Expose für ein Themenheft: Gender-Vielfalt-Akzeptanz Mit Anregungen und Hinweisen zum Download) Anne Eßer 1 Begründung des Themas 2 Sachanalyse I Fachliche Relevanz des Themas der Geschlechteridentität 3 Schulstufenbezug I Unterrichtsanregungen und Materialvorschläge 1 Begründung des Themas Der Begriff der geschlechtlichen Identität umfasst verschiedene Aspekte wie die Geschlechterrolle, die sexuelle Orientierung sowie die körperlichen und psychische Gesch lechts identität. In den 1980er und 1990er Jahren gab es in der kunstdidaktischen Literatur viele Unterrichtsvorschläge zum Thema der Geschlechterrollen - vor allem das Analysieren von Geschlechterstereotypen in Werbeanzeigen war ein verbreitetes Format. Aber während das Interesse am Geschlechterrollenthema allmählich abebbte, sind die anderen Aspekte der geschlechtlichen Identität kaum in das kunstdidaktische Bewusstsein vorgedrungen. Dies steht im Widerspruch zur lebensweltlichen Bedeutung des Themas der Geschlechter-Identität für Jugendliche. Jugendliche wachsen heute im Dschungel einer verwirrenden Vielfalt an möglichen Geschlechtsidentitäten auf - positiv aufgefasst innerhalb eines zunehmend sich ausweitenden Rahmens gesellschaftlich akzeptierter Identitäten, negativ gedeutet im Spannungsfeld verunsichernder Widersprüche. In den Medien und der Öffentlichkeit wird längst breit über den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität und Phänomene wie Transsexualität oder Intersexualität diskutiert. Fernsehserien oder Tatort-Folgen greifen diese Themen auf. Auf der einen Seite stehen dabei Pluralismus und Diversität, erfahrbare Performativität von Identität (Lady Gaga, Conchita Wurst, Metrosexualität etc.), zugleich aber tragen Klischeebilder zur Verhärtung von Vorurteilen bei und üben einen hohen Anpassungsdruck auf Jugendliche aus (u.a. Castingshows). In Jugendkulturen setzen sich Heranwachsende mit ihrem ästhetischen und medialen Verhalten aktiv und kreativ mit Fragen der Geschlechtsidentität auseinander. Im Umgang mit Medienbildern ist die performative Nachahmung und Umgestaltung eine wichtige Zeiterscheinung der Jugendkultur, wobei dem Zelebrieren von Androgynität in Jugendkulturen wie Visual Kei die Übertreibung geschlechterrollen-spezifischer Merkmale wie bei den Sweet Lolitas gegenübersteht. Sexuelle Identität hängt zunehmend von persönlicher Entscheidung und Lebensgestaltung des Einzelnen ab und wird nicht nur von biologischen Vorgaben und gesellschaftlichen Normen diktiert. Damit wird die Frage nach der eigenen Positionierung und Selbstkonstruktion aufgeworfen. Auch Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie bestätigen, dass eine Phase des Ausprobierens alternativer Selbstentwürfe wichtig ist für eine erfolgreiche Identitätsbildung, die nicht in einer diffusen oder lediglich übernommenen Identität stecken bleibt. Sexuelle Vielfalt und die Frage nach sexuellen Identität(en) stehen auf dem "Lehrplan des Lebens". Die "offizielle" Didaktik, wie sie sich z.B. in Fachzeitschriften und Lehrbüchern niederschlägt, hat das Thema der sexuellen Identität und Vielfalt weitgehend vernachlässigt, nicht nur im Fach Kunst. Den bisher wenigen Unterrichtsvorschlägen und Lehrkonzepten, die diese didaktische Lücke schließen sollen, liegen derzeit überwiegend poststrukturalistisch und anti-essenzialistisch geprägte queertheoretische Ansätze zugrunde. Aus dieser Perspektive wird Geschlecht als ausschließlich sozial konstruiert aufgefasst, nicht nur im Hinblick auf die Geschlechterrolle, sondern ausdrücklich auch in seiner biologischen Dimension. Da die Frage nach der biologischen Dimension der Geschlechter-Identität keineswegs geklärt ist und der Prozess der Auseinandersetzung darüber in den Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften fortgeführt wird, spricht nichts dagegen, die genannten Positionen im Unterricht (Oberstufe) vorzustellen und zu diskutieren, sie können aber nicht zur theoretischen Grundlage für den Unterricht bestimmt werden. 