Wider den Dualismus

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Wider den Dualismus
Über die Sexualmoral der Katholischen Kirche
Der Bericht „Schwere Grenzverletzungen zum Nachteil von Kindern
und Jugendlichen im Aloisiuskolleg Bonn - Bad Godesberg“ von Prof.
Dr. jur. Julia Zinsmeister, Rechtsanwältin Petra Ladenburger und Dipl.
Päd. Inge Mitlacher hat klar gezeigt, dass die Missbrauchsfälle nicht
bedauerliche Einzelfälle waren, wie es Herr Prof. Dr. Josef Ratzinger
und seine Hintersassen herunterzuspielen belieben, sondern das
dahinter ein System steckte.
Zwar waren die einzelnen sexuellen Gewaltakte oder Gewalttaten mit
sexueller Konnotation nicht alltäglich. Alltäglich aber war die
schwüle, verschwitzte, verschwiemelte, verdruckste, verlogene,
bigotte, aggressive, abwertende, Schuld- und Schamgefühle
erzeugende, Angst machende Atmosphäre im Umgang mit Sexualität.
In diesem Klima und auf diesem Morast haben die einzelnen
Übergriffe ihre Sumpfblüten getrieben.
Hätte man die Masturbation als altersadäquate Sexualpraktik gewertet,
als die sie heute in der modernen Pädagogik allgemein anerkannt
wird, sie hätte bei weitem nicht den Stellenwert gehabt, den sie
dadurch bekam, dass man sie zum Popanz aufgeblasen und mit
Höllenstrafen bewehrt hat. Wenn auf dem Schulhof die (enorme)
Schwanzgrösse des Schulleiters Alltagsgespräch ist, dann ist etwas
faul im Gottesstaate Godesberg. Pardon, ich finde den Vulgärausdruck
für das männliche Genitale hier angemessener als die anatomisch
korrekte Bezeichnung.
Woher kommt diese negative sexuelle Obsession? Um das ein wenig
besser zu verstehen, muss man bis zu den Anfängen zurück gehen.
Man kann die Geschichte der Sexualität im griechisch-jüdischchristlichen Kulturkreis auch als Geschichte der Sexualobsessionen,
der Sexualphobie, der Misogynie, also der Frauenverachtung und des
Frauenhasses lesen.
Das fängt bei den Gründungsmythen an. Alles Übel wird durch Frauen
in die Welt gebracht. Wie im jüdisch-christlichen Paradies existierten
auch in der griechischen Mythologie zunächst nur die Männer, und sie
lebten, bevor es Frauen gab, in seliger Selbstgenügsamkeit als
Gefährten der Götter, „fern von Übeln, elender Mühsal und quälenden
Leiden...“. Allerdings schliesst Zeus, wie Jahwe ein Gott von
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fragwürdigem Charakter, um zu zeigen, wer Koch und wer Kellner ist,
die Männer von der Kenntnis des Feuers aus. Sie müssen ihr Fleisch
roh essen. Prometheus, der die ersten Männer erschuf, hat Mitleid mit
ihnen, stiehlt den Göttern das Feuer und bringt es auf die Erde.
Darüber ist Zeus so wütend, dass er sich eine ganz besonders gemeine
Rache ausdenkt: „Ich will den Männern ein Übel geben, an dem jeder
seine Herzensfreude haben und doch sein Unheil umarmen soll.“
Pandora ist so schön wie die Göttinnen selbst. Kalon Kakon, wie sie
im Griechischen auch genannt wird, heisst „das schöne Übel“. Zeus
befiehlt den Göttern ihr „einen hündischen Sinn und eine verschlagene
Art einzupflanzen“. Ausserdem gibt er ihr ein Fass, in das die Götter
auf Zeus‘ Geheiss alle Übel und alles Leid packen. Damit schickt er
sie Epimetheus, dem jüngeren Bruder des Prometheus, zum Geschenk.
Das Fass aber darf sie niemals öffnen. Epimetheus erliegt ihrem
Liebreiz und nimmt sie zur Frau.
Es kommt, was kommen muss und wie es der Liedermacher Wolf
Biermann so trefflich besungen hat: „Keiner tut gern, was er darf, was
verboten ist, das macht uns gerade scharf.“ Soviel gesunden
Menschenverstand hätten die allwissenden Götter auch haben können.
Hatten sie auch. Denn was folgt, war ja Zeus‘ Absicht:
„Das Weib aber hob mit den Händen den mächtigen Deckel vom Fass,
ließ alles heraus und schuf der Menschheit leidvolle Schmerzen.“
(Alle Zitate aus Hesiod, „Theogonie“ und „Werke und Tage“, zitiert
nach Jack Holland, „Misogynie, die Geschichte des Frauenhasses“.
Dr. rer.plag. R.K.)
Die Geschichte der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies
darf als hinlänglich bekannt vorausgesetzt und muss hier nicht noch
einmal erzählt werden. Es ist vielleicht nur wichtig festzuhalten, dass
die Ikonografie sich ziemlich einig ist, in der Schlange ein PhallusSymbol zu sehen. So auch in den unzähligen Mariendarstellungen, in
der die Jungfräuliche der Schlange den Kopf zertritt.
