Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-22486-6 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel 4. Theorien und Entwicklungsschritte Während das vorangehende Kapitel sich den Fragen sozialen Wandels zugewandt hat, ändern die folgenden ihre Blickrichtung und stellen ( statt der Soziologie) nun einen anderen Zugang zu den Bedingungen des Aufwachsens kleiner Kinder in den Vordergrund: die entwick­ lungspsychologisch orientierte Kinderforschung. Die Frage der Entwicklung stellt sich - trotz der eben vorgebrachten Einwände und Einschränkungen - deswegen gleichsam unvermeidlich und damit zwingend, weil kleine Kinder vor, aber vor allem nach ihrer Geburt nicht nur eine Vielzahl von Veränderungen erfahren, sondern diese Veränderungen sich auch bis ins Alter fortsetzen, so daß sich die Frage stellt, wie diese eigentlich zustande kommen. Warum, beispiels­ weise, werden Kinder größer, nehmen an Umfang und Gewicht zu, können zunächst nicht sprechen, lernen dies aber bald, wechseln vom Liegen und Getragenwerden übers Krabbeln zum Laufen usw. Eine Fülle von ständigen Veränderungen findet statt, die wir »Entwicklung« nennen. Hinzu kommt die Beobachtung, daß sich die Kinder offenbar, je älter sie werden, desto unterschiedlicher » entwickeln<<. So zeigen manche im Kindergarten ein stark aggressives Verhalten, während andere eher friedlich sind oder in Konfliktsituationen Rückzug wählen. Es gibt »lebhafte« Kinder, »besonders neugierige« Kinder eine große Varianz, die es ermöglicht, trotz vielleicht gemeinsamer Entwicklungslinien ein j edes Kind vom anderen zu unterscheiden, also eine eindeutige Unverwechselbarkeit zu erzeugen. Die Einmaligkeit kindlichen Lebens geht aber nicht so weit, daß nicht bestimmte Um­ weltbedingungen Verhaltensweisen erzeugen oder erzwingen, die für Kinder zur Weltorientierung und zum überleben in ihrem typisieren­ den Soziotop sind. Eskimokinder hausen wegen der Kälte neun Jahre mit anderen Menschen in einem kleinen und müssen darum ihre Temperamentsäußerungen und Aggressionsneigungen zügeln, wenn sie mit den anderen Bewohnern des Iglus friedlich und vertraut überleben wollen; Kinder in großen Metropolen hingegen müssen sich früh, kommen sie auf die Straße, gegen Angriffe Gleich94 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel altriger wehren und lernen so, Bedrohungen mit (berechtigtem) Zorn und ebenfalls aggressivem Verhalten abzuwehren (vgl. Mussen u. a. 1 98 1 , S. 44 f. ) . Entwicklung scheint keiner Automatik zu folgen, son­ dern sie ist von Umweltbedingungen und -reizen abhängig und er­ zeugt so eine feststellbare Varianz. Abgesehen davon können doch alle Kinder lernen, mit Sprache sich schrittweise von den Eltern zu lösen, sich selbstbewußt zu behaupten und eigene Entschei­ dungen über die künftige Lebenslinie zu Ob ihnen dies mehr oder weniger gelingt, hängt ganz offenbar von Voraussetzungen ab, die die Entwicklung beeinflussen und fördern oder können. Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht nur von akademisch­ wissenschaftlichem Belang; sie erlaubt auch diejenigen be­ reitzustellen, die eine möglichst umfassende, positive des Kleinkindes befördern, und solche zu vermeiden, die dies nicht tun. Freilich, wenn wir uns unter den Entwicklungstheorien umsehen, können wir schnell die Übersicht so vielfaltig sind die ent­ wicklungstheoretischen Grundannahmen, die sich teilweise widerspre­ im Laufe der WisseTI­ chen, andererseits auch ergänzen, in jedem schaftsgeschichte immer weiter ausdifferenziert (zum folgenden: Oerter/Montada 1 982, S. 24 ff. ) . Versuchen wir, uns nicht zu verzetteln und