2 Mittwoch, 21. September 2011 — Thema Zukunft der Stromversorgung Sonne und Biomasse statt AKW Notfalls Erdgas, vor allem aber Biomasse, Solarzellen und Pumpspeicherkraftwerke: Mit dieser Kombination kann die Schweiz laut ETH-Professor Konstantinos Boulouchos den Atomausstieg schaffen. Interview: Hans Galli Herr Boulouchos, der Bundesrat und der Nationalrat wollen aus der Atomenergie aussteigen, der Ständerat dürfte nächste Woche ähnlich entscheiden: Müssen wir deshalb Gaskraftwerke bauen? Vermutlich ja. Nicht unendlich viele, aber kurz- bis mittelfristig wird es einen Bedarf geben. Müssen wir dafür die Klimaziele aufgeben? Nein, das glaube ich nicht – dank des technischen Fortschritts bei der Abtrennung von CO2. Das erste Schweizer Gaskraftwerk wird noch ohne bewilligt, aber ab dem zweiten und dem dritten Gaskraftwerk nach 2020 bis 2025 müssen wir die Abtrennung und die Speicherung des CO2 gelöst haben. Wir führen dieses Interview am Climate Forum in Thun. Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hat in seinem Vortrag behauptet, die Einlagerung des CO2 werde aus Platzgründen nie gelingen. Ist sie realisierbar oder nicht? Doch, doch, ich denke schon. Weltweit wird es keine Klimapolitik ohne Abtrennung und Speicherung von CO2 aus fossilen Kraftwerken geben. Alle grossen Energiekonzerne arbeiten an der Entwicklung dieser Technik. Der kritische Punkt ist, ob die Schweizer Bevölkerung sie akzeptiert. Wird der Kohlenstoff in Ihren Augen ein wichtiger Energieträger bleiben? In den kommenden 40 Jahren wird er im Verkehr noch eine wichtige Rolle spielen, weil Öl und Gas nicht vollständig ersetzt werden können. Es geht nicht nur um den Privatverkehr, sondern auch um den Gütertransport, um Flugzeuge und Schiffe – für diese gibt es technisch noch keine Alternativen. Sind kleine Gaskraftwerke, die gleichzeitig Wärme und Strom für einzelne Siedlungen produzieren – man spricht von Wärme-KraftKopplung (WKK) –, nicht die bessere Lösung als grosse Gaskraftwerke? Es braucht wahrscheinlich beides. Die Wärme-Kraft-Kopplung ist technisch reif, sie kann rasch starten. Mit Vorteil werden dabei aber biogene Rohstoffe eingesetzt. WKK-Anlagen mit Gas stossen CO2 aus: Wenn die Abspaltung und die Speicherung des CO2 kommt, sind sie bei grossen Gaskraftwerken einfacher zu realisieren als bei vielen kleinen. Haben wir in der Schweiz genügend Biomasse? Ja. Heute nutzen wir die eine Hälfte der nachwachsenden Biomasse noch gar nicht – sie verrottet oder wird gar nicht geerntet. Die andere Hälfte nutzen wir schon, aber in Schwedenöfen und als Pellets in Holzheizungen. Dafür ist die Biomasse zu wertvoll. Man sollte mit ihr Strom produzieren und mit der dabei entstehenden Wärme heizen. Insgesamt ist in der Schweiz Biomasse für die Produktion von 6 Terawattstunden Strom pro Jahr vorhanden – das entspricht einem Zehntel des heutigen Stromverbrauchs. Das könnte zwar nicht alle AKW ersetzen, aber es wäre immerhin ein beachtlicher Anteil. Das Gute an der Biomasse ist zudem, dass sie im Gegensatz zu Sonne und Wind – zumindest im Winter – jederzeit zuschaltbar ist. Die Elektrizitätswerke «In den südlichen Regionen der Schweiz haben wir ähnliche Verhältnisse wie in Italien und Nordspanien.» Konstantinos Boulouchos gibt der Sonne in der