Gegen den Stress im Arbeitsalltag

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GESUNDHEIT
Gegen
den Stress
im
Arbeitsalltag
Stress kostet Nerven – und die Schweizer
Volkswirtschaft jährlich rund vier
Milliarden Franken. Um stressbedingte
Ausfälle am Arbeitsplatz zu verhindern,
müssen Arbeitnehmende und
Vorgesetzte lernen, Stresssituationen
richtig einzuschätzen. Ziel ist dabei,
schädlichen Stress zu vermeiden.
Von Toni Brühlmann
«Stress ist individuell, auf die
Bewertung kommt es an», sagte
Richard Lazarus 1984 in seiner interaktionellen Stresstheorie. Stressauslösende Faktoren werden nämlich
durch
persönliche
Erfahrungen und Veranlagungen
individuell bewertet. Der Grat zwischen positivem und negativem
Stress ist dabei schmal. Wer beispielsweise perfektionistisch veranlagt ist, hat hohe Selbstansprüche. Richtig dosiert, kann diese
stressbegünstigende Eigenschaft zu
positiven Ergebnissen führen und
ungeahnte Leistungen hervorbringen. Perfektionismus im Sinne von
Übergenauigkeit führt jedoch zu
chronischem Zeitdruck und Hektik. Aus Ungeduld und übertriebenem Ehrgeiz entwickelt sich Ärger
– und schon ist sie da, die Stresssituation.
Gefühl von Machtlosigkeit
Sachbearbeiter Martin B. arbeitet
im administrativen Bereich eines
mittelgrossen KMU und muss oft
Überstunden leisten. Seine Arbeit
ist durch rigide Vorgaben und Ab-
läufe, die seinen Handlungs- und
Entscheidungsspielraum einengen,
geprägt. Oft empfindet er dieser
starren Struktur gegenüber ein Gefühl von Ohnmacht. Obwohl die
Anforderungen hoch sind, erhält er
kaum Anerkennung für seine Arbeit. Zudem verunsichert ihn stark,
dass vor kurzem angetönt wurde,
das Unternehmen müsse aufgrund
der wirtschaftlichen Lage möglicherweise Stellen streichen.
Die Organisation und die Atmosphäre in einem Betrieb haben direkte Auswirkungen auf Stressmenge und Stressschädlichkeit.
Belastung allein, der sogenannte
primäre Stress, entkräftet nicht.
Früher wurde unter Umständen
mehr gearbeitet, ohne dass die typischen Stresssymptome auftraten.
Es ist der sekundäre Stress, die Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, die einem Betroffenen längerfristig zusetzen können. Nicht
nur einzelne Mitarbeitende, sondern auch die Firma als Ganzes ist
einem energiefressenden Stress
ausgesetzt, demjenigen der freien
Marktwirtschaft, der ständigen
Konkurrenz. Dies führt dazu, dass
Unternehmen immer weniger Si-
cherheit bezüglich Arbeitsplatz bieten können, von ihren Angestellten
aber gleichzeitig Flexibilität und
maximale Effizienz fordern. Diese
betrieblichen und sozialen Faktoren sind für die persönliche Stresswahrnehmung zentral.
Stressreaktionen erkennen
Der Abteilungsleiterin Heidi Müller ist aufgefallen, dass Martin B.
sich verändert hat. Er wirkt zunehmend verkrampft, bei Gesprächen
verwickelt er sich in seinen eigenen Aussagen und scheint abwesend. Sein Perfektionismus, seine
hoher Selbstanspruch, alles richtig
und schnell zu erledigen, und seine schon fast zwanghaft strukturierte Persönlichkeit haben B. in einen Zustand ständiger Frustration
und Hektik versetzt. Er ist sich nicht
bewusst, wie sich seine psychosomatischen und muskulären Stressreaktionen gegen aussen bemerkbar machen.
Die Reaktionen auf Stresssituationen sind kognitiv, emotional, vegetativ und muskulär. Unter kognitiven Stressreaktionen versteht
man beispielsweise negative Gedanken, ein Blackout sowie Kon-
zentrationsmangel. Sie gehen auf
Gedächtnis-, Aufmerksamkeitsund Denkstörungen zurück. Emotional zeigen sich solche Reaktionen in Angst, Unsicherheitsgefühlen und Ärger. Diese Reaktionen
können zu den stressbedingten Störungen Burnout und Depression
führen. Vegetative Reaktionen sind
Herzklopfen, Schwitzen, trockner
Mund oder ein Engegefühl in der
Brust. Dabei spricht man von Psychosomatosen. Gut erkennbar sind
muskuläre Stressreaktionen wie
starre Mimik, Verspannungen, Zittern, Stottern und Fingertrommeln.
Solche muskulären Störungen können zu chronischen Schmerzen
oder rheumatologischen Leiden
führen.
Kurz- und langfristige
Veränderungen
Die Aufteilung der Stressreaktionen ermöglicht, gezielte Massnahmen zu deren Bewältigung zu ergreifen. Ziel ist, für kurzfristige
Erleichterung und langfristige Veränderung zu sorgen. In den meisten
Fällen ist es möglich, sich selbst zu
helfen, vorausgesetzt, die Stresssituation wird erkannt. Aber auch als
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Nr. 9 – 2008
SO KÖNNEN SIE STRESS
KURZFRISTIG BEWÄLTIGEN
Wahrnehmenslenkung: Äusserlich kann die Wahrnehmenslenkung
durch Spazierengehen, Kurzpausen
oder Gespräche beeinflusst werden,
innerlich mit Ruhebildern, positiven
Gedanken und konzentrierter
Wahrnehmung äusserer Reize.
