Bericht über mein zweimonatiges Praktikum bei der Friedrich-EbertStiftung in Tunis, La Marsa Einleitung Im September und Oktober 2014 hatte ich das Glück, ein Praktikum im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis zu absolvieren. Tunesien interessierte mich besonders, da hier die Revolution der arabischen Welt ihren Ursprung nahm und weil ich durch tunesische Freunde in Berlin zu dem Land schon einen Bezug besaß. Während meines Studiums der Arabistik (2011-2012) an der FU Berlin hatte ich Arabisch/Hocharabisch gelernt und mit Studenten aus verschiedenen arabischen Ländern über die politischen Ereignisse, die Glaubwürdigkeit der Medien und kulturelle Unterschiede diskutiert, - aus der Ferne. Das Praktikum gab mir die Möglichkeit, einen tiefen Einblick in die sozial-politischen Strukturen des Landes zu bekommen. Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung befindet sich im Villen-Viertel La Marsa in der Straße Bachar Ibn Bord, die zum Meer führt. Das Gebäude ist typisch tunesisch: Weiß, mit einer verzierten Tür, blauen Fenstern, einem schönen Garten mit Granatapfel- und Zitronenbäumen. Seit 2013 entwickelte sich das Büro zur weltweit größten Auslandsstelle. Von Beginn an wurde ich von den 20 Mitarbeitern herzlich aufgenommen und in die drei Bereiche der Projektarbeit eingeweiht: Die Unterstützung des Gewerkschaftsverbandes mit dem Hauptpartner UGTT (Union Générale des travailleurs tunisiens), die Stärkung der Zivilgesellschaft besonders im Hinblick auf Frauen und Jugend sowie die Förderung des gesellschaftspolitischen Dialogs. Der Austausch mit deutschen Partnern findet statt, jedoch wird bewusst und sensibel auf die Eigenständigkeit der tunesischen Organisationen geachtet. Unabhängige Strukturen im Land werden gefördert. Das Büro entwickelt gleichzeitig Projekte, welche die Demokratisierung in den Nachbarländern Libyen und Algerien unterstützen, da dort die politische Lage zu instabil für eine eigene Vertretung vor Ort ist. In meiner Praktikumszeit wurden zwei neue Mitarbeiter eingestellt, denen ich half, über Journalisten, NGOs, Politiker, Wissenschaftler und Pädagogen ein Netzwerk von Kontakten mit Libyen herzustellen. Austauschprogramme zwischen tunesischen und libyschen Studenten wurden geplant, um Konflikte, die durch die starken kriegsbedingten Fluktuationen auftreten, zu überwinden. Das FES-Büro trägt Mitverantwortung für das Entstehen demokratischer Strukturen, auch in angrenzenden Ländern wie Libyen. Meine Tätigkeit Die kooperative und transparente Zusammenarbeit unter den Kollegen erleichterte mir den Einstieg. Die Türen zu den Büros standen offen, sodass der Kontakt zu den Mitarbeitern schnell hergestellt war und ich die Arbeitsstruktur des Büros umgehend begriff. Zeitungen auf arabsich und französisch, Plakate, Flyer und ein großes Bücherregal boten immer eine Lektüre. Jeden Tag hörte ich tunesisch, deutsch, französisch, arabisch, englisch und jeder versuchte, den anderen zu verstehen. Unser junges Team, hauptsächlich Tunesier, ging zu öffentlichen Kundgebungen, Demonstrationen, Konzerten, saß in Cafés, immer mit offenen Ohren. Jeden Dienstag gab es eine Konferenz, auf der alle Kollegen über ihre Projekte sprachen, gemeinsame Treffen planten. Ein Foto (Demonstranten, hauptsächlich Frauen, auf der Avenue Habib Bourguiba während der Revolution) bestimmte den Raum. Neben dem Spruch La revolution est toujours en route (Die Revolution ist immer im Gange). Das Foto und der Spruch wuchsen mir jeden Tag mehr ans Herz und trieben mir neben dem scharfen Essen, das die wunderbare Khadija jeden Dienstag für uns alle kochte, oft Tränen in die Augen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben war die Erstellung einer Chronologie über die Arbeit der FES-Stiftung in Tunis seit den Anfängen in den 60er Jahren. Dazu recherchierte ich in Jahresberichten, las Artikel und interviewte die langjährigen Mitarbeiter des ursprünglich kleinen Teams. Durch ein