Fabulierkunst der Töne

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Musikfreunde | Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Mai/Juni 2017
Fabulierkunst der Töne
Wenn Musik Geschichten erzählt
Reden kann man viel, Erzählen aber ist eine Gabe – gerade dann, wenn man Klänge sprechen lässt wie im
ausgehenden 19. Jahrhundert eine ganze Generation von Komponisten. Florian Zeuner hat sich dazu Gedanken
gemacht.
Wenn es einen Archetyp auf dem Gebiet der Erzählkunst geben sollte, dann wäre das ohne Frage die Figur der
Scheherazade. Allein mit ihren fantasiereichen Geschichten, die just im Morgengrauen ihre größte Spannung
erreichen, hält die jungfräuliche Tochter des Wesirs König Schahriyâr davon ab, sie wie ihre Vorgängerinnen nach der
Hochzeitsnacht aus Angst vor Untreue enthaupten zu lassen. Jahrhunderte später muss auch der russische
Komponist Nikolai Rimskij-Korsakow ihren Märchen aus 1001 Nacht verfallen sein. Denn in ihrem Namen macht er
sich auf, das Fabulieren in Tönen für sich zu ergründen.
Enge Bande
Das war durchaus keine Selbstverstänadlichkeit, denn das Sujet des Erzählens fristete in der klassischen
Instrumentalmusik lange Zeit ein Schattendasein. Zu Unrecht, wie der Blick auf die Historie zeigt. Das Naheverhältnis
von Musik und Erzählung ist seit jeher Teil menschlichen Zusammenlebens. Auf der ganzen Welt findet sich keine
einzige Kultur, die ohne das eine oder das andere ausgekommen wäre. Mehr noch: Ihre vielfältigen
Erscheinungsformen beschleunigten den Aufstieg und Fall ungezählter Gesellschaften. Weder Arm noch Reich,
weder Jung noch Alt konnten sich der Wirkmacht dieser beiden ewig währenden Kunstformen entziehen.
Nicht selten gingen sie sogar eine reizvolle Symbiose ein. So prägte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert der
Bänkelsang über alle Landesgrenzen hinweg den europäischen Kontinent. Sänger, Dichter und Instrumentalisten in
Personalunion erfüllten essenzielle Funktionen des täglichen Lebens. Als Unterhalter, Chronisten und lebendige
Tageszeitungen bedeuteten sie Zugang zu Information und Wissen für die Bevölkerung.
Zeitenwende
Gerade als der Bänkelsang in Europa aber auszusterben begann, gelang dem narrativen Element in der klassischen
Musik der entscheidende Befreiungsschlag. Der Absolutheitsanspruch, dass Inhalt und Gegenstand von ernsthafter
Musik allein „tönend bewegte Formen“ seien, wie ihn 1854 der Wiener Musikkritiker und spätere Ästhetikprofessor
Eduard Hanslick formulierte, galt vielen bereits damals als überkommen. Ausgehend von Franz Liszts Vision einer
poetischen Idee in der Musik etablierte sich stattdessen mit der symphonischen Dichtung weltweit eine neue
Gattung der Instrumentalmusik. Fortan war das Erzählen in Musik in aller Munde – im positiven wie im negativen
Sinne.
Doch warum kam es gerade in der Romantik zu dieser Entwicklung? Vermutlich, weil in der Musik kurz zuvor ein
echtes Geschichtsbewusstsein entstanden war. Noch bis tief in die Wiener Klassik hinein galt der Blick zurück als
mehr oder minder überflüssig. Dem Publikum dürstete vielmehr nach Novitäten. Nur wenigen Kennern waren Werke
bereits verstorbener Komponisten überhaupt geläufig. Das änderte sich durch Felix Mendelssohn Bartholdy
entscheidend. Mit 20 Jahren kaum der Jugend entwachsen, führte er 1829 die längst in Vergessenheit geratene
„Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach auf: eine Erfolgsstory und im wahrsten Sinne des Wortes ein
geschichtsträchtiges Ereignis. Denn von Stund an wurde alle Musik dem bloßen Dasein im Hier und Jetzt entrissen
und in einen größeren Kontext gestellt.
Erzählerische Freiheiten
Darin liegt auch der besondere Zauber der Erzählung. Wie keine zweite Kunstform basiert sie auf der Vereinigung
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wie einst Günter Grass das Bild vom Häuten der Zwiebel für seine
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Autobiographie wählte, so ist es das Geschichtete einer Geschichte, das ihre Faszination ausmacht. Jede Erzählung
fußt auf einer anderen Erzählung, und jede Erzählung wird eines Tages die Basis für eine neue sein. Es gibt kaum
Formalien, die sie fesseln. Ob mündlich oder schriftlich, lang oder kurz, fiktiv oder faktentreu, spontan improvisiert
oder publiziert, all das spielt keine Rolle, wenn es darum geht zu beurteilen, was eine Erzählung ausmacht.
Entscheidend ist vielmehr ihre radikale Subjektivität. Denn erst durch den Akt individuellen Formulierens geht das
Erzählen über eine allgemeine Informationsweitergabe hinaus.
