P 11.09 Mk 8,27-30 "Gretchenfrage" (unterwegs MkEv XXIII)

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Evangelisch-reformierter Gottesdienst
Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag
Linden
18.IX.2011
Beat Weber
Mk 8,27–30 – die „Gretchenfrage“: Nun sag, wie hast du’s
mit der Religion? Und wer ist eigentlich dieser Jesus?
Mit Jesus Christus unterwegs zu uns Menschen. Lindener Predigten zum
Evangelium nach Markus XXIII
8,27
Da gingen Jesus und seine Jünger hinaus in die Dörfer von Cäsarea
Philippi. Auf dem Weg dorthin fragte er seine Jünger: „Für wen halten die
Leute mich?“ 28 Sie antworteten: „für Johannes, den Täufer, andere: für Elia,
und wieder andere: für einen der [übrigen] Propheten.“ 29 Darauf hin fragte er
sie selbst: „Und ihr? Für wen haltet ihr mich?“ Da antwortete Petrus: „Du bist
der Christus (,Messias = Gesalbter [Gottes]‘)!“ 30 Da schärfte er ihnen ein,
dass sie mit niemandem über ihn reden sollten.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
Man redet von einer „Gretchenfrage“, wenn jemand geradeheraus auf etwas
Wichtiges zu sprechen kommt und dabei eine klare Stellungnahme verlangt
(die zu geben unangenehm ist). Die „Gretchenfrage“ hat ihren Namen aus
dem literarischen Werk „Faust“, das Johann Wolfgang von Goethe 1808 geschrieben hat. Dort stellt die junge Margarethe, das „Gretchen“, dem älteren
Heinrich Faust, der sie begehrt, diese Frage: „Nun sag, wie hast du’s mit der
Religion?“ (3415)
Die Frage trifft ins Zentrum: Mit der Frage nach Religion und Glaube ist nach
dem gefragt, was für’s Leben von grösster Wichtigkeit ist. Und mit ihr ist
zugleich nach den Werten und der Glaubwürdigkeit gefragt. Gretchen ahnt
die Antwort und fährt fort: „Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein ich glaub,
du hältst nicht viel davon.“ (3416f.). Heinrich Faust redet um den Brei herum,
braucht viele Worte, bleibt aber die Antwort schuldig. Gott führt er im Mund,
mit dem Teufel aber hat er sich verbündet. Dieser tritt als Mephisto auf und
hilft Faust, Gretchen zu erobern. Sie erliegt der Verführung, wird schwanger.
Ihr Leben ist zugrunde gerichtet. Im Kerker gelandet, steht Gretchen, leidend, zu ihrer Schuld. Es kommt es zu einer letzten Begegnung mit Heinrich
Faust. Sie sagt diesem wie dem Teufel ab und stellt sich Gott anheim mit
den Worten: „Dein bin ich, Vater! Rette mich! / Ihr Engel! Ihr heiligen Schaaren, / Lagert euch umher, mich zu bewahren! / Heinrich! Mir graut’s vor dir.“
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(4607–4610) Darauf sagt Mephisto, der Teufel: „Sie ist gerichtet!“ (4611),
doch die göttliche Stimme behält das letzte Wort und sagt: „Ist gerettet!“
(4612).
Es löst sich ein bis heute das Propheten- und Apostelwort: Jeder, der den
Namen des HERRN anruft, wird gerettet werden (Jo 3,5; Röm 10,13). Am
Namen Jesu Christi scheidet sich die Welt und entscheidet sich das Heil:
draussen oder drinnen, Tod oder Leben, Teufel oder Gott, Reich der Welt
oder Reich Gottes, Schuld oder Vergebung, allgemeine Religiosität oder
Christusglaube, schliesslich: gerichtet allein oder aber gerichtet und gerettet.
Eine Antwort auf diese „Gretchenfrage“ ist unausweichlich: „Nun sag, wie
hast du’s mit der Religion? Und wer ist eigentlich dieser Jesus?“
Jesus fragt an einem Wendepunkt, abgeschieden bei den Jordanquellen.
Behutsam fragt er zunächst nach der Haltung zu seiner Person in der öffentlichen Meinung: „Für wen halten die Leute mich?“ Im Jüngerkreis weiss man
darauf gut Bescheid. Jesus gilt als Prophet, als einer, der im Auftrag Gottes
spricht. Nur um welchen Propheten, da werden unterschiedliche Antworten
gegeben: Eine Neuerscheinung von Elia, Johannes dem Täufer oder sonst
einem Propheten. Was sagen die Leute heute? Ein guter, vorbildlicher
Mensch; ein grosser Religionsstifter; einer, der von Gott her etwas zu sagen
hat, also: ein Prophet.
Doch was die Mehrheit glaubt, scheint nicht das Entscheidende zu sein. Die
Leute sehen Richtiges, aber sie sind zu ferne, als dass sie die Wahrheit
erfassen könnten. Wer Jesus ist, kann weder damals noch heute aus
distanzierter Beobachtung und Beurteilung gegeben werden. Verstand und
Gemüt reichen nicht. Die persönliche Begegnung und von Gott geöffnete
Augen ermöglichen erst wirkliches Sehen: Ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8,32). So stösst Jesus nach
und fragt nun: „Und ihr? Für wen haltet ihr mich?“
An dieser Frage und der Antwort darauf hängt alles: Wer Gott ist, wer ich bin,
was diese Welt ausmacht, und was mein Leben trägt. „Und ihr? Für wen
haltet ihr mich?“ Mit diesem „Und ihr?“ fragt Jesus, ob wir unbesehen die
Meinung der Leute übernehmen und nachsagen, was andere meinen. Redet
ihr angelernte Meinungen nach oder wisst ihr mehr? … weil ihr ihm begegnet
seid, weil ihr mit ihm das Leben teilt, weil er euch mehr bedeutet als alles
andere im Leben, weil ihr losgelassen und alles auf ihn gesetzt habt, um ihm
nachzufolgen?
