Sexualität im Monodrama - LiebeSexundTherapie.at

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DIE ARBEIT MIT DER SEXUELLEN ROLLE IM MONODRAMA –
EIN BALANCEAKT ZWISCHEN INTIMITÄTSSCHUTZ UND OFFENHEIT
Master Thesis zur Erlangung des akademischen Grades
„Master of Science“
im Universitätslehrgang Psychotherapie
Fachspezifikum Psychodrama
von
Dr. Clemens Hammer
Department für Psychotherapie und
Biopsychosoziale Gesundheit
an der Donauuniversität Krems
Wien, Juni 2016
1
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG
Ich, Clemens Hammer, geboren am 26.07.1975 in Neunkirchen erkläre,
1. dass ich meine Masterthesis selbständig verfasst, andere als die angegebenen
Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfen
bedient habe,
2. dass ich meine Masterthesis bisher weder im In- noch im Ausland in irgendeiner Form
als Prüfungsarbeit vorgelegt habe,
3. dass ich, falls die Arbeit mein Unternehmen betrifft, meinen Arbeitgeber über Titel,
Form und Inhalt der Masterthesis unterrichtet und sein Einverständnis eingeholt habe.
Wien, 13.06.2016
Ort, Datum
......................................................
Unterschrift
2
Danksagung
Viele
Menschen
haben
mir
geholfen,
mich
mit
dem
Thema
„Sexualität“
auseinanderzusetzen. Allen voran danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen von der
Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung, mit denen ich seit vielen Jahren im
Bereich der sexuellen Bildung und Sexualberatung zusammenarbeite. Namentlich
möchte ich besonders Sabine Ziegelwanger hervorheben. Mit ihr habe ich Projekte
etablieren dürfen, ewige Diskurse über die professionelle Haltung geführt und weibliche
Sichtweisen auf sexuelle Themen erfahren. Wir sind nicht nur kollegial, sondern auch
freundschaftlich verbunden. Außerdem möchte ich Sandra Gathmann für ihre hilfreiche
Unterstützung im Bereich der Sexualtherapie danken. Mit ihr konnte ich mich im
Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Sexualwissenschaften über sexuelle
Identitäten und Diversity im beraterischen und therapeutischen Kontext unterhalten
sowie den Austausch während der gemeinsamen Fortbildungen in systemischer
Sexualtherapie bei Ulrich Clement pflegen.
Dank gilt auch einigen Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern. Allen
voran Sonja Hintermeier, die mich von Anfang meiner Therapieausbildung an begleitet
und
das
Coaching
Praxissupervisorin
meiner
Roswitha
Masterthese
Riepl,
die
übernommen
mich
bei
der
hat
sowie
Entwicklung
meiner
einer
psychodramatischen Sicht auf Sexualität unterstützte und eine wichtige Hilfe für den
Umgang mit erotischen Impulsen auf der Begegnungsbühne war. Besonderer Dank gilt
auch Helmut Haselbacher, der in meiner Lehrtherapie mein „romantisches Liebesideal“
in Frage stellte sowie Hildegard Pruckner, die mit ihrer kritischen Bemerkung einen
wichtigen Umdenkprozess bezüglich meiner Themenwahl einleitete. Mein erster Entwurf
sah vor, das Hauptaugenmerk auf therapeutische Techniken und Interventionen zu
sexuellen Fragestellungen zu entwickeln. Sie warf die Frage auf, ob denn bei Sex die
Technik das Entscheidende sei…
Margot Hammer, Martin Hofer und Cai Mosich danke ich dafür, meine Texte
immer wieder auf Lesbarkeit zu überprüfen. Sie haben mich stets ermutigt, „dran zu
bleiben“.
3
Vorwort
Liebe_r Leser_In, liebe*r Leser*in,
in den modernen Sozial- und Sexualwissenschaften wird die Verwendung einer
gendergerechten Sprache vorausgesetzt. Aus mehreren Varianten sticht die modernste
Form dadurch hervor, dass sie nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Transidente
und Intersex-Personen berücksichtigt. Die zuletzt dargestellte Form der Anrede – liebe_r
Leser_in, liebe*r Leser*in – macht sämtliche Geschlechter und Geschlechtsidentitäten
sichtbar. Sie ist jedoch ungewohnt zu schreiben, wenig flüssig zu lesen und im
Gesprochenen schwer deutlich zu machen; auch entspricht sie nicht der deutschen
Grammatik. Daher werde ich aufgrund der besseren Lesbarkeit weder diese Variante
noch das Binnen-I verwenden. Stattdessen möchte ich Frauen wie Männer in meinem
Text ausweisen und hoffe sehr, dass sich in den zukünftigen Jahren bessere
Schreibweisen etablieren werden, die keine Geschlechter und Geschlechtsidentitäten
ausgrenzen werden.
