1 Freitag, 06.05.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 06.05.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf
Sechs vielversprechende junge Solisten
Édouard Lalo
Concertante Works for Violin, Cello & Piano
Soloists of the Queen Elisabeth Music Chapel
Liège Royal Philharmonic
Jean-Jacques Kantorow
ALPHA CLASSICS 376001419233
Aufregend unerhört
Ludwig van Beethoven
Octet • Rondino • Quintet
Il Gardellino
Marcel Ponseele
Arthur Schoonderwoerd
passacaille 5 425004 140166
Traumbesetzung
Dvořák • Schumann
Piano Concertos
Stephen Hough
City of Birmingham Symphony Orchestra
Andris Nelsons
hyperion CDA68099
Verletzlich fragiler Ton
French Resonance
Gabriel Pierné, Louis Vierne, Gabriel Fauré
Elsa Grether, violin
François Dumont, piano
FUGA LIBERA FUG 728
Neue Entdeckungen in unbekanntem Repertoire
Jan van Gilse
Piano Concerto „Drei Tanzskizzen“
Variations on a Saint-Nicolas Song
Oliver Triendl
Netherlands Symphony Orchestra
David Porcelijn
CPO 777 934-2
Alter Wein in neuen Schläuchen
The Sound of Shakespeare
The Hilliard Ensemble • The Musicians of Swanne Alley • Emma Kirkby
ERATO 825646479047
Prohoska wunderbar, Wainright nölig-larmoyant
Rufus Wainright
Take All My Loves
9 Shakespeare Sonnets
DG 479 5508
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Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs … herzlich willkommen, Jörg Lengersdorf am
Mikrofon.
2014 war schon ein Shakespeare-Jahr, wegen dessen 450. Geburtstages. Inzwischen
zeichnet sich ab: Auch 2016 wirft sich die weltweite Kulturindustrie ziemlich ungebremst in
den großen Shakespeare-Gedenksessel – Stichwort 400. Todestag. Es gibt einen
Shakespeare-Devotionalienmarkt, und der möge 2016 brummen, das hofft auch die
Tonträgerindustrie. Zwei CD-Produktionen zum Thema Shakespeare liegen bei mir auf dem
Tisch, wir hören am Ende der Sendung hinein.
Vorher gibt es Musik von Jan van Gilse, Gabriel Pierné, Antonin Dvořák, und Ludwig van
Beethoven.
Das Folgende ist aber erst einmal Musik aus einer ganzen Box, die sich mit dem
Komponisten Édouard Lalo beschäftigt. Der Komponist Édouard Lalo ist zwar nur für wenige
Werke wirklich berühmt geworden, aber er hat durchaus Spuren in der Populärkultur
hinterlassen. Vielleicht werden einige Hörer sich zwischendurch beim nächsten Stück fragen:
Nanu, woher kenne ich das? Nun: Die Titelmusik des 1962er Kinoklassikers „Lawrence von
Arabien“ ist doch ziemlich hörbar beeinflusst durch Lalos Klavierkonzert von 1889.
Édouard Lalo: Klavierkonzert f-Moll, Allegro
1:55
Der 28-jährige Pianist Nathanael Gouin ist einer der vielen durchweg jungen Solisten, die auf
einer neuen CD-Box des Labels ALPHA die konzertanten Werke von Édouard Lalo
eingespielt haben. Lalo war ein französischer Komponist. Viele Werke Lalos haben dennoch
unverkennbar spanisches Folklorekolorit. Lalos Familie hatte durchaus einen
beeindruckenden spanischen Stammbaum, diese glorreiche iberische Familientradition hätte
allerdings beinahe verhindert, dass Lalo überhaupt Musiker wurde.
Schon in Zeiten Karls V. hatte die Familie Lalo wichtige Militärs und Offiziere bei Hofe
gestellt, im 16. Jahrhundert hatte sich ein Vorfahr im spanischen Auftrag in Flandern
angesiedelt. Jahrhundertelang hatte das Geschlecht Soldaten hervorgebracht, bis Édouard
Lalo beruflich aus der Art schlug und Künstler werden wollte.