einen gewissen Überblick zu behalten, können wir vier unterschiedliche Zugänge zur kindlichen Entwicklung unter­ scheiden: Endogenetische Theorien Diese Theoriegruppe geht davon aus, daß Veränderungen vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, auf Reifungsprozesse zurückgeführt werden müssen. Diese sind für den Lebensabschnitt der kleinen Kin­ der mit ihren wichtigsten Merkmalen, unabhängig von historischem Wandel und über Kulturgrenzen hin, gleich, weil sie eine anlagemäßig programmierte Reifung voraussetzen. Die Umwelt kann allenfalls den jeweiligen zugeschriebene Eigenschaften unter­ stützen und fördern. Solche Theorien warnen deshalb vor »Ver­ noch nicht frühung« , wenn ein Kind eine bestimmte 95 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel erreicht haben sollte, umgekehrt warnen sie vor einer »Retardierung«, Kind nicht der vom ihm erreichten Reifestufe gemäß Unter­ wenn stützung erhält. - Inzwischen wissen wir, daß dieser Theorietyp nur von sehr eingeschränkter Brauchbarkeit ist. Ein Beispiel: In unserer Kultur gehen wir von der Meinung aus, eine bestimmte Leistung, wie das Lesenkönnen, sei nicht vor dem sechsten Lebensjahr möglich; ein »normal« entwickeltes Kind wird demnach vom sechsten Lebensjahr an lesefähig sein, und entsprechend erfolgt dann ja auch die Einschu­ lung. Inzwischen wissen wir, daß bereits Drei- und Vierjährige bei geeigneter Unterstützung durchaus in der Lage sind, das Lesen zu erlernen. Offenbar ist es also nichts als eine kulturelle Übereinkunft, die uns davon ausgehen läßt, Kinder sollten vom sechsten Lebensjahr wir freilich das Aufwachsen der Kinder so ab Lesen lernen. organisieren und die Lernangebote so auswählen, daß sie tatsächlich erst mit sechs Jahren lesen und schreiben können, dann werden sie dies auch in diesem Alter tun. Zwar gibt es ganz offensichtliche Pro­ zesse, die sich nur mäßig oder gar nicht beschleunigen lassen (etwa motorische Reflexe wie das Umgreifen eines Daumens mit der Hand, aber auch das Krabbeln und Sich-Aufrichten), aber im Ganzen schei­ nen gerade für kleine Menschenkinder die Umweltbedingungen so entscheidend zu sein, daß bestimmte Reifungsprozesse nur die Vor­ aussetzung für Entwicklung sind, diese aber keineswegs selbst dar­ stellen. Exogenetische Theorien Diese gehen nicht von inneren Prozessen (endogen), sondern von äußeren Stimulierungen aus ( exogen) , die die aktive Umwelt auf eine eher passiv betrachtete Person ausübt. Am deutlichsten wurde diese überzeugung in der Philosophie des Sensualismus (John Locke oder John St. Mill) vertreten. Nach diesen Autoren ist der Organismus zunächst eine Tabula die erst allmählich, durch Erfahrungen mit angefüllt wird. Dieses Grundmodell findet der Außenwelt, mit sich heute in den Konditionierungstheorien von Pawlow bis Skinner. Danach lernt der Mensch, daß »auf ein Signal hin ein bestimmtes Ereignis folgt (Pawlows klassisches Konditionieren) , das in einer spe96 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel zifischen Situation ein bestimmtes Verhalten mit emer angehbaren Wahrscheinlichkeit ein positives oder negatives Ereignis nach sich zieht ( Lernen am Erfolg), in einer etwas anderen Situation aber nicht (Unterscheidungslernen) usw.