Geschlechtssoziologie. in: KZfSS 66, 3

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Autor: Hericks, Katja | Gildemeister, Regine
Titel: Gildemeister Geschlechtersoz.
Medium: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
Rezensent: Schnabel, Annette
Version: 66, 3-2014, Seiten 486_488
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Geschlechtssoziologie
Gildemeister, Regine, und Katja Hericks: Geschlechtersoziologie. Theoretische
Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen. München: Oldenbourg Verlag
2012. 358 Seiten. ISBN: 978-3-486-58-39-8. Preis: € 34,80.
Annette Schnabel Schon wieder ein Band zur Geschlechtersoziologie? Seit die alte Geschlechterordnung in neue Unordnung geraten ist (Heintz und Nadai 1998) und „Geschlecht“ als
Grundbegriff der Soziologie diskutiert wird (Schwinn 2008), gibt es eine ganze Fülle
an Readern und Überblicksbüchern zum Thema, die Geschlecht mit unterschiedlichen Aspekten des Sozialen koppeln (aus einer Vielzahl von Beispielen: Wrede 2003,
Löw 2009, Mea und Saal 2014). Und jetzt gibt es auch noch den Band von Gildemeister und Hericks, der auf dem Cover einen „umfassenden Einblick in die zentralen Theorien zur Geschlechtersoziologie“ verspricht.
Zunächst richtet sich dieses Buch explizit an Leserinnen und Leser, „die so viel
Erfahrung mit Soziologie haben, dass sie wissen, wofür sie sich da interessieren“.
Darunter fallen sowohl Studierende in unterschiedlichen Stadien ihres Studiums als
auch am Thema interessierte Lehrende aus anderen Fächern.
Der Band spürt den Geschlechterverhältnissen und ihrer soziologischen Reflexion
in explizit historischer Ordnung nach und beginnt mit den Anfängen der Soziologie (namentlich mit Comte), welche mit der Aufklärung und der Etablierung des
Bürgertums zusammenfällt. Der Band folgt anschließend den Klassikern der Soziologie (u. a. Tönnies, Durkheim, Simmel und Weber) und ihren sozialen Verortungen von Geschlecht in die „Modernen Zeiten“. Hier werden auch (die sehr simpel
konstruierten) Geschlechterbilder des Nationalsozialismus nicht ausgespart. In der
Nachkriegszeit wird mit u. a. Mead und Schütz ein neuer, erweiterter Denkrahmen
für die Geschlechterverhältnisse verortet, der im Anschluss daran den Blick auf die
Entstehung der Idee der „Geschlechterrollen“ im Kulturvergleich und in strukturfunktionalistischer Perspektive eröffnet. Dieser wird kontrastiert mit soziologischen
Perspektiven auf Geschlecht in interaktiver Herstellung, die im Rahmen der Ethnomethodologie und in der Theatermetapher von Goffman prominent gemacht werden.
Im Anschluss daran begeben sich die Autorinnen mit der Zweiten Welle der Frauenbewegung auf die Suche nach Frauen in Gesellschaft und Wissenschaft und verfolgen die soziale und wissenschaftliche Sichtbarmachung von Frauen durch die sich in
dieser Zeit neu etablierende Frauenforschung (u. a. durch Beer und Gerhard). Dabei
richtet sich der Blick auch auf die wachsende Sensibilisierung für Männlichkeit und
Männlichkeiten. Ein weiteres Kapitel widmet sich der (sozial-)wissenschaftlichen
Etablierung der Frauenforschung als Geschlechterforschung und damit der soziologischen Etablierung von Geschlecht als eigenständiger soziologischer Kategorie, die
es anschließend gleich wieder zu hinterfragen gilt. Ideengeschichtlich schließt dieses
Hinterfragen an die Etablierung der „sex“/„gender“-Unterscheidung und ihrer Verwerfung, der Etablierung des linguistic turns in den Sozialwissenschaften (prominent
durch Butler), die den Blick frei gibt auf die diskursive Produktion von Geschlecht,
und der Etablierung des Konzepts des „doing gender“ als alltäglicher Praxis des
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Zurechnens und Darstellens von Geschlecht. Es ist eine der Thesen der Autorinnen,
dass hier Geschlecht als Konzept eine neue Qualität erlangt, da es epistemologisch
seine Essentialität einbüßt und Männer und Frauen (und alles dazwischen) nicht länger zwischen Gleichheit und Differenz verortet werden müssen. Das letzte Kapitel
widmet sich der Übersetzung dieser alltäglichen Praxen und der damit verbundenen
Wissens- und Sprachstrukturen in (ungleiche, segregierte) soziale Positionen, die sich
u. a. in Biographien, in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt beobachten lassen.