Früh verdingte sich Lalo als Bratscher und Geiger in einem Streichquartett, nachdem er sich
gegen den Willen des militärisch geprägten Vaters am Pariser Konservatorium
eingeschrieben hatte. Sein Durchbruch als Komponist ließ indes lange auf sich warten. Erst
in seinen Vierzigern schrieb Lalo seine bis heute erfolgreichen Stücke, fast alle davon für
den spanischen Geiger Pablo de Sarasate, dessen Status als Supervirtuose sicher nicht
wenig zum Erfolg der Stücke beitrug. Sarasate bekam nun von Freund Lalo nicht nur
Melodien auf den Leib geschneidert. Sarasate seinerseits brachte Lalo eines Tages eine
Sammlung skandinavischer Volkslieder mit. Mit dem Büchlein voller norwegischer Melodien
auf dem Tisch entstand die „norwegische Fantasie“.
Édouard Lalo: Norwegische Fantasie (1878), Allegro
5:10
Geigerin Vladyslava Luchenko mit dem Finale der norwegischen Fantasie von Édouard Lalo,
geschrieben für den spanischen Virtuosen Pablo de Sarasate.
Die neue drei CD-Box des Labels ALPHA mit Musik von Édouard Lalo präsentiert immerhin
zehn verschiedene Werke für Soloinstrumente und Orchester, viele dürften Klassik-Freunden
unbekannt sein.
Sechs verschiedene Solisten steigen für das teils extrem virtuose Repertoire in den Ring,
alle zwischen 23 und 30 Jahre alt, alle auf Preisträger-Niveau internationaler Wettbewerbe,
denn alle stammen aus derselben Talentschmiede, der Brüsseler Chapelle. Vor allem für
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Geiger ist die Chapelle Musicale Reine Elisabeth in Brüssel eine Art allerheiligste
Pilgerstätte. Hier findet nicht nur alle vier Jahre der wohl härteste Violinwettbewerb der Welt
statt, hier in der Ruhe der Chapelle gibt es auch seit vielen Jahren eine Exzellenzinitiative,
belgische Spitzenförderung für die talentiertesten Musiker weltweit. An der Chapelle können
sich Musiker über ein höllisch schweres Auswahlverfahren für eine Ausbildung zum Solisten
bewerben.
Vom 10-jährigen Wunderkind bis zum fast fertigen internationalen Star sind hier ein paar
wenige Ausnahmetalente in einer Kaderschmiede, die nicht nur normalen Unterricht bietet,
sondern auch Kurse in Vermarktung und spezielles Mentaltraining an einem eigens
eingerichteten „Mentally Fit Institute“. Es gibt in der Box also vielversprechende Talente zu
entdecken, beispielsweise die lättische Virtuosin Elina Buksha, 26 Jahre alt, mental fit,
instrumental auch.
Édouard Lalo: Concerto Russe – Chants Russes
5:05
Von russischer Folklore hat Komponist Édouard Lalo sich inspirieren lassen in seinem
sogenannten „Russischen Konzert“ von 1878. Das Stück fristet ein relatives Nischendasein
im Konzertrepertoire, ist aber tatsächlich schon ein paarmal auf Tonträger aufgenommen
worden. Die Aufnahme mit Elina Buksha, zu hören in der neuen Box, ist dabei deutlich
brillanter und spielfreudiger als alle bisherigen Einspielungen. So ist das Werk
passagenweise derart eindringlich ohrwurmverdächtig, dass man verstehen kann, dass der
niederländische Schriftsteller Maarten t‘Hart sogar vor einigen Jahren eine Kurzgeschichte
danach benannt hat: „Concerto Russe“.
Sogar für Literatur-Freunde könnten sich hier also Querverbindungen auftun. Knapp 35 Euro
kostet die drei CD-Box. Das ist nicht wenig, aber Freunde virtuoser Instrumentalmusik
dürften sicher ihr Repertoire um einige Stücke erweitern, zumal auch kleine Miniaturen
eingespielt sind, die man mit vollem Orchester garantiert nie im Konzert hört. Außerdem: die
Sichtung von sechs verschiedenen jungen Solisten dürfte nicht nur Talentscouts Freude
bereiten. Man kann ja schon mal tippen, wer demnächst die ganz große Karriere macht aus
der Box.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
Macht dieser Mann demnächst ganz große Karriere? Die Frage war im Jahr 1792 auch noch
erlaubt im Falle Ludwig van Beethovens. Der schrieb das folgende Oktett kurz vor seinem
Durchbruch in Wien.
