einführung - Franz Steiner Verlag

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EINFÜHRUNG
Christian Forstner
In der traditionellen Sichtweise wurde „Physik und Dialektischer Materialismus“
häufig mit der ideologischen Beeinflussung von Physikern in den ehemaligen
Ostblockstaaten, insbesondere der Sowjetunion, gleichgesetzt, häufig als eine
physikalische Spielart des Lyssenkoismus.
Dieser Fokus des Jahrbuchs für europäische Wissenschaftskultur setzt sich als
Ziel, diese überkommene Sichtweise in den hier abgedruckten vier Beiträgen zu
durchbrechen. Die Umwälzungen in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts
durch die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik brachen mit den in der
klassischen Mechanik des 19. verhafteten Rationalitätsvorstellungen nicht nur der
meisten Physiker, sondern auch philosophisch galt es diese Revolutionen neu zu
verstehen. So ließ sich der junge Werner Heisenberg nach Aufstellung seiner Unschärferelation zu der Feststellung hinreißen, dass das Kausalitätsgesetz nun definitiv ungültig sei. 1 Deshalb verwundert es nicht weiter, dass auch „Marxisten“
ihre Kritik an diesen Brennpunkten ansetzten und sich um eine Reformulierung
oder Neuformulierung der Theorien im Sinne des Dialektischen Materialismus
bemühten. Der Begriff „Marxisten“ ist hier bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn die Vielzahl der unterschiedlichen Spielarten des Marxismus, ebenso
die an Varianten reichen Verinnerlichungen marxistischer Philosophie in der
Weltanschauung der historischen Akteure, lässt eine pauschale Bezeichnung dieser Akteure als „Marxisten“ kaum zu. Dies wird in allen vier Beiträgen in diesem
Schwerpunkt deutlich, der eben aus diesem Grund auch den Titel „Physics and
Dialectical Materialism“ und nicht Physik und Marxismus trägt.
Kritisch zu sehen ist natürlich die Zahl von Physikern, die sich zu dialektischen Materialismus bekannten. In der Sowjetunion blieb nach der Oktoberrevolution blieb die Kontrolle der wissenschaftlichen Institutionen blieb fast gänzlich
in den Händen der vorrevolutionären Akademiker. So gab es bis Januar 1929 kein
Mitglied der Akademie der Wissenschaft, welches gleichzeitig Mitglied der
kommunistischen Partei war. 2 Im Jahr 1930 gab es in der Sowjetunion etwa
25.000 Wissenschaftler, davon waren ca. 1.000 Physiker. Von diesen 1.000 Phy-
1
2
Werner Heisenberg, „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und
Mechanik“, Zeitschrift für Physik 43 (1927): 172–198; Werner Heisenberg, „Über die
Grundprinzipien der Quantenmechanik“, Forschungen und Fortschritte 3 (1927): 83.
Loren R Graham, Dialektischer Materialismus und Naturwissenschaften in der UdSSR
(Frankfurt am Main, 1974), S. 17–25; Helge Kragh, Quantum Generations. A History of
Physics in the Twentieth Century (Princeton, 1999), S. 240ff.
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sikern waren nur 44 Mitglieder der KPdSU. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre
setzte eine ambitionierte Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagne ein.
Der Bruch in den Jahren 1927–29 ging einher mit einer industriellen, landwirtschaftlichen und kulturellen Revolution. Auf dem kulturellen Bereich wurde das
Personal von wissenschaftlichen und pädagogischen Institutionen einer politischen Prüfung unterzogen. Im schlimmsten Fall hatte dies die Entlassung der jeweiligen Person zur Folge. Ebenso versuchte man in den Jahren 1929–32 die
Akademie der Wissenschaften einer verstärkten politischen Kontrolle zu unterwerfen. Dennoch gab es keine Versuche von Seiten der Partei, den Physikern eine
verpflichtende ideologische Interpretation vorzuschreiben. Mit dem Übergang der
20er/30er Jahre zeigten sich aber auch erste Tendenzen, Elemente naturwissenschaftlicher Theorien als „bourgeois,“ „idealistisch“ oder als „machistisch“ zu
brandmarken. Vor dem II. Weltkrieg hatten die sowjetischen Physiker ähnliche
Auffassungen von der Quantenmechanik wie die fortschrittlichen Physiker anderer Länder. Die Arbeiten Bohrs und Heisenbergs hatten bedeutenden Einfluß. Die
Physiker sprachen selbst von einem „russischen Zweig der Kopenhagener Schule.“ Zu diesem Zweig zählten Matwej P. Bronstein, Lew D. Landau, Igor E.
