Theodizee - Von Gott reden angesichts des Leidens in der Welt Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht: dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft, oder er kann es und will es nicht: dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist, oder er will es nicht und kann es nicht: dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott, oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie Epikur (341-270 v. Chr) Der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) versuchte, das Böse, den freien Willen des Menschen und die Rechtfertigung der Schöpfung Gottes in Einklang zu bringen. Bei ihm gilt Gott als vollkommen weise, mächtig und gut, der die beste aller möglichen Welten geschaffen habe Leibnitz prägte den Begriff "Theodizee"; er leitet sich von der Kombination der griechischen Substantive "theós" und "diké", Gott (theós) und Gerechtigkeit (diké) ab. Wie aus diesem Wortursprung schon ersichtlich ist, geht es um die Frage der "Gerechtigkeit Gottes", und zwar angesichts der Tatsache, dass es Übel in der Welt gibt, wobei als Übel das ungerechtfertigte Leid angesehen wird, das einem Menschen zustößt. Als gerechtfertigtes Leid wird im allgemeinen jenes Leid angesehen, das zum Erreichen eines ungleich größeren Gutes unumgänglich nötig ist, wie etwa Schmerzen bei einer Operation, die ein Leben rettet. Konkret formuliert: Wie kann angesichts der in der Welt existierenden negativen Realität aller Art - Hunger, Krankheit, Krieg und Not, physisches und psychisches Elend - davon ausgegangen werden, dass es den Gott des christlichen Glaubens wirklich gibt? Biblische Antworten 1. Gen 1-11 Schöpfung und Sündenfall Das Schöpferhandeln Gottes ist gut und menschenfreundlich, das Leid kommt nicht von ihm. Leid ist eine Folge der Schuld des Menschen. Strafe ist dabei die innere Konsequenz einer verfahrenen Situation. Der Sünder wird sich der Wahrheit in der Begegnung mit Gott bewusst. Auch trotz der Sünde sorgt Gott für den Menschen (Kleider für Eva und Adam, Zeichen für Kain). ! Gott sah, dass es gut Versuchung des Baumes: war; Gott, Mensch Der Mensch will mehr: und Tier sind eins sie ! sein wie Gott. sprechen eine Sprache Verlust des Paradieses ! Versuchung der Eifersucht: Kain will mehr (sein als Abel) Verlust der Heimat Versuchung der Macht: Die Menschen wollen ! Verlust des Landes, der mehr (sein als Gott) Einheit, der Sprache 2. Exodus - Auszug aus der Knechtschaft Gott befreit aus dem Elend mit starker Hand und von ihm gewirkten Zeichen und Wundern (Dt 26,8). Er bringt die Verelendeten selbst in Bewegung (spornt an zum Aufbruch, ermutigt, unterstützt, schützt das Volk vor Resignation) 3. Ijob (Hiob) Eine Hiobsbotschaft: Plötzlicher Tod eines geliebten Menschen, Unglück; Reaktion: Wut, Unverständnis. Die Bibel schildert im Buch Ijob (Hiob) die Streitgespräche eines Mannes mit Gott, nachdem er plötzlich von Leid heimgesucht wird. Der Inhalt des Buches 1,1-2,13: Rahmenerzählung (Prolog) 3,1-42,6: Dialogteil: 3,1-26: Klage des Ijob 4,1-27,23: Streitgespräche (= Dialoge) mit den Freunden Elifas, Bildad, Zofar 28,1-28: Lied über die Weisheit 29,1-31,40: Klage des Ijob und Herausforderung Gottes 32,1-37,24: Selbstgespräch (= Monolog) des Elihu 38,1-42,6: Dialog Jahwe - Ijob 38,1-40,2: erste Jahwe-Rede 40,3-5: erste Antwort Ijobs 40,6-41,26: zweite Jahwe-Rede 42,1-6: zweite Antwort Ijobs 42,7-17: Rahmenerzählung (Epilog) Ijob wendet sich direkt an Gott und bittet, ja verlangt von ihm Antwort. Er erhält sie in den beiden Gottesreden (38-39 und 40-41). Diese Antwort ist anders als erwartet. Ijob hat kein Recht darauf, dass der Allmächtige mit ihm redet. Gott ist frei und der Allmächtige wendet sich in seiner Freiheit dem Ijob zu. Die Gottesreden fragen