mittelschichten ist es sehr kränkend, immer mit den aus ihrer Sicht rückständigen und naiv-gläubigen
ostanatolischen Bauern(-söhnen), die in Deutschland das Bild der Türkei geprägt haben, identifiziert
zu werden.
9
www.miles.lsvd.de
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghaban spricht von einer PseudoHerkunftslandkultur, die in den genannten Migrantengesellschaften gepflegt
wird, ist – genauer betrachtet - eine hybride Kultur10, die aus ethnischer, religiöser und `deutscher´ (sprich: mehrheitsgesellschaftsspezifischer) Sozialisation besteht. Im Hinblick auf die Haltung den Schwulen und Lesben gegenüber erweist sich die Entflechtung dieser drei Dimensionen als zumindest
schwierig.
Die `deutsche (sprich: mehrheitsgesellschaftsspezifische) Sozialisation´
beeinflusst das Verhalten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
im gleichen Maße wie das anderer Jugendlicher. Genau wie andere
Jugendliche sind sie z.B. dem Rechtsextremismus und der Versuchung
ausgesetzt, sich auf Kosten von vermeintlich Schwächeren und an den
Rand Gedrängten mit Gewalt zu behaupten.
Die `ethnische Dimension´ der Sozialisation dieser Personengruppe
findet ihren Ausdruck im Patriarchalismus, der die gesellschaftlichen
Verhältnisse in den Herkunftsländern ihrer Eltern oder Großeltern – in
Marokko, in der Türkei - prägt.
Der Patriarchalismus impliziert ein Männlichkeitsbild, zu dessen
wesentlichen Bestandteilen die sexuelle Potenz gehört.
Die sexuelle Potenz stellt an sich einen Wert dar, der teilweise
von dem Objekt ihrer Zuwendung unabhängig ist. Die Fähigkeit
zur Penetration ist ein Beweis der Männlichkeit. Die Überbewertung des Aktes der Penetration führt zu einer doppelten Betrachtung der Homosexualität:
Es wird zwischen einer aktiven und einer passiven Haltung unterschieden. Schwul im engeren Sinn ist demnach
derjenige, der beim homosexuellen Verkehr die passive
Haltung annimmt.
In diesem Fall wird der für `schwul´ Gehaltene von der
Gesellschaft verachtet, nicht nur, weil er eine nach allgemeiner Normensetzung `verbotene´ Tat begangen habe,
sondern auch und vor allem, weil er dadurch `das Männlichkeitsbild verraten´ habe.
Dem aktiven Teilnehmer am homosexuellen Akt wird dagegen mehr Verständnis entgegengebracht, sogar etwas
Bewunderung, weil er seine Männlichkeit außerordentlich
bewiesen hat. Für seine Potenz hat er sozusagen die
10
GHADBAN, Ralph (2004): „Gescheiterte Integration? Antihomosexuelle Einstellungen türkei- und
arabischstämmiger MigrantInnen in Deutschland“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime
unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 39-63. Ich referiere im Nachfolgenden aus diesem Beitrag.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Kraft aus sich selbst herausgeholt, ohne ein äußeres „Objekt der Begierde“ vor sich zu haben11.
Anders sieht es aus bei einer Liaison zwischen zwei Männern.
Hier spielen Passivität und Aktivität keine Rolle mehr, weil
beide Partner das Männlichkeitsbild verraten, indem sie
die Rollenverteilung der akzeptierten Hetero-Ehe durcheinanderbringen.
Diese Form der Homosexualität, die nur Erwachsene betrifft, ist nicht sehr verbreitet. Sie tritt auf jeden Fall nirgends in Erscheinung; offen gelebte
Partnerschaften werden nicht geduldet.
Verbreiteter als die Männerliebe ist der sexuelle
Verkehr zwischen Erwachsenen und Knaben, wobei die letzten wegen der mehr oder weniger herrschenden Geschlechtertrennung dieselbe Funktion
wie die Frauen erfüllen. Hier ist eine Unterscheidung zwischen Ersatzhandlung und der reinen Pädophilie kaum möglich. Das Vergehen an Kindern
und Jugendlichen, verschönert ausgedrückt, die
Knabenliebe, hat in der islamischen Welt eine lange
Tradition und wird daher bis heute als Kavaliersdelikt betrachtet. Homosexualität dagegen ist strafbar. Es wird aber erst eingeschritten, wenn die Tat
nicht mehr zu verbergen ist. In Gesellschaften, die
sehr stark von der doppelten Moral geprägt sind
und wo die Sexualität tabuisiert ist, wird stets versucht, die Konflikte im Keim zu ersticken, um die
Ehre und den Ruf nicht zu beschädigen.
Von diesem von den Eltern und Großeltern überlieferten Hintergrund
beziehen die Jugendlichen ihre Einstellung den Schwulen gegenüber.
Die patriarchalisch dominierte Gesellschaft bildet den bestimmenden Faktor in
den Vorstellungen der Migrantinnen/Migranten über Homosexualität. Diese
Haltung wird mit der Religion gesteigert und verfestigt.
Der Islam klassifiziert die Homosexualität als große Verfehlung, so groß
wie die außereheliche Beziehung, die mit Steinigung vergolten wird.
Aber genau wie diese ist die Tat schwer zu beweisen, was praktisch zu
keiner Bestrafung führt12.
11
Ralph Ghaban: Die Schimpfwörter illustrieren diesen geisteigen Zustand sehr gut. Es geht um die
Penetration von allem Möglichen. Zwei Männer, die streiten, können sich gegenseitig öffentlich mit
der Penetration bedrohen, ohne Aufsehen zu erregen.
12
Ralph Ghaban: Alle Rechtsschulen jedoch sehen viel mildere Strafen vor. Nur die hanbalitische
Schule will partout die Homoxeuellen umbringen. Das ist die Rechtsschule, die Ibn Jaymiya folgt
und den modernen Islamismus leitet. Vorm Wahabismus bis zu den Muslimbrüderschaft foglen die
Islamisten hauptsächlich der Lehre dieser Schule.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Der Rückzug in die eigene Gemeinschaft gewinnt mit der Übernahme
des Islamismus eine neue Dimension. Das patriarchalische Verhalten
kann durch eine neue Vergesellschaftung geändert werden, so lange es
zu dem Bereich der Sitten und Gebräuche gehört. Wenn aber das Verhalten mit angeblich von Gott gegebenen Regeln begründet wird, dann
fällt die Änderung wesentlich schwerer. Und wenn zusätzlich Inhalte,
wie die Überlegenheit der Muslime und die Verdorbenheit der sonstigen
Gesellschaft vermittelt werden, dann bedeutet dies eine Steuerung in
Richtung Spaltung der Gesellschaft. Daher die Forderung der Islamisten nach der Anerkennung einer islamischen Lebensweise, die
praktisch zur Bildung eines islamischen Segments in der deutschen
Gesellschaft führte – einer Parallelgesellschaft, in der dann nicht mehr
das Grundgesetz uneingeschränkt Geltung hätte.
„Ciğdem“ und „Murat“ in Berlin – in Frankfurt – heute wachsen auf und
erleben sich selber in komplexen Alltagssituationen. Wie sehen diese
Erlebniswelten aus und wie stellen sich jene Konflikterfahrungen und
die entsprechenden Deutungsmuster dar?
Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Wir sind zur Erkenntnis gekommen:
Mehr und mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund, besonders der
zweiten und dritten Generation, erleben in Deutschland ihr homosexuelles Coming-out13. Doch ihr Sozialisationsprozess ist mit nicht zu unterschätzenden psychischen Belastungen verknüpft. In weitaus größerem
Maße als deutsche Homosexuelle sind sie zerrissen zwischen Werten
und Normen ihrer Herkunftskulturen, ihres familiären Umfeldes, ihrer religiösen Überzeugungen auf der einen, und dem Anspruch auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit auf der anderen Seite. Dies hat zum Teil
dramatische Folgen. Ein offener Umgang mit der eigenen Homosexualität erscheint oft unmöglich. Viele lassen sich in ein Doppelleben zwingen – die Folgen reichen von mangelndem Selbstwertgefühlt bis zu
schweren psychischen Störungen. Kommt es doch zu einem (ungewollten) Coming-out, werden viele schwule und lesbische Jugendliche
mit Migrationshintergrund durch ihre Familien unter massiven psychischen Druck gesetzt. Dazu zählt die Drohung mit Sanktionen: z.B. dem
Arrangement einer Alibi-Hochzeit, dem Entzug finanzieller Unterstützung, dem Verstoß aus der Familie, in Extremfällen auch mit dem Einsatz körperlicher Gewalt.
Die Frage stellt sich: Welche (herkunftsländerspezifischen) Einstellungen, Auffassungen und Gepflogenheiten bestimmen das Bewusstsein
13
ZINN, Alexander (2004): „Clash of Cultures? Über das Verhältnis türkisch- und arabischstämmiger
Jugendlicher zu Homosexualität und Homosexuellen“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 226- 259. Im Nachstehenden referiere ich aus diesem Beitrag.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
und den Alltag Jugendlicher mit Migrationshintergrund hierzulande heute? Der Berliner Soziologe Michael Bochow14 liefert dazu einige Erkenntnisse, die erhellend sind15. Diese fasst er unter den Überschriften,
„Türkische Familien und türkische Freundeskreise“, „Das Gesetz des
Schweigens“, „Homosexualität in der Türkei“ und „Männliche Homosexualität und Familienehre“ zusammen. Ich trage einige davon auszugsweise vor16:
Erkenntnis 1 Türkischstämmige Familien und türkischstämmige Freundeskreise
Genauso wenig wie es die „deutsche“ Familie gibt, existiert die „türkische“ Familie. Werden dominierende Interaktionsformen ost- und
westdeutscher, türkischer und kurdischer Familien verglichen, zeigen
sich jedoch für die meisten türkischen Familien ganz bestimmte Muster.
Das, was diese Familienform bestimmt, ist die geforderte uneingeschränkte Autorität des Vaters, die auch dann noch gilt, wenn
der Sohn erwachsen ist ... In seiner Anwesenheit sollen die
Söhne zurückhaltend sein. Sie sollen nur reden, wenn sie gefragt werden. (Weiße 1994: 47)
In vielen türkischstämmigen Familien gilt es für die Söhne (von den
Töchtern ganz zu schweigen) als ungehörig, in Gegenwart des Vaters
zu rauchen. Auch unter Geschwistern sollen die jüngeren die älteren
respektieren und ihnen gehorchen. Die älteren Geschwister sollen die
jüngeren beschützen.
Zusätzlich zur Familie und zum Freundeskreis hat für Türkischstämmige
die Nachbarschaft als Beziehungsnetz eine besondere Bedeutung. In
der Regel spielen Freundschaften für Männer und Nachbarschaften für
Frauen eine größere Rolle. Dies ist dadurch bedingt, dass vor allem
der Mann die Außenbeziehungen der Familie wahrnimmt und die Frauen mehr auf den Binnenbereich verwiesen werden (Weiße 1994:60).
Erkenntnis 2 Das Gesetz des Schweigens
Seinen 1998 erschienenen Artikel über männliche Homosexualität in
Marokkos Großstädten hat Francois Courtray mit „La loi du silence“ überschrieben (Courtray 1998: 109ff.). Der Artikel beschreibt kenntnisreich die Lebensbedingungen marokkanischer homosexueller Männer
und die Dethematisierung von Homosexualität (und Sexualität generell)
in der marokkanischen Gesellschaft. Courtray arbeitet dabei heraus,
14
Michael BOCHOW (2003): „Sex unter Männern oder schwuler Sex. Zur sozialen Konstruktion von
Männlichkeit unter türkisch-, kurdisch- und arabischstämmigen Migranten in Deutschland“. In: Homosexualität und Islam, Hg. Michael Bochow, Rainer Marbach, Hamburg, 95-115.