So hat Tertullian (ca.160 - 230 u.Z.), einer der Gründerväter der
Katholischen Kirche, Eva bewertet: „ Du bist es, die dem Teufel
Eingang verschafft hat, Du hast das Siegel jenes Baumes gebrochen,
Du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, Du bist es auch,
die denjenigen betört hat, dem der Teufel nicht zu nahen vermochte.
So leicht hast Du den Mann, das Ebenbild Gottes, zu Boden
geworfen.“ (Zitat a.a.O.)
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Was ist das für ein merkwürdiger Gott, der alle seine Geschöpfe der
ewigen Verdammnis preisgibt, bloß weil ein Weib mal ein wenig
neugierig und dadurch ungehorsam war? Neugierde liegt in der Natur
der Weiber. Und glücklicherweise auch der Männer und insbesondere
der Kinder. Da sollte der Gott froh sein, denn sonst würden wir alle
nix lernen. Es hat mir, seit ich mit meinem eigenen Kopf denken kann,
nicht eingeleuchtet, dass man für den Wunsch nach Erkenntnis
ultimativ bestraft wird. Aber wir sollen ja auch nicht denken, wir
sollen der Institution, die dieses krude Zeug lehrt, in blindem
Gehorsam glauben und vertrauen. Sonst fliegen wir raus.
Wir sollen den Lehrmeistern dieser Institution weiter glauben, dass
Eva und mit ihr alle Frauen „in ihrer unersättlichen sexuellen Gier“
für den Kreuzestod von Gottes Sohn verantwortlich sind. Daher
verdienen die Weiber unseren Hass. Um uns zu erlösen und weil er
uns vorgeblich so liebt, hat der Gott seinen Sohn in einen Menschen
verwandelt, nur damit andere Menschen ihn grausam foltern und töten
können. Das Blut, das dabei geflossen ist, soll unsere Sünden
abwaschen. Ich frage mich statt dessen, ob dem angeblich doch
allwissenden, allmächtigen, allgütigen Gott nicht eine humanere
Lösung hätte einfallen können. Ich finde diesen Blutkult mindestens
so abstossend wie die blutigen Kulte der Maya, Inka und Azteken,
wobei fraglich ist, ob die sich wirklich so zugetragen haben, wie von
den christlichen Missionaren berichtet.
Es war für mich als Kind ganz schlimm, wenn ich mich so verletzt
hatte, dass es blutete, selbst wenn es harmlos war. Auch die
Erwachsenen wurden dann leicht hysterisch. Aber sie hielten mich an
zu beten: Deine Gnad‘ und Jesu Blut macht ja alle Sünden gut. Brrrr!
Spätestens jetzt würde ich im hohen Bogen rausfliegen. Aber, dumm
gelaufen, dem bin ich schon vor annähernd 50 Jahren zuvor
gekommen.
Wie die Geschichte weitergeht, hat der Evolutionsbiologe Richard
Dawkins in einem einzigen Satz treffend zusammengefasst:
„Der Gott des Alten Testaments ist...die unangenehmste Gestalt in der
gesamten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein
kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein
rachsüchtiger, blutrünstiger, ethnischer Säuberer, ein
frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker
mordender, ekliger, grössenwahnsinniger, sadomasochistischer,
launisch-boshafter Tyrann.“ (Richard Dawkins, „Der Gotteswahn“)
So isses, und deswegen stand das Alte Testament ja auch auf dem
Index, solange es den noch gab.
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Man sieht schon ganz zu Anfang: Wir Männer sind die reinsten
Unschuldsengel, und die Weiber sind unser Verderben. Und weil das
so ist, hat der griechische Philosoph Platon den Dualismus erfunden.
Der geht so:
Die Abstraktion, die reine Form, die reine Idee ist die höhere
Seinswirklichkeit, Sie ist nur mit dem Verstand zu erfassen. Dies rein
geistige Prinzip ordnet er den Männern zu.
Die sinnlich erfahrbare und wahrnehmbare, konkrete Wirklichkeit ist
die niedrigere Stufe des Daseins. Dazu zählt auch alles, was mit
Sexualität und Reproduktion zu tun hat. Dieser Bereich wird den
Frauen zugeordnet.
Die Männer stehen für die geistigen Ziele, die Frauen für die
„fleischliche Lust“. Folgerichtig hat Platon die „reine“ Liebe zwischen
Männern auch höher bewertet als die „animalische Lust“ der Frauen.
Ich will mich hier nicht mit der Reformpädagogik auseinandersetzen,
da habe ich keine eigenen Erfahrungen. Aber dieser Seitenhieb sei mir
gestattet. Die Wurzeln für das, was pädogogischer Eros genannt wird,
sind hier zu suchen. Spötter sprechen auch vom „Griechenzauber“.