Ijob, ob er die Welt, die von Jahwe geschaffen ist, ergründen könne. Ijob wird deutlich, dass Jahwe die Welt erschaffen hat. Darum ist Jahwe und nicht der Mensch der Herr der Schöpfung. Kein Mensch kann die Schöpfungsordnung bis ins Letzte erfassen. Das Leid aber gehört zur erschaffenen Welt. Wie sollte es der Mensch ganz ergründen können? Aber Ijob erhält eine Antwort auf die Frage: Warum hast du - Gott - dich von mir zurückgezogen? Diese Antwort lautet: Jahwe ist unergründlich, er ist mächtig und sorgend zugleich! Das Geheimnis Jahwes und sein Wirken in der Schöpfung ist nicht auszuloten. Ijob antwortet in 40,4f (er sieht seine Grenze und wird nunmehr schweigen) und in 42,2-4 (Ijob anerkennt die alles übersteigende Macht Jahwes). Nach einer Begegnung mit Jahwe (42,5) ist er mit den Rätseln der Weltordnung und im Menschenleben versöhnt. Wenn sich auch seine Situation noch nicht geändert hat, er selbst ist verändert und kann wieder befreit und erlöst aufatmen (42,6). 4. Jesus a) Jesus sagt dem Leid den Kampf an (Lk 4,18f) Mt 9,35, Mt. 10,7f) Jesus setzt mit der Verkündigung der Gottesherrschaft eine Bewegung gegen alles Leid in Gang durch das Menschen geknechtet werden. Ihm folgen heißt sich auf diese Bewegung einlassen. b) Jesus ermutigt zum Kampf gegen das Leid Jesus hilft den Menschen, nicht so dass sie dabei passiv bleiben, vielmehr motiviert, ermutigt und befähigt er dazu, dem Leid entgegenzutreten. Mk 2,11 Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh Lk 7,14 Junger Mann ich sage dir, steh auf Joh. 11,43 Lazarus komm heraus Mt. 14,15-21 5 Brote und 2 Fische c) Jesus selbst ist betroffen Mk 7,34 Er stöhnte auf; Joh 11,33.38 Innerer Zorn In der Begegnung mit Krankheit und Tod stößt Jesus auf eine feindliche Macht, die ihn selbst leiden lässt und seinen Zorn herausfordert. Ebenso wird Jesus zornig erregt durch die „Herzenshärte“ derer, die sich seiner befreienden Bewegung entgegenstellen, weil sie nicht an Gottes Menschenfreundlichkeit glauben können. d) Passion und Kreuz Jesu In diesem Zusammenhang sind Leiden und Kreuzigung Jesu zu sehen. Die abendländische Erlösungstheologie war immer wieder in Gefahr, das Kreuz isoliert- als Wert in sich - zu betrachten, ohne Rückfrage danach, wofür Jesus gelitten hat und gestorben ist. Von daher ist dann der Weg nicht mehr weit, menschlichem Leiden einen immanenten Sinn zuzuschreiben und es zu rechtfertigen unter Berufung auf das Kreuz Christi. Vergegenwärtigt man sich dagegen, „woran“ Jesus gestorben ist: an seiner frohen Botschaft von Gott, der allen gut ist, an seinem aus einer tiefen Freude geborenen Gespür für menschliches Leid und seiner Parteinahme für die Erniedrigten und Beleidigten und am Widerstand der „Hartherzigen“, die eine solche Haltung als Gotteslästerung empfanden, dann erscheint der Tod Jesu in anderem Licht: er ist die letzte Konsequenz, Unterstreichung und Radikalisierung des befreienden Evangeliums, „Leiden, das aus dem Kampf gegen das Leiden erwächst“. Der Gott, der sich in Jesus offenbart, ist nicht der leidferne, „apathische“ Gott der Griechen, sondern ein engagierter Gott, der in „Zorn“ und „Schmerz“ mitbetroffen ist von Leid und Herzenshärte seines Volkes. e) Erst nachträglich -in der Ostererfahrung - geht den Glaubenszeugen der Sinn der Passion auf. Ohne den Glauben an die Auferweckung könnte man das Leben Jesu heroisch und ergreifend finden, aber nicht erlösend. Christlicher Glaube setzt auf den Gott, der zuletzt seine Macht erweisen wird, „die Toten lebendig zu machen“ (vgl. Röm. 4,17; 2 Kor 1,9), der durch das Leiden hindurch rettet. Die Osterbotschaft bedeutet nicht das Vergessen des Leids, sondern seine Sinngebung: durch Kampf und Mit-Leiden wird das Leid überwunden. Das Leid im Judentum