09.02.2017 Sexuelle Gesundheit im Spannungsverhältnis zwischen den Empfehlungen der WHO und fehlender Umsetzbarkeit Uwe Hartmann Veranstaltung Gesundheitsministerium Österreich, Wien, Juni 2016 Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Sexuelle Gesundheit als reale Utopie? Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen Das Leitbild „sexuelle Gesundheit“ – was ist damit eigentlich gemeint? • Die Bedeutung des Begriffs „sexuelle Gesundheit“ ist nicht selbst-evident. • Im anglo-amerikanischen Sprachraum werden damit üblicherweise eher negative bzw. präventive Aspekte bezeichnet: sexuell übertragbare Krankheiten, ungewollte Schwangerschaften oder sexuell motivierte Übergriffe und Gewalttaten. • In Europa und Lateinamerika wurde versucht, eine positivere Bedeutung dieses Begriffs zu verankern, die sich mehr auf sexuelles Wohlbefinden und Zufriedenheit orientiert und sich auch in der WHO-Definition wiederspiegelt. • Ein weiteres zentrales Merkmal bezieht sich auf die sexuellen (Menschen)Rechte, v.a. auf das Recht, sexuelle Aktivitäten frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt leben zu können sowie auf die Rechte von sexuellen Minderheiten (LGBTI). 1 09.02.2017 Die Utopie einer „sexuell gesunden Gesellschaft“ – zur Kritik der WHO-Definition • Das Leitbild eines (immerwährenden?) „Zustands körperlichen, emotionalen, psychischen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität“ ist utopisch. • Wie viele Menschen sind nach dieser Definition „sexuell gesund“? • Wer oder was soll dafür verantwortlich sein, dass Menschen die „Möglichkeit zu befriedigenden und sicheren Erfahrungen“ bekommen und wer oder was sorgt für den „positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen“? • Wer definiert dann, was sexuell gesund ist und dürfen wir bald nur noch „gesunden Sex“ haben? • Laufen wir Gefahr, mühsam errungene sexuelle Freiheiten unter dem Diktat der sexuellen Gesundheit wieder einzubüßen? Zur Herangehensweise • Ziel: Annäherung an die Thematik von einer kritischen oder zumindest neutralen Position. Ausgehen von der Nullhypothese. • Die Grundfrage: Gibt es wirklich überzeugende Gründe dafür, dass sich die Medizin, das Gesundheitssystem bzw. der Staat um die sexuelle Gesundheit der Menschen kümmern sollten? • Ist Sexualität nicht zuallererst Bestandteil unserer privaten Lebensführung und Teil der Intimsphäre, in die sich niemand einmischen sollte? Lediglich Teil des nicht medizin-relevanten persönlichen Lifestyle? • Gibt es im Medizinstudium und in der Facharztweiterbildung nicht schon genug und wichtigeren Lehrstoff für eine begrenzte Stundenzahl? • Gibt es wirklich ein „Menschenrecht auf sexuelle Gesundheit“? • Ist sexuelle Gesundheit wirklich eine Vorbedingung für Lebensqualität und Wohlbefinden? Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Sexuelle Gesundheit als reale Utopie? Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen 2 09.02.2017 Die Frage: Ist Sex „gesund“? Genauer: Welche Auswirkungen haben sexuelle Aktivität und sexuelle Zufriedenheit und wie viel Sex brauchen wir? Prolaktinspiegel während sexueller Erregung und Orgasmus beim Koitus Female *** *** ** 60 ** Prolactin (ng/ml) Orgasm Orgasm 50 ** ** 40 * * 30 20 10 Arousal 0 10 20 30 Arousal 40 50 60 100 0 10 20 30 40 50 60 100 min Exton et al. 2001 PNEC Krüger et al. 1998 PNEC, 2003 J Endocrinology Oxytocinspiegel während sexueller Erregung und Orgasmus 200 orgasm 150 pg/ml Prolactin (ng/ml) Male 12 11 10 9 8 7 6 5 4 100 50 