Abstract
Ausgangspunkt
dieser
Masterthese
ist
eine
Betrachtung
von
Sexualität
aus
psychodramatischer Sicht. Der Sexualitätsbegriff wird dabei breit definiert: Der Mensch
wird als sexuelles Wesen verstanden; dessen sexuelles Handeln mit Motiven und
Sinnaspekten in Verbindung gebracht. Grundlage für diese Sichtweise ist aktuelle
sexualwissenschaftliche
Literatur,
welche
entlang
eines
humanistischen
Menschenbildes untersucht und für das Psychodrama anhand der Rollentheorie
aufbereitet wird.
Die individuelle Sexualität eines Menschen lässt sich somit als sexuelle Rolle
beschreiben. Der Umgang mit ihr wird anhand von Fallbeispielen aus dem Monodrama
demonstriert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Arbeit auf der Begegnungsbühne. Die
Herausforderung stellt dabei insbesondere die Achtung des Schutzes der Intimität bei
4
gleichzeitiger Möglichkeit zur Offenheit sowohl von Klientinnen und Klienten als auch
von Psychotherapeutinnen und –therapeuten dar.
Stichwörter: Sexualität, Psychodrama, Rollentheorie, Monodrama, Begegnungsbühne
The subject of this Master Thesis is the exploration of sexuality from a psychodramatic
point of view. Sexuality is defined in a broader sense: Clients are regarded as sexual
beings whose sexual behaviours are connected to motives and core values of life in
general. This perspective is based on the current literature of sexology, which is
reviewed from the point of view of the humanistic anthropological paradigm and which I
want to apply to the role theory of Psychodrama.
My aim is to demonstrate that the individual sexuality can be described as a
sexual role. The therapeutic approach to this role theory will be discussed by presenting
case studies from individual therapies. The emphasis lies on the work on the stage of
encounter. The biggest challenge of this approach is to protect and respect the intimacy
in the setting but at the same time offering the possibility of an open dialogue about
sexual contents to the clients as well as to the therapists.
Key words: Sexuality, Psychodrama, Role Theory, Individual Therapy, Stage of
encounter.
5
Inhaltsverzeichnis
Danksagung .................................................................................................................................... 3
Vorwort ............................................................................................................................................ 4
Abstract ........................................................................................................................................... 4
1. Einleitung .................................................................................................................................. 10
1.1. Forschungsstand im Psychodrama ............................................................................................ 11
1.2. Forschungsfrage ........................................................................................................................... 13
1.3. Forschungsansatz und Aufbau der Arbeit ................................................................................. 13
2. Grundlagen ............................................................................................................................... 15
2.1. Das aktuelle Sexualitätsverständnis im Spiegel des humanistischen Menschenbildes .... 15
2.1.1. Der Mensch – ein sexuelles Wesen ................................................................................... 16
2.1.2. Sinnaspekte – Motive sexuellen Handelns ........................................................................ 17
2.1.2.1. Lustaspekt ........................................................................................................................... 19
2.1.2.2. Beziehungsaspekt .............................................................................................................. 20
2.1.2.3. Identitätsaspekt................................................................................................................... 21
2.1.2.4. Fruchtbarkeits- und Fortpflanzungsaspekt ..................................................................... 21
2.1.2.5. weitere Sinnaspekte........................................................................................................... 21
2.1.3. Das erotische Profil der systemischen Sexualtherapie ................................................... 22
2.1.3.1. Die Erfahrungen ................................................................................................................. 23
2.1.3.2. Phantasien und Wünsche ................................................................................................. 23
2.1.3.3. Der aktuell gelebte Sex ..................................................................................................... 24
2.1.3.4. Die erotischen Fähigkeiten ............................................................................................... 26
2.1.3.5. Das erotische Profil im Paarkontext ................................................................................ 27
2.2. Das erotische Profil aus rollentheoretischer Sicht ................................................................... 28