Gespräch mit Barbara Abdessamad, die 1988 das Büro mit aufbaute, erfuhr ich Details über die harte Zeit unter der Diktatur Ben Alis. Ständige Überwachung, das Abhören von Telefonen und kurzfristige Untersagung von bereits komplett organisierten Veranstaltungen schränkten die Arbeit stark ein und zwangen zu diplomatischen Kompromissen. Teilweise wurde politische Arbeit vollständig untersagt, sodass sich die Zusammenarbeit auf wirtschaftliche Partner beschränkte. Trotz starker Repressalien gaben die Mitarbeiter ihre engagierte Arbeit nicht auf. Als die Revolution näher rückte, war in dem ruhigen Nobelviertel La Marsa noch nichts von den bevorstehenden Umwälzungen zu ahnen, außer in den Räumen der Stiftung. Hier sammelten sich die Informationen von überall. Einige Mitarbeiter kamen auf den Demonstrationen des 14. Januar 2011, dem Tag, an dem Ben Ali das Land verlassen musste, nur knapp mit dem Leben davon. Trotz großer Gefahren war Barbara Abdessamad, die inzwischen pensioniert ist, froh, die Revolution erlebt zu haben. Jetzt würde sie gern noch einmal anfangen zu arbeiten. Ich übersetzte Texte und Veranstaltungsbögen und erstellte das Inhaltsverzeichnis zu der neuen Veröffentlichung der Stiftung La nouvelle constitution à la loupe (Die neue Verfassung unter der Lupe). Auch konnte ich die logistische Organisation und Korrespondenz zur Vorbereitung der Fortbildungsseminare mit anschließender Dokumentation unterstützen. In Vorbereitung auf die Wahlen, die am 26. Oktober 2014 stattfanden, wurde die Dialogveranstaltung Cercle de réflexion de gauche organisiert, zu der junge Mitglieder verschiedener sozialdemokratischer Parteien eingeladen waren. Sie sollte einende Werte vermitteln und Kooperation statt Konkurrenz propagieren, da es letztendlich um die Entwicklung des Landes und nicht um Parteisiege geht. Ein Ereignis in meiner Praktikumszeit war die Einladung in das tunesische Parlament. 80 Jugendliche aus Tunesien und anderen Ländern (in Kooperation mit der Organisation Tun’Act) versammelten sich in verschiedenen Komitees: Umwelt, Wirtschaft, Kultur, Menschenrechte, Bildung, Internationale Beziehungen. Sie übten sich im Diskutieren, Abfassen von Reden, Treffen von Entscheidungen. Die Stiftung war als Partner vertreten, um neue Kontakte zu jungen Initiativen und potentiellen Partnern zu knüpfen. Die Arbeit mit Jugendlichen steht im Fokus der Stiftung. Das Projekt Young leaders, das von der FES in verschiedenen arabischen Ländern ins Leben gerufen wurde, nennt sich in Tunesien Génération A’Venir (GAV), was sowohl mit „Generation Zukunft“ wie auch „Die kommende Generation “ übersetzt werden kann. Habiba Tounsi, die zur Zeit das Projekt leitet, und ich arbeiteten eng zusammen. Für die Teilnehmer des Projekts, die sich in verschiedenen NGOs engagieren, werden monatlich Tagungen und Seminare gestaltet. Aus verschiedenen Regionen kommend treffen sie sich, um über Brennpunkte zu sprechen. Gemeinsam entwickeln sie Mikro-Projekte, mit denen sie gezielt Veränderungen bewirken wollen. Ein Beispiel ist das Theaterspielen in Jugendheimen, in denen junge Menschen sich auf der Abschussliste fühlen oder die Entwicklung von Computerspielen, in denen Kinder mit Gesellschaftsproblemen konfrontiert werden, für die sie Lösungen selbst suchen müssen. So fand im Hotel Sidi Bou Said mit Blick über Tunis auf’s Meer ein Seminar mit dem bakannten Richter Ghazi Gairi zum Thema Menschenrechte in der neuen tunesischen Verfassung statt. In meiner Arbeitsgruppe galt es als selbstverständlich, dass mir Malek, ein junger Teilnehmer, sämtliche Artikel auf arabisch vorlas und simultan in ein perfektes Französisch übersetzte. Ich war zum einen von der sozialen Geste beeindruckt und natürlich von dem sprachlichen Talent Maleks. Durch die anschließende Diskussion über sprachliche Nuancen wurde mir klar, dass jede Übersetzung bereits eine Interpretation darstellt und Hocharabisch, im Vergleich mit der Alltagssprache der