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Time •Je nach Studie variiert die Oxytocinausschüttung •zwischen 20 und 360%! Krüger et al. 2003 J Endocrinology 3 09.02.2017 Sexuelle Aktivität und Mortalität: Gibt es belastbare Daten? Caerphilly-Cohort-Study (Smith, Frankel & Yarnell, 1997): • Zwischen 1979 und 1983 wurden 918 Männer (Alter: 45 -59) u.a. auch nach ihrer Orgasmusfrequenz gefragt. • Follow-Up nach 10 Jahren: • 50 % weniger Mortalität durch kardiale Ereignisse in der Gruppe der Männer mit häufigeren Orgasmen (>2/Woche) gegenüber der Gruppe mit selteneren Orgasmen (<1/Monat). • Auch bei Kontrolle von Faktoren wie Alter, Sozialstatus oder Rauchen blieb der hochsignifikante Effekt erhalten. Australische Studie (Giles et al. 2003): • 2000 Männer unter 70 Jahren wurden interviewt und nach der ungefähren Anzahl Orgasmen in früheren Lebensdekaden gefragt. • Ergebnisse: • Die Männer, die >4 Orgasmen/Woche in ihren 20igern, 30igern und 40igern angaben, hatten ein um ein 1/3 niedrigeres Risiko, ein Prostata-Ca zu bekommen. Es gab keinen Zusammenhang zur Anzahl der Sexualpartner. Sehr gut belegt ist: Die Bedeutung der Sexualität für Wohlbefinden und somatopsychische Gesundheit wird zu einem Großteil über die Grundbedürfnisse nach Beziehung, Nähe, Wertschätzung und Intimität vermittelt. 4 09.02.2017 Beziehung und Bezogenheit als menschliches Grundbedürfnis • Beziehungen sind die wichtigste Quelle von Lebenszufriedenheit und emotionalem Wohlbefinden. • In multinationalen Studien über die Quellen subjektiven Wohlbefindens findet man nur einen konsistenten Prädiktor: soziale Beziehungen. • Enge, stabile und harmonische Beziehungen werden von Menschen regelmäßig als wichtigstes Lebensziel genannt. • In großen epidemiologischen Studien und Metaanalysen ist eine geringere soziale Integration ein stärkerer Risikofaktor für Mortalität als „klassische“ Risikofaktoren (Rauchen et al.). • Die physiologischen Mechanismen dieses Zusammenhangs sind bis heute nachgewiesen für kardiovaskuläre, endokrine und Immunfunktionen. Berscheid & Reis 1998; Diener 2001; Emmons 1999; House, Landis & Umberson 1988; Robles & Kiecolt-Glaser 2003 Was weiß die Psychologie über die salutogenen Wirkungen von Beziehung und Intimität? • Intimität: zentral für das menschliche Grundbedürfnis nach Bindung und Bezogenheit. Wichtige Merkmale = emotionale Selbstöffnung; Gefühl, dass Partner auf eigene Bedürfnisse reagiert; sich verstanden und wertgeschätzt fühlen. Hat in menschlicher Motivationshierarchie hohe Priorität. • Zuneigung/Liebe (affection): wichtig für Beziehungserfolg. Neuroendokrinologisch = Wechselwirkung mit Oxytocin (Berührung/Sex). OT = stressreduzierend, anxiolytisch, konditionierbar. OT nicht bei Abwesenheit von negativen, sondern nur bei Vorhandensein positiver Interaktionen! • Gemeinsame Erfahrungen: intensiver, „shared flow“, euphorisierendes Teamgefühl. 5 09.02.2017 Aktuelle Daten zur pathogenen Wirkung von Beziehungsarmut und Einsamkeit • In einer aktuellen Metaanalyse1 wurde der Einfluss von sozialer Isolierung, Einsamkeit und Alleinleben auf die Gesamt-Mortalität untersucht. Ergebnis: für alle 3 Variablen ergab sich eine Erhöhung der Mortalität um jeweils ca. 30%, was in etwa der Höhe der etablierten medizinischen Risikofaktoren entspricht. • In einer ähnlichen Metaanalyse wurde der Einfluss von sozialer Isolierung und Einsamkeit als Risikofaktoren für KHK und Schlaganfall untersucht2. Ergebnis: Beziehungsarmut ist mit einem um 29% höheren Risiko für eine KHK und einem um 32% höheren Risiko für einen Schlaganfall verbunden (keine Geschlechtsunterschiede). • Fazit: Beziehungsarmut, Bindungslosigkeit und Einsamkeit machen uns krank und verkürzen unser Leben. 