Zwischen Triumph und Tragödie 1/3

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Zwischen Triumph und Tragödie
Die moderne Astrophysik und ihre Abgründe (1/3)
Von Harald Lesch
Sendung: Freitag, 26. Dezember 2014, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2013
Bitte beachten Sie:
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Ansage:
Mit dem Thema: „Zwischen Triumph und Tragödie – Die moderne Astrophysik und
ihre Abgründe“.
Wir beginnen heute eine dreiteilige Reihe mit dem Astrophysiker Professor Harald
Lesch. Der führt uns zu schwarzen Löchern, referiert über den Urknall, über dunkle
Materie, das Higgs-Teilchen und zeigt: Erstens warum die moderne Astrophysik uns
hilft, das Universum immer besser zu verstehen, zweitens warum genau diese Physik
auch manchmal ins Spekulative, Absurde, Unbeweisbare abdriftet.
Heute im ersten Teil geht es um den Triumphzug dieser Wissenschaft in den letzten
Jahrhunderten.
Harald Lesch:
Die Physik – ein Schock-Thema! Aber bleiben Sie dran, denn die Physik ist nicht so
schlimm, im Gegenteil. Sie stellt – entgegen ihrem schlechten Ruf – die Grundlage
unseres modernen Lebens dar. Schauen Sie sich einfach einmal um. Was sehen
Sie? Lauter manipulierte Stoffe, sogar Stoffe, die in der Natur gar nicht vorkommen.
Und wie können wir so etwas herstellen? Weil wir wissen, aus welcher Materie die
Natur besteht. Wenn Ihr Telefon klingelt oder Ihr Computer etwas anzeigt oder wenn
wir diese Aufnahme gerade machen – alles das passiert nur, weil wir eine
Technologie haben, die letztendlich auf physikalischen Grunderfahrungen basiert.
Alles, was wir in dieser Welt tun, hat etwas mit Physik zu tun. Schon bei den alten
Griechen bedeutet physis: die Natur. Was wir jedoch heute unter Physik verstehen,
ist etwas ganz anderes: Sie ist eine empirische Wissenschaft, also eine
Erfahrungswissenschaft, die sich im Dialog mit der Natur mit der Frage befasst, was
um uns herum passiert.
Ich fange nochmal von vorne an: Wir kommen auf die Welt, und die Welt ist schon
da. Das ist die Grunderfahrung des Menschen, und aus dieser Grunderfahrung
heraus haben wir verschiedene Wissenschaften entwickelt. Eine davon –
möglicherweise die wichtigste, wenn es um die Natur geht – ist die Physik.
Die Physik geht davon aus, dass es eine Ordnung in der Natur gibt und dass man
diese Ordnung auch verstehen kann. Sie versucht herauszufinden, was hinter dem
Phänomen der Natur steckt. Das tut sie mit zwei Methoden, nämlich mit
Messverfahren und mit Mathematik. Man geht also davon aus, dass es berechenbare
Phänomene gibt und dass man diese berechenbaren Phänomene messen kann. D.
h. Physiker stellen mathematische Fragen an die Natur und die Natur – das ist das
große philosophische Geheimnis – gibt mathematische Antworten. Soviel zur
Romantik der Physik.
In Wirklichkeit ist die Physik weit weniger romantisch: Es werden große Experimente
aufgeboten, um der Natur nahe zu kommen, um herauszufinden, woraus sie besteht;
es werden große Inventurexperimente gemacht, um herauszufinden, was alles da ist.
Dabei geht es nicht nur um den Himmel, den Kosmos, die Sterne oder Galaxien,
sondern es geht auch um das, was in der Natur, was in der Materie steckt. Die
Ausgangsfrage schlechthin lautet: Was ist die Welt? Der Physiker beantwortet sie mit
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wenigen Sätzen, z. B. mit: Die Welt besteht aus Atomen; Atome bestehen aus
Protonen und Neutronen, und die Protonen und Neutronen wiederum bestehen aus
Quarks, nämlich Up- und Down-Quarks. Daneben gibt es noch eine Reihe von
Teilchen, die zwar nicht für den Aufbau von Materie wichtig sind, aber offenbar im
frühen Universum wichtig waren.