2.2.1. Merkmale des Rollenbegriffs ............................................................................................... 29
2.2.2. Jede Rolle ist gesellschaftlich vermittelt – Die sexuelle Sozialisation ........................... 30
2.2.2.1. Verhandlungsmoral als Idealkonstrukt ............................................................................ 32
2.2.2.2. Das romantische Liebesideal ........................................................................................... 33
2.2.2.3. Heteronormativität .............................................................................................................. 36
2.2.2.4. Leistungsaspekte: Neue sexuelle Mythen ...................................................................... 39
6
2.2.2.5. Die Pro-Sex-Norm .............................................................................................................. 40
2.2.3. Jede Rolle ist individuell gestaltet ....................................................................................... 41
2.2.3.1. Sexualität zwischen Rollengestaltung und Rollenkonserve ........................................ 42
2.2.4. Jede Rolle ist von Kontexten abhängig .............................................................................. 43
2.2.4.1. Kulturelle Skripte ................................................................................................................ 43
2.2.4.2. Intrapsychische Skripte ..................................................................................................... 44
2.2.4.3. Interpersonelle Skripte ....................................................................................................... 44
2.2.4.4. Skripte in der systemischen Sexualtherapie .................................................................. 45
2.2.5. Rollenentwicklung ist ein lebenslanger Prozess ............................................................... 46
2.2.5.1. Biographie – Entwicklung von Sexualität und sexueller Identität aus
rollentheoretischer Sicht .................................................................................................................. 46
2.2.5.2. Rollenanteile der psychosomatischen Rollenebene – Lustempfinden als
angeborene Fähigkeit ...................................................................................................................... 47
2.2.5.3. Wünsche und Phantasien – Anteile der psychodramatischen Rollenebene ............ 48
2.2.5.4. Rollenanteile der soziodramatischen Rollenebene – Voraussetzung für das
Ausverhandeln sexueller Handlungen........................................................................................... 51
2.2.5.5. Rollenanteile und Rollenkompetenzen im Erwachsenenalter ..................................... 55
3. Die Gestaltung der Begegnungsbühne bei der Bearbeitung sexualitätsbezogener
Problemlagen im Monodrama..................................................................................................... 59
3.1. Einleitung: Warum das Setting des Monodramas? ................................................................. 59
3.2. Die Begegnungsbühne im Monodrama ..................................................................................... 61
3.3. Grundüberlegungen zur Gestaltung der Begegnungsbühne bei der Arbeit mit der
sexuellen Rolle ...................................................................................................................................... 63
3.3.1. Zur Haltung von Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern zum Themenfeld
Sexualität ........................................................................................................................................... 63
3.3.3.1. sexuelle und reproduktive Menschenrechte als Wertebasis ....................................... 65
3.3.3.2. Diversity-Ansatz .................................................................................................................. 66
3.3.3.3. Neutralitätsprinzip............................................................................................................... 66
3.3.3.4. Ressourcenorientierung .................................................................................................... 67
3.3.2. gleichgeschlechtliche oder gegengeschlechtliche therapeutische Beziehung ............ 68
3.3.3. Das Etablieren einer geeigneten Sprache ......................................................................... 69
3.3.3.1. Fragen nach einer Partnerschaft unter Berücksichtigung möglicher nichtheterosexueller Begehrensformen ................................................................................................. 71
7
3.3.3.2. Unterstützung der Klientinnen und Klienten bei der Entwicklung einer adäquaten
sexualitätsbezogenen Sprache durch Konkretisierung............................................................... 72
3.3.3.3. Konkretisierungen unter Berücksichtigung von Intimitätsgrenzen .............................. 73
3.3.3.4. Die sprachliche Abstimmung in der psychotherapeutischen Beziehung ................... 74
3.4. Erstkontakt und Erstgespräch ..................................................................................................... 75
