christian moser Nachdenken für Österreich ÖVP-Programmdebatten in der Zweiten Republik Die Programmdiskussionen der ÖVP sind durch inhaltliche Offenheit und behutsame Adaptierung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse für eine lösungsorientierte Politik geprägt. Die Parteiprogramme wiederum zeichnen sich durch die Kontinuität der Grundwerte bei gleichzeitiger Implementierung neuer, als wichtig für das Wohl Österreichs erkannter Schwerpunktsetzungen aus. Diese Diskussionsprozesse sind somit nicht nur interessante zeitgeschichtliche Dokumente, sondern untermauern auch Anspruch und Selbstverständnis der Volkspartei als soziale Reformbewegung, alle gesellschaftlichen Schichten und Berufsgruppen vertreten zu wollen. Mit den Programmen präsentiert die Volkspartei ihre mittel- und langfristigen Ziele für Österreich und wirbt gleichzeitig um neue Mitglieder und Wähler. 167 österreichisches jahrbuch für politik 2008 Es ist eine der großen Paradoxien der Politikwissenschaften. Jede Partei definiert sich über und handelt nach bestimmten Grundsätzen. Dass sich Werte und Menschenbilder der österreichischen Parteien unterscheiden und somit dem Wähler die Grundlage für seine Wahlentscheidung geben, bildet einen wesentlichen Bestandteil der westlichen modernen Wettbewerbsdemokratien. Politische Gesinnung wird in Parteiprogramm niedergeschrieben. Hier werden Grundsätze, Überzeugungen und Leitlinien des politischen Tuns erklärt und für jeden Staatsbürger dargestellt. In Parteiprogrammen – eingebettet in den spezifischen Kontext der zeitlichen Entstehung und der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – findet eine Selbstvergewisserung des eigenen Tun und Handelns statt. Man möchte also meinen, dass Parteiprogramme und ihre Sprache ein zentraler Erkenntnisgegenstand der Politikwissenschaft sein müssten und folglich ihre Wirkungen nach innen (die Mitglieder) und nach außen (die Wähler) theoretisch und empirisch gut erforscht sind. Mitnichten. Während sich zahllose Uniseminare mit esoterischen Themen beschäftigen, sind Parteiprogramme, ihre Funktionen und ihre Entwicklungen bislang wenig erforscht. Der Großteil der Publikationen beschränkt sich auf die deskriptive Analyse und Kommentierung der Programme einzelner Parteien. Synoptische Abhandlungen und Reflexionen bilden hingegen die Ausnahme; die letzte theoretische ergiebige Abhandlung – eine Habilitationsschrift von Heiner Flohr – datiert aus dem Jahr 1968. Auch ein Blick ins „Handbuch für politische Kommunikation“ hilft wenig weiter. Der Leser erfährt zwar, dass Parteiprogramme sprachwissenschaftlich zur Textgattung der aufwertenden Makroformen zählen, ansonsten finden sich im Register des Grundlagenwerkes nur vier kurze Einträge zum Schlagwort Parteiprogramm. Das erstaunt aus zwei Gründen. Erstens gelten Parteiprogramme als kleinster gemeinsamer Nenner und DNA politischer Gesinnungsgemeinschaften. Durch werblich geschickten Verkauf und inhaltlich überzeugende Aussagen böten Parteiprogramme die ideale Gelegenheit, neue Sympathisanten anzusprechen und Bürger von den Vorteilen der eigenen Gesin- Vgl. Flohr, Heiner: Parteiprogramm in der Demokratie. Ein Beitrag zur Theorie der rationalen Politik, Göttingen 1968. 168 christian moser | nachdenken für österreich nungsgemeinschaft emotional und rational zu überzeugen. Dass zweitens Nachhaltigkeitsprogramme, CSR-Reporte, Unternehmensleitbilder boomen sowie eine Unternehmensphilosophie von zentraler Bedeutung für den Unternehmenserfolg privater Unternehmer sind, hat sich mittlerweile auch in der der Betriebswirtschaftslehre als Standard etabliert. Angesichts dieses Siegeszuges stellt sich die Frage, warum Parteiprogramme in der Politik(-wissenschaft) stiefmütterlich behandelt werden. Schließlich werden in der Politik im Unterschied zur Wirtschaft keine materiellen Waren, sondern Ideen, Überzeugungen, im engeren Sinn immaterielle Werte verhandelt. Die Beschäftigung mit Stellenwert, Funktion und Wirkung von Parteiprogrammen sollte also für Parteien und Wissenschaft von zentraler Bedeutung sein. Eine erste systematische Annäherung an die Vielschichtigkeit von Parteiprogrammen hat Daniel Rölle 2002 in seiner Studie über die Perzeption von Partei- und Wahlprogrammen in der Öffentlichkeit geliefert. Auch Rölle stellt überrascht fest, dass es bislang kaum empirische Erhebungen zu den Einstellungen der Wähler zu Parteiprogrammen gegeben hat. Aus dem vorliegenden dürftigen Zahlenmaterial hat er jedoch interessante Erkenntnisse herausgearbeitet. Die Wähler hegen a priori kein Desinteresse gegenüber Programmen, wissen allerdings wenig bis nichts über die konkreten Inhalte von Partei- und Wahlprogrammen. Programme genießen praeter propter bei den Wählern einen höheren Stellenwert und größere Glaubwürdigkeit, als viele in der Politikwissenschaft und in der veröffentlichten Meinung vermuten. Bei einer Umfrage zum neuen Parteiprogramm der SPÖ gaben 1978 mehr als zwei Drittel der Befragten an, vom neuen Parteiprogramm gehört zu haben, scheiterten aber zu mehr als sechzig Prozent, einen konkreten Punkt des Programmes zu nennen. Dafür geben Programme dem Wähler eine grobe Orientierung und ein Gefühl, bei welcher Partei er sich heimisch fühlt. Immerhin informiert sich laut Kieler Wahlstudie aus dem Jahr 1980 mehr als jeder vierte Wähler in Programmen über die Ziele der einzelnen Parteien. Programme sind neben der Person Vgl. Rölle, Daniel: NICHTS GENAUES WEISS MAN NICHT!? Über die Perzeption von Wahlprogrammen in der Öffentlichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2, 2002, S. 264–280. Ebd., S. 268. 