1 Holt-Lunstad J 2 et al. (2015); doi: 10.1177/1745691614568352 Valtorta NK et al. (2016); doi: 10.1136/heartjnl-2015-308790 % große/sehr große Lebenszufriedenheit Die Menschen, die mit ihrer sexuellen Beziehung zufriedener sind, haben eine höhere allgemeine Lebenszufriedenheit 100% 90% 77% 69% 80% 70% 60% 50% 29% 40% 21% 30% 20% 20% 10% 0% Extrem angenehm Sehr angenehm Mittelmäßig angenehm Wenig angenehm Überhaupt nicht angenehm Sexuelle Zufriedenheit in der Beziehung Responses based on those married, living with partner or in a committed relationship Degree of physical pleasure based on a 5-point scale, where “5” is Extremely Pleasurable and “1” is Not at All Pleasurable Overall happiness based on a 5-point scale, where “5” is Extremely Happy and “1” is Not at All Happy Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved Wie wichtig beim Sex ist Ihnen...? Antwort: sehr wichtig Partnerin schwängern 7% Männer 44% Versöhnung 47% 13% Pflicht erfüllen 14% 38% sich begehrenswert fühlen 25% männlicher fühlen 12% 23% weiblicher fühlen 15% Partnerschaft erhalten 20% 45% meinem Partner emotional nahe fühlen 44% 50% meinem Partner körperlich nahe fühlen 46% 51% Ausdruck der Liebe zu meinem Partner 46% 43% Befriedigung des Partners 50% 26% eigene Befriedigung Anteil Frauen 7% schwanger werden 24% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved 6 09.02.2017 Wie viel Sex braucht man, um zufrieden zu sein? Quelle: Långström & Hanson; Archives of Sexual Behavior 2006; 35: 37 -52 Quelle: Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors 2002 Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved Zwischenfazit: • Nüchtern betrachtet nimmt Sexualität in der Motivhierarchie der Menschen allenfalls einen mittleren Platz ein. • Danach wäre die Redensart „Die schönste Nebensache der Welt“ durchaus zutreffend. • Das ändert sich allerdings, wenn eine sexuelle Störung eintritt, wodurch die Sexualität einen deutlich höheren (negativen) Stellenwert bekommt. • Deshalb ist die Sexualität in vielen Umfragen auf der Liste der Belastungsfaktoren von Partnerschaften ganz oben zu finden. • Eine gewisse „Grundfrequenz“ (ca. 3 - 4mal/Monat) von Partner-Sex wird als wichtig für die Qualität der Partnerschaft angesehen und ist eindeutig mit höherer Lebenszufriedenheit und Partnerschaftsstabilität verbunden. • Die Bedeutung der Sexualität für Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit wird zu einem großen Teil über die zentrale Rolle von Beziehung und Partnerschaft vermittelt. 7 09.02.2017 Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Conclusio: Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen Was belastet Partnerschaften Die Top 10 der Partnerschaftsprobleme: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Sexualität (49%) Kommunikation (48%) Art und Weise negativer Kritikäußerungen (47%) Mangelnde Spontaneität und Lebendigkeit (44%) Zu wenig gemeinsame Zeit (39%) Fehlen von Zärtlichkeit und körperlicher Zuwendung (38%) Mangelnde Bereitschaft, sich zu ändern (37%) Zu wenig Investment von Zeit und Energie in Partnerschaft (36%) Zu wenig Liebe und Zuneigung (29%) Zu hohe Erwartungen aneinander (29%) Quelle: Internet Studie der Uni Göttingen (Beer et al. 2005); 50.000 Männer und Frauen zwischen 20 und 69 Jahren Auswirkungen einer sexuellen Störung auf die Beziehung • Belastung der Partnerschaft • Beeinträchtigung der gemeinsamen Sexualität • Die 3 großen V‘s: Versagensangst, Vermeidungsverhalten, Verkrampfung und dann - Sprachlosigkeit • Bindung von Energie und Kraft (von 10% positiver zu 80% negativer „gefühlter Bedeutung“ der Sexualität) • Eine gestörte Sexualität energetisiert die Partnerschaft nicht mehr, sondern entzieht ihr Kraft. 