Jugendlichen, Uneindeutigkeiten aufweist. Faszinierend ist, dass die Tunesier, zumindest in den größeren Städten der Küstenregion, dreisprachig aufwachsen: Tunesisch, Arabisch und Französisch. Diskutiert wurde auch über die Frauenquote in Höhe von 50 Prozent, die von den Parteien berücksichtigt werden muss. Die Jungs empfanden dies als unfair, während ich es als Meilenstein für eine gleichberechtigtere Gesellschaft ansah. Weitere Diskussionspunkte waren die unkonkrete Formulierung der Menschenrechte, Gesetze, die verschieden ausgelegt werden können sowie die Beschränkung von Rechten auf tunesische Staatsbürger und die noch starke Präsenz des Islam. Einige Jugendliche fragten sich: Was hat die Religion in unserer Politik noch zu suchen und warum muss der Präsident Tunesiens Muslim sein? Ghazi Gairi warf inmitten heftiger Kritik den wichtigen Gedanken in die Runde, dass im Vergleich zu europäischen Ländern wie Frankreich oder Deutschland in Tunesien nach der Revolution schnell eine relativ fortschrittliche Verfassung entstand. Weiter fanden Kommunikationstrainings zur Persönlichkeitsentwicklung und Präsentationsfertigkeit statt. Moujib Errahmen Khaldi, ein sehr symphatischer junger Trainer, lud alle mit Energie auf und motivierte uns zu fokussiertem Überlegen und vor allem auch zum Lachen. Am Ende fand eine große Präsentation statt, bei der wir dem Direktor des Stiftungsbüros und aus Deutschland gesandten Gutachtern unsere Projekte vorstellten. Demokratie ist eine zarte Pflanze. Ziel der Stiftung ist es, die Jugendlichen in ihrem Kampf um das Recht auf Demokratie selbstständig arbeiten zu lassen und finanziell zu unterstützen. Bei einer Aktion der parteiunabhängigen Organisation JID - Jeunes Independant democrates, die im Vorfeld Abiturienten vor ihrer ersten Wahl aufklären sollte, war kein Schüler anwesend. Den engagierten Studenten mit ihren T-Shirts, auf die jeune vote pas, jeune compte pas (Jugend wählt nicht, Jugend zählt nicht) und der Slogan +18, und danach? auf arabisch gedruckt war, hörte niemand zu. Der Grund: In Schulen und Universitäten durfte während des Wahlkampfes keine politische Aktion stattfinden, sodass die Veranstaltung in ein abgelegenes Kulturzentrum verlegt werden musste. Um so wichtiger war es, dass wenigstens Vertreter der Stiftung vor Ort waren, um die Frustration der Studenten aufzufangen und sie wieder auf neue Ideen zu bringen. Ich konnte die schwierige und aufregende Zeit der Wahlen erleben. Endlich bestand die Chance, die islamistisch geprägte Partei Ennahda endlich abzuwählen. Mitarbeiter der Stiftung waren unabhängige Wahlbeobachter oder Mitarbeiter von NGO-Supervisionsorganisationen wie Mourakiboun (Beobachter). Prognosen waren schwierig, Zeitungsartikel und Gespräche drehten sich nur noch um die Wahlen, die Orientierungslosigkeit bei der Vielzahl von Parteien war groß. Die Stiftung war bei den Presseveranstaltungen präsent und arbeitete ständig an Veröffentlichungen zum Thema Wahlen. Am 26. November ging ich mit meinen Gasteltern zur Wahl. In der Nacht hatte es geregnet, doch als wir gegen halb 9 am Morgen auf dem Schulhof in der Schlange warteten, schien die Sonne; die mitgebrachten Regenschirme wurden Sonnenschirme. Trotz 26 Jahren Diktatur, in der die Wände „Ohren hatten“, blieben die Menschen kritisch. Das Wahlergebnis: Die säkulare Partei Nida Tounes (Aufschrei Tunesiens) gewann mit 39 Prozent, während Ennahda mit 29 Prozent unterlag, obwohl sie einen kostspieligen und top organisierten Wahlkampf betrieben hatte. Unvergesslich bleibt die Reise mit der Génération A’Venir nach Gabes weit im Süden des Landes an meinem letzten Wochenende. Wir trafen uns an einem verregneten Donnerstagnachmittag in Tunis an der großen Uhr auf dem Platz des 14. Januar auf der Avenue Habib Bourguiba. Habiba und ich bereiteten dieses Wochenende lange vor: Ein Theaterworkshop zum Thema Theater der Unterdrückten, eine Form, die auf die Arbeit des Regisseurs Augusto Boal in den 