Trichotillomania Artikel aus eMedicine vom 28. August 2002 von Dr. med. Chull-­‐Wan Ihm übersetzt von Anna L. Hintergrund: Trichotillomanie wird heute nicht mehr als so selten oder so harmlos betrachtet wie früher. Patienten mit Trichotillomanie, die dermatologische Praxen aufsuchen, erscheinen in ihrem alltäglichen Verhalten normal, bis auf die Gewohnheit, die zum Haarverlust führt, zumindest aus der Sicht von Laien. Junge Patienten und ihre Eltern sehen den Haarverlust als dermatologisches Leiden. Tatsächlich werden viele dieser Patienten von Dermatologen behandelt, die die Ausbildung und Kenntnisse haben, die richtige Diagnose zu stellen. Die Prognose für Trichotillomanie ist mäßig bis ziemlich gut. In einer kleineren Gruppe erwachsener Patienten, die jahrelang an Trichotillomanie leiden, ist der Haarverlust normalerweise stark und trotz psychiatrischer Intervention schwer zu behandeln. Pathophysiologie: Diese Art von traumatischem Haarverlust tritt als Ergebnis eines zwanghaften Haareausreißens durch den Patienten auf. Häufigkeit: • USA: Nach Mehgeran (1970) meldeten 100 Dermatologen zwei bis drei Fälle pro Jahr. Nach Muller (1990) war die Krankheit alles andere als selten, wenn auch nicht häufig, sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen. Nach einem Bericht von 1978 wurde angenommen, dass bis zu acht Millionen Amerikaner betroffen sein könnten. • International: Wenn man den guten Verlauf der Krankheit mit Spontanheilung berücksichtigt, ist das tatsächliche Auftreten in der allgemeinen Bevölkerung wahrscheinlich viel höher als die Fälle, die Ärzte sehen. In Südkorea sehen Dermatologen ungefähr einen Fall pro Jahr. Geschlecht: Bei Kindern tritt die Krankheit bei Jungen etwas häufiger auf als bei Mädchen. Bei Jugendlichen sind mehr Mädchen als Jungen betroffen. In psychiatrischen Kliniken behandelte Erwachsene sind zum größten Teil weiblich. Alter: Es ist am besten, die Patienten in zwei Altersgruppen einzuteilen. Die Gruppe vom Säuglingsalter bis zur Volljährigkeit umfasst die meisten der Patienten, die dermatologische Praxen aufsuchen. Erwachsene Patienten, von denen die meisten im Kindesalter diagnostiziert wurden, werden normalerweise in psychiatrischen Praxen und Kliniken behandelt. Krankengeschichte: • Der Patient erscheint oftmals gleichgültig gegenüber der Ursache seiner Erkrankung oder scheint wenig darüber zu wissen. Während des Gesprächs sind die Antworten des Patienten mehrdeutig und können einen unerfahrenen Arzt täuschen. Es sollte daran erinnert werden, dass Haarmanipulationen häufig dann auftreten, wenn die Patienten mit sitzenden Tätigkeiten wie lesen, schreiben oder fernsehen beschäftigt sind. • Oft wird behauptet, dass die Haare nicht länger als 1,5 cm wachsen. • Einige Patienten berichten von Juckreiz auf der Kopfhaut, ohne dass eine sichtbare Dermatose (Hautkrankheit) vorhanden ist. • Um eine richtige Krankengeschichte zu bekommen, ist es notwendig, diese Diagnose zu berücksichtigen. Körperliche Untersuchung: • Für Dermatologen, die die Morphologie genau beachten, ist die Diagnosestellung normalerweise nicht schwierig. Die allgemeine Morphologie eines Einzelherdes mit geometrischer Form und unvollständigem, narbenlosem Haarverlust der beteiligten Region ist typisch für Trichotillomanie (siehe Bild 1 im Originalartikel). • Die Stellen können einzeln oder mehrfach auftreten, die Ausbreitung kann von wenigen Quadratzentimetern bis zu einer großflächigen Kopfhautbeteiligung mit nur wenigen verbliebenen Haaren oder kompletter Kahlheit