« (ebd., S. 26). Wenn die Umweltein­ flüsse derart wichtig sind, dann müssen wir sie so arrangieren, daß sie das kleine Kind veranlassen, bestimmte Reaktionen auf von außen gesetzte Stimuli zu zeigen. Der Pawlowsche Hund hat bekanntlich gelernt, nicht nur - wie es »natürlich« ist - Speichel zu entwickeln, wenn der Futternapf in greifbarer Nähe ist, sondern auch wenn der ein Klingelzeichen ertönt, das so oft zum Futter gerufen hat, Hund nun auch Speichel absondert, wenn er das Signal hört, ohne daß das reale Futter in greifbarer Nähe stehen muß. Er ist »konditioniert«, zwei Reize miteinander zu verbinden. Schnell könnten wir Beispiele finden, die sich auf Kinder übertragen lassen, etwa: Ein Kind wird in den dunklen Keller geschickt, und dabei wird es durch den Vater, der sich eine schwarze Kappe über den Kopf gezogen hat, erschreckt. Das Kind wird von nun an so »konditioniert« sein, daß es Angst hat, in den Keller zu gehen, ja, daß schon das Wort »Keller« in ihm Unbehagen und das Gefühl einer bestimmten Bedrohung hervorruft. Wichtige Möglichkeiten des Konditionierens sind auch Lob und Strafe. Wenn wir eine Handlung mit einem Geschenk »belohnen«, wird das Kind lernen, diese als erwünscht zu erfahren und darum gern zu wiederho­ len, weil damit eine Folge verbunden ist (ein Geschenk zu bekommen) . Umgekehrt wird das Kind Verhaltensweisen fallenlassen oder einzuschränken suchen, die mit Strafe kombiniert werden, weil es das durch die Strafe verhängte Unbehagen mit der Sache, auf die Strafe sich bezieht, verbindet. - Dennoch, auch dieser theoretische Zugang kann grundsätzlich das Entwicklungsphänomen nicht erklä­ ren. Zum einen geben diese Theorien gar nicht an, welche Entwick­ lungsstufen welche Konditionierungen benötigen, im Gegenteil, nach ihnen kann ein Konditionieren unabhängig vom Alter erfolgen. Inso­ Theorien fern können Entwicklungspsychologen mit zu dieser Art wenig anfangen, da sie nicht nur spezifisch auf beziehen sind. In einem allgemeinen Sinn arbeiten wir jedoch auch heute mit Annahmen, denen exogenetische Theorien zugrunde liegen. So meint die Sozialisationsforschung daß bestimmte Sozialisationsbedingungen (autoritäre, demokratische oder alles ins 97 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel Beliebige stellende Erziehungsstile; Schichtzugehörigkeiten etc.) »Aus­ wirkungen« auf das Aufwachsen von Kindern haben. Tatsächlich scheint in diesem allgemeinen Sinn die Umwelt Entwicklung zu be­ einflussen - aber damit verbunden ist keineswegs die stillschweigende Voraussetzung, daß Kindern die von außen gesetzten Erfahrungen sozusagen wie auf einem weißen Blatt »eingeschrieben« werden. Wenn wir nach den Gründen für eine bestimmte Verhaltensreaktion fragen, dann sind diese offenbar vielfaltiger. Zum ersten kann der Reiz oder die Situation eine Rolle spielen, die dem gezeigten Verhalten direkt vorausgingen und es provozierten. Sehen wir ein schluchzendes Kind, kann der unmittelbare Grund für seinen Kummer ein leichter Klaps wegen einer Lüge sein. Beschränken wir uns auf diese Interpretation, könnte das Weinen tatsächlich Resultat eines Konditionierungspro­ zesses sein: Das Kind hat durch »leichtes Klapsen« gelernt, daß Lügen diese Konsequenz haben, und es wird wegen dieser nun von ihm selbst erzeugten unangenehmen Folge weinen. Es könnte aber auch einen lebensbiographisch-historischen Grund für das Weinen geben, der in der häuslichen Erfahrungsgeschichte des Kindes beschlossen liegt (Mussen u. a. 1 98 1 , S. 43) . Es weinen ja längst nicht alle Kinder, wenn sie einen »leichten Klaps« von der Mutter bekommen, so daß es andere Fakto­ ren geben muß, die ausgerechnet dieses Kind zum Weinen gebracht haben. Vielleicht weint das Kind, weil es aufgrund früherer Erfahrun­ gen argwöhnt, ihm werde nun die Liebe der Mutter entzogen (das hat es schon öfter beobachtet). Oder es weint, weil die Mutter bisher noch nie in dieser Weise reagiert hat, so daß das Kind die gar nicht so böse gemeinte Reaktion auf eine Unart als herbe