8 09.02.2017 Sexualität und die Stabilität von Paarbeziehungen Die Daten: • Sexuelle Befriedigung ist assoziiert mit höherer partnerschaftlicher Zufriedenheit. • Quantität und Qualität des Sexuallebens sind assoziiert mit dem Gefühl der „romantic love“ für den Partner. • Sexuelle Unzufriedenheit im Jahr 1 der Ehe ist ein guter Prädiktor für eine Trennung im Jahr 4 (auch wenn man die allgemeine partnerschaftliche Zufriedenheit konstant hält). Fazit: • Sexuelle Zufriedenheit trägt signifikant zur Stabilität der Partnerschaft bei. Christopher, FS, Sprecher, S.: Sexuality in marriage, dating, and other relationships: a decade review. J of Marriage and the Family 62: 999-1017; 2000 Schröder B, Hahlweg K: Zeitschrift für Klinische sychologie 23: 153-162; 1994; Schindler L, Hahlweg K, Revenstorf D.: Partnerschaftsprobleme: Diagnose und Therapie. Berlin: Springer 1998 Wie wichtig ist Ihnen Sex? Männer 60% ausgesprochen wichtig sehr wichtig wichtig wenig wichtig gar nicht wichtig 49% 50% 48% 46% 42% 40% 36% Anteil 35% 30% 27% 23% 20% 10% 9% 13% 11% 9% 9% 12%12% 9% 6% 3% 1% 1% 0% 40-49 50-59 60-69 70-80 Alter Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved Wie wichtig ist Ihnen Sex? Frauen 60% ausgesprochen wichtig 50% 40% Anteil sehr wichtig wichtig wenig wichtig gar nicht wichtig 47% 46% 37% 37% 32% 30% 30% 27% 25% 23% 23% 20% 14% 10% 7% 9% 13% 10% 9% 6% 3% 1% 2% 0% 40-49 50-59 60-69 70-80 Alter Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved 9 09.02.2017 Sexuelle Interessen von Männern (n=641) und Frauen (n=857) in Abhängigkeit vom Alter 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 >75 Wunsch nach Zärtlichkeit ♂ ♀ 99 100 100 100 97 96 100 98 99 98 97 85 93 75 Wunsch nach Petting ♂ ♀ 88 94 93 90 86 87 95 88 91 82 92 65 75 35 Wunsch nach Geschlechtsverkehr ♂ ♀ 99 98 100 96 100 90 99 92 99 83 89 64 61 47 Sexuelles Verlangen ♂ ♀ 100 96 100 95 98 89 99 94 100 87 95 77 79 52 ♂ Sexuelle Gedanken, Fantasien und Träume ♀ 99 95 98 90 98 81 100 84 98 86 97 73 85 46 Bucher, Hornung, Gutzwiller, Buddeberg (2001) In Berberich, Brähler (Hrsg.), Sexualität und Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte (S. 31-59). Gießen: Psychosozial Schlussfolgerungen zur Sexualität im höheren Lebensalter Trotz einer relativ hohen Prävalenz belastender sexueller Probleme nimmt die Frequenz sexueller Aktivität bei den sexuell Aktiven bis zum 74Lj nicht substantiell ab. Für Frauen ist der zentraler Faktor das Vorhandensein eines (gesunden) Partners und ihre seelische Gesundheit (Stress, Depressionen, Angst, Paarkonflikte), für Männer ihr körperlicher Gesundheitsstatus. Der Gesundheitszustand scheint ein wichtigerer Faktor zu sein als das „reine“ Alter und das Partnerschaftsalter, v.a. bei den Männern. Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Sexuelle Gesundheit als reale Utopie? Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen 10 09.02.2017 Sexualität: (k)ein Thema für die tägliche Praxis? ist nicht nötig <10 4 5 Altersdifferenz zum Patienten 5 10 Prozent Zeitgründe 21 ist Arzt unangenehm 15 • der Ärzte sprechen Sexualität im Patientengespräch an2 ist Patienten unangenehm 6 unterschiedliches Geschlecht zum Patienten bietet sich nicht an 34 sonstiges n=193; Angaben in % Gründe des Arztes 1Porst H et al. Eur Urol. 2007;51:816-24 D & Bosinski HA. Sexuologie. 