Ludwig van Beethoven: Bläseroktett op. 103, Finalsatz
3:55
Das Bläserensemble „Il Gardellino“ mit Beethovens Finale aus dem Oktett op. 103. Die hohe
Opusnummer täuscht. Als 22-Jähriger schon schrieb Beethoven in Bonn ein Bläseroktett für
das wirklich ganz ausgezeichnete Bläserensemble des Kölner Kurfürsten Maximilian Franz.
Wohl auch, weil das Hausensemble des Fürsten diese Musik so trefflich blies, war
Maximilian Franz von seinem jungen Beethoven sehr angetan.
Der bekam prompt für ein weiteres Mal ein Stipendium zur Reise nach Wien. Beethoven
studierte dort ja zumindest sporadisch bei Joseph Haydn. Der Kölner Kurfürst betrachtete
das zweite Stipendium zunächst sicher als eine Investition in die Zukunft. Er wollte
Beethoven wohl langfristig als Aushängeschild und Hauskomponisten seiner Kapelle. Nur
gab es da ein Missverständnis zwischen Wien und Bonn.
1793 sollte nämlich Joseph Haydn einen Beweis schicken, dass sein Schüler Beethoven
unter seiner Anleitung auch wirklich Fortschritte mache. Und Haydn? Der schickte als
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Beweis seines großartigen Unterrichts tatsächlich jenes Bläseroktett nochmal, das der
Kurfürst schon kannte. Der Kurfürst reagierte verschnupft, schrieb sinngemäß zurück: Kenn
ich alles schon, solche Fortschritte kriegen wir in Bonn auch selber hin – da kann der Junge
gleich mal wieder zurückkommen – mit anderen Worten: Verulken kann ich mich auch
selber.
Das Bläserensemble „Il Gardellino“ hat fürs Label Passacaille eine CD aufgenommen mit
Beethovens Bläserkammermusik aus den 1790er Jahren, den „Twen“-Jahren, in denen das
Talent aus Bonn in Wien zum Meister wurde. Neu eingespielt wurde mit Pianist Arthur
Schoonderwoerd auch das Quintett für Bläser und Klavier op. 16 von 1796, das einem
häufiger mal in Programmen von Kammermusikfestivals begegnet. Mit einem Pianoforte
historischer Klangfarbe eingespielt, klingt das Werk dann aber plötzlich ganz anders, als
gewohnt.
Ludwig van Beethoven: Quintett op. 16, Rondo
6:05
Das Rondo aus Beethovens Quintett für Klavier, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott op. 16,
hier zu hören mit dem Ensemble Gardellino und Pianist Arthur Schoonderwoerd. Das Stück
gehört nicht zu Beethovens großen Hits, ist aber durchaus beliebt, zuletzt 2014
beispielsweise auf CD erschienen mit Les Vents Français, die derzeit vielen als bestes
Bläserensemble der Welt gelten. Diese Aufnahme von 2014 konnte man sicher als Referenz
feiern.
Aber die jüngste, gerade gehörte Einspielung mit dem Gardellino Ensemble birgt dennoch
echtes Ohren-Öffner-Potenzial. Die Musiker suchen seit Jahrzehnten nach Originalklang,
und die Kombination des im Vergleich zum modernen Konzertflügel geschärft und schlank
klingenden Pianofortes mit den eigenartig charakteristischen Bläserfarben wirkt beim ersten
Hören weit weniger gefällig, aber auch aufregend unerhörter als modernes Instrumentarium.
Klavierbässe hämmern hier perkussiv und durchdringend, schnarren auch mal, melodische
Passagen sind weniger parfümiert: ein altbekanntes Stück in frischeren Farben. Man muss
das nicht notwendigerweise besser finden als die satten Klangbäder bisheriger Aufnahmen,
eher anders. – Natürlich sind Originalklangaufnahmen im Jahr 2016 längst keine
sensationelle Entdeckung mehr, aber eben immer noch gut für Überraschungen.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs auf dem Tisch.
