Leseprobe - Subjekte und Gesellschaft

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Online-Leseprobe aus:
Ulrich Wenzel/Bettina Bretzinger/Klaus Holz (Hg.),
Subjekte und Gesellschaft. Zur Konstitution von Sozialität,
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003.
ISBN 3-934730-65-5
Alfons Bora
»Whatever its causes« – Emergenz,
Koevolution und strukturelle Kopplung
»We would expect structural
change to become evident at
this point, whatever its causes.«
Parsons
www.subjekte-und-gesellschaft.de
Urheberrechtlich geschützt.
© Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003.
www.velbrueck-wissenschaft.de
Eine digitale Ausgabe dieses Buches in Form einer text- und
seitenidentischen PDF-Datei ist im Verlag Humanities Online
erschienen: www.humanities-online.de
1. Einleitung
Vor dem Hintergrund des rasanten Aufschwungs der »life sciences« hat
im Jahr 2001 eine publizistische Auseinandersetzung zwischen dem
Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl und Wolfgang
Frühwald, dem Präsidenten der Alexander von Humboldt-Stiftung,
eher unvermutet ein altes soziologisches Thema ins Rampenlicht der
Öffentlichkeit gerückt. Die Auseinandersetzung der beiden Wissenschaftler über die in Deutschland umstrittene Stammzellenforschung
mündete in einen Disput über das Menschenbild einer sich mit der
rasanten Entwicklung von Biotechnologie und Gentechnik in gesteigerter Form revolutionierenden Moderne. In dieser Kontroverse ging es
immer auch um die Frage, welchen Anteil die genetische Ausstattung
am Verhalten von Menschen und an sozialen Phänomenen hat. Diese
Frage läuft letztlich auf den Streit darüber hinaus, ob gesellschaftliche
Lebensformen über Determination oder Emergenz zu erklären seien. In
Gestalt der Soziobiologie und der ethologisch begründeten »Verhaltenswissenschaften« war sie in den letzten Jahrzehnten eher am Rande mitgeführt worden, hat aber in jüngerer Zeit – unter anderem bedingt
durch theoretische Absetzbewegungen von Rational-Choice-Ansätzen
in den USA1 – wieder an Aufmerksamkeit gewonnen.
Die Emergenz-Debatte berührt ein sozialwissenschaftliches Forschungsgebiet, dem sich Günter Dux seit Jahrzehnten kontinuierlich
und wie kein anderer gewidmet hat: die Entstehung kultureller, sinnhaft
strukturierter Lebensformen in einer nicht sinnbestimmten natürlichen
Welt. Dux hat seine Arbeiten im Rahmen einer soziologischen Anthropologie angesiedelt. Von der »Logik der Weltbilder« bis zur »Histo1 Dies zeigt am Beispiel der Rechtsethologie M. Gruter, Law and the mind;
zur allgemeinen Entwicklung siehe vor allem auch P. Weingart u. a., Human by Nature.
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alfons bora
emergenz, koevolution und strukturelle kopplung
risch-genetischen Theorie der Kultur« kreisen seine Schriften um die
Frage nach den Bedingungen und Mechanismen des Entstehens von
soziokulturellen Lebensformen im Anschluß an die Naturgeschichte.2
Der folgende Beitrag untersucht die Beziehungen zwischen der soziologischen Systemtheorie und diesem sozialanthropologischen Programm vor dem Hintergrund des Emergenzproblems. Dabei wird die
Behauptung vertreten, daß in der Systemtheorie ein überzeugendes
Konzept der Koevolution noch auszuarbeiten ist, wenn das Emergenzproblem in zufriedenstellender Weise bearbeitet werden soll.
Dieser Gedanke wird in folgenden Schritten entwickelt: zunächst
wird der Begriff der Emergenz kurz erläutert (2); sodann werden Vorzüge der systemtheoretischen Struktur-Ereignis-Konzeption mit Blick auf
das Thema Emergenz dargestellt (3); daran anschließend wird die evolutionäre Bildung von strukturellen Kopplungen im Kontext der Systemtheorie problematisiert (4); abschließend folgen einige programmatische Überlegungen zur Anwendbarkeit biologischer und ökologischer
Koevolutionstheorien.