Positive Selbstgespräche: Negative Gedanken sollen korrigiert werden, an Stelle von «immer» kann
beispielsweise von «diesmal»
gesprochen werden. Auch Selbstermunterung («ich schaffe es») und
Selbstinstruktion («erst mal abwarten») können helfen.
Kontrollierte Abreaktion: Körperlich heisst das, auf den Tisch zu
schlagen oder eine Treppe hochzurennen. Emotional kann sich die
Abreaktion zum Beispiel durch Weinen äussern.
und Spontanentspannung
helfen, Stress kurzfristig zu
bewältigen (siehe Kasten).
In einem weiteren
Schritt können mit einer
systematischen Problemlösung die äusseren Stressoren langfristig verändert
werden. Die Stresssituationen werden beschrieben,
eine Zieldefinition wird erstellt. Dadurch können Lösungswege entwickelt werden. Um daraus einen
konkreten Handlungsplan
zu formulieren, werden die
Lösungen bewertet und
ausgewählt. Schliesslich
folgt eine Erfolgsprüfung,
die im weiteren Handlungsplan berücksichtigt
wird.
Eigene Grundkonflikte
erkennen
Eine Veränderung der
Grundeinstellung bezwingt
innere Stressoren. Es gilt,
typische Konflikte und gewohnte Bewertungs- und
Bild: Bilderbox.de
Entwicklungsmuster zu erkennen und zu behandeln.
Aussenstehender kann man ande- Wer seine Grundkonflikte und Deren helfen, mit Stresssituationen fizite erkennt, hat bereits einen
grossen Beitrag zum Aufbau von
richtig umzugehen.
Abteilungsleiterin Heidi Müller neuen Fertigkeiten geleistet. Ein
sucht das Gespräch mit Martin B. wichtiger Teil ist dabei die VerbesErst dadurch wird ihm bewusst, serung der Kommunikation. Weiter
welche Spannungen sich zwischen hilft eine Stärkung der sozialen
seiner Persönlichkeit und den An- Kompetenz, beispielsweise in dem
forderungen seiner Arbeit aufge- man lernt, nein zu sagen. Auch die
baut haben. Mit seiner Vorgesetzten Arbeitsmethodik kann optimiert
erarbeitet er Massnahmen, die der werden, zum Beispiel durch ein gukurzfristigen Erleichterung dienen tes Zeitmanagement. Nicht zu unsollen. So wird sich B. in Zukunft terschätzen ist die Work-Life-Balanstatt einer Viertelstunde Mittag vor ce. Sie beinhaltet einen aktiven
dem Computer eine Stunde Pause Ausgleich zwischen Arbeit, Beziegönnen, in der er das Büro verlässt, hungen und Hobbies. So fördern
um im Freien oder an einem ande- zum Beispiel regelmässige sportliren Ort zu essen. Negative Gedan- che Tätigkeit und die Pflege des priken und Angstzustände versucht er vaten Netzwerks die Balance. Soziadurch innere Ruhebilder, zum Bei- le Geborgenheit wiederum erhöht
spiel aus dem letzten Urlaub in der die Belastbarkeit und reduziert die
Toscana, abzulösen. Die Abtei- Krankheitsanfälligkeit.
Im Fall von Martin B. ist die Ablungsleiterin bietet ihm die Möglichkeit an, in einem Gespräch sei- teilungsleiterin daran interessiert,
ne Anregungen und Sorgen zu auch Massnahmen zur langfristigen
äussern. Aber auch mit Bewegung Veränderung seines Umgangs mit
soll er sich einen Ausgleich schaf- Stresssituationen anzusprechen.
fen. So kann zum Beispiel ein kur- Kann die Work-Life-Balance verbessert werden? Besteht vielleicht
zer Treppenspurt Wunder wirken.
Massnahmen wie Wahrneh- das Interesse, einen Kurs für Entmungslenkung, positive Selbstge- spannungstechniken zu besuchen?
spräche, kontrollierte Abreaktion Mit einer systematischen ProblemSpontanentspannung: Um sich in
Stresssituationen zu beruhigen,
kann man beispielsweise die Fäuste
mehrmals an- und entspannen oder
tief ein- und ausatmen.
lösung versuchen die beiden, Abläufe im beruflichen Umfeld von
Martin B. zu verbessern und so die
Belastung auszugleichen.
Wer Stress bekämpft,
verhindert Kosten
Massnahmen wie diese verhindern,
dass Stress zu gravierenden Folgen
wie Arbeitsunfähigkeit und Lebenskrisen führt. Das Staatssektretariat für Wirtschaft (SECO)
schätzte die Kosten stressbedingter
Ausfälle im Jahr 2000 auf über vier
Milliarden Franken. Weitere Kosten entstehen bei Arbeitgebern und
Staat für die Wiedereingliederung
dieser Arbeitskräfte. Das frühzeitige Erkennen von Stress und der
sensible Umgang damit sind für den
Arbeitsmarkt
von
zentraler
Bedeutung. Die clevere Betriebs-
führung versucht, ihren Mitarbeitenden ein stressfreies Arbeitsumfeld zu bieten und ihnen beim Umgang
mit
persönlichen
Stressfaktoren zu helfen. Denn
wertgeschätzte und zufriedene Mitarbeiter tragen zu einem guten Betriebsklima bei und erhöhen dadurch den Wettbewerbsvorteil.
DER AUTOR
Dr. med. Toni
Brühlmann ist
Chefarzt der
Privatklinik
Hohenegg in
Meilen.
[email protected],
www.hohenegg.ch
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