169 österreichisches jahrbuch für politik 2008 der Hauptgrund, eine Partei zu wählen. Programmkenntnis meint allerdings keinesfalls die Fähigkeit, einzelne Teile des Programmes zu rezitieren, sondern sie setzt sich aus Schlagwörtern sowie gängigen Attribuierungen und sozialen Vorurteilen einzelnen Parteien gegenüber zusammen. Parteien erwerben im Laufe ihres Bestehens ein bestimmtes Image; sie werden vom Wähler mit bestimmten programmatischen Stereotypen verbunden: so gilt beispielsweise Arbeit als Positionsthema der Sozialdemokratie, Wirtschaft als Positionsthema der ÖVP, Ausländer als Positionsthema der FPÖ sowie Umwelt als Positionsthema der Grünen. Diese Zuschreibungen weisen auf Themenkompetenzen hin, die in nuce die Gesamtheit eines Parteiprogrammes beinhalten, denn so der Befund von Klaus Eberlein: Programme im Ganzen sind für den Wähler zu abstrakt und zu kompliziert. Erst durch die Reduktion auf wenige Grundsätze und Fahnenwörter wird die Programmatik für den Wähler greifbar. Ein attraktives und für den Wähler verständliches Parteiprogramm sollte also in wenigen Worten und Sätzen für jeden Wähler nachvollziehbar sein. Die wesentlichen Funktionen von Parteiprogrammen sind nach innen Praxisanleitung und binnenkommunikative Willensbildung sowie nach außen Werbung. Parteiintern werden Programme geschrieben, um mittelund langfristig Wirklichkeit zu werden. Die Grundwerte der Programme fungieren dabei als grobe Orientierung für die Realpolitik. Zweitens dienen Programmdiskussionen der internen Willensbildung. Parteien setzen sich aus verschiedenen Interessensvertretungen und ideologischen Lagern zusammen; Programmprozesse bieten die Möglichkeit, in Debatten unterschiedliche Standpunkte zu diskutieren, abzuwägen und sich schlussendlich auf eine für alle Anspruchsgruppen vertretbare Endfassung zu einigen. Positiv betrachtet wird durch solche Debatten der soziale Zusammenhalt einer Partei gefördert. Das Wir-Gefühl wird gestärkt, aktive Mitglieder be- Eberlein, Klaus D.: Die Wahlentscheidung vom 17. September 1961, ihre Ursachen und Wirkungen, in: Zeitschrift für Politik, 9/1962, S. 241. Vgl. dazu Heiner Flohr, a.a.O , S. 60, bzw. Hergt, Siegfried (Hg.): Parteiprogramme. Grundsatzprogrammatik und aktuelle politische Ziele von SPD, CDU, CSU,FDP, DKP, NPD. 9., aktualisierte und erweiterte Auflage, Leverkusen-Opladen 1979, S. 9 ff. 170 christian moser | nachdenken für österreich kommen durch Programmdiskussionen einen Motivationsschub. Umgekehrt können Programmdiskussionen auch parteiinterne Machtkämpfe und inhaltliche Unvereinbarkeiten zu Tage treten lassen, was im Extremfall zu Parteiaustritten, Parteiausschlüssen oder zu Parteiabspaltungen führt. Die dritte Funktion von Programmen besteht in ihrer werblichen Außenwirkung. Potenzielle Interessenten und Sympathisanten können durch die vergleichende Lektüre von Parteiprogrammen zu Wählern und Mitgliedern werden; auch aus diesem Grund sollten Parteiprogramme lesefreundlich strukturiert sein. Parteiprogramme werden im Unterschied zu Regierungsprogrammen für einen mittleren und langfristigen Zeithorizont geschrieben. Sie argumentieren nicht für die Dauer einer Legislaturperiode, sondern wollen Gesellschaft und Staat langfristig formen. Da sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingen durch technische Revolutionen und geschichtliche Ereignisse oft fundamental ändern, müssen Parteiprogramme – wollen sie wegweisende Antworten auf drängende Probleme finden – von Zeit zu Zeit überarbeitet werden, um keine Patina anzusetzen. ÖVP-Programmdiskussionen in der Zweiten Republik Im Unterschied zur Sozialdemokratie gründete sich die ÖVP nach dem Zweiten Weltkrieg neu. In 15 pragmatischen Leitsätzen gelang der Volkspartei 1945 eine gelungene Amalgamierung christlich-sozialer, konservativer und liberaler Strömungen. Durch die breite Einbindung verschiedenster antisozialistischer und antitotalitärer politischer Lager positionierte sich die ÖVP von Beginn der Zweiten Republik als breite Sammelbewegung der Mitte, kurz: als Volkspartei. Sozialpolitische Leitwerte waren Solidarität und Personalität, wirtschaftspolitisch entwickelte man das Leitbild einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft, der sozialen Marktwirtschaft. Sämtliche Programmdebatten und Grundsatzprozesse sind im „Jahrbuch für Politik“ detailliert in den Jahrgangsbänden 1970–75, 1989, 1992 und 1995 beschrieben. Auch organisatorische Reformen wurden immer wieder kontroversiell angedacht und andiskutiert; so entwickelte etwa Josef Taus Pläne zur Neugliederung der ÖVP von einer bündisch organisierten zu einer einheitlichen Partei mit zentraler Parteimitgliedschaft; einen guten Einblick in die 171 österreichisches jahrbuch für politik 2008 organisatorischen Reformversuche der Volkspartei gibt Alfred Stirnemann im „Jahrbuch für Politik“ 92. Hier erfolgt nun eine hermeneutische Interpretation sowie ein close reading all dieser Texte, um die wesentlichen ideengeschichtlichen Innovationen und programmatischen Erneuerungen der jeweiligen Epochen