Schweiz mehr Chancen als dem Wind: Er plädiert für Solarzellen an Lawinenverbauungen. Foto: Gaetan Bally (Keystone) können einen Schwarm solcher kleiner Werke betreiben und bei Bedarf Strom und Wärme produzieren. Wie funktioniert das in der Praxis? Die Hausbesitzer stellen ihren Keller zur Verfügung, damit das Elektrizitätswerk eine WKK-Anlage installieren kann. Das EW schliesst mit ihnen einen Vertrag über Menge und Preis für Warmwasser, Heizung und Strom ab. Dieser Preis muss mindestens so günstig sein wie jener aus dem Netz. Das verlangt bei den Elektrizitätswerken ein Umdenken, denn es wäre einfacher, ein einziges grosses Gaskraftwerk zu bauen, statt mit 10 000 Hausbesitzern zu verhandeln. Welche Chancen geben Sie der Sonnen- und der Windenergie? Der Sonne grössere als dem Wind. Das Potenzial für die Windenergie ist in der Schweiz begrenzt, weil sie keine Meeresküsten hat. Genügt die Sonneneinstrahlung? In den südlichen Regionen der Schweiz haben wir ähnliche Verhältnisse wie in Italien und Nordspanien. Im Wallis, im Tessin und im Engadin können wir beispielsweise Lawinenverbauungen und sonst ungenutzte Flächen mit Solarzellen versehen und beachtliche Mengen Strom produzieren. Sie plädieren für grosse Solarkraftwerke, grüne Politiker fordern Solarzellen auf jedem Dach. Die Erstellung eines grossen Solarkraftwerks kommt billiger als die Montage vieler kleiner Fotovoltaikanlagen. Auch der Anschluss eines grossen Werks ans nationale Stromnetz ist wesentlich einfacher als die Einbindung vieler Klein­ anlagen. Das verbilligt die Produktionskosten und beschleunigt den Durchbruch der Fotovoltaik. Aber Fotovoltaik auf den Dächern wird ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Sonnenkraftwerke produzieren manchmal viel Strom, manchmal wenig und in der Nacht keinen. Was bringt den Ausgleich? In kleinerem Umfang mit Biomassekraftwerken und im grösseren mit Speicherseen: Die Schweiz hat dank ihren Pumpspeicherwerken einen grossen Vorteil, den Deutschland nicht hat. Sie kann bei Stromüberschuss Wasser in einen höher gelegenen See pumpen und damit später wieder Strom produzieren. Pumpspeicherwerke operieren heute so, dass sie mit billigem Nachtstrom Wasser hinaufpumpen und tagsüber teuren Spitzenstrom verkaufen – vor allem nach Deutschland und Italien. Laut Schätzungen erzielen alle Schweizer Elektrizitätsunternehmen zusammen mit der Pumpspeicherung einen jährlichen Gewinn von einer Milliarde Franken, indem sie die Preisdifferenzen zwischen billigem Nacht- und teurem Spitzenstrom ausnützen. Das ist ihnen nicht zu verargen. Dieser Gewinn ist jetzt aber gefährdet, weil am Mittag immer mehr Solarstrom vorhanden ist und der Preis für Wasserstrom deshalb weniger stark in die Höhe schnellt. Der Umstieg von der Atomenergie zu erneuer­baren Energien verändert das Geschäftsmodell grundlegend. An einem sonnigen Sommermittag müssen die Pumpspeicherwerke künftig während Konstantinos Boulouchos ETH-Professor für Energietechnik Der 56-jährige, in Griechenland geborene Konstantinos Boulouchos arbeitet an der Entwicklung nachhaltiger Energiesysteme. Er ist Professor und Leiter des Labors für Aerothermochemie und Verbrennungssysteme der ETH Zürich. Gleichzeitig präsidiert er den Leitungsausschuss des Energy Science Center der