70er Jahren in Brasilien zurückgeht. Der aus Deutschland angereiste Schauspieler und Theaterpädagoge Andreas Joppich wollte zusammen mit Jugendlichen der GAV eine neue Art der Reflexion und des Ausdrucks durch gesellschaftskritisches Theater provozieren. Als Ort bestand er auf Gabes und nicht etwa Djerba, wohin Habiba und ich lieber gefahren wären. Seine Begründung: Gabes hatte im Vergleich zu der malerisch schönen Insel Djerba eine solche Veranstaltung weitaus nötiger. Wenige Besucher kamen auf Grund einer giftigen Chemiefabrik hierher. Das große, ausgestorben und traurig wirkende Hotel lag direkt am Meer, in dem es wegen Verschmutzung streng verboten war zu schwimmen. Neben einer Fußballgruppe waren wir fast die einzigen Gäste und hatten viel Platz zum proben. Im Zentrum der Arbeit stand das Hineinversetzen in die Position des Anderen, um durch das mögliche Verständnis anderer Gedankengänge an diese anknüpfen zu können und so Situationen zu verändern. Wir arbeiteten zunächst an Wahrnehmung des Raumes, der Anderen und uns selbst. Fragen, auf die wir Antworten suchten, waren: Wo stehe ich? Was ist meine Identität? Wie stehe ich dazu? Wovor habe ich Angst? Wofür schäme ich mich? Wie stehe ich zu den Anderen? Es ging um die Entwicklung eines klaren Standpunktes und das Nachdenken über unsere Haltung zu Dingen. Wir versetzten uns in die Rolle eines Unterdrückten und in die eines Unterdrückers und beobachteten dabei unsere Gefühle und Reaktionen. In Gruppen simulierten wir Situationen, in der Menschen unterdrückt wurden. Wir spielten eine Szene, in der die Bewohner einer Stadt der Umweltverschmutzung durch eine Chemiefabrik ausgeliefert waren und krank wurden. Das Publikum konnte sich einmischen und das Handeln der Unterdrückten beeinflussen. Szenen wurden wiederholt, Rechte eingeklagt, Demonstrationen organisiert, Filteranlagen gefordert, die Industrie in abgelegeneres Gebiet verlagert. Eine andere Gruppe spielte eine Szene, in der eine Muslimin sich in einen Juden verliebt und ihn ihrer Familie vorstellen will. Der Vater und die Tante verhindern vehement die Beziehung. Auch in der Variante, in der die Tochter sich zwar für ihren Freund entschied, aber die Familie verließ, gab der Vater nicht nach. Die Teilnehmer bestätigten, dass ihr eigener Vater so oder noch extremer reagiert hätte, das Verhalten sei für einen tunesischen Familienvater völlig normal. Mich faszinierte die Genauigkeit und Schärfe, mit der die Jugendlichen ihre Gesellschaft durchschauten und auch darüber lachen konnten. Ein wichtiger Grundsatz des Theaters der Unterdrückten besteht darin, dass niemand passiv bleibt. Sogar unterwegs im Bus wurde diskutiert, gespielt, getanzt, laut Musik aufgedreht. Und das, obwohl der Palmensaft Legmi ganz frisch war und noch nicht seine alkoholisierende Wirkung entfaltet hatte. Fazit Das Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung Tunis bedeutet für mich ein Eindringen in die Kultur und die politischen Verhältnisse des Landes. Mir erschloss sich eine andere Lebensart, die besonders ist in ihrer großen Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen, ihrer sprachlichen Vielfalt und starken Bedeutung von Traditionen. Der Stiftung kommt die Bedeutung zu, die Zivilgesellschaft zu stärken und sie beim Aufbau demokratischer Verhältnisse zu unterstützen. Vor allem gilt es, der Jugend eine Stimme und eine Perspektive zu geben und sie vor Radikalisierung zu bewahren. In Bezug auf mein Studium der Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) war die Zeit in Tunesien ohne Zweifel eine Bereicherung. Neue Formen des interkulturellen Dialogs und pädagogischen Arbeitens taten sich auf. Angewandte Kommunikation war Grundlage dringend notwendiger Veränderung und trug Früchte. Durch mein Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis begriff ich eins: Demokratie ist eine zarte Pflanze. Meine Verbindung zu Tunesien wird bestehen bleiben. Berlin, 22.02.2015 Isabelle Moog