2 Sachanalyse I Fachliche Relevanz des Themas der Geschlechteridentität In der westlichen Kunst der letzten Dekaden rückt das Thema der sexuellen Identität verstärkt in den Fokus, auch ausgehend von den Impulsen der 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts wie sexuelle Aufklärung, Emanzipation und Liberalisierung geschlechtlicher Lebensweisen. Dabei lässt sich eine Abfolge von drei aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten oder Phasen beobachten. In den 1970er und 1980er-Jahren wird vielfach die Geschlechterrollenthematik bearbeitet. In diesen Bereich fallen klassisch feministische Positionen (z.B. Judy Chicago, Pipilotti Rist, Ulrike Rosenbach, Cindy Sherman, Rosemarie Trockel). Inhaltliche Ziele sind, Benachteiligungen von Frauen und Rollenmuster bewusst zu machen, spezifisch weibliche Qualitäten und Traditionen zu würdigen und den männlich geprägten Ansätzen als gleichwertig entgegen zu setzen - auf der anderen Seite jedoch auch, feststehende und naturgegebene Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern in Frage zu stellen und als ideologisch begründete Denkmuster zu entlarven. Ebenfalls ab den 1970er Jahren, verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren, finden künstlerische Positionen zum Thema Homosexualität zunehmend Beachtung (Nan Goldin, David Hockney, Rainer Fetting, Pierre et Gilles, Robert Gober u.a.). Anliegen dieser Kunstwerke sind, für die Rechte der Homosexuellen einzutreten, selbstbewusst die eigene Lebensweise darzustellen sowie Probleme und Themen aufzugreifen, von denen Schwule und Lesben besonders betroffen sind. David Hockneys Werk ist seit Jahren Thema im hessischen Landesabitur in Kunst. Andy Warhol, Keith Haring oder Pierre et Gilles sind Beispiele für Künstler, die hohe Popularität erreichten, in ihrer jeweiligen Erfolgsphase gerade auch beim jugendlichen Publikum. Alle diese Künstler haben mit ihren Werken auch Eingang in Schulbücher gefunden. Die Homosexualität der Künstler wird dabei in der Regel ausgeblendet. In der letzten Dekade (etwa ab 2000) wird die geschlechtliche Körper-Identität selbst zum Forschungsfeld in der Kunst. Nicht nur das soziale Konstrukt einer Geschlechterrolle, sondern auch die biologische Gegebenheit einer feststehenden Geschlechtsidentität gerät ins Wanken. Das Verschwimmen von weiblichem und männlichem Körper, die Wandelbarkeit geschlechtlicher Identitäten werden in Kunstwerken anschaulich. Beispiele wären der Cremaster Cye/e von Matthew Barney 1994-2002, die Fotoporträts der transsexuellen Kim von Bettina Reims oder die Bronzeskulptur eines Paares mit vertauschten Genitalien von Marc Quinn 2009. Es geht nicht mehr darum, eine bestimmte Identität auszudrücken oder herzustellen, so wie Judy Chicagos Dinner Party aus den Jahren 1974-79 etwa Identifikationsmöglichkeiten mit exzellenten Frauen anbot. Stattdessen soll die grundsätzliche Offenheit von Identität generell aufgedeckt werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Geschlechterrollen, sondern sehr viel tiefgehender auch in Bezug auf die geschlechtliche Körperlichkeit. Historische Kunst gibt Wissen und Fantasien zu dem Thema der sexuellen Identität oft eher im Subtext preis. Nichtsdestoweniger sind sie vielfach in hohem Maß für ein Werk konstituierend. Allerdings besteht die Tendenz zur Unterschlagung