in nuce darzustellen. Mit dieser Methodik versuche ich, die begriffliche Essenz sowie die entscheidenden Kehren der einzelnen Texte freizulegen. Lag in den entbehrungsreichen Jahren des Wiederaufbaus der programmatische Schwerpunkt bei der Schaffung und Sicherung eines bescheidenen Wohlstands für jeden Bürger, reagierte die Volkspartei 1972 auf die geistigen Umbrüche und falschen Versprechungen des Jahres 1968. Das Salzburger Programm war ein besonnener und entschiedener Gegenentwurf zum radikalen und utopischen Denken der Studentenrevolution und der Kritischen Theorie. Aus der Position einer materiell abgesicherten Gesellschaft mit Vollbeschäftigung fokussierte die Programmdebatte jetzt mehr immaterielle Werte; erstmals wurden Themen wie Lebenssinn und Lebensqualität erörtert, die Entstehung einer breiten soziologischen Mittelschicht sowie die theoretische Debatte, ob die Volkspartei konservativ oder progressiv sei, mündete im Begriff der ÖVP als Partei der progressiven Mitte. Die Festlegung auf diesen Begriff zeigt erneut die Integrationsfähigkeit der ÖVP, divergierende Meinungen und Ideologien abzumildern und zu einer produktiven Einheit zusammenzudenken. Die ÖVP vertritt insofern eine konservative Grundposition, da sie von einem christlich-metaphysischen Weltbild aus denkt und sich in der Tradition von Naturrecht und den Zehn Geboten an für sie unverhandelbaren ahistorischen Grundnormen orientiert. Progressiv ist die Volkspartei aber insofern, indem sie evolutionäre, nicht revolutionäre Fortschritte im politischen System durch die schöpferische Übernahme der Vergangenheit auf die Anforderungen der Gegenwart übernimmt. Reformen bedeuten in ÖVP-Lesart, Leistungsverbesserungen eines bestehenden Systems und keine Überwindung und Revolution des Status Quo. Diese Festlegungen waren notwendig geworden, da in Anlehnung an die Aufbruchsstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils von Teilen der Partei die Neupolitisierung des Glaubens gefordert worden war. Mit der Absage an diese Forderung beendete das Salzburger Programm 172 christian moser | nachdenken für österreich den „Säkularisierungsprozess der ÖVP“. Als neuer Grundwert nahm man Gleichheit ins Programm. Neben diesen zentralen begriffsphilosophischen Festlegungen erarbeitete das Salzburger Programm auch ein ausformuliertes Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Diese Wirtschaftsform sei im Gegensatz zum angelsächsischen Kapitalismus und dem Sozialismus nicht nur für das Gemeinwohl das effizienteste, sondern auch der bestmögliche ordnungspolitische Rahmen für Frieden und Prosperität im Staat. Soziale Marktwirtschaft denkt neben den Prinzipien der Freiheit des Einzelnen immer auch das Prinzip des sozialen Ausgleichs mit. Sozialer Ausgleich bedeutet soziale Sicherheit für den Einzelnen, wobei hier immer die finanziellen und intergenerativen Systemgrenzen mitgedacht werden müssen. Zweitens meint Ausgleich ein Bekenntnis zum Sozialstaat, Leistungen wie Sozialversicherungen und Pensionsvorsorge werden dem Staat zugeordnet. In einer abschließenden Beurteilung bewertet der Historiker Robert Kriechbaumer das Salzburger Programm als „bedeutende intellektuelle Leistung“. Mit dem Programm sei es gelungen, sich deutlich von der SPÖ abzugrenzen und die Partei nachhaltig zu modernisieren. Die nächste Forderung nach einer Programmreform erklang nach der Wahlniederlage des Jahres 1990. Die ÖVP hatte fast zehn Prozentpunkte verloren und wollte rechtzeitig zu ihrem 50-jährigen Bestehen ein neues Grundsatzprogramm vorlegen. Wegen der Wahlniederlage sollte das neue Programm wieder die Integrationsfähigkeit der Partei zeigen; inhaltliche Umwälzungen und größere grundsatzpolitische Änderungen sollten vermieden werden. Am Anfang der Diskussion stand die Erkenntnis, dass mittlerweile das politische System Österreichs mit neuen rechtspopulistischen und linksökologischen politischen Bewegungen konfrontiert war. Ziel der Volkspartei war es, mit dem Programm eine Absage an die Verkünder einfacher Wahrheiten der politischen Ränder zu artikulieren, die Volkspartei als Kraft der Mitte zu festigen und das liberale Element der ÖVP stärker Kriechbaumer, Robert:� Die Reform- und Programmdiskussion der ÖVP, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1970, S. 123. ������������� Ebd., S. 132. Vgl. dazu: Auer, Clemens Martin/Marschitz, Walter: Die Diskussion zum neuen Grundsatzprogramm der Volkspartei 1995, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1995, S. 167–192. 173 österreichisches jahrbuch für politik 2008 zu betonen. Auch Erkenntnisse der US-amerikanischen Kommunitarismusdebatte inspirierten die Debatte. Denn ein liberaler Rechtstaat, demokratische Parteien und eine Bürgergesellschaft rekurrieren auf Werte, die aktiv vertreten werden und für die der Einzelne mit seinen Taten und Worten auch Verantwortung übernimmt. Eine Politik ohne Werte höhlt das Wesen der Demokratie aus, wobei das Wertebewusstsein der Volkspartei gleichermaßen dem Christentum und der humanistischen Tradition der Aufklärung verpflichtet ist. Als christdemokratische Grundwerte definierte man die partnerschaftliche Gesellschaft als dritten Weg gegenüber Kapitalismus und Sozialismus, ein liberales Verfassungs- und Grundrechtsverständnis und ein Menschenbild, dass von der christlichen Soziallehre