Jetzt wieder großer Konzertflügel, warmer Orchesterklang. Stephen Hough spielt Dvořáks
Klavierkonzert, das orchestrale Leuchten kommt vom City of Birmingham Symphony
Orchestra unter Andris Nelsons.
Antonin Dvořák: Klavierkonzert op. 33, Allegro con fuoco
11:45
Wunderschön glüht es im Orchester in warmen Farben, Stephen Houghs magisch
gesangliche Klavierphrasen weben sich durch die Klanglandschaft von Dvořáks
Klavierkonzert, das Ganze ist so kammermusikalisch intim musiziert, dass man
momentweise zu atmen vergisst. Dazwischen werden immer wieder wuchtige Akzente
gesetzt, düstere Klangkulissen vor den Musikhimmel geschoben. Bei diesem Dvořák kann
man wohl von einer Traumbesetzung reden.
Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist derzeit am Pult so ziemlich jedes Spitzenorchesters
der Welt gut gelitten. Vor zwei Jahren wurde er gehandelt als heißer Kandidat für die Berliner
Rattle Nachfolge, Andris Nelsons winkte schon im Vorfeld ab – dafür sei er zu jung. Er war
da tatsächlich erst 35, blieb noch kurz Chef in Birmingham, um dann doch die ganz große
Karriere zu starten: Er wechselte nach Boston, ab 2018 wird er Gewandhauskapellmeister in
Leipzig. Andris Nelsons gehört in jene Handvoll junger Dirigenten, über die selbst altgediente
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Orchestermusiker in Spitzenensembles selten etwas Schlechtes sagen, und das ist wohl die
höchste Auszeichnung.
Dass Nelsons ungeheuer wache Begleitung in dieser Aufnahme mit dem City of Birmingham
Symphony Orchestra auf den britischen Klangzauberer und Edelvirtuosen Stephen Hough
trifft, ist ein echter Glücksfall. Luxusklang mit Sternchen und jeder Menge Musizierfreude.
Dvořáks Klavierkonzert ist auf der CD des Labels hyperion, dazu mit dem SchumannKonzert ein Lieblingsstück vieler Klavierfans. Das höchst informative Booklet ist dann auch
getextet vom britischen Star-Cellisten Steven Isserlis, der auch als Musikschriftsteller eine
gute Figur macht. Ein lohnendes Paket.
SWR2 Treffpunkt Klassik, mit Neuheiten auf dem Markt.
Kennen Sie eigentlich die Violinsonate von Louis Vierne?
Louis Vierne: Violinsonate op. 23
4:15
„Ich wollte nicht sterben. Was für ein Hohn! Ich hatte doch meine Violinsonate nicht fertig! All
meine Willenskraft konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Das Fieber pochte, ich atmete
schwach in kleinen, schnellen Stößen. Ich war im Zustand nahenden Todes. Alles drehte
sich, Rhythmen in Fetzen, alptraumhaft … Doch die Idee meines Finales brüllte in meinen
Ohren …“
Das schrieb 1907 der Organist und Komponist Louis Vierne über die Arbeit an seiner
einzigen Violinsonate. Louis Vierne, damals 37 Jahre alt, starb übrigens nicht am
Typhusfieber, er hatte noch 30 Jahre zu leben. Mit einem schweren Augenleiden war er
schon zur Welt gekommen, beinahe blind, aber sein kindliches Erweckungserlebnis wurde
ein Besuch in der Kirche St. Clotilde in Paris. Vierne hörte Cesar Franck an der Orgel und
setzte alles daran, dessen Schüler zu werden. Mit 30 wurde Vierne Organist an Notre Dame
und blieb es bis zum Tod. Häufig wurde Viernes Leben von Katastrophen heimgesucht,
komplizierte Beinbrüche beendeten beinahe seine Musiklaufbahn, da er noch als 36-Jähriger
die Orgelpedaltechnik völlig neu erlernen musste, zwei Söhne starben, der grüne Star raubte
ihm sein letztes Augenlicht. Dennoch notierte Vierne über seine Musik: „Leiden zerstört nur
das Leben. Die unsterblichen Stücke bleiben jene, welche die Freude feiern. Andere Musik
wird vergessen. Wenn der Mensch singt, öffnet er sich dem Licht, für das er geboren wurde.“
Nun, trotz allen musikalischen Lichtes wurde Viernes hinreißende Violinsonate dann aber
eher vom Aussterben bedroht als unsterblich, ebenso wie die selten zu hörende Violinsonate
seines französischen Zeitgenossen Gabriel Pierné. „Mit ruhigem, verträumten Gefühl“ – das
steht über dem zweiten Satz.