Bestrafung erlebt, die für das Kind ungewohnt ist, und ist darum erheblich erschreckt. Das Weinen des Kindes kann aber auch einen interaktiven Grund haben. Während der unmittelbare und der historische Grund eher ein un­ wilrliches, jedenfalls nicht zielgesteuertes Verhalten zeigen, kann ein Kind, das in kommunikativer Absicht weint, damit die Mitteilung an die Mutter verbinden, daß es leidet; das Weinen soll der Mutter dann signalisieren, sie möge die Bestrafung beenden und wieder tröst­ liche Zuneigung zeigen; umgekehrt kann die Mutter das Weinen als Erfolg ihrer Erziehungsabsicht, sein Lügen zu mißbilligen, deutlich machen. - Schließlich ist auch eine Erklärung des Weinens möglich, die aus dem Kulturvergleich resultiert. Warum weint dieses Kind, wäh98 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel rend ein anderes, wenn es von der Mutter einen »leichten Klaps« be­ kommt, spielerisch oder aggressiv »zurückschlägt«; warum läßt sich das Kind überhaupt »klapsen« und duckt sich nicht, wie bei Affenkin­ dern beobachtet, einfach weg, so daß es von der Strafe gar nicht oder schwer erreicht werden kann? Hier zeigt sich, daß das Verhalten des Kindes in dem kulturellen Rahmen verstehbar wird, in dem ein be­ stimmtes Verhalten an den Tag gelegt wird. Kleine Kinder lernen bei uns früh, daß die Eltern über sie Erziehungsgewalt haben und ein »Zurückklapsen« nicht nur ungehörig wäre, sondern sich die Situation für sie deswegen auch erheblich verschärfen würde. Und sie haben auch gelernt, daß es nicht gewünscht und erlaubt ist, wenn sie bei einer kleinen Lüge ertappt werden, davonzulaufen oder sich wegzu­ ducken. Denn die Strafe wird ja nach unseren Erziehungsvorstellun­ gen als »gerecht« verhängt; kleine Kinder sollen lernen, zu sich und zu dem, was sie getan haben, zu stehen usw. Zusammengenommen zeigen diese Argumente, daß es nicht ange­ messen ist, Umwelten als aktuellen Konditionierungszusammenhang zu interpretieren oder als Verursacher gelernter Konditionierungen, weil schon kleine Kinder die Zeitlichkeit ihres Lebens bewußt erfahren und kulturell wie individuell unterschiedliche Varianten haben, einer Situation zu begegnen. Sie lassen sich glücklicherweise nicht fehlerfrei derart konditionieren, daß sie auf bestimmte Reaktionen von Er­ wachsenen auf ihr Verhalten ihrerseits festgelegte Reaktionen vorwei­ sen, die gleichsam das Ergebnis technisch-instrumenteller Wirkungs­ absichten sind. Konstruktivistische Stadientheorien Diese Theorien sehen den Menschen in einem aktiven Austausch mit seiner Umwelt, auf die er handelnd einwirkt, die er erkennt und inter­ pretiert. Die Umwelt bietet ihm Anregungen und Herausforderungen, die seine Entwicklung beeinflussen, aber nicht mechanisch, sondern immer vermittelt durch die Sicht der Umwelt, die der Mensch auf sie hat. Es ist der Mensch, der durch eigenes Erkennen und eigene Inter­ pretationsleistungen der Umweltverhältnisse seine Lebenswirklichkeit »konstruiert«. Der Mensch braucht eine Umwelt, aber die Umwelt 99 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel determiniert seine Entwicklung nicht, sie wird vielmehr durch den wahrnehmenden Organismus als inneres Modell konstruiert. Piaget betrachtet das Kind auf diese Weise. Für ihn ist die Umwelt wichtig, aber sie bleibt in gewisser Weise passiv, weil sie nur Angebote geben kann. Ob und wie diese Angebote verarbeitet werden, das richtet sich nach dem jeweiligen Entwicklungsstadium, das freilich nicht minutiös und mechanisch festgelegt werden kann. Dies ist schon deswegen nicht möglich, weil es offenbar unterschiedliche Stirnwierungen durch un­ terschiedliche Umwehen gibt und diese die inneren Konstruktionen, die Kinder vornehmen, in wichtiger Weise beeinflussen. Nach Piaget steht im Mittelpunkt der Erwerb von Operationen. Und das innere Wachstum von Kindern besteht darin, daß sie Operationen lernen. Wichtig ist, daß Operationen als reversibel erkannt werden, weil das Kind erst dadurch intellektuelle Fortschritte macht. Beispiel: Eine Operation besteht in der Einsicht in die Tatsache, daß eine bestimmte Menge Wasser sich nicht ändert, wenn wir sie in einen anders ge­ formten Behälter umfüllen. Wir wissen nämlich: Wenn wir das Wasser in das ursprüngliche Gefäß zurückgießen, können wir den Original­ zustand wieder herstellen. Die Operation gestattet es also dem Kind, geistig dahin zurückzukehren, wo es begann, und dadurch erzielt es einen Erkenntnisfortschritt und meint nun nicht mehr, die Flüssigkeit in einem schmalen, hohen Gefäß sei »mehr geworden« beim Umgie­ ßen aus einem breiten, flachen Gefäß. Bei Piaget durchläuft das Kind beim Erlernen der verschiedenen Klassen von Operationen bestimmte Stufen. Zentrale Mechanismen, die das Fortschreiten ermöglichen, sind Assimilation und Akkomodation. Unter Assimilation wird das Einfügen eines neuen, bisher unbekannten Objektes oder Gedanken in einen bereits vorhandenen Gedanken oder ein Schema verstanden, das dem Kind bereits vertraut ist. Das Kind verfügt in jedem Alter über eine ganze Anzahl von Aktionen oder Operationen, denen nun neue Objekte und neue Ideen assimiliert werden. »Das einjährige Kind hat ein Schema für kleine Gegenstände erworben, zu dem das Schütteln und Beißen solcher Dinge gehört. Bekommt es ein neues Objekt, sagen wir einen Stabmagneten, so reagiert es darauf wie auf alle kleinen Objekte - es schüttelt ihn oder beißt darauf herum. Dieses Anwenden älterer Aktionsschemata auf eine neue Aktion ist Assimilation. Einfach formuliert: Assimilation ist das Anwenden alter Gedanken und Ge100 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel wohnheiten auf neue Objekte und bedeutet, daß neue Ereignisse als ein Teil bestehender Schemata gesehen werden.« (Mussen u. a., S. 49) Im Gegensatz dazu besteht Akkomodation darin, sich an ein neues Objekt anzupassen, das erlernte Schema abzuändern oder zu erwei­ tern, um sich so auf ein neues Objekt, eine neue Idee einzustellen. »Das Zweijährige, das noch nie mit einem neuen Magneten zu tun gehabt hat, mag ihn anfangs seinen älteren Schemata assimilieren und wie ein vertrautes Spielzeug behandeln. Es schlägt, hämmert, versucht damit Lärm zu machen und wirft ihn herum. Aber sobald es die be­ sondere Eigenschaft des Magneten entdeckt, nämlich daß er Metall anzieht, wird es sich auf diese Eigenschaft einstellen und beginnen, den Magneten an verschiedenen Objekten auszuprobieren, um zu sehen, ob sie an ihm haften.« (Ebd., S. 49) Das geistige Wachstum bestimmt sich durch das Lösen der Span­ nung zwischen Assimilation und Akkomodation. Menschliche Wesen werden eben nicht durch ihre Instinkte dirigiert, sondern sie müssen sich ständig neuen Situationen angleichen, um sie auf diese Weise bewältigend verstehen zu können. Noch einmal ein Beispiel: »Wenn der Vater das Kind im Spiel raten läßt: >In welcher Hand habe ich das Spielzeug?<, könnte das Kind eine feste Position beziehen und immer wieder aufVaters rechte Hand tippen, wiewohl er den Gegenstand mal in der einen, mal in der anderen Hand hält. Schließlich akkomodiert sich das Kind dem Problem und begreift die Regel, die der Vater an­ wendet.