reichen. Im letzteren Fall ähnelt der Zustand auf den ersten Blick einer angeborenen Verhornungsstörung. • Die Untersuchung mit der Lupe zeigt, dass die Herde mit verschiedenen Kombinationen der folgenden Zustände einhergehen: kurze, nachwachsende Haare mit spitz zulaufenden Enden, abgebrochene kurze Haare, Flaumhaare oder wachsendes Haar, mitesserähnliche schwarze Punkte und leere Follikelöffnungen. • Zusätzlich zu Kopfhautherden können andere behaarte Areale wie Augenbrauen und Wimpern beteiligt sein. Sehr kurze Fingernägel (durch Nagelbeißen) begleitet oft kindliche Trichotillomanie. Ursachen: • Das zwanghafte Verhalten, das den Haarverlust verursacht und aufrecht erhält, ist noch nicht vollständig erklärt worden, kann aber in eine Kategorie von Impulskontrollstörungen eingeordnet werden. Um das wiederholte Verhalten von Haarmanipulation fortzusetzen, dürfte ein bestimmter mentaler Zustand nötig sein, der durch Anspannung mit Befriedigung oder Erleichterung durch das Haare reißen charakterisiert wird. Es ist jedoch nicht angemessen, das Haareausreißen als reine Zwangsreaktion zu bezeichnen. Der auslösende Impuls kann von verschiedenen Signalen im Patienten (intern) oder in der Umgebung (extern) verursacht sein. • Die internen Signale beinhalten verschiedene Emotionen wie Ärger, Frustration und Einsamkeit. Die externen Signale können eine Umgebung beinhalten, in der der Patient zur Manipulation der Haare neigt, ohne unterbrochen zu werden. Obwohl keine universelle Ursache für diese Signale bekannt ist, sind unbefriedigende familiäre Beziehungen oder mütterlicher Liebesverlust besonders bei Kindern häufig zu beobachten. • Außerdem ist es möglich, dass das Verhalten, einmal etabliert, zur Gewohnheit wird, unabhängig vom ursprünglich auslösenden emotionalen Problem. • Die Arten von Manipulation, denen die Haare unterworfen sein können, beinhalten reiben, drehen, brechen, ziehen (ohne herausziehen) und herausreißen. Obwohl die Bezeichnung Trichotillomanie das Herausziehen (tillein, griech. für herausziehen, herausreißen) nahelegt, scheint das eigentliche Ausreißen eine geringere Komponente der gesamten Haarmanipulation zu sein. Wenn das Ziehen (im Vergleich zum Ausreißen) den vorgezogenen Eintritt des Follikels in die katagene Phase auslöst, würde dies zu einem vermehrten Haarverlust führen. • Ebenso dürfte Haarbruch nicht durch eine einzelne Manipulation des Haarschaftes erreicht werden. Wiederholte Verletzung des Haars würde das bereits manipulierte Haar anfälliger für folgende Verletzungen machen, mit dem Ergebnis, dass das Haar leichter bricht. Aus all diesen Gründen könnten die Patienten glauben, der Haarverlust wäre eine Konsequenz einer Haarerkrankung. • Das Verhalten kann willentlich, halbbewusst oder oft auch unbewusst auftreten. Daher sind die mehrdeutigen Antworten des Patienten auf die Fragen des Arztes nicht überraschend und repräsentieren keine absichtliche Simulation. Um Trichotillomanie zu verstehen, müssen sowohl die Biologie des Haares als auch der psychologische Zustand des Patienten verstanden werden. Differentialdiagnosen: Pili torti Druckalopezie durch Kopfbedeckungen oder Helme Temporale trianguläre Alopezie Zugalopezie (z.B. durch strenges Flechten) Labor: • Trichogramm: Mikroskopische Untersuchungen der ausgerissenen Haare variieren je nach dem untersuchten Areal. In Gebieten, in denen alle Haare kurz mit zulaufenden Spitzen sind (nachwachsende Haare), zeigt das Trichogramm nur anagene Wurzeln (keine telogenen). In anderen Gebieten, besonders in solchen