ETH. Am Paul-Scherrer-Institut leitet er zudem das Labor für Verbrennungsforschung. (-ll-) drei bis vier Stunden Wasser hinaufpumpen und am Abend Strom produzieren. Also anders als heute: Künftig wird mit teurem Solarstrom Wasser hinaufgepumpt, und sobald die Sonne weg ist, wird Abendstrom produziert – kann das betriebswirtschaftlich aufgehen? Der Markt wird es schon richten, doch es wird dazu neue Ideen brauchen. Strom aus Pumpspeicherwerken wird allerdings nicht nur am Abend oder am Vormittag gefragt sein, sondern auch bei schlechtem ­Wetter, wenn zu wenig Solarstrom anfällt. Wie lange werden die ­Reserven bei vollen Pumpspeicherseen reichen? Die schweizerischen Elektrizitätswerke bauen gegenwärtig viele neue Pumpspeicherwerke, die Kapazität wird auf das Dreifache steigen. Das wird jeweils für einige Tage reichen. Wie verhält sich das im Verhältnis zur Idee, Strom mittels Smartgrids in Eletroautos zu speichern? Selbst mit 1 Million geladener Elektroautobatterien könnte man die Bedarfsspitzen in der Schweiz nur über drei bis vier Stunden abdecken helfen. Inwiefern eignet sich Wasserstoff als Speicher? Es ergibt für die Schweiz wenig Sinn, mit Sonnenstrom Wasserstoff herzustellen und mit diesem Wasserstoff später wieder Strom zu produzieren oder das Auto anzutreiben. Sowohl bei der Produktion als auch bei der Verwendung des Wasserstoffs geht sehr viel Energie verloren, sodass zuletzt ein Wirkungsgrad von höchstens 40 Prozent übrig bleibt – das heisst, mehr als die Hälfte des Solarstroms geht verloren. Auch Pumpspeicherwerke verbrauchen Strom, um Wasser in den oberen See zu pumpen. Ja, aber sie haben trotzdem mit 80 Prozent einen viel höheren Wirkungsgrad als Wasserstoff. Wenn nicht mit Wasserstoff: Werden wir noch lange mit Verbrennungsmotoren herumfahren oder bald mit Elektroautos? Beide Techniken werden ihren Platz ­haben. Die elektrischen Batterien reichen für 40 bis 50 Kilometer, für längere Strecken werden wir mit Benzin oder Diesel fahren. Eine wichtige Rolle werden Hybridautos spielen, welche ­sowohl fossil als auch elektrisch betrieben werden. Bundesrat und Nationalrat wollen die Atomkraftwerke definitiv nicht mehr ersetzen, die Ständeratskommission möchte die Tür für eine neue AKW-Generation offen lassen. Welches ist Ihre Haltung? Ich finde die Position von Bundesrat und Nationalrat besser, weil sie Planungs­ sicherheit schafft. Das Parlament kann in 30 oder 40 Jahren den Wiedereinstieg beschliessen, falls eine entsprechende Technik vorhanden sein wird. Bei der Sicher­heit gibt es schon jetzt grosse Fortschritte, für die Reduktion der Menge des radioaktiven Abfalls wird man wohl nach Meinung der Experten Jahrzehnte brauchen. Wird die Schweiz den Umbau ihres Energiesystems hin zu erneuerbaren Energien schaffen? Es ist kein Selbstläufer. Der Umbau wird lange dauern, und er wird etwas kosten, der Wohlstand wird etwas weniger rasch wachsen. Aber längerfristig würden die wachsenden Ausgaben für die Sicherheit der AKW und die Entsorgung der Nuklearabfälle sowie die steigenden Preise für Öl und Gas höher werden. Die Chance steht gut, dass wir das Geld, das wir heute investieren, später wieder zurückerhalten. «Die Chance steht gut, dass wir das Geld, das wir heute investieren, später wieder zurückerhalten.»