« (Ebd., S. 49) Jede Akkomodationsleistung fördert die intel­ lektuelle Entwicklung des Kindes, die in einer Entwicklungsstufenreihe besteht. Diese kann nicht umgekehrt werden, und es ist auch nicht möglich, daß ein Kind eine Stufe überspringt, weil es dann wichtige Operationen übergehen würde, die es beherrschen muß, will es sich auf die nächste Stufe hin weiterentwickeln. Die erste Phase wird vor allem bestimmt durch das sensornotorische Koordinieren und Greifen. Nach etwa fünf Lebensmonaten ist das Kind beispielsweise in der Lage, mit einem visuell gelenkten Greifen zu operieren. In den ersten zwei Lebensmonaten wird das Kind, bringt man einen Gegenstand in sein Sehfeld, diesen zwar anstarren, aber nicht versuchen, nach ihm zu greifen. Mit zweieinhalb Monaten wird das Kind nach dem Gegen­ stand schlagen, ihn jedoch verfehlen. Mit vier Monaten bringt das Kind die Hand in die Nähe des Objekts und läßt den Blick zwischen 101 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel Hand und Objekt wandern, vermindert auf diese Weise allmählich den Abstand zwischen beiden und das Ding dann tatsächlich. Mit fünf Monaten oder etwas später greift das Kind nach dem Gegen­ stand und bekommt ihn auch zu fassen. Diese Fähigkeit kann genau wie das Laufen oder Stehen, die durchaus Standard-Reifungsphasen durchlaufen, durch das Erleben einer reicher gestalteten Umwelt be­ fördert werden. »Wuchsen Kleinkinder in einer anregungslosen Insti­ tution auf, wo sie keine Objekte erhielten, denen sie sich widmen oder nach sie langen konnten, so kommen sie verspätet zu visuell gesteuerten Greiferfolgen. Rascher machen Kinder Fortschritte, denen Gelegenheit geboten wird, attraktive Objekte (z. B. Mobiles und ande­ re Dinge, die in seine Reichweite gebracht werden können und die es handhaben kann) zu betrachten und nach ihnen zu greifen. Bei diesen Kindern tritt visuell-motorisches Greifverhalten schon im Alter von vier bis viereinhalb Monaten auf.« (Ebd., S. 1 73 ) Die präoperatio­ nalen Stadien (etwa anderthalb bis sieben Jahre) setzen voraus, daß das Sprache ist und es die Bedeutungen von Objekten Kind im Besitz und Ereignissen ebenso manipulieren kann wie tatsächliche Aktionen. Über die Sprache werden Schemata symbolisch: »Das Zweijährige ausblasen wollen oder wird einen Stock als eine Kerze behandeln Holzklotz als ein Auto nehmen und umherbewegen, wobei das Kind >Fahrgeräusche< macht. Dieses Vermögen, Objekte so zu behan­ deln, als seien sie für andere Dinge als sie >eigentlich< sind symbolisch, - ist ein wesentliches Merkmal des präoperationalen Stadiums.« (Ebd., S. 3 1 9) Aber noch sind trotz der symbolischen Organisation die Wör­ ter und Vorstellungsbilder etwa eines Dreijährigen nicht notwendig in sicher artikulierten Begriffen und Regeln organisiert. Wenn es beispielsweise übereinstimmende Dinge (rote Bauklötze) in eine Gruppe zusammenstellt, ist dies für Piaget noch nicht ein Beweis für ein gesteuertes Klassifizieren. Das präoperationeile Kind vermag es in der Regel nicht, sich Gesichtspunkte eines anderen Kin­ des oder Erwachsenen anzueignen. Es kann nur eingeschränkt antizi­ pieren, wie ein Objekt vom Standpunkt einer anderen Person her betrachtet aussieht, und es hat Schwierigkeiten und kann oft nicht erkennen, daß eine Szene, die es erblickt, sich in den Augen eines anderen Menschen anders ausnimmt als in den eigenen. Diese ego­ zentrische Perspektive wird erst im Stadium der konkreten Operationen 102 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel ( etwa sieben bis zwölf Jahre) überwunden. Ein zentraler Unterschied zwischen dem präoperationellen und dem operationellen Kind ist der, daß ersterem eine geistige Vorstellung von einer Handlungsreihe fehlt. Das Fünfjährige kann lernen, von seinem Zuhause ein paar Querstra­ ßen bis zum nächsten Laden zu laufen, aber es kann nicht mit Bleistift und Papier am Tisch sitzen und sich seinen Weg aufzeichnen.