Tamm, Abraham F.X. Joffe und Wladimir A. Fock. 3 Die Gruppe der Kritiker der
Quantentheorie und der Kopenhagener Interpretation lässt sich grob in zwei Untergruppen teilen: Erstens, die Gruppe der älteren Physiker, die die Ergebnisse der
modernen Physik gänzlich ablehnte und, zweitens, die Gruppe von Physikern und
Philosophen, die die Ergebnisse der Quantentheorie anerkannten, aber die ihrer
Ansicht nach idealistische Kopenhagener Interpretation ablehnte. 4 Für die erste
Gruppe lassen sich ähnliche Muster wie bei der völkischen und antisemitischen
Deutschen Physik mit ihren Hauptprotagonisten Philip Lenard und Johannes Stark
festmachen. Es handelte sich um eine Gruppe von Wissenschaftlern, die nicht
gewillt oder in der Lage waren, sich den neuen Theorien anzuschließen und daher
im Bündnis mit den totalitären Machthabern versuchten an der mechanistischen
Physik des 19. Jahrhunderts festzuhalten. 5 Ihnen gelang es partiell, die Anhänger
der modernen Physik unter Druck zu setzen, Auswirkungen auf die Theoriebildung hatten sie jedoch keine. Für die zweite Gruppe gilt Ähnliches, zumeist fehlten ihnen die notwendigen physikalischen Kenntnisse, um tatsächlich Einfluss auf
die Theorien zu nehmen. Der zweite Weltkrieg und der damit verbundene Zwang
zu einer Kriegsrationalität beendete die Versuche einer politischen Einflussnahme
auf die Physik. Nach einem kurzen Aufflammen der Diskussion in den Jahren
1947/1948 beendete Stalins Tod 1953 und Chruschtschows Verurteilung der stalinistischen Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 die An-
3
4
5
Graham, Dialektischer Materialismus und Naturwissenschaften in der UdSSR; Gennady
Gorelik, „Meine antisowjetische Tätigkeit“. Russische Physiker unter Stalin (Braunschweig,
1995).
Gorelik, „Meine antisowjetische Tätigkeit“. Russische Physiker unter Stalin, S. 136–153.
Vgl. Steffen Richter, „Die ‚Deutsche Physik‘“, in Naturwissenschaft, Technik und NSIdeologie, hg. von Herbert Mehrtens und Steffen Richter (Frankfurt am Main, 1980), 116–
141.
Einführung
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griffe und eine Öffnung der Debatte um die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie trat ein. 6
Nach Stalins Tod beteiligten sich die Anhänger des dialektischen Materialismus in Ost und West an einer zweiten Debatte, um die Frage wie die Umwälzungen in der modernen Physik zu verstehen seien. In wenigen Fällen gelangten sie
zu eigenständigen Theorien, wie im Falle des amerkanischen Physikers David
Bohm. Ihr wesentlicher Beitrag liegt vielmehr darin, dass sie den „Finger in die
offene Wunde“ legten und auf Schwächen der Standarddeutung hinweisen und
deren Vertreter zu einer Spezifizierung ihrer Standpunkte zwangen. Dies zeigen
auch die Beiträge in diesem Schwerpunkt. Olival Freire untersucht in seinem Beitrag den Beitrag marxistischer Wissenschaftler in der Debatte um die Quantentheorie. Dabei rückt auch die Rolle westlicher Marxisten, wie die von David Bohm 7
oder dem Franzosen Jean-Pierre Vigier in den Vordergrund. Zentral war dabei das
Verständnis des Kollapses der Wellenfunktion beim Quantenmechanischen Messprozess. Die quantenmechanische Wellenfunktion beschreibt den Zustand eines
Quantensystems als eine Überlagerung von möglichen Eigenzuständen des Systems. Erst beim Messprozess wird durch die Beobachtung einer dieser möglichen
Zustände realisiert. Dies erscheint zunächst paradox und veranlasste Erwin
Schrödinger in seinem berühmten Gedankenexperiment 1935 zu der Frage, ob die
Katze nun tot oder lebendig sei wenn sie nicht beobachtet wird. 8 Quantenmechanisch ist sie beides gleichzeitig, eine Überlagerung der beiden makroskopischen
Zustände tot und lebendig. Existieren wohldefinierte Zustände materieller Systeme unabhängig vom Bewusstsein des Beobachter oder müssen verborgene, nicht