2010;17(34):147-59 2Cedzich Mein Arzt hat mich während der letzten drei Jahre nach sexuellen Problemen gefragt 100% Männer Frauen Anteil 75% 50% 25% 19% 16% 12% 12% 8% 8% 9% 1% 0% 40-49 50-59 60-69 70-80 Alter Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved Ein Arzt sollte seine Patienten regelmäßig nach sexuellen Problemen fragen 100% Männer Frauen 75% Anteil 56% 52% 53% 56% 54% 51% 50% 41% 30% 25% 0% 40-49 50-59 60-69 70-80 Alter Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors funded by Pfizer Inc. Copyright 2002 Pfizer Inc. All rights reserved 11 09.02.2017 Eine Luststörung wird in der Regel bei nur einem Arzt angesprochen Anzahl der Ärzte, die eine Patientin aufgrund ihres verminderten sexuellen Verlangens aufgesucht hat • Nur ca. 1/3 der Patientinnen wagen das Thema anzusprechen • Üblicherweise besprechen Patientinnen ihr vermindertes Verlangen nur mit einem Arzt Deutschland Nur ein Arzt Zwei Ärzte Anmerkung : Der zweite Besuch erfolgt nicht zwingendermaßen aufgrund einer Überweisung, sondern schließt einen unabhängigen Besuch eines zweiten Arztes durch die Patientin ein Drei Ärzte Quelle: BCG analysis May - June 2008 (Patient Questionaire) Warum wird Sexualität vom Arzt nicht angesprochen? • Unbehagen und Peinlichkeit auf Seiten des Arztes. • Einstellung, dass andere Dinge wichtiger sind1. • Prävalenz und Leidensdruck sexueller Störungen werden unterschätzt. • Gefühl mangelnder Kompetenz und konkreter Hilfemöglichkeiten. • Eindruck, dass Patienten keine Therapiemotivation haben. • Angst, die Patientin zu verletzen. • Gefühl, nicht dazu „berechtigt“ zu sein, über dieses Thema zu sprechen. • Unsicherheit bzgl. der „nächsten Frage“. • Praxisökonomische Gründe (sprengt den Praxisbetrieb) 1 Kottmel A et al.; J Sex Med 2014; 11: 2048-2054 Einschätzung der eigenen Kenntnis Eher geringe Kenntnisse bei Maßnahmen, die über das Erstgespräch hinausgehen weitere Therapieformen 18,3 23,6 Sexualtherapeutische/ -beraterische Interventionen 29,9 Intervention/Behandlung FSD 42,2 Diagnostik FSD Früherkennung FSD 44,2 Partnerschaft und -probleme bei Pat. mit FSD 45,5 Vermittlung konkreter Verhaltensweisen 54,2 Sexualanamnese 61,3 Anregung/Motivation zur Therapie 70,3 Allgemeine Beratung/Gespräch über FSD 76,8 0 20 eher gut 40 60 80 100 Angabe in % Berner MM et al. Diagnostik und Behandlung sexueller Funktionsstörungen in der gynäkologischen Praxis. Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2010; 70(4): 281-287 12 09.02.2017 Wo besteht Fortbildungsbedarf? Hoher subjektiver Fortbildungsbedarf Angehörigenarbeit 38,8 Organmedizinische Behandlung von FSD 43,7 46,7 Indikationsstellung zur Psycho- bzw. Sexualtherapie 50,5 Wirkung und Nebenwirkung von Therapien sexualtherapeutische / -beraterische Interventionen 60,9 Umgang mit Betroffenen und Partnern 61,7 64,4 Früherkennung und Frühintervention Diagnostik von FSD 66,0 Basisbetreuung von FSD 66,2 Gesprächsführung bei FSD 68,8 0 20 40 60 80 Anteil der "hoch" & "sehr hoch"-Antworten in % Berner MM et al. Diagnostik und Behandlung sexueller Funktionsstörungen in der gynäkologischen Praxis. Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2010; 70(4): 281-287 Grundsätzlich: • Die Einstellung und Haltung des Arztes zur Bedeutung sexueller Gesundheit sind sehr wichtig. • Die Patienten haben hier sehr „feine Antennen“ – wenn der Arzt einen „falschen Tonfall“ anschlägt oder das Problem herunterspielt. • Die Ernstnahme des Leidensdrucks und eine von Verständnis und dem Willen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung geprägte Arzt-PatientBeziehung sind entscheidende kurative Faktoren. • Gerade der Arzt kann hier sehr segensreich wirken und – indem er sich als Gesprächspartner zur Verfügung stellt – viele Patienten aus ihrer quälenden Sprachlosigkeit befreien und einer adäquaten Beratung und Therapie zuführen. • Die Zeiten der „präskriptiven Medizin“ sind endgültig vorbei. Die Patienten lassen sich von uns nicht mehr vorschreiben, was wichtig oder unwichtig für sie ist. Es gibt sehr viele Brücken in das Thema sexuelle Gesundheit, über die wir mit unseren Patienten gehen können • • • • • • • • Diabetes Hypertonie Kardiovaskuläre Erkrankungen Metabolisches Syndrom/Adipositas Chronische neurologische Krankheiten Krebserkrankungen Alkohol-, Drogen-, Medikamentenmissbrauch Psychische und psychosomatische Störungen (Depression, Angst, Schmerzen) 13 09.02.2017 Was wird für das Medizinstudium empfohlen? • Nach den Empfehlungen internationaler Expertengremien sollen Curricula zur sexuellen Gesundheit Module zu Einstellungen, Wissen und Fertigkeiten umfassen, für die detaillierte Kataloge entwickelt wurden, die auch die besonderen Belange sexueller Minderheiten (LGBTI-Aspekte) beinhalten1. • Die Lehre sollte als Längsschnittthema durch das gesamte Studium laufen, multidisziplinär und interprofessionell ausgerichtet sein und verschiedene Lehrformen umfassen2. • International gibt es an vielen medizinischen Fakultäten zwar Inhalte zur sexuellen Gesundheit, die aber meist weniger als 10 Stunden umfassen. • In D gibt es 36 medizinische Fakultäten. An 4 Fakultäten gibt es sexualmedizinische/sexualwissenschaftliche Institute (2 mit forensischer Ausrichtung) und eine strukturiertes Lehr- und Weiterbildungsangebot. 1 Shindel 2 AW & Parish SJ; J Sex Med 2013; 10: 3-18 Coleman E et al.; J Sex Med 2013; 10: 924-938 Wie sieht es mit dem Interesse der Medizinstudenten aus? • • • • • • 1 Turner In einer Fragebogenstudie an zwei deutschen Fakultäten wurden das sexualmedizinische Interesse und das sexualmedizinische Wissen der Studierenden untersucht1. Die Studierenden bewerten das derzeitige Lehrangebot als ungenügend. Mehr als die Hälfte betrachtet sich diesbezüglich als nicht ausreichend ausgebildet. Die Studenten wünschen sich, dass sexualmedizinische Themen in die einzelnen Fächer integriert werden. Das größte Interesse besteht an Sexualphysiologie und –psychologie sowie an der Behandlung sexueller Störungen. Nur die Hälfte der (relativ einfachen) Fragen zur Sexualmedizin konnte korrekt beantwortet werden. D et al.; Psychother Psych Med 2014; 64: 452-457 Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Conclusio: Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen 14 09.02.2017 Die Frage: Wie sieht es mit der Kostenseite aus? • Gibt es Daten dazu, was uns sexuelle Gesundheit bzw. deren Defizite kosten? • „Lohnt es sich“, in sexuelle Gesundheit zu investieren? Die Kostenarten • Direkte Kosten = Kosten, die einem Kostenträger verursachungsgerecht direkt zugerechnet werden können: z.B. Kosten für Präventionsmaßnahmen und Therapien sowie Folgekosten außerhalb des Gesundheitssystems (Strafverfolgung, Justiz, Opferschutz). • Indirekte Kosten = Kosten, die durch Minderung der individuellen volkswirtschaftlichen Produktivität entstehen (Arbeitsunfähigkeit, Ausfälle