15
Michael BOCHOW (2004): „Junge schwule Türken in Deutschland: Biographische Brüche und Bewältigungsstrategien.“, LSDV 168-188.
16
BOLCHOW, Michael (2004): „Junge schwule Türken in Deutschland: Biographische Brüche und Bewältigungsstrategien“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 168-188.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
wie bestimmend die Normen des in Marokko vorherrschenden Islams
für die Regulierung der Sexualität dieser Gesellschaft sind.
Da diese Normen analog auch in der türkischstämmigen Gesellschaft
gelten, sollen die Ergebnisse der Analyse Courtrays hier skizziert werden. Dabei wird durchaus berücksichtigt, dass auch islamisch geprägte
Gesellschaften höchst unterschiedlich sind. Es wäre absurd, Schweden, Frankreich, Portugal und Brasilien als Einheit zu begreifen, nur
weil die in diesen Ländern vorherrschende Tradition aus unterschiedlichen Konfessionen des Christentums gespeist wird. Marokko und die
Türkei können jedoch als zur Kernzone des Islams zugehörig betrachtet
werden, wie auch Arno Schmitt hervorhebt, wenn er sie als die „... central lands of Islam: the Arab speaking countries plus Iran and Turkey“
(Schmitt 1992: 1)17 benennt.
Aktivität und Passivität konstituieren die Paradigmen des Männlichen
und des Weiblichen in den arabischen Ländern und in der Türkei. Ein
aktiver Mann und eine passive Frau verhalten sich in Marokko in Übereinstimmung mit dem Schöpfungsplan, unabhängig vom Geschlecht ihrer Sexualpartner/-partnerinnen. Homo- und Heterosexualität definieren sich deshalb nicht über eine wie auch immer verstandene Beziehung zu einem anderen Menschen, sondern über die Sexualpraktiken
(Courtray 1998:11). Parallel zu dieser Zweiteilung und Gegeneinanderstellung von Aktiv-Passiv erfolgt in islamischen Ländern eine strenge
Trennung zwischen der häuslichen Sphäre von Frauen und Kindern
und der öffentlichen Sphäre der Männer. In sarkastischem Stil merkt
Arno Schmitt hierzu an:
This separation is not a matter of `separate but equal´ as Muslim
apologists want us to believe. Men consider themselves to be
stronger physically, intellectually, and morally, and to be able to
control instinct and emotion – unlike women, children, slaves,
serfs, eunuchs, barbarians ... and transvestites. (Schmitt 1992:
2)
Ähnliche Einstellungen dominierten im Übrigen im „christlichen“ Europa
bis zum Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg (vgl. u.a. Mosse 1985). Die abwertende Sichtweise von männlicher Homosexualität betrifft in erster
Linie Männer, die rezeptiven Analverkehr eingehen. In den islamischen
Ländern rund um das Mittelmeer spielt mann-männliche Sexualität seit
jeher eine bedeutsame Rolle. Das klassische Arabisch und das Türkisch hatten vor der Übernahme der europäisch-nordamerikanischen
Begriffe der Homosexualität und des Homosexuellen keine globalen Kategorien hierfür:
In the societies of Muslim North Africa and Southwest Asia ...
there are no „homosexuals“ – there is no word for „homosexual17
Arno SCHMITT (1992): „Different Approaches to Male-Male Sexuality/Eroticism from Morocco to
Usbeksitan“. In: Sexuality and Eroticism Among Males in Moslem Societies, Hg. Arno SCHMITT, Jehoeda Sofer, New York, London, 1-24.
25
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
ity“ – the concept is completely unfamiliar. There are no heterosexuals either. (Schmitt 199: 5)
Schmitt betont zudem:
In classical Arabic there was no word meaning homosexuality;
the translations given in modern dictionaries are either recently
coined literal translations of „homosexualtiy“ or simply wrong.
(Schmitt 1992: 8)
Es sei ja daran erinnert, dass auch in Europa die Begriffe „Homosexualität“ und „homosexuell“ eine Wortschöpfung des 19. Jahrhunderts darstellen und sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzten. Vor allem Männer in der Türkei und in arabischen Ländern definieren sich
über ihre Sexualpraktiken, aber nicht über das Geschlecht ihrer Sexualpartner/-partnerinnen. Dazu gleich mehr. Bestimmte Sexualpraktiken
mit männlichen Jugendlichen oder erwachsenen Männern unterliegen
nicht scharfen negativen sozialen und moralischen Sanktionen. Für
Nordafrikaner, so Arno Schmitt, sei es selbstverständlich, dass Männer
gerne alles Mögliche penetrieren. Folglich sei es verständlich, dass
manche Männer jungen Frauen vorziehen. (Schmitt 1992: 5)
Soweit insertiver (= eindringender/aktiver) Analverkehr erfolgt, ist dieser
für den aktiven Partner nicht ehrenrührig. Ein Mann, der insertive Praktiken bevorzugt und der im europäischen Sinne als Homosexueller gelten könnte, lebt sein Leben am besten, wenn er heiratet, um drohende
Marginalisierungsprozesse zu entgehen. Die Ehe ist eine überaus
wichtige Institution der türkisch-arabischen Welt. Als Lediger zu leben,
wird als vollkommen unnormale Situation angesehen. Auch wenn für
arabisch- und türkischstämmige Männer die Ehe nicht die gleichen
Zwänge mit sich bringt wie für ihre Frauen, stellt die Eheschließung für
sie doch eine entscheidende Statuspassage dar. Erst dieser für die islamische Kultur zentrale Ritus macht aus einem jungen Mann einen autonomen und unabhängigen Erwachsenen. Dies geht so weit, dass es
für junge unverheiratete Männer sehr schwierig ist, alleine außerhalb
des Elternhauses zu wohnen (Courtray 199: 118).
Erkenntnis 3 Homosexualität in der Türkei
Hervorgehoben werden muss, dass die spezifische Form der Geschlechterpolarisierung in arabischen Ländern und in der Türkei eine
Zweiteilung und Gegeneinanderstellung der „Rollen“ gleichgeschlechtlicher männlicher Sexualpartner erzwingt. So erfahren wir von Mehmet
Ümit Necef18:
The word „homosexual“ entered Turkish by translations from
European languages: first as homoseksüel. During the turkification of the language after the foundation of the republic in 1923
the word escinsel (equal-sex-ual) was coined, but this did not fit
18
Mehmet Ümit NECEF (1992): „Turkey on the Brink of Modernity: A guide for Scandinavian Gays“.
In: Hg. Arno SCHMITT, Jehoeda Sofer: Sexuality and Eroticism Among Males in Moslem Societies,
New York. London. 71-75.
26
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
the roles and identities in Turkey and confusion arose. The existing roles for sexual relations between men were ibne and kulampara. An ibne is an effeminate man who exclusively plays
the `passive´ role in the sexual act. He does not marry, because
he is (thought to be) impotent. An ibne can be transvestite –
earning his living by dancing, singing, or prostituting himself. To
be an ibne is the worst thing a man can be. Simply because he
accepts being fucked „like a woman“ and moves and speaks in
an unmanly manner ... The other role is played by the kulampara
(from the Persian gulam-pare, `fucker of boys´) or oglaanci, „having to do with boys“. A kulampara is over 16 and nearly always
married, like all men – you are expected to marry after military
service at the latest ... In contrast to ibne, kulampara does not
constitute a special type of man. Any married man „too full of
lust“ or separated too long from his wife looks for prostitutes, mistresses, animals (dogs and donkeys), or ibneler. Nobody would
consider himself as „abnormal“, „perverse“, „sinful“, let alone
„homosexual“ for fucking an ibne. (Necef 1992: 72)
Aus dieser polaren Konstruktion gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens folgt für Mehmet Ümit Necef, dass eine schwule Subkultur, die
vergleichbar mit der in Europa nördlich der Alpen wäre, sich allenfalls in
den westlichen Millionenstädten der Türkei im Ansatz herausbildet, die
aber selbst im Vergleich mit Griechenland noch „unterentwickelt“ ist
(Necef 1992: 75). Für Mehmet Ümit Necef ist der Geschlechtrollenwechsel unter türkischen Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten weiterhin sehr charakteristisch. Viele Männer verhalten und
kleiden sich wie Frauen, und andere betonen ihre Männlichkeit. Die
Unterschiede im Sozialverhalten betreffen mehr die Differenz von ibne
und kulampara; die Gemeinsamkeit, schwul oder gay zu sein, wird weniger verspürt.
Transvestism plays a much bigger role in Turkey (and Southern
Europe) than in the North or in the USA. This seems to be the
result of relations between the sexes. Turkish men and women
almost live in two different worlds. The homosexuals are just aping the “normal“ world. (Necef 1992: 75)
Ibne und kulampara können auf keinen Fall mit „Schwuler, der rezeptiven Analverkehr bevorzugt“ und „Schwuler, der insertiven Analverkehr
bevorzugt“, übersetzt werden. „Kulampara“ ist einfach ein „Ficker“, der
wechselnde Sexualobjekte haben kann (Frauen, Männer, Tiere). Ibne
könnte allenfalls mit „Tunte“ oder „Schwuchtel“ übersetzt werden. Ibne
muss nicht zwangsläufig auf homosexuelles Sexualverhalten verweisen, sondern bezeichnet ein Auftreten, dem Mut, Unerschrockenheit
und männliche Souveränität fehlen. Ibne ist der Inbegriff unmännlichen
Verhaltens, wie es im Deutschen mit Tunte assoziiert wird und in dem
Sinne, dass sich auch heterosexuelle Männer tuntig oder zickig verhalten können. Der Begriff bezieht sich auf die fehlende Bereitschaft oder
Fähigkeit, sich im herkömmlichen Sinne männlich zu verhalten, mit
männlichem Mut, männlicher Umsicht und Überlegenheit auf Heraus27
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
forderungen zu reagieren (im Sinne von „Weichei“ oder Waschlappen“).
Geht es um sexuelle Praktiken, bezeichnet ibne das „Geficktwerden“,
die verachtenswerte Passivität des unterlegenen Schwulen (vg. Die
1998: 52-53).
„Jemanden ficken“ bedeutet, männlich und potent zu sein. Im
übertragenen Sinne bedeutet es, sich gegen etwas zu widersetzen und aufzulehnen. (Die 1998: 54)
Die scherzhafte oder aggressive Drohung, von arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen häufiger ausgesprochen, „Ich fick dich“ ist
deshalb nicht als Ankündigung einer sexuellen Interaktion zu verstehen,
sie soll vielmehr sowohl Auseinandersetzung- und Kampfbereitschaft
signalisieren wie auch die Gewissheit, den Kontrahenten/Gegner überwältigen, besiegen zu können (siehe Tertilt 1996: 189ff.).