Gabriel Pierné: Violinsonate op. 36
5:35
Elsa Grether, Violine, und François Dumont, Klavier, musizieren den Walzer aus Gabriel
Piernés Violinsonate op. 36 mit verletzlich fragilem Ton. Der morbide Schmelz des Fin de
Siècle färbte 1901 noch das Stück, das zeitlich schon im neuen Jahrhundert fußte. Wer nun
auf die Suche nach dieser schönen Aufnahme des Labels FUGA LIBERA geht, wird im CDLaden seines Vertrauens nicht mehr fündig. Die Produktion hat mit den Violinsonaten von
Pierné und Vierne sowie zwei kleinen Miniaturen von Fauré zwar CD-Länge, ist aber auf
Tonträger gar nicht mehr erhältlich, sondern nur noch im Internet als Digitaldatei
herunterzuladen. Das funktioniert bei den gängigen Download-Portalen wie ITunes oder
Amazon unter den Stichworten „French Resonance“ und „Fuga Libera“ oder auch über die
Homepage des Labels.
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Downloads statt Tonträger – Digital Only heißt das Konzept. Ob es dem Klassikmarkt nützt,
bleibt abzuwarten. Lädt man das Paket zum Beispiel beim Anbieter Amazon herunter oder
„streamt“ man bei Spotify, dann hat man keinen Zugriff auf die Begleittexte zu den einzelnen
Stücken, und das ist dann doch schade bei so seltenen Edelsteinen.
SWR2 Treffpunkt Klassik. Jetzt wieder eine neue CD, eine die man tatsächlich noch in ein
Abspielgerät einlegen muss. Völlig unbekannte Musik des Niederländers Jan van Gilse von
1927, eine Tanzskizze aus den Roaring Twenties, „Quasi Jazz“:
Jan van Gilse: Klavierkonzert „Drei Tanzskizzen“, Quasi Jazz
13:20
Oliver Triendl spielte, begleitet vom niederländischen Symphonieorchester unter David
Porcelijn, Jan van Gilses Klavierkonzert von 1927, betitelt „Drei Tanzskizzen“. Ballsaal mit
Kronleuchtern, ein bisschen Jazzkneipenrauch, ein wenig 20er Jahre Schlager und eine
Prise Impressionismus.
Das Label CPO aus Osnabrück gräbt beständig Dinge aus, die bisher noch nie
aufgenommen worden sind. Die Serie zum vergessenen niederländischen Komponisten Jan
van Gilse, die seit einigen Jahren aufgelegt wird, ist jetzt durch CD-Nummer vier ergänzt
worden. Jägern und Sammlern dürfte der Name Jan van Gilse also möglicherweise schon
bekannt vorkommen.
Der 1881 in Rotterdam geborene van Gilse ging schon als 16-Jähriger mit seinen Eltern
nach Deutschland, studierte in Köln beim Gürzenich Kapellmeister Franz Wüllner, später in
Berlin bei Engelbert Humperdinck, bekam ein Stipendium vom Bonner Beethovenhaus und
eine erste Anstellung in Bremen. Eine Karriere in Deutschland, zunächst. Den holländischen
Nachbarn galt van Gilse spätestens nach dem Ersten Weltkrieg als entschieden zu
deutschenfreundlich. Das war böse Ironie des Schicksals.
Denn Jahre später, als van Gilse sich mit seiner gesamten Familie im Widerstand gegen die
Nazis engagierte, galt er den Deutschen dann wiederum als Staatsfeind. Beide Söhne van
Gilses wurden von den Nationalsozialisten ermordet, Vater van Gilse selbst war auf
ständiger Flucht vor den Nazis, bevor er 1944, entkräftet und seelisch gebrochen, starb.