3.4.1. Unterschiedliche Medien der Kontaktaufnahme ............................................................... 75
3.4.2. Anliegen rund um Sexualität als Vorstellungsgrund......................................................... 78
3.4.1.1. Sexuelle Funktionsstörungen ........................................................................................... 78
3.4.1.2. psychische und körperliche Erkrankungen, die das Sexualleben beeinflussen ....... 81
3.4.1.3. Die sexuelle Identität und ihr Einfluss auf die gelebte Sexualität ............................... 84
3.4.3. Wenn sexuelle Probleme kein Vorstellungsgrund sind ................................................... 87
3.5. Die Arbeit auf der Spielbühne ..................................................................................................... 90
3.5.1. Das erotische Ressourcogramm ......................................................................................... 90
3.5.2. Die Arbeit mit der Erregungskurve ...................................................................................... 91
3.5.3. Die Arbeit mit Sinnaspekten................................................................................................. 92
3.5.4. Das Benennen der sexuellen Rolle .................................................................................... 94
3.5.5. Dialoge mit der Lust und mit Geschlechtsorganen........................................................... 94
3.5.6. Erotische Handlungen auf der Spiel-Aktionsbühne .......................................................... 96
3.6. Die Arbeit auf der inneren Bühne ............................................................................................... 97
3.6.1. Umgang mit kulturellen Skripten ......................................................................................... 98
3.6.1.1. Kulturelle Skripte in Form von inneren Glaubenssätzen .............................................. 98
3.6.1.2. Heteronormativität und monosexuelle Ordnung ............................................................ 99
3.6.1.3. Einflussfaktoren auf kulturelle Skripte ........................................................................... 100
3.6.1.4. kulturell vorgegebene sexuelle Abläufe ........................................................................ 101
3.6.2. Umgang mit intrapsychischen Skripten ............................................................................ 102
3.6.2.1. Die Differenzierung von Phantasien und Wünschen .................................................. 103
3.6.2.2. sexuelle Wünsche ............................................................................................................ 104
3.6.2.3. sexuelle Wünsche im biographischen Zusammenhang ............................................. 105
3.6.3. Umgang mit interpersonellen Skripten ............................................................................. 106
3.6.3.1. Die Stellung des Kondoms in interpersonellen sexuellen Skripten .......................... 106
3.6.3.2. Variationen interpersoneller Skripte .............................................................................. 108
8
3.6.4. Das ideale sexuelle Szenario und das Worst Case Szenario ...................................... 110
3.7. Erotik auf der Begegnungsbühne „pur“ ................................................................................... 112
3.7.1. Setting ................................................................................................................................... 113
3.7.2. Sharing .................................................................................................................................. 114
3.7.3. Umgang mit eigenen erotischen Impulsen ...................................................................... 114
3.7.4. Sexualisierungen auf der psychotherapeutischen Begegnungsbühne Grenzverletzungen ......................................................................................................................... 115
4. Diskussion .............................................................................................................................. 118
5. Resümee und Ausblick ......................................................................................................... 124
6. Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 125
9
1. Einleitung
Im Laufe meiner Tätigkeit als Sexualberater und –pädagoge wurde mir bewusst, dass
das Thema Sexualität mit unterschiedlichsten, teils widersprüchlichen Werten,
Phantasien und Vorstellungen verknüpft ist. Im Alltagsverständnis meint Sexualität
„Genitalität“ – also im engeren Sinne das Sexualverhalten. In sexualwissenschaftlichem
Sinne aber ist ein deutlich breiteres Verständnis des Begriffs üblich (vgl. Sielert, 2005,
S.37f.). Da Sexualität „zu viel und zu Widersprüchliches“ umfasst, ist „entscheidend, was
ein jeweiliger Kulturkreis – und im wissenschaftlichen Zusammenhang eine Gruppe von
Personen, die sich forschend mit Sexualität auseinandersetzt, als Bedeutungskern
definiert“ (ibid.). Für die Arbeit als humanistisch geprägte Psychodramatikerinnen und
Psychodramatiker müsste sich ein Sexualitätsbegriff demnach in das Menschenbild und
in die Persönlichkeitstheorien des Psychodramas einfügen.