Männliche Homosexualität und Familienehre
Dass in muslimischen Migrantenfamilien auch ganz anders auf einen
schwulen Sohn/Bruder reagiert wird, als von den türkischen Interviewpartnern berichtet, macht eine Studie von Christelle Hamel in Frankreich deutlich, die im Großraum von Paris 46 junge maghrebinische
Frauen und Männer interviewt hat. Unter diesen befanden sich neun
Männer zwischen 19 und 27 Jahren, die gleichgeschlechtliche sexuelle
Kontakte eingehen und bereit waren, darüber zu berichten. Diese neun
Männer haben alle versucht, ihre homosexuellen Kontakte gegenüber
ihrer Familie zu verheimlichen. Bei zwei dieser Männer wurden die
Kontakte von den Eltern entdeckt. Beide wurden von ihren Familien
verstoßen. In der Sicht der maghrebinischen Familien gefährdet die
Homosexualität des Sohnes nicht nur den Familienverband, sondern
die gesamte Gesellschaft. Um zu dokumentieren, wie massiv die Reaktionen der Herkunftsfamilien sein können, sei aus dem französischen
Forschungsbericht die Mitteilung eines jungen Franzosen algerischer
Herkunft zitiert:
Meine Mutter hat mir gesagt: „Ich hätte es vorgezogen, dass du
ein Drogenabhängiger, ein Krimineller, selbst ein Knabenschänder oder Vergewaltiger geworden wärst (...) Alles, nur das nicht
(...) Wir hätten es lieber gehabt, dass du gestorben wärst. Wir
hätten gelitten, aber die Wunde wäre vernarbt. So ist es eine
Wunde, die die ganze Zeit offen bleibt, bis ans Ende unserer Tage, weil du immer noch da bist. Du lebst, und du bleibst so, das
wird nie vernarben.“ (Übersetzt von Michael Bochow aus dem
Französischen; Hamel 2000:36)
Hervorzuheben bleibt Folgendes: Diese dramatische Reaktion ist nicht
dadurch zu erklären, dass die Familienmitglieder des jungen maghrebinischen Franzosen so gläubig-orthodoxe Muslime wären, denn nur eine
Minderheit der algerisch- oder marokkanischstämmigen Migranten in
Frankreich heute ist dies.
28
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Die massive Ablehnung der Homosexualität des Sohnes ist begründet in der spezifischen Form des Geschlechtsverhältnisses
und vor allem in der sozialen Konstruktion von Männlichkeit in
den Sozialmilieus der maghrebinischen Migranten in Frankreich.
Der sozialen Konstruktion von Männlichkeit entspricht ein bestimmtes Verständnis der männlichen Ehre und der Ehre der gesamten Familie – des gesamten Clans. Dies arbeitet Christelle
Hamel in ihrer Studie eindrucksvoll heraus. Der soziale Konstitutionsprozess von Männlichkeit und das soziale Konstrukt der
„Ehre“ sind wesentlich bedeutsamer für die strikte Ablehnung der
Homosexualität als der muslimische Glaube. Doch ist dieser in
seiner spezifischen Überlieferung sicherlich mitbestimmend für
die normativen Orientierungen dieser maghrebinischen Familien.
Christelle Hamel ist nur zuzustimmen, wenn sie hervorhebt:
Im Unterschied zu anderen Formen der männlichen Entehrung enthält
die Homosexualität eine Besonderheit, die sie unerträglicher als alles
andere macht: sie berührt das Männliche in seiner behaupteten Überlegenheit über das Weibliche, womit bestätigt wird, dass das Männliche
vor allem auf der Unterwerfung des Weiblichen beruht, diese ist die
Essenz des Männlichen. So ermöglicht es – unter Berücksichtigung der
Tatsache, dass die Ehre aller männlichen Familienmitglieder bedroht ist
– nur der Tod des homosexuellen Mannes, physischer Tod oder sozialer Tod durch die Unterwerfung und Hingabe zur geforderten Heterosexualität oder den Ausschluss aus dem Familienverband, die verlorene
Ehre19 wieder zu gewinnen. (Übersetzt von Michael Bochow aus dem
Französischen; Hamel 2000:36)
„Kai ist schwul. Murat auch! Sie gehören zu uns – jederzeit!“ Vor dem Hintergrund
der mitschwingenden Herkunftslandkultur vollzieht sich jeglicher Selbstfindungs- und
Sensibilisierungsprozess, der eine Aufklärungsmaßnahme wie diese in Gang zu
bringen vermag.
Wir fassen zusammen und leiten zur Reflexion über20:
Enge Bindungen an Elternhaus, Familie, Herkunftskultur und Religion,
nicht selten auch ökonomische Abhängigkeiten, erschweren eine Distanzierung von traditionellen Wert- und Normvorstellungen.
19
„Ehrenmorde“ liegen einer Studie des Bundeskriminalamtes (BKA) Wiesbaden zufolge dann vor,
wenn ein Familienmitglied aus vermeintlichkultureller Verpflichtung heraus getötet werden soll, um
der „Familienehre“ gerecht zu werden. Zwischen 1996 und Mitte 2005 sind in Deutschland 48 Menschen bei so genannten Ehrenmorden getötet worden, 36 der Opfer waren Frauen. Die Autoren der
Studie betonen allerdings, dass die muslimische Religion und türkische Herkunft von Tätern und
Opfern kaum eine Rolle spielen. Durchgängige Ursachen seien vielmehr „die starre Verwurzelung in
vormodernen agrarischen Wirtschafts- und Sozialstrukturen“ und das damit verbundene extrem patriarchalische Familienverständnis. Vgl: www.bka.de
20
Alexander ZINN liefert dazu einen anregenden Einstieg, den wir im Nachfolgenden auszugsweise
wiedergeben wollen. Alexander ZINN (2004): „Clash of Cultures? Über das Verhältnis türkisch- und
arabischstämmiger Jugendlicher zu Homosexualität und Homosexuellen”. In LSVD, 226-259. Im
Nachfolgenden
29
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Ein Coming-out droht mit der Auflösung von bewährten Zugehörigkeiten
und Beziehungen, einer allgemeinen Destabilisierung der eigenen Lebenssituation und dem Verlust der ökonomischen Lebensgrundlagen
einherzugehen. Und auch die Auflösung traditioneller Wert- und Normvorstellungen wird nicht selten als bedrohlich empfunden.
Aus diesen Gründen sind Sozialisationsverläufe, identifikatorische Anbindungen, Identitätskonstruktionen und subkulturelle Lebenspraktiken
beim homosexuellen Coming-out von Einwandererjugendlichen oft von
Widersprüchen und Verstrickungen geprägt. Vielfältige Varianten sind
möglich, die allesamt kaum als sicher und stabil zu bewerten sind (vg.
Heitmeyer 1997: 25):
-
pragmatische Patchwork-Aktivitäten, das heißt die Tendenz, die
jeweils als passend angesehenen Aspekte der eigenen Migrantencommunity wie der homosexuellen Bezugsgruppe aufzunehmen und zu leben:
-
aus der Not geborene, chamäleonhaft-opportunistische Aktivitäten, um sowohl dem Konformitätsdruck von Familie und Migrantencommunity, als auch den Erwartungen neuer Bezugsgruppen
in der schwul-lesbischen Szene gerecht zu werden.
-
Assimilationsverhalten bis hin zur Überanpassung an die Regeln
der neuen, schwul-lesbischen Bezugsgruppe.
Derartige Verhaltsmuster sind besonders bei homosexuellen
Migranten/Migrantinnen der zweiten und dritten Generation zu beobachten. Während die Einwanderergeneration ihrer Eltern oder
Großeltern meist kulturell und oft auch sprachlich isoliert lebt, ist bei
ihren Kindern und Enkeln eine starke Diversifikation der Identitätsfindungsprozesse festzustellen. Diese klaffen zunehmend auseinander – von der kulturellen Segregation bis hin zur vollständigen Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft. Bei schwulen und
lesbischen Migrantinnen/Migranten kann das Comig-out den Integrationsprozess beflügeln, der bei vielen ihrer heterosexuellen Altersgenossen ins Stocken geraten ist. In seinem Verlauf ist dieser aber
oftmals wesentlich größeren Gefahren ausgesetzt als der ihrer heterosexuellen Altersgenossen.
Nahm die erste Immigrantengeneration homosexuelle Kontakte oft
nur an anonymen Orten wie Klappen an Bahnhöfen und AutobahnRaststätten und in Parks auf, so sind Angehörige der zweiten und
dritten Generation auch an verbindlicheren Treffpunkten, wie schwulen oder lesbischen Jugendtreffs, Geschäften, Cafés, Bars oder Diskotheken, anzutreffen. Zunehmend organisieren sie sich auch in
Gruppen, die im Prozess von Coming-out und Identitätssuche eine
wertvolle Stütze sein können. Am weitesten fortgeschritten ist die
Selbstorganisation bei türkeistämmigen und griechischen Jugendlichen und Heranwachsenden, aber auch Schwule und Lesben aus
30
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
dem ehemaligen Jugoslawien, Russland, Asien und Lateinamerika
sind dabei, eigene Strukturen aufzubauen. Solche Versuche der
Selbstorganisation erweisen sich bisslang noch als äußerst fragil
und sind permanent von Rückschlägen bedroht. Oft sind sie abhängig vom Engagement einzelner Personen – ändern diese ihre
Lebensplanung, kann das schnell das Ende der jeweiligen Gruppe
bedeuten. Umso wichtiger ist es, dass eine solche „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch professionelle Beratungsangebote für schwule Migranten und lesbische Migrantinnen ergänzt wird.21 Zumal die individuellen Identitätsfindungsprozesse oft sehr instabil sind. Die Gefahr,
dass die Suche nach einer spezifisch eigenen Einbindung in die
homosexuelle Welt scheitert, ist groß. Legt man eine Analyse von
Heitmeyer (1997: 26) zugrunde, so droht ein Scheitern insbesondere dann,
-
wenn sich abzeichnet, dass ein Identitätsspagat nicht mehr zu
verkraften ist und die Suche nach „Einheit“, Eindeutigkeit und
Gewissheit zunimmt,22
-
wenn der ständige Wechsel zwischen den Erwartungen der kulturellen Referenzgruppen nicht ausgehalten wird und zugleich
existentielle Versorgungs- und Unterstützungsleistungen etwa
der Eltern bedroht erscheinen,
-
wenn die Integrationsbemühungen gegenüber der
homosexuellen Aufnahmegruppe mit Ausgrenzungserfahrungen
einhergehen, entweder durch eine positive Diskriminierung als
besonders begehrenswerter und potenter Sexualpartner oder
durch eine Stigmatisierung als Stricher und Krimineller.
Die Erfahrungen zeigen, dass ein Teil der homosexuellen Migrantinnen/Migranten
in der Lage ist, mit diesen Anforderungen zurechtzukommen, das heißt, eine individuell befriedigende Biographie zu gestalten. Viele schwule und lesbische Einwanderinnen/Einwanderer fühlen sich diese Herausforderung nur bedingt gewachsen. Sie führen ein als unbefriedigend empfundenes (Doppel-)Leben – nicht
selten mit weitreichenden Konsequenzen, von psychischen Problemen bis zu
schwerwiegenden Störungen des Sozialverhaltens.
21
Bislang gibt es in Deutschland nur wenige derartige Angebote. Einzigartig ist nach wie vor das
Berliner Zentrum MILES mit spezifischen Beratungsangeboten für schwule Migranten und lesbische
Migrantinnen. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit ist es, in den Migrantencommunitys für Toleranz
gegenüber Homosexuellen zu werben. www.miles.lsvd.de
22
Bochow (2004) schildert den Fall von Mehmet, der versucht, „sein inneres Gleichgewicht zu finden, indem er in den islamischen Glauben flüchtet“. BOLCHOW, Michael (2004): „Junge schwule
Türken in Deutschland: Biographische Brüche und Bewältigungsstrategien“. In: Hg. LSVD BerlinBrandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin,
168-188.
31
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Denkanstöße
Zur Aufrundung dieser streiflichtartigen Bestandsaufnahme der Hintergründe
zu den Erlebniswelten und Konflikterfahrungen homosexueller Jugendlicher
mit Migrationshintergrund halten wir fest:
Jugendliche mit Migrationshintergrund durchlaufen Sozialisationsprozesse, die die Selbstfindung, die Wahrnehmung und Annahme der eigenen sexuellen Orientierung unter Umständen schwieriger vonstatten
gehen lassen als dies bei ihren sonstigen Altersgenossen/-genossinnen
der Fall ist.