Obwohl sich die Autorinnen bemühen, Frauen nicht als „die mit dem Geschlecht“
zu markieren und eben nicht Geschlechterforschung und Frauenbewegung zu verbinden, ist das Buch im besten Sinne aufklärerisch, weil es für die Omnipräsenz von
Geschlecht sensibilisiert und die Frage eröffnet, wie und unter welchen Bedingungen
dies sozial relevant wird. Dabei hat der Band jedoch ein leichtes Ungleichgewicht zu
Ungunsten der „(critical) male studies“, welches allein der Gewichtung in der aktuellen geschlechtersoziologischen Literatur geschuldet ist.
Die Kapitel sind dezent, aber ansprechend und dem Lehrbuchkonzept angemessen
je mit einer kurzen Kapitelvorschau, einer Zusammenfassung, einem Schaukasten
mit Diskussionsfragen zum Weiterdenken und einer kurzen Literaturliste zur weiterführenden Lektüre versehen, die es dem Leser und der Leserin erleichtern, mit den
angesprochenen soziologischen Perspektiven weiterzuarbeiten.
Die acht inhaltlichen Kapitel werden von Einführung und Schluss flankiert, die
die zentralen Ideen des Bandes noch einmal explizit zusammenfassen: Die Autorinnen gehen davon aus, „dass auch ein ‚biologischer‘ Geschlechterunterschied
keine ahistorische Konstante darstellt, sondern Teil eines Wissenssystems ist, in
dem ‚Geschlecht‘ zu einem außerkulturellen und ahistorischen Tatbestand gemacht
worden ist“ (S. 7, Hervorhebung im Original). Gemäß dieser Perspektive sind die
vorgestellten geschlechtersoziologischen Theorien eingebettet in soziologische
Betrachtungen der sozialen Rahmenbedingungen, in denen sie entstanden sind,
beispielsweise der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie, der Entwicklung der
Zweiten Welle der Frauenbewegung und ihrer Internationalisierung und nicht zuletzt
der Etablierung und gesellschaftsweiten Durchsetzung von Gleichstellungsnormen
und -gesetzen. Mit der sehr gelungenen Beschreibung der für die Etablierung unterschiedlicher soziologischer Geschlechterkonzepte wichtigen historischen Ausgangslagen verbinden die Autorinnen sehr gekonnt soziologische Theorien zu eben diesen
Ausgangslagen. Dennoch geht es den Autorinnen nicht allein darum, Geschlecht als
Wissenskategorie zu etablieren, sie befassen sich ebenfalls und darüber hinaus mit
Geschlecht als sozialem Platzanweiser: Diese Verschränkung von wissenssoziologischer und strukturanalytischer Betrachtung erfrischt.
Das Buch bietet damit eine umfassende Ideengeschichte eben nicht nur und allein
der Konzeption von Geschlecht und geschlechtlichen Sozialbeziehungen, sondern
eine Einführung in die soziologische Theorie überhaupt, welche gerade für Einsteiger in das Fach geeignet ist. Die Autorinnen ermöglichen es nachzuvollziehen, dass
Geschlecht weder eine neue soziologische Kategorie ist, noch dass sie außerhalb der
etablierten Sozialtheorie analysiert werden muss, sondern vielmehr ebenso Bestandteil sozialer Relationen wie auch der soziologischen Betrachtung ist. Damit ist der
Band im positiven Sinne des Wortes ein Beitrag zur Sozialtheorie. Er trägt damit aber
auch zu dem zu Beginn der 2000er gestarteten Versuch (z. B. von Heintz 2001) bei,
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die Geschlechterforschung als einem integralen Bestandteil der allgemeinen Soziologie zu etablieren. Als einziges Manko des Buches bleibt vielleicht zu erwähnen,
dass es sich stark an der deutschen und angelsächsischen Debatte um Geschlecht als
Wissens- und Strukturkategorie orientiert und neuere Diskussionen um den hegemonialen Geschlechterdiskurs und dessen Alternativen, wie sie derzeit global geführt
werden, unerwähnt lassen (z. B. Connell 2011). Diese Beschränkung ist jedoch für
ein Lehr- und Lernbuch verzeihlich, welches verwirrende Perspektiven auf eine
scheinbar so einfache Kategorie des Sozialen, die bei genauerem soziologischen Hinsehen sehr schnell sehr komplex wird, zu entwirren hilft.
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