geprägt ist. Im Unterschied zur Salzburger Programmdiskussion stand diesmal also von Beginn der Debatte fest, dass sich die Volkspartei eindeutig als christdemokratische Partei versteht. Erstmals nennt sich die Partei jetzt christdemokratisch, nicht mehr wie bislang christlich-sozial. Das Selbstverständnis der ÖVP wurde im Wiener Programm 5-fach festgelegt: Die ÖVP versteht sich als a) christdemokratische Partei, b) als Partei des liberalen Rechtstaates und der offenen Gesellschaft, c) als Partei der ökosozialen Markwirtschaft d) als Österreichpartei in Europa und e) als soziale Integrations- und damit als Volkspartei. Vier neue Grundwerte wurden in das Parteiprogramm aufgenommen: Sicherheit,Verantwortung, Nachhaltigkeit und Toleranz. Sicherheit ist breiter als innere und äußere Sicherheitspolitik definiert. Als zentrales Grundbedürfnis der Menschen schließt es auch die Gewährleistung von sozialer Sicherheit (Wohnung, Arbeitsplatz, langfristig finanzierbare soziale Sicherungssysteme) für die Bevölkerung mit ein. In der Tradition der Schöpfungsbewahrung stehend wird Nachhaltigkeit als politische Norm für den maßvollen Umgang mit natürlichen und menschlichen Ressourcen etabliert. Nachhaltigkeit ist breiter als Umweltschutz gefasst und denkt beispielsweise auch Generationengerechtigkeit mit. Verantwortung steht für eine Absage an Egoismus und Spaßgesellschaft und verlangt vom einzelnen Bürger, dass er für sein Handeln gegenüber der Gemeinschaft persönlich haftet. ��������������� Ebd., S. 176 f. 174 christian moser | nachdenken für österreich Zusätzlich zu den neuen Werten erhielt der Grundwert Leistung eine inhaltliche Überarbeitung. Leistung ist nicht nur vom Individuum her zu denken, sondern impliziert eine gesellschaftliche Dimension. Leistung ohne Verantwortung für das Gemeinwesen und das Wissen um die Systemgrenzen widerspricht der christdemokratischen Überzeugung. Fehlentwicklungen wie die durch faule Kredite der US-Bauwirtschaft ausgelöste weltweite Finanzkrise wären durch ein nicht von Gier, sondern von Verantwortung angetriebenes Leistungsprinzip zu vermeiden gewesen. Gestrichen wurde aus dem Grundwertekatalog der Wert der Gleichheit, da dieser Wert dem Wert der Wahlfreiheit gegenübersteht und in der politischen Praxis nur allzu oft mit einer Nivellierung für alle einhergeht. Dem Wiener Programm des Jahres 95 gelang mit dieser Schwerpunktsetzung die notwendige Verständigung auf wesentliche Grundwerte einer pluralistischen Gesellschaft im vereinten Europa, für Andreas Khol ebnete das Wiener Programm den entscheidenden Schritt zum Schüssel-Ditz-Kurs und bereitete den Weg zur Wende.10 Kontinuierliche grundsatzpolitische Arbeit Neben den großen Parteiprogrammen verfasste die ÖVP „in einer ungebro­ chenen Programmtradition seit 1945“11 sowohl als Regierungs- als auch als Oppositionspartei mehrere Aktionsprogramme und initiierte Nach- und Vor­ denkprozesse12, um programmatische Leitideen zu finden, nachzuschärfen und in der Folge für die Umsetzung in der Realpolitik aufzubereiten. Seit 1971 wird „faktisch eine konstante Ideologiediskussion geführt, die immer wieder zur neuerlichen Durchdringung des Salzburger Programms führt, aber auch Aktionsprogramme hervorbringt, welche weit über die Notwendigkeit von Wahlprogrammen hinausgehen.“13 Zum Selbstverständnis der ÖVP gehören also Programm- und Ideologiediskussionen; sie werden gleichermaßen von ihren Funktionären und Mitgliedern erwartet. 10 Khol, Andreas: Die Programmtradition der Österreichischen Volkspartei, in: Rauch-Kallat, Maria (Hg.): Zukunftswelten. Lebenswelten. Materialien zum Alpbach-Prozess, Wien 2001. S. 11. 11 Ebd., S. 10. 12 Vgl. dazu SteiNdl, Clemens: Die Zukunftsdiskussion in den Großparteien. Zeitlicher Ablauf, Organisation, Ergebnisse, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989, S. 741–761. 13 Vgl. Khol, Andreas (Hg.): Das Zukunftsmanifest der ÖVP: Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse. Reihe Arbeitsbücher, Nummer 14, Wien 1985, S. 1ff. 175 österreichisches jahrbuch für politik 2008 Diese kontinuierliche Grundsatzarbeit dient der ideologischen Profilierung der Volkspartei und soll Raum für neue politische Wege und Lösungsansätze bieten. Als Oppositionspartei während der Kreisky-Alleinregierung entwarf die ÖVP vier „Pläne zur Lebensqualität“ (1973–1975), die die ökosoziale Dimension der Marktwirtschaft bereits andachte. Zwischen 1977 und 1979 präsentierte die ÖVP „16 Alternativen“ zum Austrokeynsianismus, das unter anderem ein innovatives Konzept der Arbeitsplatzsicherung durch Berufsbildung enthielt, und entwickelte als politische Antwort auf steigende Budgetdefizite und eine sich strukturell verfestigende Arbeitslosigkeit 1980 das „Modell Österreich.