Kapitel 13 Grenzwertsätze 13.1 Schwache Gesetze der großen Zahlen Satz 13.1 (Tschebyscheffs schwaches Gesetz der großen Zahlen) Es seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit EXi = µ und Var(Xi ) < ∞. Dann gilt: X1 + · · · + Xn P →µ n Beweis Mit der Ungleichung von Tschebyscheff (Satz 7.4) folgt: X + · · · + X n Var( X1 +···+X ) 1 n n P ( − µ ≥ ε) ≤ 2 n ε = Var(X1 ) →0 n · ε2 1 Satz9.6 n2 = Var(X1 + · · · + Xn ) = ε2 für n → ∞ ⇒ Behauptung Die Bedingung Var(Xi ) < ∞ soll weg. Zur Vorbereitung brauchen wir einige Ergebnisse aus der Analysis. Lemma 13.2 Für alle m ∈ N und t ∈ R gilt: m−1 it X (it)k |t|m e − ≤ k! m! k=0 Beweis Es genügt t ≥ 0 zu betrachten, da |z| = |z| Für eit gilt die folgende Taylorentwicklung mit Integraldarstellung des Restgliedes (Beweis durch Induktion nach m): it e = m−1 X k=0 (it)k + im k! Z 61 0 t (t − u)m−1 iu e du (m − 1)! 62 KAPITEL 13. GRENZWERTSÄTZE Z t m−1 Z t (t − u)m−1 X (it)k (t − u)m−1 iu ⇒eit − im e du du = = |{z} ≤ |{z} k! (m − 1)! (m − 1)! 0 0 k=0 |·|=1 =− |·|=1 tm = m! 0 u)m t (t − m! Lemma 13.3 Sei X eine Zufallsvariable mit existierendem Erwartungswert EX = µ und ϕX (t) die zugehörige charakteristische Funktion. Dann gilt ∀ t ∈ R: t 1 t ϕX = 1 + iµ + ot n n n Beweis t t Zu zeigen: ∀ t ∈ R gilt: ϕX − 1 + iµ · n → 0 für n → ∞ n n t t itX i nt X n · ϕX − 1 + iµ =E n· e −1− n n n | {z } =:Yn Lemma 13.2 mit m = 2: |Yn | ≤ n · | nt X|2 t2 X 2 f.s. = →0 2! 2!n für n → ∞ Limes und E kann man hier vertauschen (→ majorisierte Konvergenz) ⇒ Behauptung Lemma 13.4 Sei z ∈ C fest {ηn }n∈N ηn ∈ C und ηn → 0. Dann gilt: z ηn n lim 1 + + = ez n→∞ n n Beweis 1.Fall: z = 0 Zu zeigen: (1 + ηn n n ) → 1 für n → ∞ n n X |ηn | k ηn n n ηn k X n |ηn | n ( ) ≤ = 1+ −1 (1 + ) − 1 = k n k n n n k=1 MWS ≤ f (x)=(1+x)n k=1 |ηn | 1 n |ηn | n n(1 + ϑ)n−1 ≤ |ηn | 1 + ≤ |ηn | 1 + ≤ n n n |ηn | · e | {z } →0für n→∞ 2.Fall: z 6= 0 η n z η n n z n 1 + nz + nn z n εn n 1+ + = 1+ = 1 + · 1 + n n n 1 + nz | {zn } | {zn } →εz für n→∞ →1 für n→∞ (Fall 1) mit εn → 0 für n → ∞ 13.2. DAS STARKE GESETZ DER GROSSEN ZAHLEN 63 Satz 13.5 (Khinchins schwaches Gesetz der großen Zahlen, 1929) Es seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit E|Xi | < ∞, EXi = µ. Dann gilt: X1 + · · · + Xn P →µ n Beweis Da µ ∈ R konstant, genügt wegen Lemma 11.3 zu zeigen X1 +···+Xn n Satz 12.5 ⇒ zu zeigen ist: ϕ X1 +···+Xn (t) → ϕµ (t) Bsp. 12.1 = d →µ eitµ n Also: ϕ X1 +···+Xn (t) Satz 12.1c) = n n t Satz 12.2 Y t t n ϕX1 +···+Xn = ϕXk ( ) = ϕX1 ( ) n n n k=1 Lem. 13.3 = 13.2 iµt 1 n 1+ + ot ( ) n n Lem. 13.4 −→ eitµ Das starke Gesetz der großen Zahlen Satz 13.6 (Kolmogorovs