dieser Aspekte in Lehrbüchern oder Interpretationen für den Unterricht (Bsp.: Bildtradition des David, u.a. bei Donatello 1430-1440, Michelangelo 1501-1504 und Caravaggio 1607, siehe Sternweiler 1993). Es existiert ein Kanon von fiktiven und historischen Gestalten, mit deren Hilfe eine kollektive homosexuelle Identität aufgebaut wurde. Für queere Heranwachsende kann das wichtig sein, so wie Judy Chicagos Dinner Party für Frauen Identifikationsfiguren anbieten sollte, auf die sie stolz sein können. All die sachanalytischen Aspekte des Themas können - auch in Auswahl- im Basisartikel expliziert werden. In Beratung mit den Herausgebern können einzelne Themenfelder aus der historischen und jüngeren Kunst zu Materialteilen aufbereitet werden. In der Rubrik Diskussion oder Kontext könnte Esther Richthammer zu Wort kommen, die in ihrer Dissertation verschiedene Studien im Themenfeld kritisch aufarbeitet (z. B. zu geschlechtstypischen Fächerwahlen und Fachinteressen und der geschlechtlichen Codierung des Faches Kunst) sowie in einem diskursanalytischen Teil an hand von aktuelleren kunstpädagogischen Texten den vorherrschenden Perspektiven auf Geschlecht auf den Grund geht. Zahlreiche Beispiele historischer und aktueller Kunst bieten sich an, in der Rubrik "Kunst aktuell" vorgestellt zu werden. 3 Schulstufenbezug I Unterrichtsanregungen und Materialvorschläge Je nach Altersstufe bieten sich unterschiedliche Inhalte und Arbeitsmöglichkeiten an. Hier werden nur beispielhaft Themenfelder und Unterrichtsideen kurz vorgestellt - im Sinne eines Brainstorming. Es sollen vor allem auch Vorschläge und Impulse von Lehrenden aufgegriffen werden. Generell empfiehlt sich, das Thema der geschlechtlichen Identität zu inkludieren und nicht als gesondertes Thema zu behandeln. D.h. wenn es um Märchen und Mythen geht, sollten Erzählungen, die z. B. von Homosexualität handeln, nicht ausgeschlossen werden. Bilder, Filme und Musikvideos zu Aspekten der geschlechtlichen Identität sollten in den Unterricht einbezogen werden: als Angebot zur Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, nicht als Zwang. Unterstufe: Sagen, Mythen, Märchen Viele Sagen, Mythen und Märchen handeln von Themen und Problemen, die unterschiedliche Aspekte der geschlechtlichen Identität betreffen. Bei Illustrationen oder Rollenspielen zu Mythen und Märchen können unter anderem auch solche Erzählungen zur Auswahl stehen (Bsp. Iphis bei Ovid, die Amazonen in den griechischen Sagen, Brunhilde im Nibelungenlied). Kinderbücher / Bilderbücher Bilderbücher jüngeren Datums greifen z.T. Themen wie Homosexualität und .Anderssein" in Bezug auf Geschlechter-Normen auf. Die Lernenden können unter einer Anzahl von Bilderbüchern zu unterschiedlichen Themen auch ein solches Buch wählen und unter verschiedenen Fragestellungen dazu arbeiten (z.B. Maxeiner, A / Kuhl, A: Alles Familie; Haan, L. de/Stern, N.: König & König, 2001) Filme für die Altersstufe Beim Besuch der Schulkinowochen oder der Befassung mit Filmen können auch für die Altersstufe empfohlene Filme zur geschlechtlichen Identität einbezogen werden (z.B. Tomboy von Sciamma 2011, freigegeben ab 6 Jahren). In den Schulkinowochen in Hessen 2017 sind für die Unterstufe zum Thema der Geschlechterrolle z.B. die Filme Das Mädchen Wadjda (FSK o.A, empf. ab 10 Jahren), Amy (FSK o.A, empf. Ab 12 Jahren) und Mustang (FSK 12, empf. ab 13 Jahren) interessant, zum Thema Homosexualität z.B. der Film Gayby Baby (FSK o.A, empf. ab 12 Jahren). Ästhetische Praxis: Kurzfilm / Stop-Motion-Film / Animationsfilm Spielzeug: Die Kinder und Heranwachsenden können Spielzeug für Jungen und Mädchen mitbringen, typische Merkmale