Mit seiner historisch-genetischen Theorie verfolgt Günter Dux eine
emergenztheoretische Fragestellung. Sein Ziel ist es zu erklären, wie
Menschen auf der Basis ihres anthropologischen Organisationsplans
»geistig-kulturelle Lebensformen« ausbilden und wie sich dabei »soziale Ordnungsmuster (ausbilden), die jenseits aller durch die natürliche
Umgebung abgenötigten Verhaltenszwänge liegen.«3 Dabei thematisiert
er zwei Übergänge zwischen verschiedenen Formen der Organisation
des Lebendigen. Das ist zum einen der Übergang von nicht sinnhaft
operierenden Formen des Lebens zu Lebewesen, die mit Bewußtsein
und der Fähigkeit, sich an Sinn zu orientieren, ausgestattet sind. Es geht
hier in Dux’ Begriffen um die Entstehung von Kultur aus Natur in einer
spezifisch sozialanthropologischen Perspektive. Zum anderen verfolgt
er auch ein explizit soziologisches Ziel, wenn er nach den Entstehungsbedingungen sozialer Strukturen fragt. Es geht dabei um eine Theorie
der sozialen Evolution. Beide Aspekte, der sozialanthropologische wie
derjenige der soziologischen Evolutionstheorie befassen sich mit einem
Gegenstand, welcher unter dem Stichwort »Emergenz« diskutiert wird.
Deshalb sei – gewissermaßen vor die Klammer gezogen – an die Probleme der Emergenz erinnert, wie sie vornehmlich in der Philosophie des
zwanzigsten Jahrhunderts thematisiert worden sind.4
Bereits John Stewart Mill unterschied zwei verschiedene Typen von
Ursachenzusammenhängen, nämlich einen, in dem sich die gemeinsame
Wirkung zweier Ursachen durch Addition oder Superposition ermitteln
läßt und einen, für den das nicht zutrifft. Im zwanzigsten Jahrhundert
setzte sich für Fälle dieses zweiten Typs der Begriff Emergenz durch, und
zwar vor allem in der Evolutionstheorie. C. Lloyd Morgan und C. D.
Broad beschäftigte insbesondere das Verhältnis zwischen dem Ganzen
und seinen Teilen. Das Ganze, so die emergenztheoretische Einsicht,
kann nicht aus dem vollständigsten Wissen des Verhaltens der Komponenten, einzeln oder in anderen Teilkombinationen, und ihren Anteilen
und Anordnungen in diesem Ganzen abgeleitet werden. In der Philosophie wurde der Begriff – vor allem von den britische Emergentisten
zwischen 1920 und 1960 – als ein Aspekt des Leib-Seele-Problems diskutiert, um dann zeitweilig vom Begriff der Supervenienz abgelöst zu
werden. Supervenienztheorien versuchen vor allem darzustellen, daß
zwischen Basiseigenschaften und supervenienten Eigenschaften keine
Identität angenommen werden kann, die deterministische Kausalitätsrelationen zuließe5 – und dies bei gleichzeitiger Vermeidung dualistischer
Modelle wie etwa der Leib-Seele-Differenz. Im Begriff der Supervenienz
soll vielmehr eine nichtdeterministische »Zuordnungsrelation« zum
Ausdruck kommen. Dahinter verbirgt sich freilich ein Problem, das
Castañeda als »ontischen Reduktionismus« gekennzeichnet hat: Supervenienztheorien sind reduktionistisch in bezug auf die Objekte supervenienter Eigenschaften.6 Sie lösen also das Problem nicht überzeugend,
das mit dem Begriff »Emergenz« bezeichnet worden war. Deshalb wird
in der zeitgenössischen Diskussion wieder verstärkt auf den Emergenzbegriff zurückgegriffen, um das Problem zu bezeichnen, welches in der
Erklärung des Entstehungszusammenhangs von aufeinander nicht reduzierbaren Formen des Lebens besteht.
In der Geschichte des Emergenzbegriffs ist allerdings immer wieder
sehr deutlich geworden, daß dieser Begriff an sich kaum mehr beinhaltet als eine Problemformel. Er steht als Kürzel für eine Reihe von Fragestellungen, keineswegs aber für Antworten auf diese Fragen. Hoynin-
2 G. Dux, Logik der Weltbilder; ders., Historisch-genetische Theorie der
Kultur, S. 21: »Mit dem Verständnis der Geschichte als Anschlußorganisation an eine evolutive Naturgeschichte suchen wir ein kausales Verständnis der geistigen, soziokulturellen Organisationsformen menschlichen Daseins zu gewinnen.«
3 G. Dux, Logik der Weltbilder, S. 52 f.
4 Vgl. zum folgenden A. Beckermann, Supervenience, Emergence, and Reduction; P. Hoyningen-Huene, Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination; A. Stephan, Emergenz; für die Sozialwissenschaften haben
W. Krohn und G. Küppers (Hg.), Emergenz, die Problemlagen markiert.
5 J. Kim, Concepts of Supervenience.
6 H.-N. Castañeda, Superveniente Eigenschaften, S. 288-296.
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2. Emergenz
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