Wie wir wissen, haben die pädagogischen Erotomanen in vielen
Fällen nicht gewusst, die Grenze zur sexuellen Erotik zu ziehen. Der
grosse Reformpädagoge Hartmut von Hentig hat sich nicht entblödet,
in der „Zeit“ seinen Lebensgefährten Gerold Becker damit zu
entschuldigen, dieser habe ja keine Gewalt angewendet, sondern
sexuelle Handlungen an und mit Kindern und Jugendlichen nur mit
deren Einverständnis ausgeübt. Manfred Kappeler weist in seinem
Buch „Anvertraut und ausgeliefert, sexuelle Gewalt in pädagogischen
Einrichtungen“ zu Recht darauf hin, dass im Zusammenhang mit
Kindern und Jugendlichen das Wort Missbrauch missverständlich sei.
Es könne ja keinen Gebrauch von Kindern und Jugendlichen geben.
Jede sexuelle Handlung an und mit Kindern sei immer sexuelle
Gewalt. Ende des Seitenhiebs.
Der Verdienst, die ganze Debatte angestossen zu haben, kommt
zweifelsohne dem Spiegelredakteur Peter Wensierski zu. Er hat in
seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ die unfassbaren
Grausamkeiten geschildert, die in kirchlichen und staatlichen
Kinderheimen, bis weit in die 70iger Jahre des vorigen Jahrhunderts
hinein üblich und an der Tagesordnung waren. Das hat noch einmal
eine ganz andere Qualität als die Übergriffe in Eliteschulen. Auch
Manfred Kappeler betont das ausdrücklich. Extrapoliert man die
rechtlichen Bewertungen des Berichtes von Julia Zinsmeister et al.,
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dann sind an Heimkindern ohne jeden Zweifel alle einschlägigen
Straftaten nach dem damals geltenden Strafrecht verübt worden:
Freiheitsberaubung, schwere und gefährliche Körperverletzung,
Körperverletzung mit Todesfolge, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung,
Unzucht mit Minderjährigen, Unzucht mit Abhängigen, Beleidigung.
Auch und gerade von Katholischen Ordensschwestern.
Wie reagiert die Katholische Kirche darauf? Bereits 2002 hatte der
Regisseur Peter Mullan in seinem Film „Die unbarmherzigen
Schwestern“ (Original: „The Magdalene Sisters) in eindrucksvollen
Bildern die Zustände in den Katholischen Magdalenenheimen in
Irland geschildert. Der Film erhielt viele Auszeichnungen, darunter
den „Goldenen Löwen“ der Biennale von Venedig 2002. Die
Katholische Kirche und ihr nahestehende Publikationen kritisierten
den Film scharf. Der Vatikan empfahl in einer offiziellen
Stellungnahme allen Katholiken, den Film nicht anzusehen.
Ehemalige Insassinnen der Heime bemängelten hingegen die
Realitätsferne des Films, die Vorgänge seien in Wahrheit erheblich
brutaler gewesen.
Erst als 2009 der Ryan-Bericht und der Murphy-Bericht aufdeckten,
was in der Katholischen Kirche Irlands so angesagt war und daraufhin
einige Bischöfe den Hut nehmen mussten, verstummte die Kritik.
Dieses Verhalten ist das typische Verhalten der Katholischen
Amtskirche: Leugnen, Verbieten, Vertuschen, Kleinreden, solange es
irgend geht. Dann Krokodilstränen weinen. Es ist aber auch wirklich
nicht schön von solchen Publikationen, den „Heiligen Vater“ so zu
betrüben.
Hat Platon die Minderwertigkeit der Frauen philosophisch begründet,
so hat Aristoteles sie „wissenschaftlich“ belegt. Mit solch fabelhaften
Argumenten wie, die Frau könne keine Glatze bekommen, das sei ein
Beweis für ihr kindliches Wesen. Das habe ich noch in meiner eigenen
Familie erlebt, dass Frauen von den Männern als so eine Art
Mischform von charmantem Kindchen und possierlichem Haustier
betrachtet wurden. Aristoteles hat auch behauptet, Frauen hätten
weniger Zähne als Männer. Bertrand Russell spottete darüber: „Dieser
Fehler wäre Aristoteles nicht unterlaufen, wenn er seiner Frau ab und
zu wenigstens gestattet hätte, den Mund aufzumachen.“ In seinem
Werk „Über die Entstehung der Tiere“ schreibt Aristoteles: „Das
Männliche ist dem Weiblichen von Natur aus überlegen; das eine
herrscht, das andere wird beherrscht; dieses Prinzip gilt zwangsläufig
auch für das gesamte Menschengeschlecht.“ (Zitate a.a.O.)
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Der grosse Kirchenlehrer Augustinus (345 - 430 u.Z.) hat die
dualistische Philosophie Platons in die christliche Lehre integriert. Für
ihn war das Konstrukt der reinen Form, der reinen Idee die
Vollkommenheit des Einsseins mit Gott und selbstverständlich nur
Männern, nicht aber Frauen möglich. Sein ganzes Werk durchzieht der
Dualismus zwischen dem Himmel des Geistes und der Hölle der
Fleischeslust.