„Und ihr? Für wen haltet ihr mich?“ Gottes Geist stellt Jesu Frage durch die
Schrift hindurch bis heute: Für wen hält’s du mich? An der Antwort steht oder
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fällt mein Leben, auch wenn ich es nicht wahrhaben will. Um eine Antwort
komme ich nicht herum. Wenn der Mund schweigt, so redet das Leben.
Petrus als Sprecher der Jünger damals und der Jesusnachfolger heute gibt
eine Antwort. Sie ist anders als die öffentliche Meinung. Es ist eine Antwort,
die das Himmelreich aufschliesst, aber jeden Jünger Jesus viel kostet und in
Leiden und Verfolgung führt: „Du bist der Christus (,Messias = Gesalbter
[Gottes]‘)!“
Wo liegt der Unterschied zwischen der Mehrheitsmeinung „Prophet“ und
dem Jüngerbekenntnis „Christus“? Dieses sagt: Du bist mehr als ein Bote
Gottes; du bist der Messias, der Auserwählte Gottes, sein eigener Sohn. Jesus fasst es einmal in die Worte: Wer mich sieht, sieht den Vater (Joh 14,9).
Wenn Gott selbst unter uns tritt, gibt es kein Ausweichen mehr. Da wird jeder
in die Entscheidung gerufen: Anbetung, Hingabe und Lobpreis, weil er sich
unserer erbarmt, uns aus eigenen Plänen heraus- und in seine Anliegen um
Gottes Reich hineinruft – oder aber Verweigerung und schroffe Ablehnung.
Da schärfte er ihnen ein, dass sie mit niemandem über ihn reden sollten. Damals war nicht die Zeit, über das Geheimnis zu reden. Jetzt aber ist Jesus
auferstanden und als Messias beglaubigt. Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit,
darüber zu reden. Und so werden überall, wo das Evangelium verkündet
wird, Menschen mit der Frage aus Jesu Mund konfrontiert: „Und ihr? Für wen
haltet ihr mich?“ Oder noch direkter: Für wen hält’s du mich?
Es ist kein Verdienst, sondern ein Gnadengeschenk, wenn wir – mit Zittern
und Zagen, aber in tiefer Gewissheit und Freude – die Antwort des Petrus
als unsere eigene nachsprechen: „Du bist der Christus (,Messias =
Gesalbter [Gottes]‘)!“ Wir sind dann keine „besseren Menschen“, aber von
ihm Ergriffene. Von ihm gehalten erfahren Beheimatung. Wir werden
hineingeführt in die grosse Freiheit, nicht mehr unsere, sondern seine Zielen
im Dienst der Liebe zu leben.
Nach den Krawallnächten in London vor kurzem hat der britische Premierminister David Cameron hellsichtig von einer „gebrochenen Gesellschaft“
gesprochen. Ein „moralischer Kollaps“ habe sich über lange Zeit
dahingezogen und sei jetzt „buchstäblich vor unseren Haustüren explodiert“.
Die Krawalle seien ein „Weckruf“ für das ganze Land. Andere pflichten bei
und benennen geistliche Ursachen: Die Zehn Gebote und die Ehrfurcht vor
Gott seien verdrängt worden (George Verwer).
Heute begehen wir den eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. Der Weg
von London nach Bern und ins Emmental ist nicht allzu weit. Unsere
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gesellschaftlichen und sozialen Nöte sind beträchtlich, und die Orientierungslosigkeit ist auch hierzulande gross. Unser landesweiter Dank-, Buss- und
Bettag ruft uns zu den einst gelegten Grundlagen unseres Gemeinwesens
zurück. Und er stellt in der Stille vor die „Gretchenfrage“: Nun sag, wie hast
du’s mit der Religion? Und wer ist eigentlich dieser Jesus?
Haben wir uns Gottes vergewissert, dann erfahren wir zugleich die Vergewisserung unserer selbst. Was ich bin und bedeute, weiss ich nicht aus mir
allein. Mein „Selbstbewusstsein“ formt sich aus dem, wie andere mich erfahren und einschätzen, mir zusprechen. Meine letzte Identität ist Menschen
verborgen. Ich bekomme sie von Gott zugesprochen, der mich bis in die
Tiefe meiner selbst kennt und mich – dennoch! – liebt. Petrus spricht für uns
an anderer Stelle. Jesus wird von vielen enttäuscht verlassen. Da fragt er die
Seinen, ob sie nicht lieber auch weggehen wollen, und Petrus antwortet:
„Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir
haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes“ (Joh 6,68f.).
Ich schliesse mit Worten aus einem Gedicht von Dietrich Bonhoeffer, dem
Theologen und Widerstandskämpfer gegen Hitler. Aus der Inhaftierung durch
das Hitler-Regime schreibt er von seiner inneren Zerrissenheit, die sich aus
dem ergibt, wie er sich fühlt und was andere von ihm denken … und wie er
schliesslich Frieden findet im Umstand, Kind Gottes und vom Höchsten
erkannt zu sein:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
…
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
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Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
…
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Amen.
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