“ Hier entwarf man das Leitbild des selbständigen Menschen und stellte dieses dem sozialstaatlichen Paternalismus Bruno Kreiskys entgegen. Leitthemen waren Schule/Familie, Umwelt/Energie, Demokratie/Kontrolle und soziale Marktwirtschaft. Der Grundwert der Freiheit wird in den Vordergrund gestellt und „Mitentscheiden als Mitverantwortung“ definiert.14 Als das negative Erbe der Kreisky Ära immer offensichtlicher wurde und sich die Abwahl dieses Politikmodells abzeichnete, erarbeitete die ÖVP zwischen 1983 und 1985 ein „Zukunftsmanifest für eine neue Freiheit“15. Im 309 Seiten starken Zukunftsmanifest werden „Konturen einer Gesellschaft“ gezeichnet, welche die Partei nach „15 Jahren sozialistischer Herrschaft“ realisieren will. Mit Erfolg: nach langen Oppositionsjahren brachte das Zukunftsmanifest die ÖVP wieder in die Regierung; das Manifest entwarf in zwölf Kapiteln eine Gesellschaft freier Menschen und hält programmatisch fest, dass „alles Leben Wachstum ist, Maßstab dieses Wachstums aber die Lebensqualität“16 sein muss. Steindl bewertet das Zukunftsmanifest „als eines des Optimismus und der Hoffnung“ und hält fest, dass es damit gelang „das grundsatzpolitische Profil der ÖVP“ zu stärken sowie ihre „Führungskompetenz mit perspektivischen Konzepten“17 zu begründen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Zukunftsdiskussionen in einem diskursiv fruchtbaren Umfeld statt- 14 Steindl, Clemens: a. a. O., S. 754. 15 Vgl. Khol, Andreas (Hg.): Das Zukunftsmanifest der ÖVP: Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse. Reihe Arbeitsbücher, Nummer 14, Wien 1985. 16 Steindl, Clemens: a. a. O., S. 755 f. 17 Ebd., S. 756, S. 760. 176 christian moser | nachdenken für österreich fanden: „Das bereits im Salzburger Programm angetönte empanzipatorische Denken, geprägt von Streben nach „Selbstverwirklichung“ und Überwindung der „Entfremdung“ hatte in manchen intellektuellen Schichten der Partei den Durchbruch geschafft.“18 Erstmals wurde auch eine Kritik am Wohlfahrts- und Steuerstaat formuliert. Der Postmaterialismus wurde auch innerhalb der Volkspartei aufgenommen und die neue Wertediskussion belebte alle ihre ideologischen Richtungen und Schulen. Als Antipode zum postmaterialistischen Flügel artikulierte sich auch immer stärker eine konservative Position, die die Notwendigkeit naturrechtlicher Bindungen betonte und den Hedonismus und den Egoismus der „68er“ bekämpfte. Der konservative Block forderte eine Werterenaissance und einen verbindlichen Kanon bürgerlicher Tugenden. Innerhalb dieses produktiven Spannungsfeldes kam es zu einer breiten Diskussion, „sie spielte sich im Kräftefeld von Vertretern emanzipatorischen, alternativen und neokonservativen Deutern des Salzburger Programms ab.“19 Eine weitere Besonderheit dieses Diskussionsprozesses war, dass der „im Kampf um die Sprache bereits hoffnungslos verloren geglaubte Begriff des Konservatismus eine zögerliche Renaissance erlebte, gleichzeitig aber Politiker nach wie vor davor scheuten, diesen Begriff zu verwenden oder sich zu seinem Inhalt zu bekennen. Zu stark wirkte noch die Verteufelung konservativen Denkens nach, zu stark befürchtete man, vom politischen Gegner, den Sozialisten, als konservativ bezeichnet zu werden und damit Nachteile in der öffentlichen Meinung zu erleiden.“20 Wesentliche Punkte des Zukunftsmanifestes bildeten 1986 die Grundlage für das Regierungsprogramm der SPÖ – ÖVP-Koalition. Als Juniorpartner der großen Koalition verfasste die ÖVP 1989 die Wiener Erklärung, die neben vier geistig-politischen Schwerpunkten auch das Modell der öko­ sozialen Marktwirtschaft entwickelte. Dieses vom damaligen Bundesparteiob­ mann Josef Riegler präsentierte Modell ist eine stimmige Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft; Riegler ergänzte Wirtschafts- und Sozialpoli- 18 Khol, Andreas (Hg.): Das Zukunftsmanifest der ÖVP: Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse. Reihe Arbeitsbücher, Nummer 14, Wien 1985, S. 4. 19 Ebd., S. 5. 20 Khol, Andreas: Vorbote des Kurswechsels? Das Zukunftsmanifest der Österreichischen Volkspartei, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1985, S. 208. 177 österreichisches jahrbuch für politik 2008 tik mit ökologischer Verträglichkeit. Als Vordenker der Nachhaltigkeit führte Riegler die früher gerne als Antipoden gedachten Sphären von Natur und Kultur zusammen. ÖVP – Programmarbeit als Kanzlerpartei Auch während der Regierungsarbeit der Kabinette Schüssel I und II ruhte die Programmarbeit nicht. Der Reformkanzler vertrat die Position, dass sich Regierungsarbeit nicht auf die Funktion des kurzfristigen Krisenmanagements reduzieren dürfe. Auch Regierungsparteien hätten gegenüber dem Staatsbürger die Pflicht Nachdenkprozesse selber in die Hand nehmen, selber organisieren und selber zu einem Ergebnis bringen zu müssen.21 Denn so die – an der intensiven Lektüre Balthasar Gracians geschulte – Erkenntnis des Kanzlers: Wer als Regierungspartei nachhaltig erfolgreich sein will, muss über das politische Programm einer Legislaturperiode vordenken. Nachdenken, Reflektieren und anschließendes Handeln waren für Schüssel nicht Selbstzweck, sondern gehören zum selbstverständlichen Handwerk des im aristotelischen Sinne redlichen Politikers: „Die Entfaltung einer zukunftsorientierten Politik ist nicht politische Kür. Das Antizipieren des Neuen und die Moderation des darüber Nachdenkens ist politische Pflicht. Gefragt ist ein politisches Sowohl-als-auch-Denken, das sowohl kompetent die Themen der Tagespolitik bearbeitet als auch verantwortungsbewusst an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts denkt. Erfolg bedeutet in diesem Nachdenkprozess aber nicht die Jagd danach, immer den idealen Moment des optimalen medialen Verkaufs zu erwischen, sondern in Gelassenheit und Sicherheit zur richtigen Zeit auf die sich uns stellenden Fragen eine Antwort zu haben – und seien es auch mehrere Handlungsoptionen.