Auf der anderen Seite besteht die Welt noch aus etwas Anderem, nämlich aus
Energie, also aus der Fähigkeit, Arbeit zu leisten, das ist die elektromagnetische
Energie, die Strahlung. Das, was wir mit unseren Augen als sichtbares Licht
empfangen, ist nur ein winziger Teil der Möglichkeiten, die die elektromagnetische
Energie darstellt. Die gibt es auch im Radiobereich, das hören Sie jetzt gerade,
Radiowellen sind elektromagnetische Wellen. Aber es gibt auch Infrarotstrahlung,
Ultraviolettstrahlung, Röntgenstrahlung, Gammastrahlung. Das sind die
Nachrichtenboten für den Kosmos. Wir können ja als Astronomen keine Experimente
machen, aber wir können die Strahlung von himmlischen Objekten empfangen. Und
dann kommt es sozusagen zur Gretchenfrage: Natur dort oben im Himmel, wie hältst
du es mit den Naturgesetzen? Sind das etwa die gleichen wie hier unten auf der
Erde? Die Natur antwortet: Soweit ich weiß, ja.
Und das ist der Zusammenhang zwischen dem Allergrößten und dem Allerkleinsten,
dass nämlich die Elementarteilchen etwas mitteilen über den Zusammenhang mitten
im Universum. Es geht sogar soweit, dass wir Physiker behaupten, das Universum
expandiere, sei also gestern kleiner gewesen und vorgestern noch kleiner. Es könnte
einmal so klein wie ein Atomkern gewesen sein oder sogar so klein wie ein
Elementarteilchen oder vielleicht sogar noch kleiner. Und das Tolle ist, für diese ganz
kleinen Anfangsphasen des Universums hätten die physikalischen Gesetze schon
gepasst.
Woher wissen wir das eigentlich alles? Denn das, worüber ich bisher gesprochen
habe, hat doch mit unseren direkten Erfahrungen von der Welt gar nichts zu tun. Wir
sind doch Lebewesen, die mehr im Kilogramm- und Sekundebereich leben. Wir
werden vielleicht 100 Jahre alt, sind 100 kg schwer und 2 Meter groß – wie kann man
über die allerkleinsten Teilchen etwas aussagen, also über Teilchen, die so klein
sind, dass man sie noch niemals gesehen hat. Haben Sie schon mal ein Proton
gesehen? Ich nicht. Und trotzdem haben wir in der Schweiz einen Beschleuniger
gebaut, der Teilchen, die wir nie gesehen haben, auf Energien beschleunigt, von
denen wir keine Ahnung haben, wie hoch sie wirklich sind. Und beim Zusammenstoß
dieser Teilchen soll ein Feld entstehen, das den Teilchen, die wir noch nie gesehen
haben, die Masse vermittelt, von der wir glauben, dass sie sie haben müssen. Und
trotzdem sind wir fest davon überzeugt, dass dieses Verfahren richtig ist.
Genauso verhält es sich mit dem Allergrößten. Wir haben mit diesen ganzen Dingen
nichts zu tun. Die Sonne ist acht Lichtminuten von uns entfernt – 150 Millionen
Kilometer. Das Licht braucht 8 Minuten zu uns. Wie können Menschen überhaupt
Aussagen über solche Räume machen, von denen sie überhaupt keine Erfahrung
haben? Da ist der Begleiter Vernunft wichtig. Und diese Vernunft hat Verfahren
entwickelt, sich auch in Erfahrungsräume vorzuwagen, die gar nicht zu den direkten
Erfahrungen der Vernunft gehören. Es wurden Instrumente entwickelt, um
einigermaßen sichere Erkenntnisse zu gewinnen. Von diesem Verfahren soll heute
die Rede sein.
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Physiker gewinnen Erkenntnis, indem sie Fragen stellen und sich diese Fragen
zumeist auch selbst beantworten. Und wenn sie sich geirrt haben, versuchen sie,
diesen Irrtum zu beseitigen und eine neue Frage zu stellen. Auf diese Art und Weise
irrt sich die Physik empor. Das ist das Grundverfahren. Wie irrt man sich empor?