Welche Handlungsperspektiven ergeben sich daraus für die Arbeit mit Jugendlichen in Frankfurt heute?
Die Verständigung und Vertiefung in Kleingruppen wird uns sicherlich ein
Schrittchen weiter bringen. Dazu einige Denkanstöße:
° Jugendliche zu selbstbestimmten Lebensentwürfen ermutigen:
Aufklärung, Sensibilisierung und Akzeptanz - Schule/Freizeit
(vgl. Aufklärungskampagne „Cigdem ist lesbisch/Kai ist schwul!“);
° Interkulturelle Freizeitgestaltung mit `wachem Gespür´ zur
kontextrelevanten Thematisierung gemeinschaftsgefährdender
Vorkommnisse, Alternativangebote und Kontaktadressen;
° Gedanken-/Erfahrungsaustausch zu aktuellen Themen
Schulordnung: „Deutsch auch auf dem Pausenhof!“
Neue Lernperspektiven: „Rütlischule Berlin-Neukölln“
„Kopftuchträgerinnen“, „Schuluniform“, “Ehrenmord“
“`Du PASSt zu mir´: Einbürgerungskampagne des Berliner Senats“.
Nachtrag
Ausgeblendet musste in unseren Ausführungen die Lebenswirklichkeit von
Jugendlichen weiblichen Geschlechts bleiben, da wir uns diesmal die ihrer
Gleichaltrigen männlichen Geschlechts zur näheren Betrachtung vorgenommen hatten. Ich bitte um Nachsicht. Auch haben wir nur am Rande darauf
hinweisen können, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in der lesbisch-schwulen Szene mehrfache Ausgrenzung und Ausbeutung erleiden einerseits als begehrte Exoten für gewisse Augenblicke, andererseits als unwillkommene Zaungäste an bestimmten Treffpunkten und in bestimmten Freizeiteinrichtungen. Genuin-freundliche Begegnungen `auf Augenhöhe´, bedingungslose Akzeptanz und selbstverständliches Zusammengehörigkeit bleiben
für sie in Frankfurt heute weitgehend eine Ausnahmeerfahrung. Verbale und
gewalttätige Übergriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender
durch männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund sind seit langem kein
unbekanntes Thema mehr23. Diese und ähnliche Problemanzeigen pochen
darauf, zur Sprache gebracht zu werden!
23
Vgl. u.a.: GÜNAY, K.A., (2003): „Homophobe Übergriffe auf türkeistämmige Lesben und Schwule“.
Presseerklärung des Vereins GLADT (Gays and Lesbians aus der Türkei) e.V. vom 09. Juli 2003.
32
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Regen Austausch und Einfallsreichtum wünsche ich uns.
Vielen Dank.
0. Quellen und Literaturhinweise:
BOLCHOW, Michael (2003): „Sex unter Männern oder schwuler Sex.
Zur sozialen Konstruktion von Männlichkeit unter türkisch-, kurdischund arabischstämmigen Migranten in Deutschland“. In: Homosexualität
und Islam, Hg. Michael Bochow, Rainer Marbach, Hamburg, 95-115.
BOLCHOW, Michael (2004): „Junge schwule Türken in Deutschland:
Biographische Brüche und Bewältigungsstrategien“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 168-188.
Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Berliner
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (2005): Infopaket und
Unterrichtsmaterialien zum Einsatz des LSVD-Plakats „Çiğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“, www.senbjs.berlin.de
GHADBAN, Ralph (2004): „Gescheiterte Integration? Antihomosexuelle
Einstellungen türkei- und arabischstämmiger MigrantInnen in Deutschland“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 39-63.
HAMEL, Christelle (2000): Identités sexuelles, honneur et attitudes faces au HIV: Le cas des jeunes Maghrébins de France. Forschungsbericht für die Agence Nationale de Recherche sur le SIDA (ANRS), paris,
unveröff. Manuskript.
HEITMEYER, W., MÜLLER, J., SCHRÖDER, H. (1997): Verlockender
Fundamentalismus: Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt
am Main: edition suhrkamp.
NECEF, Mehmet Ümit (1992): „Turkey on the Brink of Modernity: A
guide for Scandinavian Gays“. In: Hg. Arno Schmitt, Jehoeda Sofer:
Sexuality and Eroticism Among Males in Moslems Societies, New York,
London, 71-75.
SCHENK, Michael (1996): „Links ist cool, rechts ist schwul – zur
Schwulenfeindlichkeit männlicher Jugendlicher in der offenen Jugendarbeit“. In: Hg. Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen: Opfer Täter Angebote.
Gewalt gegen Schwule und Lesben. Dokumente lesbisch-schwuler
LÖHER, U., (2003): „80%-90% der Taten werden nicht angezeigt“. Interview mit dem Ansprechpartner für Lesben und Schwule bei der Berliner Polizei, Uwe Löher, S. 15-17 in: Lubunya, Zeitschrift
für Lesben & Schwule aus der Türkei, April 2003.
33
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Khumalo-Seegelken: Erlebniswelten und Konflikterfahrungen
Emanzipation des Fachbereichs für gleichgeschlechtliche Lebensweisen Nr. 15, Berlin, 52-56.
SCHMITT, Arno (1992): „Different Approaches to Male-Male Sexuality/Eroticism from Morocco to Usbekistan“. In: Sexuality and Eroticism
Among Males in Moslem Societies, Hg. Arno Schmitt, Jehoeda Sofer,
New York, London, 1-24.
TERTILT, Hermann (1993): „Ibne. Zum Verständnis zwischenmännlicher Sexualität in der Türkei“. In: Männersexualität, Hg. Haydar
Karatepe, Christian Stahl, Reinbek, 125-137.
ZINN, Alexander (2004): „Clash of Cultures? Über das Verhältnis türkisch- und arabischstämmiger Jugendlicher zu Homosexualität und
Homosexuellen“. In: Hg. LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter
dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin, 226259.
34
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Nordt/Kugler: „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ (AG 1)
2.1. „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ Gender und sexuelle Identität
als Themen in der Arbeit mit Jugendlichen
Leitung und Protokoll:
Stephanie Nordt und Thomas Kugler
KomBi - Kommunikation und Bildung, Berlin, www.kombi-berlin.de
Die Arbeitsgruppe 1 wurde von insgesamt 13 Personen besucht. Die Arbeitsfelder
der zehn Teilnehmerinnen und drei Teilnehmer reichten vom Sozialdienst des Jugendamtes, der Familienberatung und der ambulanten Jugendhilfe (Erziehungsbeistandschaft) über die Schulsozialarbeit und offene Jugendarbeit im Sportbereich bis
hin zu Angeboten in Kinderhaus, Teeny-Club, Jugendhaus und Mädchenhaus. Die
AG fand im Stuhlkreis statt und es wurde mit interaktiven Methoden gearbeitet.
In der Eingangsrunde stellten sich die Teilnehmenden mit Namen, beruflichem Hintergrund und persönlicher Motivation für diese Arbeitsgruppe vor. Zusätzlich wurden
sie gebeten, der Gruppe eine erste Assoziation zu dem Begriff „Coming-out“ mitzuteilen. Neben positiven Begriffen, wie z.B. Sonnenschein, Befreiung, neuer Lebensabschnitt, mutig, aufregend wurden auch deskriptive (Veröffentlichung, zu sich stehen
nach außen) und unangenehme Assoziationen genannt, wie etwa Konfrontation,
Leistungsdruck und Schock.
In einer Kurzpräsentation wurde die Berliner Bildungseinrichtung KomBi mit ihrem
Konzept von Lebensformenpädagogik1 und ihren aktuellen Angeboten der pädagogischen Fortbildung und der Jugendbildung vorgestellt. KomBi führt seit 1981 Bildungsveranstaltungen zum Thema gleichgeschlechtliche Lebensweisen durch. Mit
einem Diversity-Ansatz auf der Grundlage des Diskriminierungsverbotes in Artikel 13
des Amsterdamer Vertrages und Artikel 21 der Grundrechte-Charta der EU sensibilisiert KomBi für gesellschaftliche Vielfalt aufgrund von Hautfarbe, ethnischer Herkunft,
Alter, Behinderung, Religionszugehörigkeit, sexueller Identität und Geschlecht.
Auf erfahrungsbezogene Weise wurde in das Thema Differenz mit einer Wahrnehmungsübung eingeführt. Die von KomBi entwickelte Übung Anderssein - Unterschiede und Gemeinsamkeiten macht deutlich, dass wir in verschiedenster Hinsicht an
sozialen Mehrheiten und sozialen Minderheiten teilhaben, dass diese Zugehörigkeiten jedoch unterschiedlich wahrgenommen und vor allem gesellschaftlich unterschiedlich bewertet werden. Die Übung verdeutlicht zudem Gemeinsamkeiten zwischen den üblicherweise als "anders" geltenden Lesben und Schwulen und den sich
als "normal" empfindenden Heterosexuellen. Nach der Übung wurden die gemachten
Erfahrungen ausgetauscht und in der Gruppe die besonderen Lebensbedingungen
von Menschen diskutiert, die nicht dem gesellschaftlichen Mainstream angehören.
Dabei wurde aufgezeigt, wie Dominanzkulturen die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe oder den Ausschluss von dieser Teilhabe bestimmen.
1
vgl. dazu auch den Beitrag "Lebensformenpädagogik" auf der Website www.kombi-berlin.de sowie:
Thomas Kugler, Erwachsenenbildung zum Thema weibliche und männliche Homosexualität – Konzeptionelle Grundlagen und Qualitätsmerkmale, in: Jutta Hartmann e. a. (Hrsg.), Lebensformen und
Sexualität: Herrschaftskritische Analysen und pädagogische Perspektiven, Bielefeld, Kleine Verlag,
1998, S. 221-229
35
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Nordt/Kugler: „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ (AG 1)
Weil Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender hauptsächlich in ihrer Abweichung von herrschenden Geschlechterstereotypen wahrgenommen werden, gaben
wir einen ausführlichen inhaltlichen Input zu den Themen Geschlechtervielfalt und
Heteronormativität:
In einem Powerpoint-unterstützten Überblick über unterschiedliche Aspekte von Geschlechtervielfalt erläuterten wir die Begriffe Geschlecht, Sex und Gender sowie Sexuelle Identität als Kombination der vier maßgeblichen Faktoren Biologisches Geschlecht, Psychisches Geschlecht, Soziales Geschlecht und Sexuelle Orientierung.
Dabei wurden auch die Begriffe Intersexualität, Transsexualität, Transgender, Transvestismus, Hetero-, Homo- und Bisexualität näher erläutert und mit Beispielen erhellt.
Das uns gesellschaftlich umgebenden System der Heteronormativität beschreibt ein
binäres Geschlechtermodell, in dem nur zwei hierarchisch organisierte Geschlechter
– Männer und Frauen – akzeptiert sind und das biologische Geschlecht (sex) mit der
Geschlechtsidentität (gender) und der sexuellen Orientierung gleichgesetzt wird.
Zentral ist die allgemeine Annahme von nur zwei „normalen“ biologischen und sozialen Geschlechtern (männlich und weiblich) und den sich daraus mathematisch ergebenden möglichen Varianten sexuellen Begehrens – Heterosexualität, Bisexualität
und Homosexualität. Diese Varianten bestehen im heteronormativ geprägten gesellschaftlichen Diskurs nicht als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander, vielmehr stellt das Konzept der Heterosexualität die Norm dar, während die anderen Begehrensweisen lediglich Abweichungen von der Norm bilden können und folglich als
unnormal gelten.
Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden die Auswirkungen von Heteronormativität auf die Lebenssituationen von lesbischen und schwulen Jugendlichen erläutert
und aktuelle Forschungsergebnisse zu ihrer psychosozialen Situation vorgestellt.