beobachtbare Parameter in die Quantenmechanik eingeführt werden, um sie zu
einer vollständigen Theorie zu machen, wie Einstein, Podolsky und Rosen ebenfalls 1935 fragten? 9 Niels Bohr verneinte diese Frage und stellte das 1927 von ihm
aufgestellte Komplementaritätsprinzip dagegen: Unsere Sprache muss sich notgedrungen unzureichender klassischer Begriffe bedienen, um die quantenmechanischen Phänomene zu beschreiben. So kommt es unweigerlich zu scheinbar widersprüchlichen Begriffspaaren wie Welle und Teilchen, Ort und Impuls oder tot und
lebendig. 10 Bohrs Schüler Leon Rosenfeld sah als Marxist in diesem Begriffspaaren die dialektische Einheit der Gegensätze realisiert, wie Anja Skaar Jacobsen in
ihrem Beitrag zu Rosenfeld ausführt. Rosenfelds Herangehen unterschied sich
grundsätzlich von dem Bohms: Während für Bohm der dialektische Materialismus
eine epistemologische Funktion erfüllte, so sah Rosenfeld seine Aufgabe darin,
die „wahre“ Kopenhagener Deutung seines Lehrers im Einklang mit dem dialekti6
S. Müller-Markus, „Niels Bohr in the Darkness and Light of Soviet Philosophy“, Inquiry 9
(1966): 73–93.
7 Christian Forstner, Quantenmechanik im Kalten Krieg. David Bohm und Richard Feynman
(Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 2007).
8 Dieter Hoffmann, Erwin Schrödinger (Leipzig, 1984).
9 Albert Einstein, Boris Podolsky, und Nathan Rosen, „Can Quantum-Mechanical Description
of Physical Reality Be Considered Complete?“, Physical Review 47 (1935): 777–780.
10 Niels Bohr, „Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung in der Atomistik“, Die Naturwissenschaften 16 (1928): 245–257.
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schen Materialismus zu verstehen. Eine ähnliche epistemologische Funktion sehen wir auch bei der Deutung von Quantenensemblen, wie Alexei Kojevnikov in
seinem Beitrag darlegt. Wirken mehrere Quanten in einem Ensemble, wie in einem Plasma, gemeinsam so zeigen sich neue „kollektive“ Phänomene, die sich
beim individuellen Quantenteilchen nicht zeigen. Dies regte in West wie Ost marxistische Physiker zu neuen Deutungen der Theorie an. In einem abschließenden
Beitrag von László Székely über den ungarischen Physiker Lajos Janossy verlassen wir schließlich die Welt der Quanten und wenden uns der Relativitätstheorie
zu, die Janossy durch ein klassisches, mechanistisches Modell ersetzen wollte.
Damit zeigen die vier hier versammelten Beiträge mehr als die ideologische Beeinflussung von Physikern und ihrer Theorien. Vielmehr werden grundsätzliche
Fragen der Theoriegenese aufgeworfen. Existiert tatsächlich ein unabhängiger
mathematischer Formalismus, der in Übereinstimmung mit den experimentellen
Fakten noch physikalisch interpretiert werden muss, oder wirken die erkenntnistheoretischen Konzeptionen der Akteure nicht bereits von Beginn an als essentieller Bestandteil mit in die Konstruktion der Theorie mit ein? Dass dies der Fall ist
wurde an zahlreichen Beiträgen zur Genese der modernen Quantenmechanik,
ebenso wie bei der Diskussion um die alternativen Ansätze zu Standarddeutung
gezeigt. 11
Die vorliegenden Beiträge sollen zu dieser Diskussion ermuntern. An dieser Stelle
sein insbesondere den Herausgebern Olaf Breidbach und Stefano Poggi gedankt,
die die Publikation dieses Schwerpunkts ermöglicht haben, ebenso den vier Autoren, die zu dieser Diskussion beigetragen haben.
Kontakt:
Dr. Christian Forstner
IGMNT „Ernst-Haeckel-Haus“
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Berggasse 7
07745 Jena
[email protected]
11 Mara Beller, Quantum Dialogue. The Making of a Revolution (Chicago, 1999); Mara Beller,
„The birth of Bohr’s complementarity. The context and the dialogues“, Studies in History and
Philosophy of Science 23 (1992): 147–180; Forstner, Quantenmechanik im Kalten Krieg.
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