Man macht ein Experiment und versucht, mit diesem Experiment die Hypothese, die
man dazu ursprünglich entwickelt hatte, zu überprüfen. Eine gute Hypothese in der
Physik ist eine mit Prognosepotenzial. Das Prognosepotenzial ist das Vermögen,
Vorhersagen zu formulieren. Am besten Vorhersagen über etwas, was man vorher
nicht kannte. Es geht um Phänomene, die man bisher noch nicht kannte oder die
man im Experiment auf eine neue Art und Weise entwickeln oder neu entstehen
lassen möchte. Mit anderen Worten: Eine empirische Hypothese muss an der
Erfahrung scheitern können. Die Erfahrung ist für den Physiker das Experiment oder
die Beobachtung. Wobei man unterscheiden muss: Das Experiment ist etwas, bei
dem ich die Natur unter Kontrolle bringe. Ich möchte gewisse Bedingungen im Labor
erzeugen, und auf diese Art und Weise kann ich die etwas widerstrebende
Wirklichkeit außen vor lassen. Beim Experiment kann ich ein reines physikalisches
Phänomen herausarbeiten.
Ganz anders bei der Beobachtung: Da bin ich als Astronom darauf angewiesen, das
zu nehmen, was kommt. Also vor allen Dingen Strahlung. Deswegen ist es wichtig,
genau zu wissen, woher die Strahlung kommt. Das ist wieder die Verbindung von
irdischer und himmlischer Physik. Physiker versuchen also, ihre Hypothesen anhand
von Experimenten zu überprüfen, indem sie von den Hypothesen fordern: Mach mir
eine Vorhersage. Und mit dem Experiment wird diese Vorhersage getestet. Wichtig
ist, dass diese Hypothese möglichst einfache Annahmen macht, denn je einfacher
die Annahmen, umso schneller ist die Hypothese zu testen. Die Hypothese wird
verwundbar, wenn sie einfache Annahmen macht. Auf diese Art und Weise kann
man sich langsam entlang hangeln. Stellt sich bereits in den ersten Experimenten
heraus, die Vorhersagen der Hypothesen wurden in keiner Weise gefunden, dann ist
die Hypothese tot. Die überlebenden Hypothesen sind die, die systematisch ein
Experiment nach dem anderen überstanden haben.
Physiker sind sehr genaue Prüfer. Das beginnt bereits 1609 bei Galileo Galilei. Die
Prüfungen, die er machen konnte, waren ja schon ganz gut, aber noch nicht gut
genug. Heutzutage sind wir viel präziser, unsere Fernrohre sind viel empfindlicher als
das Auge des Galilei. Fotoplatten, die man noch bis Ende des 20. Jahrhunderts
benutzt hat, Messgeräte, die die Elementarteilchenphysiker heute benutzen, sind
dermaßen empfindlich, dass sie allerkleinste Spuren von etwas wahrnehmen. Das
kennen wir vom „Tatort“, die Forensik, die Wissenschaft von den Spuren, benutzt
physikalische Instrumente, um herauszufinden, was ist geschehen ist. Manchmal
habe ich das Gefühl, irgendwann braucht man in einem Raum nur noch zu atmen,
dann können Forensiker genau sagen, erstens was man gegessen hat, zweitens wer
man ist und drittens mit welchem Auto man zum Tatort gefahren ist. So empfindlich
können die Messgeräte werden. Darüber werde ich später noch sprechen, wenn es
um die Rekonstruktion von historischen Ereignissen geht.
Physiker machen also Experimente und Beobachtungen, und das am besten – das
wird auch immer wieder gefordert – in nachvollziehbarer Form, vor allen Dingen in
wiederholbarer Form. D. h. Experimente müssen an jedem Punkt, zu jeder Zeit im
Universum immer wieder das gleiche Ergebnis bringen. Einen gewissen
Fehlerkorridor kann man zulassen, aber in diesem Fehlerkorridor muss das
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Messergebnis drin sein. Wenn man z. B. die elektrische Elementarladung misst,
muss das immer den gleichen Wert ergeben. Es darf nicht großartig schwanken, es
darf nicht um den Faktor 2 oder 3 schwanken, das wäre eine Katastrophe.