Einem definierten Sexualitätsverständnis liegt eine spezifische Sexualmoral
zugrunde, welche die psychotherapeutische Haltung bestimmt. Ich gehe davon aus,
dass sich dieses wesentlich von z.B. einem (sexual-)medizinischen oder biologischen
Verständnis unterscheidet. Definitiv unterscheidet es sich aber von den jeweiligen
privaten
Einstellungen
und
Vorstellungen
von
Psychotherapeutinnen
und
Psychotherapeuten. Aus meiner Sicht ist es hilfreich, wenn nicht sogar ethisch
notwendig, eine schulspezifische, professionelle Haltung mit ihren zugrunde liegenden
Werten und Normen zu entwickeln und diese gegebenenfalls sowohl Klientinnen und
Klienten als auch Kolleginnen und Kollegen gegenüber transparent zu machen.
Auf diesen Grundlagen baut die konkrete psychotherapeutische Arbeit auf. Das
Psychodrama ist in seiner ursprünglichen Form ein Gruppentherapieverfahren, bei dem
szenisch gearbeitet wird. Sexuelle Szenen darzustellen, noch dazu in einer
„Halböffentlichkeit“ – der Gruppe, gilt jedoch als ausgesprochen obszön. Daher raten
Falko von Ameln, Ruth Gerstmann und Josef Kramer davon ab, sexuelle Inhalte auf die
Bühne zu bringen (vgl. von Ameln, Gerstmann & Kramer 2009, S.268 ff.). Jutta Fürst
und Hannes Krall betonen, dass eine „einfache Reinszenierung einer privaten sexuellen
Handlung oder Begegnung […] auf der psychodramatischen Bühne nichts zu suchen
10
[hat]“ (Fürst & Krall, 2012, S.34) und weisen auf die Sinnhaftigkeit von Symbolisierungen
und Metaphern auf der Spielbühne hin (vgl. ibid.).
Aus Erfahrung mit Fortbildungsgruppen im Bereich der sexuellen Bildung zeigt
sich regelmäßig folgendes Bild: Die Einzelnen wählen schon im Vorfeld die Teilnahme
an
jenen
Veranstaltungen
aus,
sind
also
bereit,
sich
mit
Sexualität
auseinanderzusetzen. Aufgabe der Leiterin und des Leiters ist aber dennoch, darauf
aufmerksam zu machen, dass niemand Persönliches preisgeben muss und betonen die
Wichtigkeit, die eigene Schamgrenze zu beachten. Unter diesen Rahmenbedingungen
gelingt es sehr gut, einige Aspekte von Sexualität zu bearbeiten. Die Erfahrung lehrt
aber zugleich, dass der Austausch persönlicher, intimer Erlebnisse fast immer zu zweit
stattfindet (eventuell sogar „nur“ in den Pausen) – und dies unter Ausschluss der
Leitenden. Daraus folgt, dass es für die meisten Menschen eines vertraulichen
Rahmens bedarf, um persönliche Anliegen rund um Sexualität aufgreifen zu können.
Daher bietet sich das Monodrama an. Der Begriff „Monodrama“ ist die in Österreich
verwendete Bezeichnung für die Anwendung von Psychodrama im Einzelsetting, wie sie
erstmals von Barbara Erlacher-Farkas und Christian Jorda ausführlich beschrieben
wurde (Erlacher-Farkas & Jorda, 1996).
1.1. Forschungsstand im Psychodrama
In der psychodramatischen Fachliteratur im deutschsprachigen Raum sind zum Thema
Sexualität einige Publikationen erschienen. Ein wesentlicher Meilenstein ist die
Masterthesis von Wolfgang Hofer (2013), der das etablierte sexualtherapeutische
Verfahren des Hamburger Modells, welches auf Arbeiten von William Masters und
Virginia Johnson, Helene Singer-Kaplan, etc. basiert, mit der PsychodramaPsychotherapie verbindet. Der Fokus, ganz in der Tradition dieses Verfahrens, liegt in
der Arbeit mit (Liebes)paaren. Es wird also vor allem der Bedeutung der Paarsexualität
Rechnung
getragen.
Dem
einzeltherapeutischen
Setting
widmet
er
einen
untergeordneten Teil in der Masterthesis, greift dies aber in einer früheren Publikation
auf
(Hofer,
1996).
Sabine
Kistler
(2015)
11
beschreibt
einige
psycho-
und
sexualtherapeutische Techniken, die auf der von Hofer erarbeiteten PsychodramaSexualtherapie aufbaut.