Wenn man die obsessive Skrupelei mit der eigenen Sexualität beim
Apostel Paulus, beim Kirchenvater Tertullian, bei den Kirchenlehrern
Augustinus und Thomas von Aquin und tausend anderen liest, dann
könnte man oft in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn dieses
Gedankengut nicht den Boden bedeutete für das milliardenfache Leid
von Frauen im Laufe der Geschichte bis heute und den
millionenfachen grausamen Tod von Frauen, von den
Hexenverfolgungen bis zu den heute geschätzt jährlich 70.000 Frauen,
die unter den Händen von Kurpfuschern sterben, weil die Katholische
Kirche in Ländern der Dritten Welt noch immer erfolgreich eine
moderne Geburtenkontrolle hintertreibt.
Bemerkenswert: Der Höhepunkt der Hexenverfolgung verläuft
zeitgleich mit der Renaissance, also dem Aufbruch der Menschheit in
ein Zeitalter des Aufblühens von Vernunft, Wissenschaft und Kunst.
Die Marienerscheinungen beginnen mit dem Zeitalter der Aufklärung.
Und Maria erscheint nur „unschuldigen“ Kindern, nicht erwachsenen
und sexuell aktiven Frauen. Die historischen Entwicklungen bedeuten
einen Machtverlust für die Obskurantisten. Man muss „der gottlosen
Vernunft“ (Josef Ratzinger über die Aufklärung) etwas
entgegensetzen.
In unseren Tagen hat Josef Ratzinger die Zeit von der
Konstantinischen Wende bis zur Renaissance als die beste Zeit des
Christentums bezeichnet. Andere sehen sie eher als „finsteres“
Mittelalter. Ich will hier meine Leser nicht mit den grauenvollen
Details der Hexenprozesse behelligen. Sie sind hinreichend bekannt.
Festhalten will ich drei Aspekte:
1. Männern der Kirche und von der Kirche beauftragten Männern
wurde mit Wohlwollen und Beifall der Kirche gestattet, ihre
schlimmsten sadistisch-sexuellen Fantasien an Frauen auszuagieren
und auszuleben. Die Fantasien des Marquis de Sade in die „120
Tage von Sodom“ reichen bei weitem nicht an das heran, was sich
tatsächlich ereignet hat.
2. Völlig unschuldige Frauen wurden aufgrund obsessiver
Sexualängste der Männer willkürlich ausgewählt, bestialisch
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gequält und umgebracht. Die völlig frei erfundenen Vorwürfe
stammen alle aus dem Bereich der Sexualität: Diebstahl von
Penissen, Impotenz, Zeugungsunfähigkeit, Unfruchtbarkeit,
Fehlgeburten, Buhlschaft mit dem Teufel - Incubus, Verführung der
Männer - Succubus. Die Ermordung der Frauen geschah öffentlich
zur Gaudi des Pöbels.
3. Die Katholische Kirche hat sich bis heute nicht bei diesen Frauen
und für diese Verbrechen entschuldigt. Eine einzige „Hexe“ wurde
rehabilitiert, die Jungfrau (sic!) von Orleans. Galileo Galilei wurde
immerhin schon nach rund 350 Jahren rehabilitiert. Aber nicht
beschämt und demütig, wie man erwarten könnte nach soviel
Borniertheit, sondern mit ungebrochenem Macht- und
Selbstbewusstsein; Hoffart ist wohl die angemessene Vokabel für
diese Geisteshaltung. Josef Ratzinger hat den Prozess gegen Galileo
Galilei als „vernünftig und gerecht“ bezeichnet. Über unstreitige
naturwissenschaftliche Tatsachen entscheiden nicht irgendwelche
dahergelaufenen Wissenschaftler, sondern das Lehramt der „Una
sancta“. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Nikolaus
Kopernikus, der eigentliche Entdecker des heliozentrischen
Weltbildes, ahnte, was ihm blühte. Er hatte verfügt, seine
Erkenntnisse erst post mortem zu veröffentlichen.
Die Geschichte der Hexenverfolgung weist psychologisch viele
Übereinstimmungen mit den immer wieder vorkommenden JudenPogromen auf. Man kann das Kontigenzprinzip in dieser Welt nicht
aushalten. Also braucht man Sündenböcke, die an allem Übel und
Ungemach dieser Welt die Schuld tragen. Und wenn es nicht die
Weiber sind , dann sind es eben die Juden. Zwar hat sich Karol Vojtyla
halbherzig bei den Juden entschuldigt, aber Josef Ratzinger lässt am
Karfreitag wieder beten, dass „der Herr die verstockten Herzen der
Juden erleuchte“. Er hat auch dekretiert, der Antisemitismus der Nazis
habe mit dem Antisemitismus der Katholischen Kirche nichts zu tun.
Welch wirklich dreiste Geschichtsklitterung!
Auch die christliche „Wissenschaft“ hat zur Sexualphobie und
Misogynie nicht wenig beigetragen. In angesehenen medizinischen
Fachpublikationen wie dem British Medical Journal, das es bis heute
gibt, wurde im Viktorianischen Zeitalter die Klitorektomie als
probates Mittel zur Verhütung der Masturbation junger Mädchen
empfohlen. In einem chirurgischen Bericht wurden die schauerlichen
Einzelheiten dieser grausamen Prozedur in allen Einzelheiten
emotionslos erörtert, das Brenneisen sei geeigneter als Messer und
Schere. Der Londoner Gynäkologe Isaac Baker Brown berichtete,
dass er die Klitorektomie erfolgreich gegen masturbationsbedingte
Frauenleiden einsetze, wie Schwermut, Hysterie, Nymphomanie,
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Lesbentum, Uterusblutungen, Gebärmuttersenkung,
Wirbelsäulenentzündungen, Krämpfe, Auszehrung und Herzversagen.