Schließlich handelt es sich bei der elektrischen Elementarladung um eine
Naturkonstante, eine größere Schwankung wäre fatal.
Überall reproduzierbar bedeutet, das Experiment hat keine Geschichte, es ist immer
gleich, es herrscht Geschichtslosigkeit. Das heißt, was die Physik uns anbieten kann,
sind Experimente, die sehr genau überprüft haben, was eine Theorie vorhergesagt
hat. Zwei wunderbare Theorien, die als Paradebeispiel gelten können, sind die
Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Die Relativitätstheorie beschreibt die
Rolle der Gravitation im Universum, die Rolle der Lichtgeschwindigkeit, also dass es
keine Geschwindigkeiten gibt für die Informationsübertragung, die größer sein
können als die Lichtgeschwindigkeit. Kleine Randbemerkung: Besonders die
spezielle Relativitätstheorie von Albert Einstein müsste heißen: die Theorie von der
absoluten Lichtgeschwindigkeit. An ihr lässt sich vielleicht exemplarisch vorführen,
wie Physiker bei der Entwicklung von Hypothesen vorgehen. Sie machen nämlich
etwas, was man aus der Mathematik kennt, sie machen axiomatische Annahmen. D.
h. sie nehmen an, z. B. bei der Relativitätstheorie, die Lichtgeschwindigkeit sei
überall gleich, unabhängig vom Bewegungszustand der Quelle, aus der das Licht
kommt. Es ist eben nicht so, wie wir das aus unserer normalen Welt kennen: Wenn
zwei ICE-Züge mit 300 km/h aufeinander zurasen, dann ist deren
Relativgeschwindigkeit 600 km/h. Und wenn zwei Lichtstrahlen aufeinander zurasen
– der eine mit 300.000 km/sec., der andere mit 300.000 km/sec. – dann ist die
Relativgeschwindigkeit 300.000 km/sec. Da sagt der Verstand, das kann doch nicht
sein. Das liegt daran, weil wir uns normalerweise mit solchen Geschwindigkeiten
nicht auskennen.
Die Mathematik allerdings kennt sich damit aus. Und als Albert Einstein 1905 diese
Theorie entwickelte, ging es um Experimente, die man bis dahin nicht verstanden
hat. Nehmen wir mal an, die Lichtgeschwindigkeit ist eine Konstante und völlig
unabhängig vom Bewegungszustand der Quelle. Dann kommen so merkwürdige
Dinge heraus wie Zwillingsparadoxon, Zeitdilitation, Längenkontraktion und übrigens
auch die große Formel: e=mc2. Was für Folgen hat das? Diese kleine Theorie, die
man als spezielle Relativitätstheorie kennt und die wirklich heißen müsste: die
Theorie von der absoluten Lichtgeschwindigkeit, hatte katastrophale Folgen für das
20. und möglicherweise auch für das 21. Jahrhundert. Aber dazu kommen wir später.
Worauf ich hier hinaus will ist: Die Physik macht Annahmen und schlussfolgert. Diese
Schlussfolgerungen sind genau die Folgerungen, die später in Vorhersagen
umgemünzt werden. Auf diese Art und Weise wurde die spezielle Relativitätstheorie
immer und immer wieder überprüft, die allgemeine Relativitätstheorie, also die
Theorie der Gravitation, wurde immer und immer wieder überprüft. Neutronensterne,
schwarze Löcher – alles das lässt sich mit allgemeiner Relativitätstheorie wunderbar
beschreiben. Diese Theorie ist womöglich die größte Geistesleistung, die jemals ein
Mensch hervorgebracht hat.
Denn das Prognosepotenzial dieser Theorie ist so ungeheuerlich groß, man findet
kaum Worte dafür. Die allgemeine Relativitätstheorie ist entstanden aus der Lust
Einsteins heraus, eine Theorie, die er schon entwickelt hatte, zu verallgemeinern. Es
gab also zunächst gar keinen Grund, eine so hochgradig potente Theorie zu
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entwickeln. Er hat es aber dankenswerterweise getan, und damit war ein ganz
wichtiger Eckpfeiler der Physik gesetzt.