In unseren Ableitungen für die pädagogische Praxis nahmen wir vor allem Bezug auf
die erforderliche pädagogische Haltung, die die Existenz gleichgeschlechtlicher Liebe
schon im Vorfeld berücksichtigen und entsprechende Angebote – z.B. durch eine
inklusive Sprache, Sichtbarkeit nicht-heterosexueller Lebensweisen etwa durch Bilder und Plakate etc. – machen sollte, um zu signalisieren, dass im Unterschied zur
gewohnten Tabuisierung eine Offenheit für die Vielfalt von Lebensformen gegeben
ist. Gerade Jugendliche auf der Suche nach ihrer eigenen Identität nehmen solche
Signale sehr deutlich wahr.
Für die Weiterarbeit der Teilnehmenden empfahlen wir geeignete Literatur und Medien (vgl. Anlage Weiterführende Informationen für PädagogInnen zum Thema
gleichgeschlechtliche Lebensweisen) und stellten ausgewählte Fachbücher und Broschüren zum Thema sexuelle Identität vor.
Wir beendeten die Veranstaltung mit einer aktionssoziometrischen Aufstellung und
einer Blitzlichtrunde, in der alle TeilnehmerInnen ihre Zufriedenheit mit der AG ausdrückten. Viele bedauerten den knappen Zeitrahmen und wünschten sich vor allem
die Gelegenheit, weiter an der Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in die pädagogische Praxis arbeiten zu können.
36
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Nordt/Kugler: „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ (AG 1)
Weiterführende Informationen für PädagogInnen
zum Thema gleichgeschlechtliche Lebensweisen
Bücher, die Sie kennen sollten
Schwul - na und?
Grossmann, Thomas
Rowohlt, Reinbek 2002 (Erweiterte Ausgabe)
OUT! 800 berühmte Lesben, Schwule & Bisexuelle
Fessel, Karen-Susan / Schock, Axel
Querverlag, Berlin 2004 (5. Auflage)
Das Buch ist mit zahlreichen Fotos und einem ausführlichen Register übersichtlich gestaltet und bietet
biografische Informationen zu 800 lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Prominenten aus
verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.
Überall auf der Welt. Coming-out-Geschichten
van Dijk, Lutz
Querverlag, Berlin 2002
Das Buch enthält zwölf Autobiographien von lesbischen Frauen und schwulen Männern – von Panama bis China, von Russland bis Südafrika. Am Anfang jeder Geschichte lernt man die AutorInnen über
Fotos von früher und heute kennen. Das Vorwort von amnesty international nimmt Bezug auf die
weltweite Unterdrückung von Lesben und Schwulen.
Amnesty International: Dinkelberg, Wolfgang; Gundermann, Eva; Hanenkamp,
Kerstin; Klotzenburg, Claudia
Das Schweigen brechen – Menschenrechtsverletzungen aufgrund sexueller
Orientierung
Berlin 2001
Das Buch beschreibt aktuelle Menschenrechtsverletzungen an Lesben, Schwulen und Transgender in
über 50 Ländern. Eine Ländertabelle und eine ausklappbare Weltkarte geben Überblick über die
rechtlichen Bestimmungen und den Umgang mit Homosexualität in den einzelnen Staaten.
Internetadressen, die Sie weiter bringen
Kommunikation und Bildung vom anderen Ufer
www.kombi-berlin.de
Jugendnetzwerk LAMBDA Berlin e.V.
www.lambda-bb.de
Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport
www.senbjs.berlin.de/familie/gleichgeschlechtliche_lebensweisen/thema_gleichgesc
hlechtliche_lebensweisen.asp
Handbuch „Mit Vielfalt umgehen: Sexuelle Orientierung und Diversity in Erziehung
und Beratung“
Dieses Handbuch enthält eine Vielzahl an Methoden für Schule, Jugendarbeit und Beratung. Es zielt
darauf ab, Diskriminierung in einer multikulturellen Gesellschaft zu bekämpfen.
www.triangle-info.de/einleitung/ix_einleitung.htm
37
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Nordt/Kugler: „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ (AG 1)
Broschüren, in denen Sie mehr erfahren
Heterosexuell? Homosexuell?
Sexuelle Orientierungen und Coming-out … verstehen, akzeptieren, leben
Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Köln 1994/2000/Erweiterte Neuauflage 2004
Bezug: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (kostenlos)
Ursprünglich für Eltern geschrieben, bietet diese Broschüre Basiswissen für alle Interessierten.
Sie liebt sie - Er liebt ihn Eine Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben,
Schwuler und Bisexueller in Berlin
Berlin 1999
Eine Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler und Bisexueller in Berlin
www.senbjs.berlin.de/familie/gleichgeschlechtliche_lebensweisen/veroeffentlichunge
n/doku_21.pdf
Jugendliteratur, die Sie empfehlen können
Am I blue? 14 Stories von der anderen Liebe
Bauer, Marion Dane (Hrsg.)
Carlsen, Hamburg 1996
Hervorragende Sammlung von Geschichten zum Thema Lesbischsein und/oder Schwulsein bei Jugendlichen. (Einziger Nachteil: Das Wort "gay" ist immer mit "schwul" übersetzt, auch dort wo es "lesbisch-schwul" oder "lesbisch" heißen muss)
Sterne im Bauch
Beerlage, Ahima
Krug & Schadenberg, Berlin 1998
Die Mitte der Welt
Steinhöfel, Andreas
Carlsen, Hamburg 1998
Plakate, mit denen Sie Denkanstöße geben können
„Çiğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“
„Kai ist schwul - Murat auch - Sie gehören zu uns – jederzeit“
Die Plakate sind zu beziehen über: www.lsvd-berlin.de
Filme, die Sie Jugendlichen zeigen können
Raus aus Åmål. Ein Film von Lucas Moodysson, Schweden 1999.
Beautiful Thing. Ein Film von Hettie Macdonald, GB 1996.
Von Frau zu Frau. Lesben in freier Wildbahn (Mädchenzentrum Hannover, 2003)
Die folgenden Filme sind unter der jeweiligen Medien-Nummer beim AVMedienverleih des LISUM (Berliner Landesinstitut für Schule und Medien) auszuleihen, Tel.: 9026-66 81, www.lisum.de
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Nordt/Kugler: „Heißes Eisen oder Vielfalt bereichert?!“ (AG 1)
Moskito: Schwul - Lesbisch
44 min., BRD 1993, Medien-Nr: 4255516
Adressaten: S1: (Sch 9-10), S2: (Sch 11-13), J: (L 14-16)
Vom Grau zum Lila - Was es bedeutet, lesbisch zu sein
29 min., BRD 1991, Medien-Nr: 4252848
Adressaten: S2: (Sch 11-13), J: (L 16)
Liebe kann so schön sein
27 min., BRD 1993, Medien-Nr. 4254109
Adressaten: S1: (Sch 7-10)
Sechs mal Sex und mehr...
Folge 5: "Homo, Hetero, Bi oder was?"
56 min., BRD 1993, Medien-Nr: 4254584
Adressaten: S1: (Sch 8-10), J: (L 12-16)
Zusammengestellt von KomBi - Kommunikation und Bildung, Kluckstr. 11, 10785
Berlin, Tel. 215 37 42, www.kombi-berlin.de
39
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Päd. Arbeit mit dem Medium Film (AG 2)
2.2. Pädagogische Arbeit mit dem Medium Film zum Thema
„Sexuelle Orientierungen in der Arbeit mit Jugendlichen“
Leitung und Protokoll:
Prof. Dr. Ulrike Schmauch, Fachhochschule Frankfurt/M
Kommentar zum Workshop im Flyer:
„An Ausschnitten aus Unterhaltungs- und Dokumentarfilmen zu lesbischschwulen Themen soll gezeigt und diskutiert werden, wie das Medium Film in
der Arbeit mit Jugendlichen zur Auseinandersetzung mit sexueller Orientierung genutzt werden kann“.
Programm des Workshops:
o Vorstellungsrunde
o Drei Filmausschnitte: Betrachtung und Analyse
o Schlussfolgerungen für die Arbeit mit Jugendlichen
o Materialien und Informationen
Vorstellungsrunde
Von den sieben TeilnehmerInnen waren fünf in der offenen Jugendarbeit d.h. in Jugendclubs und Jugendtreffs, tätig, zum Teil in sozialen Brennpunkten. Die beiden
anderen Teilnehmerinnen hatten Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen (Gruppenarbeit; Ferienfreizeiten). Als Klientel wurden überwiegend Jugendliche mit Migrationshintergrund beschrieben, zum Teil „fast nur Männer über zwanzig“.
Die Eingangsfrage an die TN lautete: Welche Erfahrungen bringe ich mit im Hinblick
auf
a) das Thema Homosexualität in der Arbeit mit Jugendlichen und
b) Filme in der Arbeit mit Jugendlichen?
Zu a):
Es wurde durch die Berichte der TN deutlich, dass das Thema Homosexualität in ihrer Arbeit teils inexistent, teils auf sehr negative Weise präsent, teils aber auch ambivalent spürbar war. Beispielhafte Äußerungen hierzu waren:
- „In dreizehn Berufsjahren und im Blick auf etwa zweihundert Jugendliche muß ich
sagen: ich bin noch nie einem homosexuellen Jugendlichen begegnet“.
- „Es ist ein großes Tabuthema“. – „Sie finden es eklig“. – „Schwule Sau zu sagen
ist normal“. – „Über Lesben wird nur pornomässig gesprochen“.
- „Ich beobachte beides zwischen den Jungen: Abwehr und Zärtlichkeit, Ablehnung
und offen erkennbare, aber nicht benannte Wünsche. Manche rennen mit einem
Schleier herum, aber das damit verbundene Gefühl wird nicht benannt“.
- „In einer Ferienfreizeit haben sich eine Jugendliche und eine Teamerin ineinander
verliebt“.
Mehrfach wurde von den TN der eigene Wunsch oder der des eigenen Teams benannt, das Thema Homosexualität in der Arbeit anzupacken, es eher wahrzunehmen und angemessener ansprechen zu können. Vereinzelt gab es Erfahrungen mit
Einzelgesprächen, bei denen man „einen hohen Verdacht“ gehabt habe, aber auch
die Wahrnehmung: “Bisher bin ich bei Problemgesprächen einfach nicht darauf gekommen, Homosexualität überhaupt als ein mögliches unterschwelliges Konfliktthema anzunehmen“.
40
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Päd. Arbeit mit dem Medium Film (AG 2)
Zu b):
Vier TN hatten viel bzw. sehr viel Erfahrung mit Filmarbeit mit Jugendlichen, hatten
z.T. selbst Filmworkshops geleitet und Filme mit Jugendlichen hergestellt. Über die
Querverbindung - also Erfahrungen mit Jugendlichen“ mit Filmen zum Thema „Sexuelle Orientierungen/ Homosexualität – wurde nicht berichtet.
Drei Filmausschnitte: Betrachtung und Analyse
Es wurde ein kurzer Ausschnitt aus dem Film „Mein wunderbarer Waschsalon“ gezeigt, in dem eine schwule Liebesbeziehung, Verwicklungen in pakistanischen Großfamilien und Probleme der Einwanderung und Rassismus in England miteinander
verknüpft sind. Die Gruppe diskutierte die gezeigten Inhalte und die Filmsprache; auf
manche TN wirkte der Ausschnitt „sehr irreal“, wie „eine Traumpassage“, dabei ohne
action; die Verknüpfung von Rassismus und Zärtlichkeit wurde z.T. als „zu viel“ empfunden.