Schuldig blieben die Arbeiten aber Antworten zu folgendem Fragenkomplex:
Welches Sexualitätsverständnis haben humanistisch geprägte Psychodramatikerinnen
bzw. Psychodramatiker? Welche Haltung nehmen sie ein? Auf welcher ethischen Basis
handeln sie?
Erste Hinweise dazu liefern Fürst und Krall (2012, S.25ff.), deren Arbeit sich unter
anderem mit der Definition von Sexualität beschäftigt und erste Impulse für
psychodramatische Arrangements setzt. Sonja Hintermeier (2012, S.72ff.) geht noch
einen Schritt weiter und skizziert Verbindungen von Sexualitätsvorstellungen mit
Persönlichkeitsstrukturen bzw. deren Störungen. Diese und weitere Fachartikel finden
sich im Themenheft „Sexualität, Erotik, Intimität“ der Zeitschrift für Psychodrama und
Soziometrie, welches 2012 von Christian Stadler, Sabine Spitzer-Prohaska und Sabine
Kern herausgegeben wurde.
Mit leidbringenden bzw. leidvollen Facetten menschlicher Sexualität wie dem
Ausüben oder Erleben von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch beschäftigen
sich die Arbeiten von Jonni Brem (2004) und Hildegard Knapp (2011): Brem beschreibt
die Arbeit mit Sexualtätern. Knapp beschäftigt sich mit geschlechtsspezifischen
Verarbeitungsweisen traumatischer Erlebnisse. Zahlreiche Beispiele beziehen sich auch
auf sexuelle Gewalterfahrungen.
Da bei diesen Fällen aber die Gewaltausübung bzw. die Traumatisierung im
Vordergrund stehen, nicht die Sexualität selbst, werden sexuelle Gewalt/Missbrauch
bzw. Opfererfahrungen in dieser Masterthese bewusst ausgeklammert. Außerdem
würde dieser Themenkomplex den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen.
12
1.2. Forschungsfrage
Die Fragestellung für diese Masterthese lautet:
Wie fügt sich das aktuelle sexualwissenschaftliche Verständnis von Sexualität
(mit
Betonung
der
psychischen
und
soziokulturellen
Aspekte)
in
das
Menschenbild des humanistischen Psychodramas ein? Was bedeutet dies für die
Haltung der Psychotherapeutin bzw. des Psychotherapeuten und die Gestaltung
der Begegnungsbühne in der Einzelpsychotherapie (Monodrama)?
Anmerkung:
Die
Sexualwissenschaft
(auch
Sexualforschung,
Sexologie)
ist
multidisziplinär. Sexualforschung erfolgt in verschiedenen medizinischen, biologischen,
psychologischen, pädagogischen, sozialen und soziokulturellen Disziplinen (vgl.
Wikipedia). Der Autor beschränkt sich auf den aktuellen Forschungsstand aus den
Bereichen Psychologie und Psychotherapie, Pädagogik und Soziologie.
1.3. Forschungsansatz und Aufbau der Arbeit
Die Masterthese versteht sich als themengeleiteter Praxisbericht. In Kapitel 2 werden
aktuelle sexualwissenschaftliche Werke (Buddeberg, 2005, Kluge, 2008, Lautmann,
2002, Schmidt, 2011, Sielert, 2005 und 2008, Sigusch, 2005, Starke, 2008, u.a.)
hinsichtlich eines möglichst differenzierten Sexualitätsverständnisses erforscht (Kapitel
2.1.) und schließlich mit der Rollentheorie in Verbindung gebracht (Kapitel 2.2.). Eine
zentrale Stellung nehmen dabei die Publikationen von Ulrich Clement (1994, 2009,
2010, 2011) ein. Er entwickelte eine völlig neuartige Form der Sexualtherapie, die nicht
mehr in der Tradition des Hamburger Modells steht. Insbesondere sein Fokus auf das
erotische Potenzial und damit auf die erotischen Ressourcen von Klientinnen und
Klienten sowie die Arbeit mit sexuellen Skripten sind beim Psychodrama gut
anschlussfähig.
In Kapitel 3 wird auf die konkrete Arbeit mit sexuellen Themen im Monodrama
eingegangen.