Ganz anders die Quantenmechanik: Da hat man es mit vielen Phänomenen zu tun
gehabt im 18. und 19. Jahrhundert, die man nicht verstand, nämlich: Atome strahlen.
Sie strahlten aber nicht so, wie man es erwartet hat. Es gab immer wieder
merkwürdige Erscheinungen, z. B. dass Atome Energie offenbar in paketierter Art
und Weise abgeben, in Emissionslinien. Das Licht wurde auch verschluckt in
Linienform, das waren die Absorptionslinien. Anfang des 19. Jahrhunderts erkannte
man diese Linien zum ersten Mal im Spektrum der Sonne. Es war also vieles unklar
bezüglich des Zustands der Materie und wie Materie Licht entstehen ließ. Aus all
diesen Phänomenen wurde langsam ein Modell aufgebaut, das ursprünglich vor
2300 Jahren von griechischen Naturphilosophen entwickelt wurde, als sie sich
zunächst damit herumgeschlagen haben, es könnte ewige Elemente geben: Feuer,
Wasser, Erde. Dann haben sie aber gesagt, das hat alles keinen Wert, das ist alles
veränderlich, wir nehmen etwas, das unteilbar ist und für immer so bleibt, wie es ist:
atomos – die Unteilbaren. Und so nannten die Physiker diese Teilchen, aus denen
die Materie besteht, Atome. Und die Hypothese, die dazu in mathematischer Form
gemacht wurde, nennt man Quantenmechanik. Eine merkwürdige Theorie.
Zu ihr gibt es Sätze wie: „Wer meint, die Quantenmechanik verstanden zu haben, der
hat sie nicht verstanden.“ Oder wenn ein Student fragt: „Ja, was hat denn das alles
zu bedeuten mit der Quantenmechanik?“, gibt es amerikanische Kollegen, die sagen:
„Shut up and calculate!“ – Halt den Mund und rechne! Die Quantenmechanik ist so
gut, dass die Technik, mit der diese Sendung aufgenommen wird, auf den
Ergebnissen dieser Theorie fußt. Die gesamte digitale Elektronik des 20. und 21.
Jahrhunderts fußt auf der Erkenntnis, dass die Welt im Innersten nicht kontinuierlich
ist, sondern alles in Paketform existiert. Und zwar hat das Paket immer die Größe
des Planckschen Wirkungsquantums.
1900 hat Max Planck zum ersten Mal, wie er schrieb „unter Schmerzen“, die
Forderung aufgestellt, Energie könne nur in Paketform abgegeben werden. 1905 hat
Albert Einstein mit der Erklärung des Fotoeffekts noch hinzugefügt: „Die Energie wird
auch in Paketform aufgenommen.“ Und dann stellte man fest, dass praktisch alles
bei diesen allerkleinsten Teilchen in Paketform da ist. Und das kann ganz
merkwürdige Effekte haben, und diese merkwürdigen Effekte lassen sich aber alle
konsistent mit der Mathematik, der Quantenmechanik beschreiben. Bis hin zur
Umsetzung dieser Effekte in Form von digitaler Technologie, dem Laser
(Lichtverstärkung durch stimulierte Emission), den Kernkraftwerken und den
Atombomben – alles Quantenmechanik. Aber auch die Fusion von Atomkernen in
den Sternen.
Woher bekommen Sterne ihre Energie? Aus der Verschmelzung von Atomkernen.
Dabei wird Energie frei, soviel Energie, dass ein Stern über Jahrmilliarden strahlen
kann – so wie unsere Sonne. In ihrem Inneren werden Wasserstoff-Atomkerne zu
Helium erbrütet. Und dabei verschmelzen gleichnamige Ladungen zu einem
gemeinsamen Atomkern. Wie kann das sein? Gleichnamige Ladungen stoßen sich
doch ab. Stimmt, aber wenn eine Kraft stärker ist als diese elektromagnetische, dann
kann es eben doch passieren, und so hat die Quantenmechanik zur Entdeckung der
starken Kernkraft geführt. Das ist die Kraft, die die Atomkerne zusammenhält. Aber
auch zur Entdeckung der schwachen Kraft. Das ist diejenige, die dazu führt, dass
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Atomkerne immer wieder zerfallen. Also große Entdeckungen, weil eine große
Theorie existiert.