Die Londoner „Times“, der Erzbischof von Canterbury und der
Erzbischof von York lobten dieses Verfahren ausdrücklich.
1894 erfuhr man aus dem New Orleans Medical and Surgical Journal:
„ Pest, Kriege, Pocken und alle anderen Schrecken der Menschheit
zusammengenommen haben nicht soviel Schaden angerichtet wie das
Laster der Masturbation: Sie ist das zerstörerische Element der
Zivilisation.“ (Zitate a.a.O.)
Bemerkenswert ist, dass das Ideal der asexuellen Frau und des
unschuldigen, engelgleichen Kindes, wie man es in der Kunst des
Viktorianischen Zeitalters oft findet, zu einem starken Zuwachs an
Kinderbordellen in London führte. Dort wurden den Ehemännern der
tugendhaften Frauen Kinder im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren
offeriert, z.B. mit dem Argument einer Puffmutter: „Niemand ausser
Ihnen hört das Kind hier schreien.“ In den Häusern dieser Gentlemen
wurden die Tische mit lang herab hängenden Tischdecken bedeckt,
weil nackte Tischbeine als obszön galten.
Zum Ideal der asexuellen Frau gehört ein Wort über den Marienkult
der Katholischen Kirche: Das jüdische Bauernmädchen Maria aus
Palästina, von der historisch nichts bekannt ist, wurde 431 auf dem
Konzil von Ephesus zur Mutter Gottes erklärt. Ephesus war das
Zentrum des Kults der jungfräulichen (sic!) römischen Göttin Diana.
Das ging nicht ohne heftige Intrigen ab. Marias glühendster
Fürsprecher war Kyrill von Alexandrien. Er hatte 16 Jahre zuvor in
Alexandria einen christlichen Pöbel dazu aufgestachelt, eine der
gebildetsten Frauen ihrer Zeit, die Mathematikerin und Philosophin
Hypatia grausam zu ermorden. Ihr Verhängnis: Sie war keine Christin,
sondern „Heidin“. Jetzt liess er kurzerhand den Patriarchen von
Konstantinopel exkommunizieren. Dieser hatte zu bedenken gegeben,
ob man hier nicht eine jungfräuliche Göttin durch eine andere ersetze.
Die Katholische Kirche führt als Beleg ihrer Frauenfreundlichkeit
gerne die Marienverehrung an. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die
Entsexualisierung erst macht sie verehrungswürdig. Das ging soweit,
dass man es nicht aushielt, die Gottesmutter sei ihrerseits durch etwas
so Entsetzliches wie einen Sexualakt in die Welt gekommen und damit
der „Erbsünde“ teilhaftig. 1854 verkündete Papst Pius IX. das Dogma
von der „unbefleckten Empfängnis“ Marias. Dogma heisst, das muss
man glauben, sonst fliegt man raus. Generationen von Theologen
haben darüber gestritten, wie denn die ewige Jungfernschaft Mariens
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mit der Geburt Jesu in Einklang zu bringen wäre. Was ist den da mit
dem intakten Hymen, dem Ausweis der Jungfräulichkeit passiert? Tja,
das sind die wichtigen Fragen in dieser Welt. Jungfrauenzeugungen
mit Göttern waren übrigens in der Antike nichts ungewöhnliches.
Um Maria würdig nachfolgen zu können, muss man asexuell leben.
Das geht am besten im Kloster. Da hatten die Frauen, insbesondere die
Äbtissinen, immerhin einige Rechte. Bis zum 13 Jh. gab es sogar
Gemeinschaftsklöster. Das war den Männern ein Dorn im Auge. Papst
Innozenz III.(1161 - 1216), das war der, der die Katharer besonders
unerbittlich verfolgte, verbot die Gemeinschaftsklöster. Das wurde
von einem Abt mit den folgenden Worten begrüsst:
„Wir und die ganze Gemeinschaft der Kanoniker haben, in der
Erkenntnis, dass die Bosheit der Frauen grösser ist als sonst eine
Bosheit in der Welt und dass das Gift von Vipern und Drachen dem
Manne weniger gefährlich ist als der vertraute Umgang mit Frauen,
zum Wohle unserer Seele, unseres Leibes und unserer Güter
einstimmig beschlossen, dass wir keine Frauen mehr aufnehmen, die
unser Verderben bedeuten würden, sondern diese meiden werden wie
giftige Tiere.“ (Zitat a.a.O.)