mit gebrochenen Haarschäften unterschiedlicher Längen, können vermehrte Zahlen von telogenen Haaren (>20%) beobachtet werden. Histologische Befunde: Eine klinische Diagnose mit Inspektion des Herds und Anamnese ist in vielen Fällen ausreichend. Ein Trichogramm kann hilfreich sein. Oft ist eine Biopsie nötig, um Trichotillomanie von Alopecia areata abzugrenzen. Mehrere Sektionen, entweder vertikal oder horizontal gerichtet, werden empfohlen, um charakteristische Befunde beobachten zu können. Im allgemeinen sollte die Biopsie von einem neuen Herd genommen werden. Die häufigsten Befunde sind leere anagene Follikel (besonders in horizontalen Sektionen), erhöhte Zahlen nicht entzündeter katagener Follikel und pigmentierte Zylinder in den Haarkanälen. Verdrehte oder weggerissene Follikel werden selten gefunden. Trichomalazie (unvollständig verhornte, verdrehte und pigmentierte Haarschäfte), was früher als spezifisch für Trichotillomanie angesehen wurde, kommt in weniger als der Hälfte aller Fälle vor und besteht auch bei akuter Alopecia areata. Wenn horizontale statt der üblichen vertikalen Proben genommen werden, können alle diese histologischen Befunde häufiger und leichter gefunden werden. Es ist zu beachten, dass eine erhöhte Anzahl an katagenen Haaren und Pigmentzylinder in Haarkanälen bei Alopecia areata, Syphilis und Trichotillomanie vorkommen. Es sollte sorgfältig nach Anhaltspunkten für Alopecia areata und Syphilis, z.B. Lymphinfiltrate oder Eosinophile gesucht werden. Plasmazellen, besonders in Oberkopfhautbiopsien, sind normalerweise ein Zeichen für Syphilis. In Biopsien von der Haut des Hinterkopfes kommen Plasmazellen häufig vor, unabhängig von der Ursache des Haarverlusts. Behandlung: • Für Patienten, die dermatologische Praxen aufsuchen, können gute Ergebnisse erzielt werden, wenn man Patienten und Eltern mit der Diagnose konfrontiert. Unterstützende Behandlung durch den Dermatologen kann bereits ausreichen. • Die Haare kurz über der Kopfhaut abzuschneiden oder zu rasieren kann hilfreich sein, um das Verhalten zu stoppen und die Eltern von der Art des Haarverlustes überzeugen. Das Haar wöchentlich zu rasieren kann denselben diagnostischen und überzeugenden Effekt haben. Es sollte daran erinnert werden, dass sich die rasierten bzw. geschnittenen Haare nicht alle im aktiven Wachstumsstadium (anagene Phase) befinden und es einige Wochen dauern kann, bevor sie wieder nachgewachsen sind. • Bei Erwachsenen ist die Behandlung schwierig und enttäuschend und sollte am besten in psychiatrischen Praxen erfolgen. • Es ist ungeklärt, wie gut Antidepressiva und Tranquilizer gegen Trichotillomanie wirken. Gut dokumentierte Berichte in der psychiatrischen Literatur zeigen, dass Clomipramin eine kurzzeitige Verbesserung bei erwachsenen Patienten bewirkt, die stark von Trichotillomanie betroffen sind und die die Krankheit im Alltag einschränkt. Konsultationen: Wenn der Verdacht auf eine ernsthafte psychiatrische Erkrankung besteht, ist ein Psychiater hinzuzuziehen. Aktivitäten: Aufgrund dessen, dass das Verhalten der Haarmanipulation häufig bei sitzenden Aktivitäten auftritt, kann tägliche körperliche Betätigung hilfreich sein. Prognose: • Bei sehr jungen Kindern ist die Prognose ausgezeichnet. • Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist die Prognose normalerweise gut, aber zurückhaltender als bei Kleinkindern. Der Haarverlust tritt oft nach einer unterschiedlich langen Zeit wieder auf. • Bei Erwachsenen ist die Prognose schlecht, dauerhafte Genesung ist selten.