46 GESUNDHEIT Gegen den Stress im Arbeitsalltag Stress kostet Nerven – und die Schweizer Volkswirtschaft jährlich rund vier Milliarden Franken. Um stressbedingte Ausfälle am Arbeitsplatz zu verhindern, müssen Arbeitnehmende und Vorgesetzte lernen, Stresssituationen richtig einzuschätzen. Ziel ist dabei, schädlichen Stress zu vermeiden. Von Toni Brühlmann «Stress ist individuell, auf die Bewertung kommt es an», sagte Richard Lazarus 1984 in seiner interaktionellen Stresstheorie. Stressauslösende Faktoren werden nämlich durch persönliche Erfahrungen und Veranlagungen individuell bewertet. Der Grat zwischen positivem und negativem Stress ist dabei schmal. Wer beispielsweise perfektionistisch veranlagt ist, hat hohe Selbstansprüche. Richtig dosiert, kann diese stressbegünstigende Eigenschaft zu positiven Ergebnissen führen und ungeahnte Leistungen hervorbringen. Perfektionismus im Sinne von Übergenauigkeit führt jedoch zu chronischem Zeitdruck und Hektik. Aus Ungeduld und übertriebenem Ehrgeiz entwickelt sich Ärger – und schon ist sie da, die Stresssituation. Gefühl von Machtlosigkeit Sachbearbeiter Martin B. arbeitet im administrativen Bereich eines mittelgrossen KMU und muss oft Überstunden leisten. Seine Arbeit ist durch rigide Vorgaben und Ab- läufe, die seinen Handlungs- und Entscheidungsspielraum einengen, geprägt. Oft empfindet er dieser starren Struktur gegenüber ein Gefühl von Ohnmacht. Obwohl die Anforderungen hoch sind, erhält er kaum Anerkennung für seine Arbeit. Zudem verunsichert ihn stark, dass vor kurzem angetönt wurde, das Unternehmen müsse aufgrund der wirtschaftlichen Lage möglicherweise Stellen streichen. Die Organisation und die Atmosphäre in einem Betrieb haben direkte Auswirkungen auf Stressmenge und Stressschädlichkeit. Belastung allein, der sogenannte primäre Stress, entkräftet nicht. Früher wurde unter Umständen mehr gearbeitet, ohne dass die typischen Stresssymptome auftraten. Es ist der sekundäre Stress, die Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, die einem Betroffenen längerfristig zusetzen können. Nicht nur einzelne Mitarbeitende, sondern auch die Firma als Ganzes ist einem energiefressenden Stress ausgesetzt, demjenigen der freien Marktwirtschaft, der ständigen Konkurrenz. Dies führt dazu, dass Unternehmen immer weniger Si- cherheit bezüglich Arbeitsplatz bieten können, von ihren Angestellten aber gleichzeitig Flexibilität und maximale Effizienz fordern. Diese betrieblichen und sozialen Faktoren sind für die persönliche Stresswahrnehmung zentral. Stressreaktionen erkennen Der Abteilungsleiterin Heidi Müller ist aufgefallen, dass Martin B. sich verändert hat. Er wirkt zunehmend verkrampft, bei Gesprächen verwickelt er sich in seinen eigenen Aussagen und scheint abwesend. Sein Perfektionismus, seine hoher Selbstanspruch, alles richtig und schnell zu erledigen, und seine schon fast zwanghaft strukturierte Persönlichkeit haben B. in einen Zustand ständiger Frustration und Hektik versetzt. Er ist sich nicht bewusst, wie sich seine psychosomatischen und muskulären Stressreaktionen gegen aussen bemerkbar machen. Die Reaktionen auf Stresssituationen sind kognitiv, emotional, vegetativ und muskulär. Unter kognitiven Stressreaktionen versteht man beispielsweise negative Gedanken, ein Blackout sowie Kon- zentrationsmangel. Sie gehen auf Gedächtnis-, Aufmerksamkeitsund Denkstörungen zurück. Emotional zeigen sich solche Reaktionen in Angst, Unsicherheitsgefühlen und Ärger. Diese Reaktionen können zu den stressbedingten Störungen Burnout und Depression führen. Vegetative Reaktionen sind Herzklopfen, Schwitzen, trockner Mund oder ein Engegefühl in der Brust. Dabei spricht man von Psychosomatosen. Gut erkennbar sind muskuläre Stressreaktionen wie starre Mimik, Verspannungen, Zittern, Stottern und Fingertrommeln. Solche muskulären Störungen können zu chronischen Schmerzen oder rheumatologischen Leiden führen. Kurz- und langfristige Veränderungen Die Aufteilung der Stressreaktionen ermöglicht, gezielte Massnahmen zu deren Bewältigung zu ergreifen. Ziel ist, für kurzfristige Erleichterung und langfristige Veränderung zu sorgen. In den meisten Fällen ist es möglich, sich selbst zu helfen, vorausgesetzt, die Stresssituation wird erkannt. Aber auch als 47 Nr. 9 – 2008 SO KÖNNEN SIE STRESS KURZFRISTIG BEWÄLTIGEN Wahrnehmenslenkung: Äusserlich kann die Wahrnehmenslenkung durch Spazierengehen, Kurzpausen oder Gespräche beeinflusst werden, innerlich mit Ruhebildern, positiven Gedanken und konzentrierter Wahrnehmung