Ist das Leid gut für den Menschen? „Viele meinten und meinen ja. Sie sehen Krankheit und Leid als gottgewollt, als göttliches Geschenk an. So könnte das Leid ein Weg sein, für unsere Sünden Buße zu tun, und dies noch hier auf Erden ... Aber Leiden und Schmerz können noch andere wohltuende Eigenschaften besitzen: Sie sühnen die Sünden anderer aufgrund des stellvertretenden Sühneopfers ... im 4. Makkabäerbuch bittet der alte Eleasar, sein Blut als Sühneopfer für sein Volk anzunehmen (6,27ff.). Ähnlich betrachten die Rabbinen Isaaks Bereitschaft, sich opfern zu lassen. Dies ist auch der Grund, weshalb dieses Kapitel (Gen 22) am zweiten Neujahrstag in den Synagogen verlesen wird, Isaaks „Opfer“ soll der Entsühnung ganz Israels dienlich sein.“ Leid kann auch als Prüfung aufgefasst werden, die Gott gerade den Menschen auferlegt, die ihm treu sind, wie Abraham oder Ijob (vgl. Spr 3,12). Beim Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) legen die Rabbinen „mit deiner ganzen Seele“ so aus: „selbst wenn er deine Seele von dir nimmt“. Dementsprechend haben Juden und Jüdinnen immer wieder in Verfolgungen ihr Leben als Märtyrer/ innen „zur Heilung des göttlichen Namens“ hingegeben. Für die Rabbinen gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen dem Sühnecharakter des Leidens und der Pflicht, dieses zu bekämpfen. Das Leid, das dem einzelnen oder dem Volk auferlegt wird, weist im letzten auf Gottes Unbegreiflichkeit. Das hat gerade die Schoa bewusst gemacht. Wenn der leidende Mensch trotzdem an Gott festhält, dann wird er sich vielleicht zu einer Haltung durchringen, wie sie der mittelalterliche Dichter Salomo ibn Gabirol ausdrückt: „Wenn ich nicht auf deine Gnade hoffe, wer, wenn nicht du, wird Mitleid mit mir haben? Wenn du mich töten willst, werde ich auf dich warten; wenn du mich quälen willst, werde ich von dir zu dir fliehen. Ich werde mich in deinen Schatten retten vor deinem Zorn.“ Spuren im Sand Ein Mann hatte eines Nachts einen Traum. Er träumte, dass er mit Gott am Strand entlang spazieren ging. Am Himmel zogen Szenen aus seinem Leben vorbei, und für jede Szene waren Spuren im Sand zu sehen. Als er auf die Fußspuren im Sand zurückblickte, sah er, dass manchmal nur eine da war. Er bemerkte weiter, dass dies zu Zeiten größter Not und Traurigkeit in seinem Leben so war. Deshalb fragte er den Herrn: „Herr, ich habe bemerkt, dass zu den traurigsten Zeiten meines Lebens nur eine Fußspur zu sehen ist. Du hast aber versprochen, stets bei mir zu sein. Ich verstehe nicht, warum du mich da, wo ich dich am nötigsten brauchte, allein gelassen hast.“ Da antwortete ihm der Herr: „Mein liebes, teures Kind. Ich liebe dich und würde dich niemals verlassen. In den Tagen, wo du am meisten gelitten hast und mich am nötigsten brauchtest, da, wo du nur die eine Fußspur siehst, das war an den Tagen, wo ich dich getragen habe.“ Das Leid im Islam Das Wort Leid erscheint im Koran und der Tradition selten; vielmehr spricht der Koran von Unrecht (arab. Zulüm) und Heimsuchung. Gott ist der Gerechte, er fügt seinen Geschöpfen kein Unrecht und kein Leid zu, ohne dass sie es selbst verursachen. „Mit dem, was sie (die Ungläubigen) in diesem irdischen Leben ausgeben, ist es wie mit einem eisigen Wind, der das Saatfeld von Leuten traf die sich selbst Unrecht getan hatten, und es vernichtete. Und nicht Gott hat ihnen Leid zugefügt, sondern sie fügen sich selbst Leid zu.“ (Sure 3,117) Leiden infolge von Krankheiten und Tod bedeutet für den Muslim, dass Gott ihn prüft: Der Prophet sagt: „Gott der Erhabene sagt: Mein gläubiger Diener, dem ich einen geliebten Menschen entriss, und er dies in Erwartung meines Lohns geduldig ertrug, hat bei mir keinen anderen Lohn zu erwarten als das Paradies.