“22 Trotz der fordernden Kanzlerschaft und des hektischen Tagesgeschäftes – mit der durch die FPÖ-Spaltung bedingte vorzeitige Neuwahl – initiierte Wolfgang Schüssel den Alpbachprozess, dessen luziden Ergebnisse 2001 im Band „Zukunftswelten. Lebenswelten“ und 2004 im Band „Wertewel- 21 Vgl. dazu Schüssel, Wolfgang in: Rauch-Kallat, Maria (Hg.): Zukunftswelten. Lebenswelten. Materialien zum Alpbach-Prozess, Wien 2001. S. 7. 22 Ebd., S. 8. 178 christian moser | nachdenken für österreich ten. Lebenswelten“ zusammengefasst wurden. Der Alpbach-Prozess war der Versuch, von „der Tradition einen reinen Klausur des Bundesvorstandes“ abzugehen und die „Zahl der Delegierten durch die Einladung von jüngeren Meinungsführern und Verantwortungsträgern auf eine breitere Basis“23 zu stellen. Mit den Worten des Architekten der Wende, Andreas Khol, gelang es dem Kabinett Schüssel I, den „überbordenden sozialdemokratischen Hochsteuerstaat mit ausuferndem Sozialsystem“ umzubauen. „Die Wende führte zur Modernisierung, zu neuem Wohlstand und zur Belebung der erstarrten demokratischen Prozesse … die Demokratie wurde lebendiger.“24 Dieser notwendige Umbau gelang auf dem festen Fundament christdemokratischer Überzeugungen und erfolgte laut Martin Bartenstein ohne inhaltliche Neupositionierung: „Das Mitte-Profil der Österreichischen Volkspartei hat sich im Vergleich zu den beiden anderen Parteien [nämlich SPÖ und FPÖ] durch den Regierungswechsel nicht verändert, allerdings ist es in der öffentlichen Diskussion sichtbarer geworden. In diesem Zusammenhang muss freilich auf die bemerkenswerte programmatische Kontinuität der ÖVP seit 1945 hingewiesen werden, die sich außerdem stets innerhalb der Tradition der europäischen Christdemokratie bewegt hat.“25 Diese Kontinuität wollte Bundeskanzler Schüssel mit dem AlpbachProzess fortschreiben; es war ihm ein persönliches Anliegen, diesen Nachdenkprozess über die Parteigrenzen hinaus zu führen, weshalb auch Vertreter der Zivilgesellschaft zur Mitarbeit eingeladen wurden. Als einziger Partei gelang es der ÖVP seither, in den permanenten Austausch mit Wissenschaft, Kultur, Bürgergesellschaft und Wirtschaft zu treten und diese fruchtbare Zusammenarbeit auch zu institutionalisieren. Als Nachdenk- und Innovations- 23 Köhler, Thomas: Die Neupositionierung der Österreichischen Volkspartei von der Wende 2000 bis zum Alpbacher Bundeskongress 2001, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/Burkert-Dottolo, Günther/Karner, Stefan: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2000, Wien 2001, S. 356. 24 Khol, Andreas: Neu Regieren in einer „autoritären Wende“? Zwischenbilanz einer demokratischen Wende, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/Burkert-Dottolo, Günther/Karner, Stefan: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2000, Wien 2001, S. 581. 25 Bartenstein, Martin, zitiert nach: Köhler, Thomas: Die Neupositionierung der Österreichischen Volkspartei von der Wende 200 bis zum Alpbacher Bundeskongress 2001, in: Khol, Andreas/ Ofner, Günther/Burkert-Dottolo, Günther/Karner, Stefan: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2000, Wien 2001, S. 364. 179 österreichisches jahrbuch für politik 2008 betrieb erarbeitet der Prozess Richtlinien für die erfolgreichen Reformen der Kabinette Schüssel I und II. So würdigte der deutsche Wirtschaftsnobelpreisträger Reinhard Selten den Reformkurs Österreichs: „Deutschland kann lernen. Von allen europäischen Nachbarn, aber vor allem von Österreich. Dort gibt es weniger Bürokratie und deshalb mehr Investitionen. Weniger Steuern für Unternehmen wirken sich auch auf dem Arbeitsmarkt positiv aus: Die Arbeitslosigkeit ist dort deutlich geringer als bei uns.“26 Praktische Erfolge konnten bei der Weiterentwicklung der ökosozialen Marktwirtschaft erzielt werden: Schuldenstopp sowie der Grundsatz der fairen und ausgewogenen Besteuerung wurden als neue fiskalpolitische Ziele der Christdemokratie festgeschrieben. Aber auch die christliche Überzeugung, wonach der Mensch nicht vom Brot allein lebt und als Sinnsucher auch nichtmaterielle Werte und Sehnsüchte hat, wurde vom Pastoraltheologen Paul Zulehner in Alpbach für die Anforderungen der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft adaptiert. Zulehner sieht als wesentlichen Auftrag der Politik, einen Ausgleich zwischen der wachsenden Freiheitsbewegung und der Gerechtigkeitsbewegung in Europa zu schaffen. Dieser Ausgleich brauche aber mehr als ethische Appelle, sondern eine generationenverträgliche und generationenübergreifende Politik. Dieser Ausgleich ist freilich für Politiker und Bürger nur dann intelligibel, wenn sich jeder Mensch für den nächsten auch verantwortlich fühlt: „Dann ist Solidarität nicht nur ein Luxus, den wir uns um des sozialen Friedens leisten müssen, sondern dann ist solidarisches Leben der Königsweg der Menschlichkeit.“27 Für die ÖVP ist Österreich also mehr als ein – in enge betriebswirtschaftliche Kennzahlen gefasster – Wirtschaftsstandort, sondern ein Menschlichkeitsstandort, eben eine Heimat für alle. 2006 folgten die Zukunftsgespräche, die österreichweit in allen Gemeinden stattfanden. In den 12 Themenblöcken „Arbeit.leben, Entlastung. leben. Sicher.leben. Innovativ.leben. Sozial.leben. Gesund.leben. Familien.leben. Frauen.leben. Generationen.leben. Regionen.leben. Europa.leben“ entwickelte man das Leitbild eines sozialen und leistungsstarken Österreich. 