Musik für Bilder?
Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts wider. Da wären zum Beispiel die
„Bilder einer Ausstellung“ zu nennen. Anders als der Titel vielleicht glauben macht, handelt es sich hierbei um weit
mehr als reine Klangmalerei oder bloße Programmmusik. Die Inspiration zu seiner Komposition überkam Modest
Mussorgskij 1874 bei einer Gedächtnisausstellung zu Ehren des im Jahr zuvor verstorbenen Malers und Architekten
Viktor Hartmann. Die beiden Künstler hatte eine enge Freundschaft verbunden, die durch das plötzliche Ableben des
39-Jährigen jäh beendet wurde. Für Mussorgskij dürfte der Blick auf die Motive daher weit mehr ausgelöst haben, als
der vordergründige Inhalt vermuten lässt. Und so flossen in die vielfältigen Geschichten der in Töne gesetzten
Gemälde fast zwangsläufig auch zahlreiche persönliche Anekdoten und Erinnerungen mit ein. Eine ganz eigene
Erzählung brach sich Bahn.
Ringen um Fassungen
Ursprünglich schrieb Mussorgskij seine „Bilder einer Ausstellung“ als Klavierzyklus, doch am geläufigsten ist uns
heute nicht sein Original, sondern die Orchesterfassung. Oder besser gesagt eine der vielen, nämlich die von Maurice
Ravel aus dem Jahr 1922. Bereits vor ihm hatten sich Komponistenkollegen an Bearbeitungen versucht, und auch
danach blieb die farbenreiche Musik für Tonsetzer von Leopold Stokowski bis Vladimir Ashkenazy ein Faszinosum.
Doch gerade diese Vielfalt der Erzählungen bleibt dem Publikum für gewöhnlich vorenthalten, obwohl das Werk zu
den meistgespielten auf der Konzertbühne überhaupt zählt. Ganz zu schweigen von den Grenzen sprengenden
Bearbeitungen für kleinere Besetzungen. Dabei muss gar nicht bis zur kühnen Adaption des britischen Prog-RockTrios Emerson, Lake and Palmer gegangen werden. Bereits die Bearbeitung für Klavier, Violine, Viola und Violoncello,
die das Fauré Quartett im Musikverein präsentiert, bringt auf bezaubernd leichte Weise ungehörte Facetten des
wohl berühmtesten Museumsbesuchs der Musikgeschichte zum Klingen.
Der Kuss der Muse
Einer der nach ersten Versuchen von einer Bearbeitung der „Bilder einer Ausstellung“ absah, war Nikolai RimskijKorsakow. Eigentlich erstaunlich, schließlich orchestrierte der gute Freund Mussorgskijs zahlreiche seiner Werke und
war ihm auch sonst ein wichtiger Berater. Vielleicht hatte zu diesem Zeitpunkt Scheherazade bereits zu stark von ihm
Besitz ergriffen. Wie lange die Idee einer Vertonung durch seinen Kopf geisterte, wissen wir nicht. Doch dass RimskijKorsakow schon weit vor der Komposition seiner „Symphonischen Suite nach 1001 Nacht“ im Jahr 1888 eine
regelrechte Passion für den Stoff entwickelt hatte, ist durch eigene Aussagen belegt. Nacht für Nacht, so möchte
man es sich vorstellen, besuchte ihn die berühmte Märchenerzählerin, bis er endlich damit begann, sein späteres
Opus Magnum zu schreiben. Die damals in Russland verbreitete Orientmode muss ihr Übriges dazu beigetragen
haben, eine musikalische Annäherung zu wagen.
Die unendliche Geschichte
Orientalismen sucht man in der Musik allerdings vergeblich. Und auch sonst geht Rimskij-Korsakow in seiner
Komposition sehr frei mit der literarischen Vorlage um. In seiner Vorstellung müssen die Märchen zu einem ganz
individuellen Kaleidoskop verschwommen sein. Denn die allzu konkrete Verquickung bestimmter Tonfolgen mit
einzelnen Episoden oder Charakteren seitens des Publikums lösten bei ihm solches Unbehagen aus, dass er selbst die
vagen Quellenverweise in den Satzbezeichnungen noch vor Veröffentlichung der Partitur wieder zurückzog. Eine
Maßnahme, die wenig später auch Richard Strauss in seinen Tondichtungen zuweilen zupasskam.
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Hierbei offenbart sich ein Phänomen, das gerade beim Erzählen in Musik besonders zum Tragen kommt. Im
Gegensatz zu Michelangelos David sind Klänge keineswegs in Stein gemeißelt. Töne erweisen sich auch als weitaus
flexibler als Worte und eröffnen so einen schier endlosen Horizont an Lesarten und Deutungsmöglichkeiten. Bei
jedem Konzert wird daher wieder neu erzählt. Von einem anderen Orchester, einem anderen Dirigenten und vor
einem anderen Publikum. Und nie geht die Geschichte gleich aus.
Florian Zeuner
MMag. Florian Zeuner ist Musikwissenschaftler sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaftler. Beruflich widmet er
sich den vielfältigen Formen der Konzertdramaturgie.
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