Einschätzung im Blick auf die Klientel der TN: die Jugendlichen würden ablehnend
auf die zärtliche Szene reagieren und angesichts der angedeuteten Sexualität zwischen den beiden Männern „iii schreien“. Der Film könne insgesamt nicht ankommen, er sei zu langsam, eben ohne action und zu weit weg von der Lebensrealität
der Jugendlichen: in England, in den 80er Jahren, erkennbar an der Mode, mit einer
zu komplizierten filmästhetischen Sprache („real“ oder „irreal“?). Durch diesen Film
könne das Thema Homosexualität bei ihren Jugendlichen nicht zu mehr Akzeptanz
führen, sondern könne eher verstärkt Abwehr provozieren.
Filmausschnitt und Film insgesamt wurden von den TN als nicht geeignet für ihre
Jugendlichen und die Arbeit mit ihnen betrachtet. – Fazit der TN:
Filme müssen entweder ganz irreal und eine Traumwelt sein, in der alles möglich ist
(komplette Animation). Oder Filme müssen – als Doku oder Spielfilm – sehr nah an
der aktuellen Realität der Jugendlichen sein (erkennbar an Ort, Zeit, Sprache, Mode,
Musikstil).
Der zweite Ausschnitt war aus dem deutsch-italienischen Film „Mausi kommt raus“
und zeigte das coming out einer jungen Frau - in der deutschen Provinz, gegenüber
der Mutter. Die Filmsprache wurde von der Gruppe - im Vergleich zum ersten Film als verständlicher, der Inhalt als nachvollziehbarer empfunden. Andererseits wurde
kritisch über die Verwendung von Kategorien bzw. von „Schubladen“ diskutiert –
normal – nicht normal, heterosexuelle – homosexuell – bisexuell.
Einschätzung im Blick auf die Jugendlichen: Dieser Filmausschnitt erschien „eventuell eher geeignet“, aber wegen des wiederum offenkundigen Alters ( 90er Jahre)
wurde auch Skepsis geäußert.
Der dritte Film hieß „Ein Blick zu anderen Ufern“, stammte von der Freiburger Gruppe
„FLUSS“ e.V. und begleitete ausführlich (33 Min.) die pädagogische Arbeit dieser
lesbisch-schwulen Initiative mit Jugendlichen zum Thema Homosexualität. Es werden Ausschnitte aus Diskussionen und Rollenspielen, aus Gruppenprozessen und
methodischen Arbeitsformen sowie Interviews mit Mädchen und Jungen, mit pädagogischen und schulischen Fachkräften gezeigt.
Die Gruppe diskutierte über die Frage des Transfers und kam zu dem Schluss, dass
bestimmte intensive Methoden auf das setting der offenen Jugendarbeit schwerer
41
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Schmauch: Päd. Arbeit mit dem Medium Film (AG 2)
anzuwenden seien. Das Thema Homosexualität müsse vermutlich immer über andere Themen eingefädelt werden.
Schlussfolgerungen für die offene Arbeit mit Jugendlichen
Zwar scheint in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit der Bedarf an Kommunikation über sexuelle Orientierung auf den ersten Blick kaum gegeben. Auf den zweiten
Blick, mit genauerem Beobachten und Hinhören, wird aber deutlich, dass bei Jugendlichen hinter ihren Abwertungen latente Bedürfnisse bestehen, sich über die
Bedeutung gleichgeschlechtlicher Gefühle klar zu werden.
Was nützen könnte:
- konkrete Begegnungen sei es mit sozialen Fachkräften, die sich offen zeigen, sei es mit Angehörigen von
Initiativgruppen wie z.B. FLUSS Freiburg, oder sei es mit selbstbewussten Jugendlichen, die sich als lesbisch/schwule Gruppe mit anderen Jugendlichen treffen (vgl. das von einer TN berichtete Beispiel der Veranstaltung mit einer Gruppe
lesbischer Mädchen)
-
Filme,
wenn sie formal geeignet sind (d.h. den filmästhetischen Sehgewohnheiten der
Jugendlichen entsprechend), wenn sie inhaltlich nicht überfordernd, d.h. nicht zu
komplex sind und homosexuelle Interaktion nicht zu direkt zeigen, schließlich,
wenn sie verbunden werden mit dem Angebot der Vor- und Nachbesprechung.
-
Gespräche,
und zwar überwiegend in Form von Einzelgesprächen, sei es spontan, sei es vorbereitet.
Gruppenangebote bleiben erfahrungsgemäß – egal, zu welchem Thema – in der
offenen Arbeit aus strukturellen Gründen schwer durchführbar.
Materialien und Informationen
Am Ende des Workshops wurde eine Auswahl von Materialien und Informationen zu
themenbezogenen Filmen präsentiert. Hervorzuheben sind hier als Quellen:
- die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (www.bzga-avmedien.de)
Hessische Verleihstellen siehe dort.
- das Medienprojekt Wuppertal (www.medienprojekt-wuppertal.de) Der Gesamtkatalog dieses Projekts wie insbesondere der sexualpädagogische Teil sind sehr
empfehlenswert. Angeboten werden zum Thema Homosexualität zum Beispiel
die Produkte: „QueerGefilmt 1“ und „QueerGefilmt 2“ mit jeweils 12 bzw. 17 lesbischen und schwulen Kurzfilmen.
- Literatur- und Filmliste der Hessischen Fachstelle für öffentliche Bibliotheken zum
Thema Homosexualität
(Kontakte: [email protected]; [email protected])
42
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Hendler, Szeimis: Vom Hinhören und Hinsehen (AG 3)
2.3. Vom Hinhören und Hinsehen –
Zwischentöne und Facetten sexueller Identitäten
Leitung und Protokoll:
Bettina Hendler, Pro Familia Bildungswerk Hessen
Werner Szeimis, Pro Familia Beratungsstelle Frankfurt City
Was uns wichtig war
Der Titel und die Konzeption unseres Workshops entstanden aus dem Wunsch
heraus, die Wahrnehmung für die Vielfalt sexueller Identitäten und deren
Manifestationen zu öffnen. Die Beschäftigung mit sexueller Identität
im pädagogischen Arbeitszusammenhang lässt zu allererst
Paris
Homosexualität nahe liegen, was aber mitunter zu einem
eingeschränkten und einschränkenden Blick führen kann. Einschränkend in der
Weise, dass hier Identität gefördert und gestärkt werden soll, wo vielleicht gar kein
Wunsch nach Identität besteht, wo es vielleicht in erster Linie und ein Handeln und
gar nicht so sehr um ein Sein geht. Schwierig ist, dies auseinander zu halten und
genau hinzuhören und hinzusehen.
Ohne dem ebenso einschränkenden und meist auch auf Wahrung der bestehenden
Ordnung zielenden Argument der „Phase“, die „vorübergeht“, das Wort reden zu
wollen, schien es uns angemessen, nicht aus den Augen zu
Hella von Sinnen
verlieren, dass es im Leben tatsächlich „Phasen“ gibt, die sich
auch ebenso tatsächlich mit anderen „Phasen“ abwechseln können …wenn auch
nicht müssen. Unerstützung kann hier sein, eine transsexuelle, schwule, lesbische,
bisexuelle oder transgender Identität möglich zu
1982
machen,
wo ein Bedürfnis danach besteht: Durch
Informationen
über
Bücher,
Gruppen,
Kontaktmöglichkeiten und einer Begleitung, die klar macht, dass es o.k. ist, so zu
sein, wie es sich eben anfühlt, und dass dieses Gefühl – diese Identität – ein Leben
begleiten kann und ihm Sicherheit und Stabilität gibt. Auf der anderen Seite gilt es
aber auch zu vermitteln, dass ein bestimmtes Gefühl oder auch ein Handeln nicht
unbedingt bedeuten muss, dass jetzt alles anders wird.
Es ist hier auch gerade die sicherlich erfreuliche zunehmende Präsenz meist
lesbischer und schwuler Lebensentwürfe und Beziehungsformen in den Medien, die
heutzutage ein erotisch-sexuelles Experimentieren und
Ausprobieren sehr schnell zu einer Identitätsfrage werden
unter 1 %
lässt. Gemeinsames Onanieren oder Zärtlichkeiten unter
der Bettdecke auf der Klassenfahrt haben ihre „Unschuld“ verloren. Wo solche
Erlebnisse früher meist konfliktlos in die Phase des Erwachsenwerdens integriert
werden konnten, werfen sie heute für Jugendliche die Frage nach der sexuellen
Orientierung auf. Hier in der pädagogischen Arbeit einen Raum zu schaffen, in dem
diese Fragen wertfrei gestellt und beantwortet werden können, ist
…und ich kann
nicht leicht. Wie bei vielen gesellschaftlichen Entwicklungen, ist
ja auch nix dafür
es auch hier so, dass die immer öfter wahrzunehmende
Akzeptanz nicht-heterosexueller Lebensentwürfe zugleich eine
zunehmend konservative Gegenhaltung auslöst, die auf die Erfordernisse einer
Gesellschaft, in der schon junge Menschen sich fast täglich nicht nur für oder gegen
43
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Hendler, Szeimis: Vom Hinhören und Hinsehen (AG 3)
etwas entscheiden können sondern auch müssen, mit Abwehr reagiert. Diese
Abwehr als Zeichen von Verunsicherung ernst zu nehmen, wird umso schwieriger, je
mehr diese Abwehr in offene Aggression und Abwertung umschlägt. Hier eine
eindeutige und klare Haltung einzunehmen, ist nicht nur dem Selbstverständnis von
Jugendarbeit geschuldet, sondern bietet auch Heranwachsenden eine verlässliche
Grundlage, auf der eigene Werte und Normen entwickelt werden können.
Transsexuell sein
Was wir gemacht haben
Von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin – Fachbereich für
gleichgeschlechtliche Lebensweisen (Link am Ende dieser Dokumentation) haben wir
die Idee für ein Quiz übernommen. An den Wänden des Seminarraums waren zu 12
Fragen, die vorgelesen wurden, je vier mögliche Antworten auf gleichfarbigem Papier
aufgehängt (die Kästen in diesem Text stellen eine Auswahl dar). Die Aufgabe
bestand darin, sich der jeweils einen richtigen Antwort zuzuordnen. Einige Fragen:
1. Welche der folgenden Großstädte hat keinen schwulen Bürgermeister?
2. Welche der folgenden Frauen ist nicht lesbisch?
New York
3. Bis wann war Homosexualität zwischen Männern in der
Bundesrepublik verboten?
4. Wie groß ist der Anteil von Homosexuellen in der
Bevölkerung?
5. Es gibt viele Begriffe dafür, wenn Frauen Frauen lieben. Welcher der
folgenden Begriffe bezeichnet etwas grundlegend anderes?
6. Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin, beendete eine
Rede vor seiner Wahl 2001 mit dem
1969
Satz: „Ich bin schwul, …“ – wie ging der
Satz weiter?
Das Schöne an dieser Methode ist, dass das Thema und die Kniffligkeit der Fragen
ohne Probleme den Bedürfnissen der Zielgruppe angepasst werden kann. Die
angebotenen Antworten bieten Diskussionsanlass und
Jill Sander
vermitteln nebenbei auch Wissen. Wie wir bemerkt haben,
haben nicht alle Fragen die Teilnehmer/innen unseres
Workshops hoffnungslos unterfordert. Hätten Sie’s
gewusst?
Bei der sich erst danach anschließenden Vorstellungsrunde fiel die
Unterschiedlichkeit der Erwartungen auf: Viele hatten das Bedürfnis nach Methoden
zur Thematisierung, einige eher nach einer Diskussion darüber, wie sie mit eindeutig
abwertenden Äußerungen zu alternativen Lebensentwürfen umgehen sollten. Sehr
unterschiedlich waren auch die Vorerfahrungen. In einigen Arbeitszusammenhängen
ist das Thema Sexuelle Orientierungen in der einen oder anderen Weise ziemlich
präsent, in anderen ist dies bis jetzt noch nicht der Fall.