Die Astronomen, die Entdeckungen gemacht haben über die Expansion des
Universums, gehen davon aus, dass die Naturgesetze, die wir von der Erde kennen,
überall im Universum gültig sind – sie haben nämlich entdeckt, dass die Strahlung
hier unten auf der Erde in einem bestimmten Frequenzbereich der
elektromagnetischen Energie sitzt, dass das bei sehr weit entfernten Galaxien ganz
anders ist, da befindet sich die Strahlung nämlich im roten Bereich (rotes Licht hat
eine größere Wellenlänge und eine kleinere Frequenz; blaues Licht hat eine
niedrigere Wellenlänge, dafür eine höhere Frequenz), deswegen spricht man von der
Rotverschiebung. Diese Entdeckung stammt aus den 20er-Jahren des 20.
Jahrhunderts. Kurz nachdem man übrigens festgestellt hatte, dass die Milchstraße
nicht die einzige Milchstraße im Universum ist. Bis 1923 war völlig unklar, ob es
neben unserer Milchstraße noch eine andere Galaxie gibt. Aber Edwin Hubble hat es
mittels der Rotverschiebung dann entdeckt. Er hat das Universum in ein
unvorstellbares Ausmaß vergrößert. Auf einmal waren all die Nebel, von denen man
dachte, sie gehörten zur Milchstraße, Galaxien. Und aus dem Universum, was eben
noch ein paar Hunderttausend Lichtjahre groß war, wurde eins, was Milliarden und
Abermilliarden Lichtjahre groß ist. In diese Zeit fallen auch all die Entdeckungen über
die Struktur der Materie.
Und in diese Zeit fällt auch die Idee: Wenn das Universum einmal so klein gewesen
sein könnte wie ein Atomkern, dann galten auch damals schon die Gesetze der
Physik. Physiker könnten also damit beginnen, historische Abläufe zu rekonstruieren,
denn an jeder Stelle im Universum haben zu jedem Zeitpunkt ja schon immer diese
Naturgesetze gegolten.
Wir alle, Sie und ich, bestehen zu 92 Prozent aus Sternenstaub. Unser
Sonnensystem ist vor 4,567 Milliarden Jahren entstanden. Aber wie? Woher kann ich
wissen, dass die Erde und das Sonnensystem so alt sind? Wegen der Augenzeugen
von damals: die Atomkerne. Es geht um die radioaktiven Isotope, die genau in dem
Material drinstecken, das wir heute manchmal in den Händen halten und das als
Urstoff des Sonnensystems gilt, den Meteoriten. Es handelt sich um das am
wenigsten veränderte Material aus dem Sonnensystem und das kann uns etwas
erzählen darüber, was damals passiert sein muss, wenn die Naturgesetze damals
schon die gleichen waren wie heute und wenn die Naturgesetze, die wir von der Erde
kennen, überall im Universum galten und gelten, was passiert sein muss, damit die
Zusammensetzung der Materie so ist, wie wir sie heute finden. Da kommen jetzt die
Kernphysik und die Elementarteilchen ins Spiel. Man kann nämlich aus den
Meteoriten zum Beispiel ablesen, dass ein Stern explodiert sein muss, der 25 Mal so
schwer gewesen ist wie die Sonne, in einem Abstand weniger als ein Lichtjahr von
dem Ort entfernt, an dem eine Gaswolke unter ihrem eigenen Gewicht
zusammengefallen ist, aus der dann später das Sonnensystem werden sollte.
Eine Supernova ist ein Stern, der die gesamten Elemente des Periodensystems
erbrütet hat und der unter seinem eigenen Druck explodiert ist; während der
Explosion sind alle Elemente entstanden, die schwerer sind als Eisen. Dieser Stern
musste so nah an der Wolke explodieren, weil die Häufigkeit dieser Elemente in den
Meteoriten heutzutage noch so hoch ist, dass es einer solchen Sternexplosion
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bedurfte und alle Planeten, die entstanden sind, mal abgesehen von den
Gasplaneten Jupiter und Saturn, sind reine Sternmaterie.