in Ausbildung oder Beruf, Berentungen, eingeschränkte Produktivkraft durch Krankheitsfolgen). • Intangible Kosten = Kosten, die sich einer monetären Bewertung entziehen (Bindungs- und Beziehungsstörungen, zerbrochene Ehen und Folgen für Kinder, Einbußen an Lebensqualität und Lebenszufriedenheit, Ängste, Depressionen, Vereinsamung). Daten zur präventiven Dimension sexueller Gesundheit 1 • Die Kosten für die klassischen Problembereiche sexueller Gesundheit (sexuell übertragbare Krankheiten, ungewollte Schwangerschaften, Teenagergeburten, sexuelle Gewalt und Übergriffe) belaufen sich in den USA auf ca. 40 Milliarden Dollar jährlich1. • In Deutschland entstehen durch Traumafolgestörungen nach Kindesmisshandlung/-missbrauch oder Vernachlässigungstraumata gesamtgesellschaftliche Kosten von ca. 11 Milliarden € jährlich (ohne Berücksichtigung der als erheblich einzuschätzenden intangiblen Kosten)2. • Im Mittel belaufen sich die Traumafolgekosten pro Fall auf ca. 430.000 €2. Coleman E et al.; J Sex Med 2013; 10: 924-938 S et al. Deutsche Traumafolgekostenstudie; Kiel: IGSF 2012 2 Habetha 15 09.02.2017 Die Situation bei den sexuellen Dysfunktionen und den Sexualstörungen durch Krankheit und Behandlung • • Hier gibt es praktisch keine belastbaren Daten. In einer älteren Analyse zu Versorgungssituation und Behandlungsbedarf fanden sich allerdings deutliche Indikatoren für eine Unter- und Fehlversorgung sowie für eine zu geringe Inanspruchnahme professioneller Hilfeleistungen1. • Auch heute finden viele Betroffene keine adäquate Hilfe, verursachen durch Fehlversorgung, Chronifizierungen und Folgekrankheiten gleichwohl Kosten im Gesundheitssystem. Hinzu kommen die indirekten Kosten (Produktivitätseinbußen) und intangiblen Kosten (v.a. Partnerschaft/ Beziehungen und Lebensqualität). • Zum Vergleich: Eine Sexualtherapie (25 Sitzungen) kostet in der deutschen GKV ca. 2.300 €, die medikamentöse Behandlung einer ED mit einem SildenafilGenerikum (2 Anwendungen pro Woche) jährlich ca. 300 – 400 €. 1 Beier KM, Bosinski H, Hartmann U. Sexuelle Störungen. Bedarf, bedarfsgerechte Versorgung, ÜberUnter- und Fehlversorgung im Rahmen der deutschen GKV. Akademie für Sexualmedizin 2001 Übersicht 1. Was genau ist „sexuelle Gesundheit“ und wie kann man sich eine „sexuell gesunde Gesellschaft“ vorstellen? 2. Warum sollten sich die Medizin und das Gesundheitssystem mit dem Thema Sexualität beschäftigen? 3. • Die wissenschaftliche Perspektive • Die Betroffenen- bzw. Patientenperspektive • Die Perspektive der Medizin • Die gesellschaftliche Perspektive Sexuelle Gesundheit als reale Utopie? Von der Empörungskultur zu einem rationalen und angemessenen Vorgehen Synopsis der 4 Perspektiven zur Bedeutung sexueller Gesundheit • • • • • Befriedigende sexuelle Aktivitäten und sexuelle Zufriedenheit tragen moderat zur allgemeinen seelischen und körperlichen Gesundheit bei und werden umgekehrt vom allgemeinen Gesundheitsstatus beeinflusst. Ein deutlich bedeutsamerer Einfluss der Sexualität entsteht durch ihren engen Zusammenhang mit den Grundbedürfnissen nach Nähe, Geborgenheit und Anerkennung sowie zur Partnerschaftsqualität und – zufriedenheit. Die salutogene Wirkung von Bindung, Beziehung und Intimität ist wissenschaftlich gut gesichert. Sexuelle Störungen und sexuelle Unzufriedenheit gehören zu den Hauptproblemfeldern in Paarbeziehungen und tragen wesentlich zur Destabilisierung und zum Bruch von Partnerschaften bei. Eine sexuelle «Basisqualität» und «sexuelle Grundversorgung» ist den meisten Menschen bis ins hohe Alter hinein wichtig. 