“ (Bukhari) „Wem Gott Gutes will, den prüft er mit Krankheit.“ (Bukhari) „Nichts trifft den Menschen an Schwäche, Krankheit, Sorge, Trauer, Schaden oder Gram, nicht einmal die Dorne, die ihn sticht, ohne dass Gott einen Teil seiner Sünden damit sühnt.“ (Bukhari) Demzufolge darf ein Muslim Gott nicht anklagen, sondern er sollte Gott bitten für ihn das Beste geschehen zu lassen. Klagen würde Misstrauen, NichtAkzeptieren bedeuten. Doch Got ist seinem Diener gegenüber barmherziger als die Mutter ihrem Kind gegenüber. „Wenn ihr die Wohltaten Gottes aufzählen wolltet, so könnt ihr sie nicht berechnen.“ (Sure 14,37) Prüfungen können auch Anlass sein, um zum Bitten zurückgeführt zu werden. Wenn sie ihn dann bitten, erhört Er sie gerne, und Er gibt dem Edelmut und der Freizügigkeit ihr Recht, denn diese beiden erfordern Erhörung, wenn der Gläubige bittet. Manchmal gibt es trotz Erhörung Verzögerung bei der Erfüllung der Bitten. Gegen das Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen, soll der Muslim mit aller Entschiedenheit kämpfen. Der Prophet sagte: „Hilf deinem Bruder, ob er Unrecht begeht oder unter Unrecht leidet!“ Einer fragte: „O Gesandter Gottes, diesem helfen wir, wenn er unter Unrecht leidet. Aber wie können wir ihm helfen, wenn er selbst das Unrecht begeht?“ Der Prophet erwiderte: „Indem du seine Hände mit der Tatkraft vom Unrecht abhältst!“ (Bukhari) Nigar Yardim Die Erbschuld Nicht alles Leid kann als vom einzelnen Menschen verursacht bezeichnet werden. Es gibt eine vorgegebene Situation des menschlichen Daseins von Anfang an. Jeder Mensch wird hineingeboren in eine von der Sünde gezeichnete Welt. Bevor er selbst noch irgend etwas Unrechtes tun konnte, ist er geprägt von der “Erbsünde”. “Erbsünde”? – Die Schwierigkeiten beginnen schon mit dem Wort selbst. Unser deutsches Wort “Erbsünde” bringt das, was wirklich gemeint ist, nicht glücklich zum Ausdruck. Sünde verstehen wir normalerweise als persönliche Tat: das ist die Erbsünde eben gerade nicht. Deshalb lehrt die Kirche, dass niemand wegen der Erbsünde allein verworfen wird. Aber auch die Silbe “Erb-” verleitet zu falschen Vorstellungen. Es ist keinesfalls eine Vererbung im biologischen Sinne, wie etwa eine Erbkrankheit. Es geht auch nicht um eine Sünde, die Adam einmal begangen hat, die uns allen noch angerechnet wird. Eher ist sie schon zu verstehen im Sinne einer belastenden Erbschaft. So kann es sein, dass Eltern, die selbst die Liebe ihrer Eltern entbehrt haben, ihre Kinder mit ihrer “Zuwendung” erdrücken. So können sie – obwohl sie es gut meinen – an ihren Kindern “schuldig” werden. Die Schuld der Großeltern wirkt sich auf kommende Generationen aus: Der biblische Bericht Gen 2,8–3, 24. Es ist die Geschichte vom Menschen (“Adam” heißt einfach “Mensch” und ist nicht als Eigenname eines ganz bestimmten Menschen zu verstehen), der von Anfang an auf einen Irrweg geraten ist und Wille und Plan Gottes durchkreuzt hat. Seitdem treten alle Menschen in eine Welt ein, die vom Nein zu Gott gezeichnet ist. Das Versagen Adams, des „Menschen”, ist nicht nur Vergangenheit, sondern aktuelle Gegenwart. Denn bis in unsere Zeit sprechen alle Menschen immer wieder das Nein zu Gott. Wir haben heute ein lebhaftes Gespür für die Schicksalsgemeinschaft aller Menschen. Die Welt ist zusammengerückt. Wir wissen, dass ein einziger Diktator in irgendeinem Winkel der Erde die halbe Welt in einen furchtbaren Krieg hineinziehen kann. Aber auch schon ein einzelner Familienvater, der aus seiner Familie ausbricht, kann für Generationen unheilvolle Weichen stellen. Wir wissen, dass mit der Geburt für jeden Menschen bereits Vorentscheidungen fallen, die sein ganzes Leben prägen (Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, einer