Das
folgende
Impulsreferat
griff
im …und das ist auch gut so
Wesentlichen die Thesen der Einleitung zu
diesem Text auf. In der sich anschließenden
Diskussion gab es auch Raum für Fallbeispiele aus den Arbeitszusammenhängen
44
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Hendler, Szeimis: Vom Hinhören und Hinsehen (AG 3)
der Teilnehmer/innen, die gemeinsam besprochen und durch Beispiele und
Erfahrungen aus der Schulklassenarbeit der Pro Familia Frankfurt und der
Bildungsarbeit des Pro Familia Bildungswerks Hessen ergänzt wurden.
5 – 10 %
Danach haben wir der Gruppe noch eine weitere Methode vorgestellt. In dem Spiel
„Delegation vom Mars“ geht es darum, eine Sprache für Sexualität zu finden. Ein Teil
der Gruppe war die „Delegation“, die auf die Erde kommt, um sich
über das Zusammenleben der Menschen zu informieren. Vor dem
1994
Zusammentreffen von Marsmenschen und Erdmenschen muss sich
die Marsmenschen-Gruppe kurz darüber verständigen, welche
Beziehungsformen oder auch Fortpflanzungstechniken auf dem Mars existieren
sollen. Beim Aufeinandertreffen der zwei Delegationen wurde schnell klar, wie
schwierig es ist, unverkrampft über Sexualität zu sprechen und von wie viel
Vorwissen wir ausgehen:
Marsmenschen: „Und wie geht das bei euch?“
Erdmenschen: „Wir haben Sex miteinander.“
Alice Schwarzer
Marsmenschen: „Was ist Sex?“ (Anmerkung: Bei den
Marsmenschen reicht ein Augenzwinkern, um neue
Marsmenschen entstehen zu lassen!)
Erdmenschen: „Wir schlafen miteinander.“
Marsmenschen: „Was, einfach nur schlafen?“
Erdmenschen: „Äh, nein …Moment mal
(Erdmenschen holen die zwei
Plastikmodelle der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane vom Materialtisch)
…also so geht das: Das muss da rein.“
Marsmenschen: „Aha, das heißt, wenn ihr euch fortpflanzen wollt, tragt ihr diese
Plastikdinger mit euch herum.“
Auch dieser Workshop ging wieder viel schneller rum als wir
dachten (das scheint bei Workshops eine anthropologische
Konstante zu sein!). Gleich zu Anfang hatte sich jede/r aus
einem Haufen von Zitronen eine aussuchen dürfen mit der Aufgabe, diese Zitrone
während der drei Stunden gut zu behandeln und auf sie aufzupassen. Nun wurden
alle Zitronen wieder zu einem Haufen zusammengelegt und durchgemischt. Danach
war die Aufgabe, die eigene Zitrone in diesem Zitronenhaufen wieder zu finden. Das
ist natürlich allen gelungen! Das Eigene ist eben unverwechselbar!
Berlin
lesbisch sein
Einige Links
Informationen für MultiplikatorInnen
Hessisches Sozialministerium, Referat für die Gleichstellung von Lesben und
Schwulen, mit mehreren Literaturlisten und weiterführenden Links
http://www.sozialnetz.de/homosexualitaet/
45
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Hendler, Szeimis: Vom Hinhören und Hinsehen (AG 3)
…und das geht
keinen was an
gleichgeschlechtlich
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin.
lieben
Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen
Sehr informative Seiten mit vielen grundlegenden Veröffentlichungen und einem
Unterrichtspaket zur Plakat-Aktion „Çiğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu
uns. Jederzeit!“
http://www.senbjs.berlin.de/familie/gleichgeschlechtliche_lebensweisen/thema_gleich
geschlechtliche_lebensweisen.asp
Texte
Ulrike Folkerts
Institut für Psychologie, Fachbereich Entwicklungspsychologie, der TU Braunschweig
mit einer Diplomarbeit (online) zur Entwicklung der sexuellen Orientierung von
Jugendlichen
http://psypost.psych.nat.tu-bs.de/
Text: Elisabeth Tuider: „Konturen einer verqueeren Pädagogik. Zu Normen und
Identitäten in der Sexualpädagogik“ (2000)
http://www.haw-hamburg.de/sp/standpunkt/heft0300//Tuider300.htm
Hamburg
Für Jugendliche
GayStation. Seite mit u.a. historischem Überblick über den Begriff „Homosexualität“,
die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung sowie einer Abhandlung über
die Liberalisierung des §175
http://www.gaystation.info/history/
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland. Sehr umfangreicher Internetauftritt
mit vielen Informationen und aktuellen Meldungen.
homosexuell sein
www.lsvd.de
Jugendnetzwerk Lambda. Der schwul-lesbische Jugendverband in Deutschland.
www.lambda-online.de
our generation e.V. – SchwuLesBische Jugend Frankfurt.
Coming out-Beratung, Jugendcafé, Freizeitaktivitäten für lesbische, schwule und
bisexuelle Jugendliche.
50 %
www.ourgeneration-ffm.de
Lesben Informations- und Beratungsstelle e.V. (Frankfurt), u.a. Gruppe und
Freizeitaktivitäten für junge lesbische und bisexuelle Frauen und Mädchen
www.libs.w4w.net
…und das macht ja
nix
1949
2–3%
46
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Yesilkaya, Khumalo-Seegelken: „ …sagte das Wort aber nicht!“ (AG 4)
2.4. „…sagte das Wort aber nicht!“
Homosexualität als Thema sozialpädagogischen Umgangs mit
jugendlichen Migrantinnen und Migranten
Leitung: Dr. Ben Khumalo-Segelken und Zeycan Yesilkaya
Protokoll: Zeycan Yesilkaya
In den Vorträgen von Frau Prof. Dr. Schmauch und Herrn Dr. Khumalo-Segelken am
Vormittag hatten wir gehört, dass LehrerInnen, BetreuerInnen und Fachkräfte aus
sozialen Einrichtungen allgemein über wenig Qualifikationen im Umgang mit
Homosexualität verfügen. Daraus resultieren in der sozialen Arbeit mit
Homosexuellen mit Migrationshintergrund Hemmnisse und Zögern, so dass kaum
eine professionelle Unterstützung oder Beratung angeboten werden kann.
Gesetzliche Aufgabe der sozialen Arbeit besteht aber auch darin, Jugendliche vor
Benachteiligungen und Diskriminierungen zu schützen. Dazu gehört es, die Situation
von homosexuellen Jugendlichen nachhaltig zu verbessern.
Bei den teilnehmenden Fachkräften aus der Jugendarbeit gab es große Motivation,
ihre Kompetenzen in diesem Bereich zu stärken. Die meisten arbeiten mit
Jugendlichen zusammen, die einen Migrationshintergrund haben. Deshalb waren sie
vor allem daran interessiert, die spezifische Situation von Homosexuellen zu
thematisieren, die sich aus ihrem Migrationshintergrund ergibt.
Im Coming Out Prozess (innerer und äußerer), d.h. bei Bewusstwerdung der
sexuellen Orientierung, entsteht zunächst Panik und ein Konflikt mit sich selbst und
dem Umfeld; die Furcht abgelehnt zu werden ist enorm. Dies geschieht zu Recht, da
in der Realität Homosexuelle tatsächlich ausgegrenzt und diskriminiert werden und
außerdem häufiger Gewalterlebnissen ausgesetzt sind. Eine mögliche Folge kann
u.a. Alkohol- und Drogenmissbrauch sein. Zudem sind jugendliche Lesben, Schwule,
Bisexuelle oder Transgender (kurz: LSBT) vier Mal höher suizidgefährdet, als
gleichaltrige Heterosexuelle. Insofern ist qualifizierte Unterstützung durch
LehrerInnen und soziale Fachkräfte in jedem Fall erforderlich.
Nachdem Herr Khumalo-Segelken und ich das Informationspaket zum Einsatz des
Plakats „Cigdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“, sowie
unsere Themenvorschläge zur Diskussion vorgestellt hatten, erfuhren wir, dass die
Arbeitsgruppe insbesondere Interesse an der spezifischen Problematik muslimischer
Lesben und allgemein an muslimischen Mädchen und Frauen in Deutschland hatten.
Das erste Thema, dass in Bezug auf LSBT-Jugendliche mit Migrationshintergrund
gewählt wurde, war „Selbstbestimmung und Akzeptanz“.
1. Thema: „Selbstbestimmung und Akzeptanz“
Notizen aus den Diskussionen:
Es wurde zunächst thematisiert, dass LSBT-Jugendliche im Prozess der
Selbstfindung oft Kontakt zu gleich gesinnten anderen Menschen suchen, da
heterosexuelle Jugendliche gegenüber homosexuellen Jugendlichen häufig mit
Ablehnung/Abgrenzung und Beschimpfungen entgegentreten.
Die Situation homosexueller MigrantInnen weist eine spezifische Problemlage auf. In
diesem Zusammenhang wies eine Teilnehmerin aus der Gruppe darauf hin, dass
47
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Yesilkaya, Khumalo-Seegelken: „ …sagte das Wort aber nicht!“ (AG 4)
eine lesbische Identität für Mädchen/Frauen deutscher Herkunft schon schwierig sei,
wie schwierig es erst für lesbische Migrantinnen sein müsse, die mehrfach
diskriminiert werden.
Die TeilnehmerInnen der Arbeitsgruppe kamen zu dem Schluss, dass die spezielle
Situation homosexueller MigrantInnen es notwendig machte, sich mit folgenden
Aspekten auseinander zu setzen:
Kulturelle/religiöse Erwartungen
Im Besonderen die kulturellen/religiösen Erwartungen, die in der Erziehung vermittelt
und verinnerlicht werden, leben im Jugendlichen als innere und äußere Zwänge.
Ansprüche, die seitens der Familie an den Heranwachsenden gestellt werden,
werden manchmal von den Betroffenen zwanghaft erfüllt.
Die WorkshopleiterInnen berichteten von Fällen aus der sozialpädagogischen Praxis,
in denen homosexuelle MigrantInnen als familiäre Sanktionen heterosexuelle Ehen
eingehen mussten. Diese Fälle treten vor allem auf, nachdem eine homosexuelle
Orientierung offensichtlich oder auch nur vermutet wird. Nach einer arrangierten oder
gezwungenen Verheiratung folgt jedoch meistens die Scheidung.
Homosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund seien, so die TeilnehmerInnen,
oftmals wirksamer in ihre Familien eingebunden. Sie ringen intensiver um Akzeptanz
und Respekt, als LSBT-Jugendliche deutscher Herkunft. Zudem bestünde oftmals
Kommunikationsmangel in den Migrantenfamilien. Schwule und lesbische
MigrantInnen, z.B. aus der Türkei, schafften es oft nicht, sich von kritischen und
sanktionierenden Familienmitgliedern zu distanzieren. Resultierende psychische und
physische Misshandlungen würden sie deshalb enger an die Familie anbinden;
insbesondere der Vater als „Machthabende Person“ übe Druck aus. Allerdings wurde
von den WorkshopleiterInnen hinzugefügt, dass es wichtig sei zu beachten, dass in
Deutschland Jugendliche mit Migrationshintergrund sehr oft innere und äußere
Konflikte aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten haben.
Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft auf die eigene Homosexualität:
Aus der Diskussion ging hervor, dass die Verknüpfung von „lesbisch sein“ und
muslimisch sozialisierten Jugendlichen in Teilen der Mehrheitsgesellschaft eine
ambivalente Haltung wecke, die einerseits Neugier/Interesse und anderseits Angst
vor dem „Unbekannten“ beinhalte.