äusserer Reize. Positive Selbstgespräche: Negative Gedanken sollen korrigiert werden, an Stelle von «immer» kann beispielsweise von «diesmal» gesprochen werden. Auch Selbstermunterung («ich schaffe es») und Selbstinstruktion («erst mal abwarten») können helfen. Kontrollierte Abreaktion: Körperlich heisst das, auf den Tisch zu schlagen oder eine Treppe hochzurennen. Emotional kann sich die Abreaktion zum Beispiel durch Weinen äussern. und Spontanentspannung helfen, Stress kurzfristig zu bewältigen (siehe Kasten). In einem weiteren Schritt können mit einer systematischen Problemlösung die äusseren Stressoren langfristig verändert werden. Die Stresssituationen werden beschrieben, eine Zieldefinition wird erstellt. Dadurch können Lösungswege entwickelt werden. Um daraus einen konkreten Handlungsplan zu formulieren, werden die Lösungen bewertet und ausgewählt. Schliesslich folgt eine Erfolgsprüfung, die im weiteren Handlungsplan berücksichtigt wird. Eigene Grundkonflikte erkennen Eine Veränderung der Grundeinstellung bezwingt innere Stressoren. Es gilt, typische Konflikte und gewohnte Bewertungs- und Bild: Bilderbox.de Entwicklungsmuster zu erkennen und zu behandeln. Aussenstehender kann man ande- Wer seine Grundkonflikte und Deren helfen, mit Stresssituationen fizite erkennt, hat bereits einen grossen Beitrag zum Aufbau von richtig umzugehen. Abteilungsleiterin Heidi Müller neuen Fertigkeiten geleistet. Ein sucht das Gespräch mit Martin B. wichtiger Teil ist dabei die VerbesErst dadurch wird ihm bewusst, serung der Kommunikation. Weiter welche Spannungen sich zwischen hilft eine Stärkung der sozialen seiner Persönlichkeit und den An- Kompetenz, beispielsweise in dem forderungen seiner Arbeit aufge- man lernt, nein zu sagen. Auch die baut haben. Mit seiner Vorgesetzten Arbeitsmethodik kann optimiert erarbeitet er Massnahmen, die der werden, zum Beispiel durch ein gukurzfristigen Erleichterung dienen tes Zeitmanagement. Nicht zu unsollen. So wird sich B. in Zukunft terschätzen ist die Work-Life-Balanstatt einer Viertelstunde Mittag vor ce. Sie beinhaltet einen aktiven dem Computer eine Stunde Pause Ausgleich zwischen Arbeit, Beziegönnen, in der er das Büro verlässt, hungen und Hobbies. So fördern um im Freien oder an einem ande- zum Beispiel regelmässige sportliren Ort zu essen. Negative Gedan- che Tätigkeit und die Pflege des priken und Angstzustände versucht er vaten Netzwerks die Balance. Soziadurch innere Ruhebilder, zum Bei- le Geborgenheit wiederum erhöht spiel aus dem letzten Urlaub in der die Belastbarkeit und reduziert die Toscana, abzulösen. Die Abtei- Krankheitsanfälligkeit. Im Fall von Martin B. ist die Ablungsleiterin bietet ihm die Möglichkeit an, in einem Gespräch sei- teilungsleiterin daran interessiert, ne Anregungen und Sorgen zu auch Massnahmen zur langfristigen äussern. Aber auch mit Bewegung Veränderung seines Umgangs mit soll er sich einen Ausgleich schaf- Stresssituationen anzusprechen. fen. So kann zum Beispiel ein kur- Kann die Work-Life-Balance verbessert werden? Besteht vielleicht zer Treppenspurt Wunder wirken. Massnahmen wie Wahrneh- das Interesse, einen Kurs für Entmungslenkung, positive Selbstge- spannungstechniken zu besuchen? spräche, kontrollierte Abreaktion Mit einer systematischen ProblemSpontanentspannung: Um sich in Stresssituationen zu beruhigen, kann man beispielsweise die Fäuste mehrmals an- und entspannen oder tief ein- und ausatmen. lösung versuchen die beiden, Abläufe im beruflichen Umfeld von Martin B. zu verbessern und so die Belastung auszugleichen. Wer Stress bekämpft, verhindert Kosten Massnahmen wie diese verhindern, dass Stress zu gravierenden Folgen wie Arbeitsunfähigkeit und Lebenskrisen führt. Das Staatssektretariat für Wirtschaft (SECO) schätzte die Kosten stressbedingter Ausfälle im Jahr 2000 auf über vier Milliarden Franken. Weitere Kosten entstehen bei Arbeitgebern und Staat für die Wiedereingliederung dieser Arbeitskräfte. Das frühzeitige Erkennen von Stress und der sensible Umgang damit sind für den Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung. Die clevere Betriebs- führung versucht, ihren Mitarbeitenden ein stressfreies Arbeitsumfeld zu bieten und ihnen beim Umgang mit persönlichen Stressfaktoren zu helfen. Denn wertgeschätzte und zufriedene Mitarbeiter tragen zu einem guten Betriebsklima bei und erhöhen dadurch den Wettbewerbsvorteil. DER AUTOR Dr. med. Toni Brühlmann ist Chefarzt der Privatklinik Hohenegg in Meilen. [email protected], www.hohenegg.ch Anzeige