Ich erinnere mich eines Autoaufklebers auf einem 2 CV in den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Darstellung einer
barbusigen Nonne und der Aufschrift: „Merke: Auch Nonnen haben
welche. Die Natur lässt sich von Gott nicht ins Handwerk pfuschen.“
Man könnte über all das lachen. Aber das waren der Geist und die
Inhalte, mit denen uns Pater Alfonso Perreira in seinen persönlichen
Unterweisungen zur Sexualität konfrontierte. Seine Aufklärungsfibel
„Wer sagt uns die Wahrheit“ mit allen seelischen und körperlichen
Gebresten, die die Masturbation angeblich verursache, wie
Knochenerweichung und Rückenmarksschwund, lag an allen
Traktatständen am Ausgang Katholischer Kirchen. Wir haben als
Kinder solchen Unsinn geglaubt. Er hat uns nicht wenig Angst
gemacht.
Selbst der kirchenkritische Geist Sigmund Freud hat unter der
Camouflage wissenschaftlicher Erkenntnisse ziemlich misogynen
Stuss verzapft. Die Klitoris sei wegen ihrer Erektionsfähigkeit das
männliche Element der weiblichen Sexualität, die Masturbation an der
Klitoris mithin eine männliche Tätigkeit. Wahre Weiblichkeit sei nur
durch die Verlagerung der „unreifen“ klitoralen auf die „reife“
vaginale Sexualität zu erreichen. Die Klitoris sei ausserdem zu klein
geraten, eine Art verstümmelter Penis. Deswegen hätten die Frauen
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einen Penisneid. Man fühlt sich lebhaft an einen der wichtigsten Topoi
der Pornografie erinnert, den grossen Schwanz.
Nichts ist für totalitäre Systeme bedrohlicher als autarke,
selbstbestimmte Individuen. Bis heute macht die Katholische Kirche
den Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper und seine
Reproduktionsfähigkeit streitig. Ob man im Sinne der Güterabwägung dem ungeborenen Kind ab einem bestimmten
Entwicklungsstadium ein eigenes Recht zubilligen sollte, darüber
kann man streiten. Die modernen Rechtsordnungen berücksichtigen
diesen Gedanken. Aber nicht nur zwischen Juden und Christen,
sondern auch innerhalb der christlichen Kirchen selbst gibt es
unterschiedliche Auffassungen darüber, ab wann ein Embryo „beseelt“
ist.
Völlig inakzeptabel ist, dass die Katholische Kirche den Frauen eine
eigene Entscheidung darüber abspricht, ob sie beim Sexualakt ein
Kind empfangen wollen oder nicht. Darin unterscheidet sich die
Katholische Kirche nicht von den anderen totalitären Systemen des
20.Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus:
Sie alle beschränken die Sexualität der Frauen auf ihre
Reproduktionsfunktion, über die diese nicht selbst entscheiden dürfen.
Die Kirche hat in demokratischen, säkularen, pluralistischen
Gesellschaften glücklicherweise nicht mehr die Macht, die sie gerne
hätte, das durchzusetzen. Das ist „die Macht des Relativismus“ (Josef
Ratzinger). Unser modernes Strafrecht subsumiert sexuelle
Straftatbestände mit gutem Grund unter der Überschrift „Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ nicht mehr unter ideologische
Wertbegriffe wie Sittlichkeit, Moral oder Unzucht. Pech gehabt, Herr
Ratzinger! Leider sind die Verhältnisse in der „Dritten Welt“
ungünstiger, und die Kirche nutzt es schamlos aus. Darüber habe ich
an anderer Stelle geschrieben.
Nichts ängstigt viele Männer mehr, als einer erwachsenen, reifen und
sexuell selbstbestimmten Frau auf Augenhöhe zu begegnen. Warum ist
das so? Um diese Frage plausibel zu beantworten, braucht es nicht all
die philosophischen und theologischen Spitzfindigkeiten. Dazu
genügen der gesunde Menschenverstand und ein Blick ins
Biologiebuch. Frauen sind, wenn sie gesund sind, rein physisch
grundsätzlich zum Sexualakt fähig, notfalls mit ein bisschen
Gleitmittel. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist
nichts über die Ebene des psychosexuellen Erlebens gesagt.
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Männer sind dazu körperlich keineswegs immer im Stande, auch wenn
sie geil sind. Sei es dauerhaft oder temporär. Und das ist
voluntaristisch nur sehr bedingt beeinflussbar. Nichts beweist das
eindrucksvoller als der irrwitzige Hype um das und der
Milliardenerfolg des Medikaments Viagra. Wie alles, was der
sexuellen Selbstbestimmung förderlich ist, hat die Kirche natürlich
auch dieses Medikament als Teufelszeug gebrandmarkt.
Schlimmer noch. Von den Männern wird auch eine gewisse
Standhaftigkeit erwartet, sei es als Selbstanspruch, sei es als Anspruch
der Partnerin. Auch daran gebricht es nicht selten. Nach einer
andrologischen Studie, die wissenschaftlich seriös von Urologen
durchgeführt wurde, beträgt die Durchschnittsdauer vom Eindringen
des Penis in die Vagina bis zur Ejakulation fünf Minuten. Das wird
vielen Frauen, die eine lustvolle Sexualität leben wollen, oft nicht
genügen. Und auch das ist mit Vorsatz und Wille nur bedingt
beeinflussbar. Am besten gelingt es in einer liebevollen,
vertrauensvollen Partnerschaft, in der beide Partner Freude an einer
lustvollen Sexualität haben, die gegenseitigen sexuellen Bedürfnisse
kennen, respektieren und zu erfüllen trachten.