erarbeiten und kritisch diskutieren Ästhetische Praxis: Spielzeug entwerfen, Klischees ironisieren (Collage, Montage, Installation, Rollenspiel) Mittelstufe: Musikvideos Aktuelle Musikvideos zum Thema der sexuellen Identität erscheinen zahlreich und sind manches Mal eher restaurativ, in anderen Fällen progressiv Bsp.: I kissed a girl von Katy Perry 2008, Silhouettes von Avicii 2012). Die Jugendlichen können Musikvideos vergleichend analysieren, sowohl inhaltlich als auch formal (Farbsymbolik, Symbole, Rückgriffe auf Bildtraditionen). Weitere Musikvideos zum Themenbereich: Break Free (Ruby Rose 2014), Shame (Robbie Williams/Gary Barlow 2010 , Pass this on (The Knife 2003) , Born this Way (Lady Gaga 2011 ) Jugendliche kennen meist die aktuellsten Videos. Ästhetische Praxis: eigenes Musikvideo / Drehbuch Stars der Popkultur Conchita Wurst, Lady Gaga, (Annie Lennox, David Bowie) Schauspieler in Gender-Switch-Rollen (z.B. Matthias Schweighöfer in Rubbeldiekatz 2011 ) Ästhetische Praxis: Selbstinszenierung als Star Models und Mode (Casting Shows, Unisex-Mode versus Mode, die Geschlechterunterschiede betont) Ästhetische Praxis: Mode entwerfen Werbung: Homosexualität in der Werbung (diskriminierend oder wertschätzend), Geschlechterrollen in der Werbung Ästhetische Praxis: Werbeanzeigen verfremden, parodieren (Collage), Werbeanzeige entwerfen (Foto, Zeichnung). Eingesetzt werden können auch Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung: Entscheidung im Unterricht - Coming Out im Klassenzimmer (Film und Begleitbroschüre mit Arbeitsblättern) Jugendkulturen Bild-und Textmaterial zu Jugendkulturen sammeln und die Jugendkulturen vorstellen (Mindmap, Collage, Zeichnungen). Jugendkulturen, die besonders auch Aspekte der geschlechtlichen Identität aufgreifen sind z. B.: Visual Kei, Sweet Lolitas, diverse Fankulturen, Com puterspiele-Com munities Ästhetische Praxis: z.B. Bilder zum Thema "Anders sein". Oberstufe: Werke der Gegenwartskunst zum Thema der geschlechtlichen Identität analysieren (Bsp.: Thomas Beatie von Mare Quinn, Transgenerativ von Annegret Soltau). "Queer Art" (Bsp.: Gonza/es- Torres: Portrait of Ross) Neue Geschlechterbilder in Fernsehserien wie Game of Thrones (seit 2011) mit Geschlechterbildern anderer Serien vergleichen Historische Kunst / Bildtraditionen: David, Judith, Ganymed, Narziss Dritte Geschlechter (Hijras / Fotos von Reiner Riedler, Burrnesha / Fotos von Pepa Hristova) Ästhetische Praxis: fotografische (Selbst-)Inszenierungen, Collagen oder Zeichnungen zu Themen und Problemen der Gegenwart (Aspekte der geschlechtlichen Identität können in Eigeninitiative freiwillig aufgegriffen werden). Schulstufenübergreifende Hinweise: Kunstschaffende, die Themen und Probleme der geschlechtlichen Identität bearbeiten sind z. B.: Cindy Sherman, Annegret Soltau, Bettina Rheims, Pipilotti Rist, Judy Chicago, Jürgen Klauke, Marc Quinn, Rebecca Horn, Robert Gober, Yijun Liao, Hana Pesut, Henrik Diesen, Rainer Fetting, Andy Warhol, Pierre & Gilles, Nan Goldin und zahllose andere. Je nach Auswahl der Werke eignen sich Arbeiten der Künstler für verschiedene Altersstufen. Die eigene ästhetische Praxis kann dann an die Arbeitsweise der Kunstschaffenden anknüpfen (z.B. Foto-Vernähungen wie bei Soltau, Skulpturen wie bei Gober usw.) Das Schultheater-Studio Frankfurt bietet den theaterpädagogischen Workshop GesehleehterRolleMenseh zu den Themen Heteronormativität und Homophobie ab der 7. Klasse an (https://schultheater.de/geschlechterrollemensch-workshop.html) Auch die Teilnahme am Workshop mit einer Klasse und die Auswertung der Workshop-Arbeit stellen eine Möglichkeit für einen Beitrag zum Themenheft dar.