starkes Gesetz der großen Zahlen) Es seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit E|Xi | < ∞, EXi = µ. Dann gilt: X1 + · · · + Xn f.s. →µ n ohne Beweis Beispiel 13.1 (Monte-Carlo-Simulation) Es sei f : [0, 1] → R+ eine stetige Funktion. M := maxx∈[0,1] f (x). Wir wollen R1 0 f (x) dx numerisch (näherungsweise) berechnen. Dazu U1 , V1 , U2 , V2 . . . eine Folge von unabhängigen Zufallsvariablen, wobei die (Ui ) identisch verteilt sind mit Ui ∼ U (0, 1) und die (Vi ) identisch verteilt sind mit Vi ∼ U (0, M ). Wir setzen 1 , falls f (Uk ) > Vk Ik = 0 , falls f (Uk ) ≤ Vk Dann gilt: I1 , I2 , . . . sind unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit Z 1 Z f (x) EIk = P (f (Uk ) > Vk ) = P ((Uk , Vk ) ∈ G) = 0 n Satz 13.6: 1 X f.s. 1 Ik → n M k=1 Z 0 1 f (x) dx 0 1 1 · 1 dydx = M M für n → ∞ Z 1 f (x) dx 0 64 KAPITEL 13. GRENZWERTSÄTZE Beispiel 13.2 (Normale Zahlen) Es sei Ω = [0, 1) und ω ∈ Ω. Wir betrachten die Dualbruchzerlegung von ω: das heißt ∞ X 1 ω= ak ∈ {0, 1} ak · k 2 k=1 ω heißt normal, falls die Werte 0 und 1 asymptotisch gleich häufig auftreten. Wie viele ω ∈ Ω sind normal? Sei A = B[0,1) und definiere die Zufallsvariablen X1 , X2 . Ω → {0, 1} durch Xn (ω) = an für n ∈ N (Beachte Xn ist Zufallsvariable) Weiter sei: An (x1 , . . . , xn ) := {ω ∈ Ω|X1 (ω) = x1 , . . . , Xn (ω) = xn } = {ω ∈ Ω| x21 + x222 + · · · + x2nn ≤ ω < x21 + · · · + x2nn + 21n } für x1 , . . . , xn ∈ {0, 1} fest. Wir nehmen an, dass P=unif(0,1), das heißt P ([a, b)) = b − a für 0 ≤ a < b < 1. Also P (An (x1 , . . . , xn )) = 21n ⇒ P (X1 = 0) = P (A1 (0)) = 21 = P (X1 = 1) P (X2 = 0) = P (X2 = 0, X1 = 0) + P (X2 = 0, X1 = 1) = = P (A2 (0, 0)) + P (A2 (1, 0)) = 14 + 14 = 12 und P (X2 = 1) = 12 P (X1 = x1 , X2 = x2 ) = 41 = P (X1 = x1 )P (X2 = x2 ) für x1 , x2 ∈ {0, 1} Also sind die Zufallsvariablen X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilt mit P (Xk = 0) = P (Xk = 1) = 21 und EXk = 12 Nach Satz 13.6 gilt: n 1X f.s. 1 Xk → n 2 für n → ∞ k=1 das heißt fast alle Zahlen des Intervalls [0, 1) bis auf eine Menge A ⊂ [0, 1) mit P (A) = 0 sind “normal“ 13.3 Der zentrale Grenzwertsatz Betrachte die Situation aus Satz 13.1: Seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen, EXi = µ, Var(Xi ) < ∞ Dann gilt: Var(X1 ) X1 + · · · + Xn P − µ ≥ ε ≤ n n · ε2 1 Setze ε = ε̂ · n− 2 +δ mit δ > 0 ε̂ Var(X1 ) Var(X1 ) X1 + · · · + Xn P − µ ≥ 1 ≤ = 2 −1+2δ −δ n n · ε̂ n ε̂2 n2δ n2 1 X1 + · · · + Xn P −δ Also für δ > 0 : n 2 −µ →0 n 13.3. DER ZENTRALE GRENZWERTSATZ 65 Was ist mit δ = 0? Satz 13.7 (Zentraler Grenzwertsatz) Es seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit EXi = µ und 0 < Var(Xi ) = σ 2 < ∞. Dann gilt: X1 + · · · + Xn − nµ d √ → X ∼ N (0, 1) , also nσ P X1 + · · · + Xn − nµ √ ≤x nσ → Φ(x) für n → ∞ ,∀x ∈ R Beweis Betrachte zunächst den Fall µ = 0, σ = 1 zu zeigen: X1 + · · · + Xn d √ → X ∼ N (0, 1) n n t Satz 12.2 t ϕ X1 +···+X = ϕX1 +···+Xn ( √ ) = = ϕX1 ( √ ) n (t) √ n n n n n 2 2 t2 (it) t 1 1 itµ vgl.L.13.3 nach Lem. 13.4 2 1 + √ + EX = 1− + o( ) −−−−−−−−−→ e− 2 +o( ) = | {z } 2n n 2n n n =1 |{z} Satz 12.1c) =0 Allgemeiner Fall: Setze Yn = Xnσ−µ Also Y1 , Y2 , . . . unabhängig und identisch verteilt mit EY1 = 0, Var(Yn ) = 1 Wende jetzt Spezialfall an: X1 + · · · + Xn − nµ Y1 + · · · + Yn d √ √ = → X ∼ N (0, 1) nσ n Korollar 13.8 Unter den Voraussetzungen des ZGWS gilt für feste α, β ∈ R, α < β: Z β t2 X1 + · · · + Xn − nµ 1 √ √ P α ≤ ≤ β → Φ(β) − Φ(α) = e− 2 dt nσ 2π α | {z } =:Tn Beweis Sei ε > 0. FT (β) − FTn (α) ≤ P (α ≤ Tn ≤ β) ≤ FTn (β) − FTn (α − ε) | n {z } | {z } n→∞ → Φ(β)−Φ(α) Mit ε → 0 folgt daraus die Behauptung. n→∞ → Φ(β)−Φ(α−ε) 66 KAPITEL 13. GRENZWERTSÄTZE Satz 13.9 Sind die Zufallsvariablen X1 , X2 unabhängig und identisch verteilt mit EX1 = µ sowie |µ|3 = E|X1 − µ|3 , so gilt: sup |FTn (x) − Φ(x)| ≤ x∈R |µ|3 √ σ3 n Beispiel 13.3 Es seien X1 , X2 , . . . unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit Xn ∼ B(1, p). Also EXn = p, Var(Xn ) = p(1 − p), 0 < p < 1 Sei Sn = X1 + · · · + Xn , dann gilt nach dem ZGWS: ! Sn − np lim P p ≤ x = Φ(x) n→∞ np(1 − p) Umgeformt ergibt das: lim P (Sn ≤ np + x n→∞ p np(1 − p)) = Φ(x) Da Sn ∼ B(n, p) heißt das: n k p (1 − p)n−k = Φ(x) k X lim n→∞ k≤np+x √ np(1−p) Diese Version nennt man auch Grenzwertsatz von DeMoivre Laplace. Beispiel 13.4 (Wahlumfrage) Wir wollen den Anteil p der Anhänger der Partei A unter den Wahlberechtigten ermitteln. Dazu nehmen wir eine Stichprobe X1 , . . . , Xn , wobei: 1 , falls Person i Partei A wählt i = 1, . . . , n Xi = 0 , falls Person i Partei A nicht wählt Sei Sn := X1 + · · · + Xn . Wir schätzen p̂ = Snn Wie groß muss der Stichprobenumfang n mindestens gewählt werden, damit der Schätzfehler |p̂ − p| mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 0.95 nicht größer als 0.02 ist? Also gesucht ist die kleinste Zahl n ∈ N mit √ ! Sn − np Sn 0.02 n ≤ p P (| − p| ≤ 0.02) ≥ 0.95 ⇔ P p ≥ 0.95 n np(1 − p) p(1 − p) Wegen p(1 − p) = P 1 4 − (p − 12 )2 ≤ ∀ p ∈ [0, 1] √ ! Sn − np 0.02 n p ≤ p ≥P np(1 − p) p(1 − p) Für n groß ist etwa √Sn −np np(1−p) ⇒P 1 4 folgt: Sn − np √ p ≤ 0.04 n np(1 − p) ! ∼ N (0, 1) Sn − np √ p ≤ 0.04 n np(1 − p) ! √ √ √ ≈ Φ(0.04 n)−Φ(−0.04 n) = 2Φ(0.04 n)−1 = 0.95 ⇒ n = (25Φ−1 (0.975))2 = 2401