Wenn man sich die Frage nach der Stabilität unseres Sonnensystems stellt, kommt
man noch zu ganz anderen Kräften. Bis jetzt war nur von Kräften die Rede, die die
Materie zusammenhalten. Aber was hält das Sonnensystem zusammen? Die
Gravitation. Sie hält uns ja auch auf dem Boden. Aber wie konnte es sein, dass
4,567 Milliarden Jahre lang mit unserem Sonnensystem nichts passiert ist? Auch hier
kann uns die Physik helfen mit ihrer Vorstellung, die Naturgesetze, die wir kennen,
haben schon immer gegolten. So kann die Physik sagen, einiges ist eben nicht
passiert, z. B. ist kein Stern in geringer Entfernung am Sonnensystem
vorbeigeflogen. Denn wenn einer vorbeigeflogen wäre – Massen ziehen Massen an
– dann wären die Planeten aus ihren Bahnen gerissen worden und uns würde es
nicht geben.
Was auf diesem Planeten alles passiert ist, das muss man sich mal klarmachen: die
Entstehung des Planeten selbst, die Entstehung des Mondes – alles das können
Physiker rekonstruieren, alles mit der Annahme, die Materie hätte schon immer diese
Zusammensetzung gehabt, die sie heute hat, sie besteht also aus all den Elementen,
die wir kennen, und hat sich schon immer nach den Kräften richten müssen, die wir
heute kennen, und nach den Prozessen, die wir jetzt langsam in den letzten 400
Jahren beginnen zu begreifen. Und 400 Jahre sind ja angesichts von 4,567
Milliarden Jahren Erdgeschichte so gut wie nichts. Es gibt eine Bioform, eine
Lebensform auf unserem Planeten, die innerhalb von wenigen Jahrhunderten nicht
alle, aber viele Rätsel der Natur gelöst hat. Es geht um den Menschen. Und wie hat
diese Bioform das gemacht? Indem sie immer wieder Hypothesen aufgestellt und
Experimente gemacht hat. Diese Experimente haben viele Hypothesen gekillt,
andere sind übrig geblieben.
Und so stehen wir heute vor einer Wissenschaft, die nicht nur untersucht, wie die
Materie aufgebaut ist und wie das Universum funktioniert, sondern sie kann auch
Altersbestimmungen vornehmen mit radioaktiven Elementen, sie kann sagen, wie
und wann die Erde entstanden ist. Möglicherweise wird sie in Zukunft viel dazu
beitragen können, zu erklären, wie das Leben auf unserem Planeten entstanden ist.
Sie ermöglicht uns sogar, unseren Planeten zu verlassen, zurückzublicken und die
Erde vor der riesigen Schwärze des Universums zu sehen, um festzustellen, was für
ein Paradies dieses Universum da für uns geschaffen hat.
Teil 2, Sonntag, 28.12.2014, 8.30 Uhr
Teil 3, Donnerstag, 01.01.2015, 8.30 Uhr
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Zum Autor:
Harald Lesch lehrt theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität
München; seine Forschungsschwerpunkte sind: Schwarze Löcher, Neutronensterne
und kosmische Plasmaphysik. Lesch ist Fachgutachter für Astrophysik bei der DFG
und Mitglied der astronomischen Gesellschaft. Im Juni 2005 wurde ihm von der DFG
der Communicator-Preis verliehen. Dieser persönliche Preis wird an
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, die sich in hervorragender
Weise um die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in die Öffentlichkeit
bemüht haben. Harald Lesch ist Moderator der ZDF-Fernsehsendung „Abenteuer
Forschung“.
Bücher (Auswahl):
- Urknall, Weltall und das Leben. (zus. Mit Josef M. Gaßner). Komplett-Media.
- Sterne – Wie das Licht in die Welt kommt. (zus. mit Jörn Müller). Goldmann-Verlag.
- Quantenmechanik für die Westentasche. Hörbuch. Legato-Verlag;
- Physik für die Westentasche. Legato-Verlag.
- Kosmo-Logisch. Vorlesungen von Harald Lesch. (3 DVDs). Komplett-Media.
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