Ich bin überzeugt: Die sexuelle Versagensangst der Männer ist die
stärkste Quelle des Frauenhasses. Nichts kränkt Männer stärker als
sexuelles „Versagen“. Mit diesen Ängsten spielen ideologische
Systeme und machen sie sich zunutze. Mit nichts lässt sich Macht und
Herrschaft besser ausüben, als mit den tiefsitzenden Ängsten der
Menschen zu spielen und sie zu manipulieren.
Wenn „die unersättliche sexuelle Gier der Frauen“ unser Verderben ist,
woher kommt dann „das älteste Gewerbe der Welt“? Warum hat es zu
allen Zeiten Mätressen, Konkubinen, Huren, Nutten gegeben? Das
sind übrigens Frauen, die in aller Regel nicht selbstbestimmt über ihre
Sexualität verfügen können. Männer verfügen darüber, seien es die
Zuhälter oder die Freier. Warum ist die Prostitution ein
Milliardengeschäft? Gerade auch in den Armutsgebieten dieser Welt?
Die männliche Prostitution für Frauen gibt es zwar, aber sie ist
exotisch und eine quantité negliable.
Es ist das schlichte Umdrehen des Spiesses. Die männliche
Unfähigkeit, die eigene Sexualität zu kontrollieren, wird den Frauen in
die Schuhe geschoben. Wir alle neigen zu extrapunitivem Verhalten.
Das kann man schon im Kindergarten beobachten. Der Islam geht
davon aus, dass Männer ihre Sexualität grundsätzlich nicht
kontrollieren können. Das ist der Grund für die frühe Heirat. Die
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Sexualität soll kontrolliert und in „geordnete Bahnen“ gebracht
werden. Nicht minder abstossend und verlogen.
Das altbekannte bigotte Spiel von Heiliger und Hure ist es, das den
Marienkult so erfolgreich macht. Die tut garantiert nix. Ich habe mich
in diesem Aufsatz auf die Heterosexualität beschränkt. Wer einen
präzisen Eindruck von der aktuellen Homophobie der Katholischen
Kirche bekommen will, dem sei das Buch von David Berger, „Der
heilige Schein“ empfohlen. David Berger ist habilitierter katholischer
Theologe und promovierter Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte
sind Geschichte und Doktrin des Thomismus. Er war Schriftleiter der
konservativen theologischen Fachzeitschrift „Theologisches“. Anfang
2010 hat er sich in der Frankfurter Rundschau als Homosexueller
geoutet. Was ab da in der Katholischen Kirche für ihn losging, hat er
in dem oben genannten Buch aufgeschrieben.
Ich betrachte den Katholizismus als kollektive Sexualneurose und die
Katholische Kirche als die Organisation, die darauf ihre Macht und
Herrschaft über die Menschen aufbaut.
Das System am anderen Ende der Skala, aber mit der gleichen
neurotisierenden Wirkung, ist die Pornografie. Beide Systeme
ergänzen sich auf ungute Weise. Ich habe es schon einmal an anderer
Stelle geschrieben: Sollte einem pornografischen Schriftsteller die
Phantasie ausgehen, dann greife er getrost zu einem älteren Lehrbuch
der Katholischen Moraltheologie oder zu älteren „Beichtspiegeln“.
Da findet er reichlich Anregungen.
Die Sexualität ist immer auch durch die Dichotomie von Lust und
Ekel gekennzeichnet. Das gilt sowohl interindividuell als auch
intraindividuell. Was für den einen eklig ist, bedeutet für den anderen
prickelnde Lust. Was wir in einem Moment als höchste Lust erleben,
kann uns zu einem anderen Zeitpunkt, mit einem anderen Partner oder
in einem anderen Kontext ekeln. Dennoch gibt es für die
Öffentlichkeit Regeln des Anstands und des guten Geschmacks.
Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi ist dabei ein
ganzes Land zu pornografisieren. Wenn er mit seinen 74 Jahren
protzt, er könne nach einem anstrengenden Arbeitstag noch drei
Stunden Liebe machen, dann möchte man ihm zurufen: Si tacuisses
philosophus mansisses. (Wenn Du geschwiegen hättest, du wärest ein
Philosoph geblieben.) Männer, die in der Öffentlichkeit mit ihrer
Potenz protzen, verraten mehr über sich, als ihnen lieb sein kein.
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Viele Frauen sind über die Entwicklung in Italien sehr empört, fühlen
sich in ihrer Ehre gekränkt und schämen sich für ihr Land. Aber das ist
für die Katholische Kirche das geringere Übel gegenüber einer
säkularen Mitte-Links-Regierung (Ulivo) unter dem seriösen Politiker
Romano Prodi. Oder warum hat sie sonst Silvio Berlusconi im
Wahlkampf unterstützt? Sollte die Katholische Kirche am Ende selbst
bigott sein?