Wie merkwürdig unterschiedlich verwurzelt van Gilses Musik sowohl in Deutschland als auch
in den Niederlanden ist, hört man auf der neuen CD an einem sehr ohrenfälligen Stück.
„Variationen über ein Nikolauslied“ heißt van Gilses vielleicht bekanntestes Werk. Als
deutscher Hörer fragt man sich beim Hören sicher: nanu, holländisches Nikolauslied?
Hierzulande kennt man das Thema, zu hören nach der Einleitung, unter dem Titel „Im
Märzen der Bauer …“
Jan van Gilse: Variationen über ein Nikolauslied
6:55
„Da drüben kommt wieder der Dampfer aus Spanien an“, einen Text zu Ehren von St.
Nikolaus singen die niederländischen Nachbarn zu jener Melodie, die man hierzulande als
„Im Märzen der Bauer“ singt.
Und damit findet sich auch ein echter Ohrwurm auf der CD mit Musik des niederländischen
Komponisten Jan van Gilse, der 1944 in einem Krankenhaus an Krebs starb, unter falschem
Namen, weil die Gestapo dem Regimekritiker auf den Fersen war.
Dem Label CPO ist es quasi im Alleingang zu verdanken, dass Musik van Gilses überhaupt
noch zu hören ist im 21. Jahrhundert. Auch mit der vierten CD der Reihe macht man wieder
neue Entdeckungen im unbekannten Repertoire. Bei aller gefälligen Schönheit der orchestral
üppigen Musik kann sich allerdings auch mal ein Gefühl der klanglichen Übersättigung
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einstellen. Bei 60 Minuten van Gilse am Stück braucht man doch mitunter zwischendurch
mal eine Pause.
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs.
2016 ist Shakespeare Jahr. Wäre doch gelacht, wenn das das nicht auch auf dem CD-Markt
hörbare Spuren hinterließe. „So klang Musik zu Shakespeares Zeiten“ – unter diesem Etikett
firmiert die nächste Musik. „Stingo“, der Titel des kurzen Stücks, bedeutet übersetzt:
Starkbier.
Anonymus (16. Jahrhundert): Stingo
2:00
Das Label ERATO hat eine drei CD-Box aufgelegt mit Musik aus Shakespeares London.
2016 ist einmal mehr ein Shakespeare-Gedenkjahr. Schon wieder, möchte man ausrufen,
denn zum 400. Todestag darf wieder spekuliert werden.
Shakespeare selbst hat nur 36 Stücke hinterlassen, über die ist buchstäblich alles gesagt
worden. Die Shakespeare-Bibliographie „Shakespeare Quarterly“ verzeichnet trotzdem
schon in normalen Zeiten 4000 neue wissenschaftliche Arbeiten zu Shakespeares Schriften
pro Jahr. Man weiß inzwischen aber zum Beispiel, dass Shakespeares Werke 138.198
Kommata enthalten, 26.794 Semikola und 15.785 Fragezeichen. Aber wie viel weiß man
über Shakespeare selbst, die Person? Nun: jedenfalls wenig, im Vergleich zum ungeheuren
Wissensdurst, den sein Name entzündet.
In Shakespeare-Gedenkjahren bringen Kultursender wieder die wie Pilze aus dem Boden
sprießenden Fernsehdokumentationen, die regelmäßig mehr oder weniger plausibel
darlegen, dass Shakespeare gar nicht gelebt habe, dass er in Wirklichkeit ein ganz anderer
Mann war, irgendwann wird vermutlich jemand nachweisen, dass Shakespeare in Wahrheit
Nachbar von Donald Duck in Entenhausen war.
Und da ist es löblich, wenn man mit der neuen CD-Box zumindest tönend illustrieren kann,
wie Musik auf Straßen, Plätzen und Festen geklungen haben könnte im London des
ausgehenden 16. Jahrhunderts, zur Shakespeare-Zeit, wenn er denn da war. Wenn schon
keine Fakten, dann wenigstens Kolorit.
Robert Johnson: „The Tempest“, „Where the bee sucks“
2:15
Den Lautenisten Robert Johnson kennt man heutzutage tatsächlich unter dem Titel
„Shakespeares Lautenist“. Er hat zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Shakespeare-Text
aus dem „Sturm“ vertont. „Wo die Biene saugt, saug ich, im Schoß der Primel lagere ich
mich.“ Emma Kirkby und David Thomas waren gerade zu hören, begleitet vom Lautenisten
Anthony Rooley.