26 Ideen säen. Zukunft ernten. Perspektiven für Österreich. Materialien für die Zukunftsgespräche 2006, S. 1. 27 Zulehner, Paul: Die Kunst der Balance, in: Rauch-Kallat, Maria (Hg.): Zukunftswelten. Lebenswelten. Materialien zum Alpbach-Prozess, Wien 2001, S. 77. 180 christian moser | nachdenken für österreich Wie schon 1990 steht auch diesmal eine Wahlniederlage am Beginn einer umfassenden Programmdebatte. 2006 begann die Vorarbeit an einem neuen Parteiprogramm mit dem Perspektivenprozess unter Josef Pröll. Der Perspektivenprozess28 stellte sich der Frage, wie eine Volkspartei im 21. Jahrhundert inhaltlich aufgestellt sein muss, um Wahlen zu gewinnen und Österreich zu einem europäischen Modellstaat zu machen. Damit war der Anspruch verbunden, über die Grenzen bestehender Strukturen und Gewohnheiten hinauszugehen. In 16 Foren wurden gemeinsam von Parteiinternen und Parteiexternen neue Schwerpunktsetzungen christdemokratischer Politik erarbeitet. So flossen beispielsweise die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Generationen zur Gänze aus den Inputs der Denkwerkstatt – einer 2005 gegründeten Plattform des Österreichischen Seniorenbundes – in das Endpapier des Perspektivenprozesses ein. Der Think Tank des Seniorenbundes bündelte die wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungs- und Diskussionstätigkeit 2007 im Buch „Die Freiheit hat kein Alter – Senioren. Zukunft. Leben“. Mit der Denkwerkstatt gelang es dem Seniorenbund in der Öffentlichkeit breitenwirksam das Selbstbild der Senioren als einer gewonnenen Generation zu verankern. Diese offene, positive und lösungsorientierte Arbeitsweise hat auch den Perspektivenprozess geprägt. Josef Pröll hatte nach der Wahlniederlage von 2006 den Erneuerungsauftrag des Wählers an die Volkspartei so formuliert: „Wir haben verstanden. Der Perspektivenprozess will als Ziel einen modernen Konservatismus. Aus der Mitte des Volkes. An der Seite der Menschen. Auf der Höhe der Zeit.“29 Neue Perspektiven hat auch die CDU in ihrem neuen Programm erarbeitet, sie hat 2007 ihr drittes Grundsatzprogramm vorgelegt, welches für die nächsten zwei Dekaden konzipiert ist. Die CDU definiert sich in ihrem neuen Parteiprogramm als „Volkspartei der Mitte“ und bekennt sich zu ihren christlich-sozialen, liberalen und konservativen Wurzeln. Dabei räumt sie ein, „… dass sich aus dem christlichen Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lässt. Die CDU ist für jeden offen, der die Würde und Freiheit aller Menschen anerkennt und die hieraus folgenden 28 Vgl. dazu: http://www.zukunft.at/Common/Downloads/ergebnispapier.pdf 29 Ebd., S. 62. 181 österreichisches jahrbuch für politik 2008 Grundüberzeugungen unserer Politik bejaht.“30 Orientierungsmaßstab ist das christliche Menschenbild. Davon abgeleitet werden die drei Grundwerte „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“. Als politisches Ziel für Deutschland nennt die CDU die Chancengesellschaft: Jede Bürgerin und jeder Bürger soll nach deren Talenten und Fähigkeiten bestmöglich ausgebildet werden. Gesellschaftspolitisch will die CDU eine Gesellschaft freier und sicherer Bürger. Als drängendste Herausforderungen für die nächsten zwei Jahrzehnte nennt die CDU die Förderung der Familien, eine Bildungsoffensive für alle, eine Forschungsoffensive, um der deutschen Ingenieurskunst eine neue Blüte zu ermöglichen, die Erhaltung der sozialen Sicherheit für alle Generationen, die Schaffung und Sicherstellung eines soliden Staatshaushaltes sowie den Erhalt der Schöpfung. Erstmals nennt die CDU Deutschland ein Integrationsland und liefert eine Definition: „Integration bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für unser Land. Deutschland ist Integrationsland. … Deutschkenntnisse sind der Schlüssel zur Integration. Unser Grundsatz lautet Fordern und Fördern. Wer sich der Integration verweigert, muss mit Sanktionen rechnen. Integration betrifft umfassend alle Politikfelder.“31 Mit diesem Programm wurde die Klammer zwischen den Rechten des Einzelnen (Freiheit) und den Rechten der Gemeinschaft (Sicherheit) zeitgemäß und mit Augenmaß weiterentwickelt. Erneuerung und Aufbruch mit Josef Pröll Im Frühjahr 2009 werden Vizekanzler Josef Pröll und Generalsekretär Fritz Kaltenegger unter Einbindung aller Bünde und Landesorganisationen mit der Arbeit für ein neues Parteiprogramm beginnen. Vizekanzler Pröll möchte dabei die programmatische Orientierungen der Volkspartei an ihrer politischen Praxis ablesen. Freiheit, Selbstbestimmung, Leistung, die richtige Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft, Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen und der Vorrang subsidiärer Lösung vor dem Zentralismus 30 Vgl. dazu CDU-Grundatzprogramm http://www.grundsatzprogramm.cdu.de/doc/080215grundsatzprogramm-kurz.pdf, S. 1. 31 Ebd., S 11. 182 christian moser | nachdenken für österreich lauteten Prölls erste inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Pröll überraschte im Vorfeld der Programmdebatte mit einer neuen Interpretation des Begriffes „konservativ“: „Konservativ zu sein bedeutet auch, Neues zu schaffen, was künftige Generationen als bewahrenswert betrachten. Und so ist Innovation keine Gefahr für den Konservatismus, sondern Voraussetzung für seinen Bestand.