« Es kann also die gesamte Aktionssequenz nach Piaget nicht geistig reprä­ sentieren. Es hat noch kein Gesamtbild von dem beschrittenen Weg und damit einen geistigen Plan. Das präoperationeHe Kind versteht auch relationale Begriffe wie »heller«, »kleiner«, >>schöner« nicht. Es hat auch Schwierigkeiten zu erkennen, daß man Flüssigkeiten und feste Stoffe in eine andere Form bringen kann, ohne daß sich ihr Vo­ lumen oder ihre Masse ändern. Ein Beispiel: >>Man zeigt einem fünf­ jährigen Kinde zwei Tonkugeln gleicher Masse und Gestalt. Es er­ kennt, daß sie beide aus der gleichen Menge Ton bestehen. Dann ab, so daß sie an einen flacht der Experimentator die eine Pfannkuchen erinnert, und fragt das Kind, welches der beiden Objekte mehr Ton enthalte, oder ob die Menge Ton bei beiden Massen gleich sei. Der typische Fünfjährige wird die Kugel und den >Pfannkuchen< als Dinge von ungleicher Substanzmenge betrachten. Zwei Jahre später wird er wahrscheinlich darauf beharren, daß Kugel und >Pfannkuchen< aus der gleichen Menge Ton bestehen, denn >der Pfannkuchen dünner, dafür aber breiter<. Dies verrät, daß er sich der kompensato­ rischen Dimension bewußt ist. Er kann auch sagen: >Ich kann aus dem Pfannkuchen wieder eine Kugel machen.«< ( Ebd., S. 32 1 ) Die Annahme, daß dem kindlichen Verhalten und Denken allge­ meine Strukturen zugrunde liegen, die sich im Verlauf der Entwick­ lung ausdifferenzieren, ist inzwischen strittig. Zwar sind Piagets An­ nahmen über die stufenweise Entwicklung von und damit von Operation durch eine Fülle empirischer über­ prüft, differenziert und variiert worden. Insgesamt sind damit Ein­ schätzungen entstanden, die sich nicht unmittelbar an Piagets Theorie binden lassen (zum folgenden: 1 989, S. 1 49 ff. ) . Zum einen ist der Säugling kompetenter, als Piaget vermutet hat. So konnten ver­ schiedene Studien entfernungsangepaßtes bevor es Kindern möglich war, die >>von Piaget als Vorbedingung für diese Leistung angesehenen Verhaltensweisen des geziehen Ergreifens 103 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel von Gegenständen und der eigenständigen Fortbewegung im Raum durchzuführen«. Es gibt offenbar eine direkte Tiefenwahrnehmung, im Widerspruch zu der Annahme Piagets, daß »der Raum« oder »die Tiefe« erst durch die Aktivierung und praktische Koordination von Teilfähigkeiten konstruiert wird. Der Säugling ist auch sehr viel früher fähig, erste Vorstellungen auszubilden, bestimmte Gesten zu imitieren, die Identität von Objekten festzustellen, zeitliche Beziehungen zwi­ schen Bewegungs- und Lautmustern zu erfassen und wahrscheinlich auch zwischen sich selbst und der äußeren Realität zu unterscheiden. Zum andern entwickeln sich zum Teil andere Fähigkeiten, als Piaget angenommen hat. Beispiel: Die Fähigkeit zur internen Repräsen­ tation eines nicht anwesenden Objekts leitet Piaget aus dem Suchver­ halten ab, das ein Kind nach dem Verschwinden (Verstecken) eines Objekts ausführt. Er unterscheidet sechs Teilstadien des Suchverhal­ tens. Bis zum Alter von ca. vier Monaten zeigen Kinder beispielsweise keinerlei Suchverhalten, wenn ein Objekt vor ihren Augen mit einem Tuch verdeckt wird, denn sie haben noch keine Vorstellung von Objekt, und erst ab ca. 1 8 Monaten ( Teilstadium sechs) suchen Kinder ein mit einem Tuch verdecktes Objekt, das in verdeck­ tem Zustand, aber in ihrem Beisein, an einen anderen Ort verschoben wurde, sofort an diesem