Die neue Box „The Sound of Shakespeare“ vereint auf drei CDs klangvolle Namen: Das
Hilliard Ensemble, London Baroque, Paul Hillier, The Musicians of Swanne Alley –
Spezialisten der britischen Alte Musik-Szene musizieren Werke von Dowland, Johnson,
Morley, dazu Tänze und Straßenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts. Vielleicht hat es so in
Shakespeares London ja wirklich getönt. Allein: Alle hier neu einsortierten Aufnahmen sind in
anderen Zusammenstellungen schon seit etwa 20 Jahren auf dem Markt. Das ist alter Wein
in neuen Schläuchen. Dagegen alleine wäre bei einem Preis von knapp 14 Euro für drei CDs
auch noch nichts zu sagen. Allerdings wäre es bei einer Neuauflage guter Einspielungen
unter dem Stern des Shakespeare-Gedenkjahres dann doch schön gewesen, wenn
wenigstens das Booklet mehr geliefert hätte, als diskografische Angaben und Titellängen.
Der dürre, kaum einseitige Begleittext auf Deutsch liefert außer Andeutungen, dass all diese
Musik irgendwie Shakespeares Zeit illustriere, nun wirklich gar nichts an Informationen.
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Dieselbe Box könnte man auch zum Jahrestag der Enthauptung Maria Stuarts herausgeben.
Aber zum Thema Shakespeare ist auch noch nicht alles gesagt.
Auch die Deutsche Grammophon, Hort klassischer Hochkultur, geht dieser Tage mit einem
Shakespeare-Projekt auf den Markt. Das hat vordergründig direktesten Bezug zum Dichter:
vertonte Sonette. Und die klingen so:
Rufus Wainwright: Text Shakespeare-Sonett 10 „For Shame“
3:10
Anna Prohaska singt Shakespeares Sonett Nummer 10 in einer Vertonung des Pop-Barden
Rufus Wainwright, der schon als Singer Songwriter eine unbedingte Schwäche für die ganz
große dramatische Pose hatte. Multitalent Rufus Wainwright erfindet sich gern öfter mal neu,
2015 hatte die altehrwürdige Deutsche Grammophon bereits seine erste Oper „Prima
Donna“ herausgebracht, jetzt also Shakespeare-Sonette zum Shakespeare-Jahr, opulent mit
vollem Orchester, Solostreichern und Band. Dass diese Musik häufig etwas muffig nach
aufgeblasenem Musicalpathos klingt, geht noch in Ordnung. Shakespeares Sonette
vertragen viel, auch angestaubten Plüschsound. Wo Koloratursopranistin Anna Prohaska die
Vertonungen singt, tut sie das übrigens ganz wunderbar. Auch die eingestreuten
Rezitationen von Sonetten, teilweise nur von Synthesizer-Geräuschen untermalt, sind
originell besetzt mit Schauspielern wie „Raumschiff Enterprise“ Star William Shatner oder der
legendären Inge Keller.
Nervig wird es erst, wenn Mastermind Rufus Wainwright selbst zum Mikrofon greift. Da
entfaltet sich dann leider eine irgendwie nölig-larmoyante Textdarbietung, die auch von der
ambitionierten Ethnopopklangfolie nicht mehr ausreichend zugeschüttet wird. Quatsch mit
Soße wäre noch genießbar, Soße mit Shakespeare ist es leider nicht.
Rufus Wainwright: Text Shakespeare-Sonett 40 „Take All my Loves“
0:40
Rufus Wainright singt Shakespeare. Die Musik dazu hat er selber angerührt, und er trägt dick
auf – zu dick, jedenfalls für mich persönlich. Damit ist SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs
zu Ende gegangen. Angaben zu allen vorgestellten CDs findet man, wie immer, im Internet
unter swr2.de. Dort gibt’s die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Die
Redaktion heute hatte Ines Pasz. Am Mikrofon war Jörg Lengersdorf – vielen Dank für’s
Zuhören.
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