“32 Die Volkspartei möchte den Programmprozess offen gestalten und sich dabei auch unangenehmen Fragen stellen: Wie können wir von den Wählern wieder besser verstanden werden? Welches sind die Werte, für die uns der Wähler schätzt? Ziel des neuen Programms wird es sein, verständlich zu sein. Jeder Wähler soll auf einen Blick wissen, was es ihm bringt, ÖVP zu wählen. Um erfolgreich Politik zu machen, ist es wichtig, Themen zu besetzen, die Themenführerschaft an sich zu binden und mit eigenen Positionsthemen zu punkten, anstatt nur auf V orstöße der Mitbewerber zu reagieren. Mit guten Inhalten ist es auch als Juniorpartner in einer Regierung möglich, Wahlen zu gewinnen und 2013 wieder stimmenstärkste Partei zu werden. Erfolgreiche bürgerliche Politik muss nach dem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts (Ralf Dahrendorf) mehr wollen als Sozialismus mit zwanzig Jahren Verspätung, so eine bekannte Formulierung von Margaret Thatcher. Denn – so ein Aperçu des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard – wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald Witwer sein. Der Programmprozess der ÖVP steht vor der Herausforderung, aus einer kontrollierten Offensive innovative Politikkonzepte zu entwickeln und nicht blind jeder Mode und Forderung von Feuilleton und Juste Milieu zu folgen. Die Voraussetzungen sind 2009 dafür ideal. Wie in den 1970er Jahren stehen Gesellschaft und Politik vor einer Zäsur und Zeitenwende, diesmal allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Damals herrschte nach Jahren der ÖVP-Alleinregierung Vollbeschäftigung und Zukunftsoptimismus; die Staatskassen waren prall gefüllt und Politik konnte sich erstmals nicht nur mit harten Zahlen, sondern auch mit weichen Themen wie Lebensqualität auseinandersetzen. 32 Pröll, Josef: Braucht die ÖVP ein neues Programm?, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/ Karner, Stefan/Halper, Dietmar (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 2007, Wien 2009, S. 16. 183 österreichisches jahrbuch für politik 2008 Die Zeiten postmaterialistischer Nabelschau und eines selbstgefälligen ökologischen Antirationalismus sind vorbei; Politik muss sich heute wieder den harten ökonomischen Realitäten der Bevölkerung stellen: Ein neues Prekariat ist entstanden, die Mittelschicht schmilzt ab, Zuwanderung kostet dem Staat mehr, als er davon profitiert33, Reallöhne der Erwerbstätigen stagnieren, die österreichische Bevölkerung wird älter. Die Volkspartei wird sich im kommenden Programmprozess all diesen drängenden Sachverhalten mit der gebotenen Ernsthaftigkeit stellen. Es ist der politische Wille der Volkspartei, dass der erarbeitete Wohlstand der Bevölkerung nicht abschmilzt. Sie wird im Programmprozess daher Wege suchen, produzierende Gewerbe zu stärken, Landflucht einzudämmen, Bildungs- und Infrastruktur auszubauen, Sicherheit der Energieversorgung langfristig und für die Konsumenten billig zu gewährleisten, die sozialen Sicherungssysteme trotz Geburtenschwund nachhaltig zu finanzieren und die Arbeitslosenzahlen möglichst niedrig zu halten. Metapolitisch wird sich die ÖVP der Frage stellen, wie Verteilungsgerechtigkeit (zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Steuerzahlern und Transferempfängern) und (Wahl-)Freiheit am besten realisierbar sind. Ein familienfreundliches Umfeld durch die Förderung der 3- und 4Kind-Familie sowie die Senkung der Staats- und Steuerquote könnten weitere Maßnahmen zur Belebung der Volkswirtschaft darstellen. Denkverbote wird es in der Programmdiskussion keine geben. Daher wird die Volkspartei auch das Primat der Politik genau erörtern; die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise und die jetzt weltweite Rezession haben gezeigt, dass auch die Marktwirtschaft strenge Regulative und einen ordnungspolitischen Rahmen braucht, um dem Gemeinwohl zu dienen. Mit der ökosozialen Marktwirtschaft vertraut die ÖVP dabei auf ein Ordnungsmodell, das im Wettbewerb mit den Sozialisten und Staatsfetischisten in allen anderen Parteien – deren Rufe nach mehr Staat, mehr Regulierung, mehr Abgaben stündlich lauter werden –, am besten geeignet ist, mit den richtigen Maßnahmen der jetzigen Rezession einen Konjunkturaufschwung folgen zu lassen. 33 Vgl. dazu das „Presse“-Dossier zum Thema Migration vom 12.08.2007: Was Zuwanderer bringen und kosten, S. 1 bis 4. 184 christian moser | nachdenken für österreich Literatur Auer, Clemens Martin/Marschitz, Walter: Die Diskussion zum neuen Grundsatzprogramm der Volkspartei 1995, in: Khol, Andreas/ Ofner, Günther/ Stirnemann, Alfred (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1995, Wien/München 1996, S. 167–192. Eberlein, Klaus D.: Die Wahlentscheidung vom 17. September 1961, ihre Ursachen und Wirkungen, in: Zeitschrift für Politik, 9/1962. Flohr, Heiner: Parteiprogramm in der Demokratie. 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Die Parteireform der ÖVP 1991, in: Khol, Andreas/ Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1992, Wien/München 1993, S. 669–693. Onlinequellen Das Ergebnis des ÖVP-Perspektivenprozesses ist nachzulesen und herunterzuladen unter http://www.zukunft.at/Common/ Downloads/ergebnispapier.pdf CDU Grundsatzprogramm: http://www.grundsatzprogramm.cdu.de 185