Gewalterfahrungen:
Unsere Gesellschaft wäre noch nicht entsprechend modern entwickelt, so dass
homosexuelle Menschen sich „outen“ können, sagte eine Teilnehmerin.
Die Statistik zeigt, dass nach der Einführung der „eingetragenen Partnerschaft“ für
gleichgeschlechtliche LebenspartnerInnen im Jahre 2001 gewalttätige Angriffe
gegenüber Schwulen und Lesben (z.B. in Schulen) angestiegen sind. Die
Repressalien auf Homosexuelle würden überwiegend von Männern aus der rechten
Szene ausgeübt werden.
2. Thema: „Ehre und Ehrenmorde“ --- Sanktionen
Im Wertesystem vieler traditionell streng patriarchaler Gesellschaften, so die
WorkshopleiterInnen, hänge die „gesellschaftliche Ehre“ der Männer in einer Familie
vom normgerechten Verhalten ihrer weiblichen Angehörigen ab, wie z.B.: jungfräulich
in die Ehe zu gehen, kein Ehebruch zu begehen usw.. Frauen, die einen
48
SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Yesilkaya, Khumalo-Seegelken: „ …sagte das Wort aber nicht!“ (AG 4)
vermeintlichen Ehrenkodex missachten, verletzten damit in den Augen der Täter die
Ehre. Ehrenmord ist eine vorsätzliche Tötung zur Sühnung der Verletzung der
„Ehre“ aus der Sicht des Täters (Väter, Brüder, Ehemänner), um diese
wiederherzustellen. Ehrenmord ist ein Verbrechen, dass laut UNO Bericht alljährlich
weltweit 5.000 Mädchen und Frauen im Namen der „sittlichen Ehre“ oder
„Ehrverletzung“ betrifft. Außerdem führte eine Diskussionsteilnehmerin an, dass die
Untersuchungen von Terre de Femmes gezeigt haben, dass bei uns in Deutschland
allein 200 Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund von Ehrenmorden aus
religiösem oder familiärem Ehrgefühl bedroht sind. Indes kommen zwar Ehrenmorde
häufiger in islamischen Kulturkreisen vor, dennoch aber ist es ist nichts typisch
muslimisches, denn Ehrenmorde kommen auch in christlichen Gesellschaften wie
z.B. in Italien oder Brasilien vor.
Homosexualität und Religion:
Von den WorkshopleiterInnen wurde aufgeführt, dass Homosexualität in Verbindung
mit religiöser Zugehörigkeit ein problematisches Thema darstellt. Homosexuelle
werden unter Berufung heilig geltender Texte, religiöser Schriften oder Traditionen
abgelehnt. Deshalb fühlen sich religiös geprägte Homosexuelle häufig in einen
Gewissenskonflikt gedrängt. Innerhalb des Christentums gibt es keine einheitliche
Meinung. Die katholisch kirchlichen Organisationen in unserer Gesellschaft sind
gegenüber Homosexuellen von einer ablehnenden Haltung geprägt. Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in römisch-katholischen Einrichtungen müssen mit fristloser
Kündigung rechnen, sollten sie sich dazu bekennen, dass sie lesbisch, schwul oder
bisexuell empfinden, lieben und leben. In der evangelischen Kirche muss eine
Akzeptanz ebenfalls erkämpft werden. (HuK e.V.). Die evangelische Kirche ist aber
im Allgemeinen liberaler als die katholische.
Der Coming Out Prozess ist ein fortlaufender Prozess und deshalb nie wirklich
abgeschlossen. Es gibt alltäglich Situationen, in denen Homosexuelle damit
konfrontiert sind, sich zu entscheiden, in wie weit sie mit ihrer sexuellen Identität
transparent umgehen können oder wollen. (Was möchte ich lassen? – Was möchte
ich erreichen? – Wem darf ich was erzählen?) Es geht um Sicherheit und soziale
Anerkennung, nicht nur in der Kirche, sondern auf allen Ebenen unserer Gesellschaft.
Doppelmoral:
Von diesem Standpunkt aus wurde von den TeilnehmerInnen das Thema
„Doppelleben“ und „Doppelmoral“ eingebracht und diskutiert. In der Gesprächsrunde
wurde festgestellt, dass jeder Mensch das Recht hat, eine heteronormative
Zugehörigkeit vor zu geben. Dies sei vor allem deshalb legitim, da es für
Selbstschutz sorge.
Die Wokshopleitung führt anschließend aus, dass bei muslimischen Frauen die
Unterstützung und Solidarität der Mutter ein wichtiges Kriterium ihres Handelns
darstellt. In Abstimmung mit der Mutter kann die Betroffene auch heimliche
Unternehmungen machen. Allerdings ist es bei diesen Unternehmungen sehr wichtig,
dass dies keiner mitbekommt. Auf diese Weise ist die Ehre der Familie weniger
gefährdet. Beispielsweise verheimlichen viele schwule Männer in muslimischen
Gesellschaften ihre Homosexualität. Als verheiratete, vermeintlich heterosexuelle
Familienväter müssen diese dann nicht nur sich selbst, sondern ihre Ehefrau und
Kinder vor Rufmord schützen. Allerdings gibt es in der Familie immer irgendwelche
Verbündete, die über das „unausgesprochene Geheimnis“ Bescheid wissen.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Yesilkaya, Khumalo-Seegelken: „ …sagte das Wort aber nicht!“ (AG 4)
Fast die Hälfte der Lesben wagt es nicht, sich zu „outen“ und ein selbst bestimmtes
Leben zu führen, somit führen sie ein „Doppelleben“. Sie müssen sich schützen und
besonders vorsichtig dabei sein, wem sie ihre sexuelle Identität verraten. Diese
Situation bringt psychosozialen Stress und psychische Belastung mit sich.
3. Thema: Problem erkennen und intervenieren
Anschließende Fragen seitens der teilnehmenden Fachkräfte bezogen sich auf die
praktischen Dimensionen professionellen Handelns:
„Wie gelingt es uns im Alltag, homosexuelle Jugendliche mit und ohne
Migrationshintergrund ernst zu nehmen und weiter zu helfen? Wie können wir sie bei
dem schwierigen Prozess des Coming Outs positiv begleiten und bestärken?“
Es wurden außerdem die Fragen geäußert: „Wie kann man gegen Homophobie
angehen? Wie können Homosexuelle sich besser outen ohne ausgegrenzt zu
werden?
Wie
kann
Toleranz
und
Akzeptanz
für
individuelle
Lebensentwürfe/Lebensweisen herbeigeführt werden?“
Vorschläge/Antworten/Lösungsmöglichkeiten von WorkshopleiterInnen und AGTeilnehmerInnen:
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Ein richtiger Umgang mit Minderheiten speziell in den Schulen ist wichtig.
Es fehlen mehr Vorbilder, es fehlt Vielfältigkeit „Diversity“, wie z.B. schwule
und lesbische Lokale und Bewegungen --- es ist wichtig Netzwerke
aufzubauen und es ist bedeutend, diese gesellschaftlich einzubinden. Konkret:
Kooperationsarbeit mit anderen Gruppen / Organisationen / Institutionen
bilden.
In Beratungsgesprächen mit Homosexuellen geht es in erster Linie um
Einfühlen und dann um Verstehen. Bei Einzelbetreuung/Einzelfallhilfe ist eine
kompetente Beratung sehr wichtig, wie z.B. darüber, was und wo es etwas
zum gleichen Thema gibt, wo sie hingehen können evtl. sogar mit hingehen.
Die Teams / BeraterInnen haben eine Vorbildfunktion. Den Jugendlichen
jemanden direkt vorzustellen und ein gemeinsames Gespräch zu führen, ist
viel besser, anstatt sie irgendwohin zu schicken.
Das von uns ausgehändigte Plakat in Schulklassen aufhängen und sehen was
die Reaktionen sind. Vorurteile kommen aus mangelnden Erfahrungen und
Informationen.
Hilflosigkeit der BetreuerInnen , LehrerInnen mit der Haltung „pass dich an,
dann werden dich die Menschen lieben“ oder „mach bloß nicht den Fehler dich
bei der neuen Schule zu outen“. Besser ist es, keine Wertungen in die Arbeit
rein zu bringen, d.h. eine neutrale Haltung einzuhalten.
Wenn z.B. ein heterosexueller Jugendlicher in Anwesenheit einer
BetreuerIn/LehrerIn über ein Mädchen als „Schlampe“ redet, sie beschimpft,
lästert etc. ist es in dem Moment wichtig, in der Beziehung zu dem
Jugendlichen respektvoll, neutral zu intervenieren und mit Humor und Scherz
z.B. zu sagen: „Wenn sie eine Schlampe ist, wie wäre es, wenn du dich dann
sexuell umorientieren würdest?“ (d.h. er sich nicht an Frauen, die ja
Schlampen wären, sondern an Männern orientieren würde). Ein Spruch kann
zum Denken anregen.
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SEXUELLE ORIENTIERUNGEN
Yesilkaya, Khumalo-Seegelken: „ …sagte das Wort aber nicht!“ (AG 4)
Weitere Ideen zum methodischen Handeln:
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Das von uns ausgehändigte Plakat in Schulklassen aufhängen und sehen,
was die Reaktionen der Jugendlichen sind. Vorurteile oder Verunsicherung
kommen aus mangelnden Erfahrungen und mangelnden Informationen und es
können Spannungen und Ängste gegenüber homosexuellen Jugendlichen
bestehen. Wissen über Homosexualität wirkt für heterosexuelle Jugendliche
entlastend und kann z.B. durch Rollenspiele, Forumtheater vermittelt werden.
Die Leitung von Workshops in Gruppen und Schulklassen nach den Methoden
Augusto Boals „Theater der Unterdrückten“ (Forumtheater) ist sehr
empfehlenswert.
Strukturelle Entwicklungen: Sexuelle Orientierung zum Thema machen. Zu
Migration, Geschlecht, Konfliktbewältigung gemeinsame Haltung suchen,
konzeptionell einbetten, d.h. Präsenz des Themas entwickeln.
Realitätsprüfung anregen durch Thematisieren, Informieren, Filme zeigen,
Bücher empfehlen, Austausch mit themenbezogenen Einrichtungen,
Einladungen wahrnehmen, Besuche machen.
Mit Eltern reden, was sie für ihre Tochter wünschen, wie sie leben soll. Wir
sollten über gesellschaftlich akzeptierte Formen reden.
Einfühlung erproben/experimentieren: Perspektivwechsel produzieren: Hass
und Selbsthass, Normalitätswunsch, Gefühlswirrwarr, Schwierigkeiten und
Probleme wahrnehmen.
Übereinstimmend: „Aus den Ethnien bzw. in den einzelnen Kulturkreisen
selbst muss das Thema der Homosexualität thematisiert werden“. Zitat von
einer AG-Teilnehmerin: „Es ist wichtiger, dass sozialpädagogische Fachkräfte
mit
Migrationshintergrund
das
Thema
der
Homosexualität
bei
Migrantenfamilien thematisieren, anstatt, dass wir Deutsche das Thema von
außen her aufdrücken.“
Aus den Diskussionen und dem Austausch heraus kann zusammenfassend
festgestellt werden, dass die Anwesenden vor allem eine konzeptionelle und
methodische Einbettung des Themas in sozialen Einrichtungen als wichtige
Basisarbeit auf der lokalen Ebene verstehen. Sie sehen eine Perspektive für den
professionellen Umgang vor allem darin, was Sicherheit in den Migrantenfamilien
betrifft, die Aufklärungs- und Beratungsangebote von Sozialpädagogen mit
Migrationshintergrund kommen müssen, d.h. es muss von innen aufgeklärt werden.
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