bestimmten Gesellschaftsschicht, zu dieser oder jener Religion usw.). Israel besaß dieses Gefühl der Schicksalsgemeinschaft sehr ausgeprägt gerade bezüglich der Sündhaftigkeit aller Menschen. Die entscheidenden Aussagen des Neuen Testamentes zur Erbsünde stehen bei Paulus: 1 Kor 15,21 f. und vor allem Röm 5,12–21. „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten. Sünde war schon vor dem Gesetz in der Welt, aber Sünde wird nicht angerechnet, wo es kein Gesetz gibt; dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose auch über die, welche nicht wie Adam durch Übertreten eines Gebots gesündigt hatten; Adam aber ist die Gestalt, die auf den Kommenden hinweist. Doch anders als mit der Übertretung verhält es sich mit der Gnade; sind durch die Übertretung des einen die vielen dem Tod anheim gefallen, so ist erst recht die Gnade Gottes und die Gabe, die durch die Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus bewirkt worden ist, den vielen reichlich zuteil geworden. .....Wie es also durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt. Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden. Das Gesetz aber ist hinzugekommen, damit die Übertretung mächtiger werde; wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. In jedem Menschenleben Früh oder spät stößt du mit deinem Kopf gegen den hässlichen Querbalken, der dein Leben zu einem Kreuz macht. Du wirst krank. Du verunglückst. Ein geliebter Mensch stirbt. Dein Berufsweg wird durchkreuzt. Du wirst betrogen, im Stich gelassen durch den eigenen Mann, die eigene Frau. Man arbeitet gegen dich. Man macht dich fertig. Du kannst nicht mehr. Dieser Querbalken kann alle Formen und Ausmaße annehmen. Er nimmt keine Rücksicht auf Titel und Position, auf Namen und Ansehen, weder auf die Dicke deiner Brieftasche noch auf deine Beziehungen oder deinen Erfolg bei den Menschen. Du bist glücklich, alles läuft wunderbar. Und plötzlich... dieser schreckliche Querbalken. Er kann dir so zur Qual werden, dass du zermürbt, zerschlagen - den Tod herbeisehnst. Das Kreuz ist eine Realität in jedem Menschenleben. Aber immer weniger Menschen sind ihm gewachsen. Sie nehmen es nicht mehr hin und ertragen nicht seine Last. Viele gehen daran zugrunde. Nervenärzte und Psychiater bekommen immer mehr zu tun. Du hast keine Wahl! Du trägst dein Kreuz, oder es wird dich erdrücken. Aber du kannst es nur tragen, wenn du Sinn und Aufgabe des Kreuzes begreifen lernst. Das Kreuz bringt dich zurück zu deiner Wahrheit, zu deinem wahren Maß eines armen ,schwachen, verwundbaren, kleinen Menschenkindes. Das Kreuz kann dich aus den Dingen befreien, die dich zu ersticken drohen. Es kann dich lösen aus deiner Mittelmäßigkeit. Es ist wie eine Antenne, mit der du eine Nachricht von Gott empfangen kannst. Sie wird dich nicht von deinem Leiden erlösen, aber von der Sinnlosigkeit, der Unfruchtbarkeit des Leidens. Du kannst wieder Mensch werden, und dies kann dann geschehen: Du siehst alles anders und viel besser mit Augen, die geweint haben Phil Bosmans Der mitleidende Gott Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter ein Kind mit feingeschnittenen schönen Gesichtszügen, der Engel mit den traurigen Augen, wie wir ihn nannten. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlinge eingeführt. „Es lebe die Freiheit!“ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. „Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. „Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mütze auf!“ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Aber der dritte Strick hing nicht reglos, der leichte Knabe lebte noch... Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen...“ „Herr, gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ F. Chr. Ötinger