16 09.02.2017 Synopsis der 4 Perspektiven zur Bedeutung sexueller Gesundheit II • • • • • • In Medizin und Psychotherapie spielt die sexuelle Gesundheit nur eine marginale Rolle. Nur ca. 10% der Patienten werden vom Arzt aktiv auf ihre Sexualität angesprochen. Eine Mehrheit der Patienten möchte von ihrem Arzt nach ihrer sexuellen Gesundheit gefragt werden. Ein Großteil der Ärzte hält das Thema sexuelle Gesundheit für minderwichtig und unterschätzt die Prävalenz sexueller Störungen, ihre Folgewirkungen und den Leidensdruck. Ärzte und Studierende fühlen sich unzureichend ausgebildet und wünschen sich eine bessere Ausbildung in diesem Bereich. Die direkten, indirekten und intangiblen Kosten von Beeinträchtigungen der sexuellen Gesundheit und unzureichender präventiver Maßnahmen sind für Gesundheitssystem und Gesellschaft hoch. Fazit und Schlussfolgerungen • Es gibt ausreichend Evidenz, um die Nullhypothese zurückzuweisen, d.h. Medizin, Gesundheitssystem und Gesellschaft sollten sich in angemessener Weise präventiv und kurativ um die sexuelle Gesundheit der Menschen kümmern. • Der kontinuierliche Anstieg von Bindungsarmut und Bindungsstörungen gehört zu den größten Problemen der westlichen Gesellschaften. Einsamkeit, Beziehungsarmut und fehlende Bindung machen Menschen krank. Eine Investition in die sexuelle Gesundheit ist auch eine Investition in die Partnerschaftsqualität und Partnerschaftszufriedenheit und hat damit einen transgenerationalen Effekt (Reduzierung von Broken Homes und Scheidungskindern). • • Medizin und Gesundheitssystem müssen in diesem Feld mehr Verantwortung übernehmen. Fazit und Schlussfolgerungen II • Statt mehr oder minder utopischer Deklarationen zur sexuellen Gesundheit benötigen wir einen Call-for-Action, in dem realistische, operationalisierbare und finanzierbare Ziele und Maßnahmen zur Verbesserung der sexuellen Gesundheit niedergelegt sind. • In einer konzertierten Aktion sollte eine Allianz für sexuelle Gesundheit geschmiedet werden, an der Politik, Gesundheitssystem, Hochschulen, Ärzte und Psychologen sowie die Öffentlichkeit mit klar umrissenen Beiträgen beteiligt werden. • Dafür dürfen wir sexuelle Gesundheit nicht nur präventiv definieren, sondern wir brauchen einen fördernden und positiven Begriff. Nur mit Abschreckung und Verhinderung kann man niemanden begeistern. 17 09.02.2017 Fazit und Schlussfolgerungen III • In der Medizin benötigen wir neben Einstellungsänderungen v.a. strukturierte und besser integrierte Aus- und Weiterbildungsangebote. • In Österreich ist die Einführung des Zertifikats und Diploms Sexualmedizin ein wichtiger Meilenstein, den wir in D noch nicht erreicht haben. • Gute Präventionsangebote und eine konsequente und gezielte Zuführung von Patienten zu einer effektiveren Behandlung ihrer sexuellen Probleme sind wirksame Mittel für eine Kostensenkung im Bereich sexueller Gesundheit und verhindern Chronifizierungen. • Sexuelle Gesundheit kann so zu einer realistischen Utopie werden, die einen wichtigen Beitrag zur Zufriedenheit, Lebensqualität und Produktivität der Menschen leisten kann. Das Team sexuelle Gesundheit in Hannover • Medizinische Hochschule Hannover Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Sexualmedizin Uwe Hartmann, Tillmann Krüger • Sexualmedizinisches Kompetenzzentrum (SMK) Hannover Claudia Hartmann, Christian Neuhof • Lehrinstitut für Sexualmedizin und Sexualtherapie (LISS) Hannover Monika Christoff, Norbert Christoff 18