zweiten Ort, weil sie nun eine vollständige, fehlerfreie interne Repräsentation des Objekts entwickelt haben. »Genau in dieser Begründung liegt für Harris ( 1983) aber Pro­ blem; denn hier wird der Erfolg in einer komplexen Suchaufgabe mit dem Vorhandensein des Konzepts des >permanenten Objekts< gleich­ gesetzt, obwohl zur . Lösung der Suchaufgabe nach Harris zwei ver­ schiedene Formen von Repräsentation, nämlich die Repräsentation der Identität oder Permanenz eines abwesenden Objekts und die Re­ präsentation der Orte, an denen man ein verschwundenes Objekt suchen sollte, vorausgesetzt werden müssen. Es gibt inzwischen eine Reihe von Studien, die zeigen, daß die Vorstellung eines identischen oder permanenten Objekts vor bzw. unabhängig von der Vorstellung der exakten Lokalisierung eines versteckten Objekts sein (Ebd., S. 1 5 1 ) - Drittens gibt es offensichtlich keine einheitli­ streng »stufenweisen<< Entwicklungsveränderungen über ver­ schiedenste Inhaltsbereiche hinweg. Es gibt heute Hinweise darauf, daß es allgemeine Entwicklungsstufen in der 1 04 Leseprobe aus: Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, ISBN 978-3-407-22486-6 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel von Piaget angenommenen Weise nicht gibt und auch die stufenweise Veränderung im Sinne deutlich feststellbarer qualitativer Unterschiede zwischen der präoperationalen und der konkretoperationalen Phase in Frage steht. Die Piagetsche Charakterisierung des präoperationalen Denkens als egozentrisch, wahrnehmungsgebunden und unfähig zur Koordination zwischen Zuständen und Transformation wird inzwi­ schen bezweifelt; es gibt Beispiele, nach denen präoperationale Kinder »durchaus den Standpunkt einer anderen Person berücksichtigen oder den Zusammenhang zwischen kausaler Einwirkung und den bewirk­ ten Effekten genau erfassen und andererseits keineswegs durch Wahr­ nehmungseindrücke irregeführt werden ( . . . ). Zum anderen wird darauf verwiesen, daß den Kindern in der präoperationalen Phase abgesprochene Fähigkeiten keineswegs immer bei konkretoperationa­ len Kindern nachweisbar sind, da sich die Entwicklung und Vervoll­ kommnung der konkreten Operationen oft über viele Jahre erstreckt.« (Ebd., S. 153) Wir neigen heute dazu, die präoperationale Phase nicht als unvollkommene Vorstufe für konkrete Operationen aufzufassen, son­ dern ihr ein eigenes Recht und eine eigene Würde, eine selbständige Sichtweise der Kinder zuzusprechen, beispielsweise dem Kleinkind im Alter von drei oder vier Jahren (oder noch früher) bereits reflexive Erkenntnisanstrengungen und reflexive Einsichten in Handlungszu­ sammenhänge Offenbar spielt hier besonders das spontane handlungsbegleitende Sprechen eine wichtige Bedeutung. In­ dem ein Kind ihm wichtig erscheinende Teilaspekte eines Objekts oder auch seines Handeln durch Kommentierung, Wiederholung, Vernei­ nung, Kontrastierung sprechend begleitet, entdeckt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ·Verschiedenen Objekten und/oder Tätigkeiten. Wenn das Sprechen eine so wesentliche Strukturierungs­ funktion hat, ist die Sprache der zentrale Ort, über den Kinder ihre kognitiven Entwicklungen forcieren (oder auch nicht). Allerdings hat auch Piaget darauf insistiert, daß der sich entwickelnde Mensch nicht von außen motiviert zu werden braucht, seine Erkenntnisinstrumente »Piaget warnt drängen vielmehr nach Erprobung und vor Eingriffen in den Prozeß der Selbstkonstruktion. Der sich entwik­ kelnde Mensch ist aktiv, er erkundet, er strukturiert seine Umwelt, er sucht und verarbeitet Informationen.« (Oerter/Montada 1 982, S. 28) 105