Das ist der Hintergrund, vor dem sich in kirchlichen Einrichtungen so
flächendeckend und über lange Zeiträume sexuelle Gewalt ausbreiten
konnte.
Ich habe diesen Aufsatz „Wider den Dualismus“ überschrieben.
Das muss ich zum Schluss noch begründen. Die moderne
Hirnforschung bietet einige Evidenz, dass es rein geistige Phänomene
nicht gibt. Alle geistigen Hervorbringungen, derer wir fähig sind,
haben eine biochemische-biophysikalische, materielle Entsprechung.
Wer sich darüber näher belesen will, dem sei das Buch „Biologie für
die Seele“ empfohlen. Geschrieben hat es Florion Holsboer, der
langjährige Direktor des Max Planck-Instituts für Psychiatrie und
promovierter Chemiker und Mediziner.
Wir wissen, dass Lernen mit biochemischen Zuständen oder gar
morphologischen Veränderungen der Nervenzellen einhergeht.
Für seine Forschungen auf diesem Gebiet hat Eric Kandel den
Nobelpreis für Medizin bekommen. Er kam über die Psychiatrie und
Psychoanalyse zur Hirnforschung. Äusserst lesenswert sein Buch
„ Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, auch das erste Kapitel, in dem
er das Wien der letzten Jahre vor dem zweiten Weltkrieg beschreibt,
aus dem er 1938 noch in die USA entkommen konnte.
Wir wissen, wo im Gehirn das Sprachzentrum sitzt, die so genannte
Broca-Region. Wenn sie verletzt ist, sind wir des wichtigsten
Mediums unserer Fähigkeit zu denken beraubt. Das spielt eine
wichtige Rolle bei der präoperativen Diagnostik in der Hirnchirurgie
oder bei einem Schlaganfall.
Wir kennen die Region, in der die eingehenden Sinneseindrücke mit
Emotionen bewertet werden, die Amygdala.
Die Möglichkeit, Krankheiten, die mit Denkstörungen und
Gefühlsstörungen einher gehen, wie Schizophrenie und Depression,
heute medikamentös günstig beeinflussen zu können, spricht für eine
Hirnstoffwechselstörung als Ursache.
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Bei der Demenz vom Alzheimertyp schrumpft das Gehirn um bis zu
25%. Bei anderen Demenzformen sind andere hirnorganische
Veränderungen feststellbar, z.B. der Verschluss kleiner Blutgefässe.
Bei Psychopathen und Soziopathen sind bestimmte Hirnareale nicht
aktiv, die bei normalen Menschen für Empathie zuständig sind. Das
wirft ernsthafte forensische Fragen auf.
Und selbst Religiosität hat eine hirnorganische Entsprechung. Bei
Zuständen religiöser Verzückung sind die gleichen Hirnareale aktiv
wie im Zustand frischer Verliebtheit. Es gibt das junge
Forschungsgebiet der Neurotheologie. Man kann z.B. mit Hilfe der
Transkraniellen Magnetstimulation, bei der von aussen magnetische
Felder im Gehirn erzeugt werden, „überwirkliche Empfindungen“
hervor rufen. Religiös veranlagte Menschen „fühlen sich von Gott
berührt“.
Das Wort von Rudolf Virchow, einst als Provokation gedacht, gewinnt
neue Aktualität: „Ich habe 1.000 Leichen seziert, aber keine Seele
gefunden.“
Die Hirnforscher sind bescheiden. Sie sagen, dass sie erst Weniges
wirklich verstehen und noch am Anfang stehen. Aber da wird es
weiter gehen. Nicht bei Konstrukten, die sich Theologen aus den
Fingern lutschen und dann mit Machtmitteln durchzusetzen
versuchen. Die Theologie ist keine Wissenschaft, sie ist Ideologie.
Es gibt nicht den dualistischen Menschen aus Körper einerseits und
Geist andererseits. Es gibt nur den einen Menschen, in dessen Körper
der Geist beheimatet ist. Und die Sexualität.
Epilog: Im Buddhismus ist die Überwindung der Dualität, das völlige
Einswerden, gleichbedeutend mit der Erlösung aus dem leidvollen
Kreis der Wiedergeburten, dem höchsten Glück, dem Eingang ins
Nirvana. Das ist der am schwersten für unser westliches Denken
nachzuvollziehende Gedanke im Buddhismus. Ich habe an anderer
Stelle darüber geschrieben.
Im tantrischen Buddhismus kann Sexualität ein Weg unter vielen sein,
sich diesem Ziel zu nähern. Das hat mit der Pornografisierung des
Tantrismus bei uns wenig zu tun.
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Andere philosophische Systeme kommen also zu Ergebnissen, die mit
den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen besser
kompatibel sind, als die christlichen Religionen mit ihrem
obskuranten Wunderglauben, bei denen die Gesetze der Natur immer
mal wieder ausser Kraft gesetzt werden, wenn es der Durchsetzung
des eigenen absoluten Wahrheitsanspruches dient.
Ein wenig Bescheidenheit stünde den Mitgliedern des römischen
Episkopats gut zu ihren selbstgerechten Gesichtern.
Copyright by Robert Knickenberg 04.03.2011
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