Dabei
liegt
der
Fokus
13
auf
der
psychotherapeutischen
Beziehungsgestaltung, die in der Fachliteratur als Begegnungsbühne bezeichnet wird
(vgl. Pruckner, 2001 & 2012, S.239ff., Schacht & Pruckner, 2010, S.239ff.).
Nach Grundüberlegungen zu Beziehungsgestaltung und psychotherapeutischer
Haltung werden insgesamt 6 Klienten und 4 Klientinnen vorgestellt, auf die im weiteren
Verlauf immer wieder Bezug genommen wird. Deren Problemschilderungen beziehen
sich auf verschiedene Aspekte der sexuellen Rolle, die ich in drei Kategorien unterteilt
habe: Störungen der Sexualfunktion, Auswirkungen auf die sexuelle Rolle durch
psychische und physische Erkrankungen sowie Schwierigkeiten in Bezug auf die
sexuelle Identität.
Die beiden letzten Klientinnen kamen ohne Anliegen rund um Sexualität in
Psychotherapie. Sie wurden deshalb ausgewählt, weil sich anhand dieser Fallbeispiele
zeigen lässt, wie Erotik und Sexualität in psychotherapeutischen Prozessen Platz finden
können. Fragen rund um Sexualität sind häufig, kommen aber häufig nicht so einfach
zur Sprache.
Das Schlusskapitel widmet sich dem Umgang mit erotischen Impulsen und
Sexualisierungen auf der Begegnungsbühne. Dieses Kapitel erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, bietet sich aber als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen an.
14
2. Grundlagen
2.1. Das aktuelle Sexualitätsverständnis im Spiegel des humanistischen
Menschenbildes
Die Psychodrama-Psychotherapie ist in Österreich humanistisch ausgerichtet (vgl.
Schacht & Hutter, 2014, S.200). In humanistischen Psychotherapierichtungen wird der
Mensch als potenziell mündiges Subjekt gesehen,
„das
in
seinen
biopsychosozialen,
ökologischen
und
biographischen
Vernetzungen bewusst erleben, wahlfrei und sozial verantwortlich handeln und
über seine gesamte Lebensspanne hinweg seine Existenz in seinen sozialen
Bezügen aktiv und kreativ gestalten kann“ (Eberwein, 2014, S.18).
Werner Eberwein schreibt weiter:
„Wir [sehen] den Menschen […] als aktiven Gestalter seiner Existenz. Das
bedeutet, dass er sich in seinem Bewusstsein und seinem Handeln auf Ziele hin
ausrichten kann, die wiederum auf sinnorientierte Werte hin ausgerichtet sind“
(ibid., S.28).
In der Psychodramaliteratur wird der Mensch entsprechend dieser Vorstellungen als
homo creator, ein aktiver Gestalter seiner Welt, als homo interagens, der als Akteur in
Relation zur Mit- und Umwelt handelt, als homo ludens, der Spielräume nützt sowie als
homo symbolicus, der seinem Leben Bedeutung und Sinn verleiht, interpretiert (vgl.
Buer, 2004, S.39f.).
Besonders dem Spiel und damit der Szene und dem szenischen Verstehen wird
im Psychodrama eine hohe Bedeutung beigemessen. Durch den szenischen Ansatz
wird es möglich, „Komplexität zuzulassen, sie aber gleichzeitig bearbeitbar zu machen“
(Hutter & Schacht, 2014, S.184). Christoph Hutter und Michael Schacht unterstreichen,
dass es
„Morenos erklärtes Ziel ist […], dieses „ganze lebendige soziale Aggregat“, das
er „Szene“, „Augenblick“ oder „Lage“ nennt, zur Grundlage seiner Arbeit zu
machen“ (ibid.).
15
2.1.1. Der Mensch – ein sexuelles Wesen
In aktuellen sexualwissenschaftlichen Diskursen wird der Mensch als sexuelles Wesen
bezeichnet ohne auf diesen Ausdruck genauer einzugehen (vgl. Sielert, 2008, S.42,
Buddeberg, 2005, S.105 et. al.). Dieser Begriff scheint selbsterklärend zu sein. Die
WHO verwendet stattdessen „das sexuelle Sein“ und führt bereits in ihrer Definition zur
sexuellen Gesundheit von 1975 aus:
„Sexuelle Gesundheit ist die Integration der somatischen, emotionalen,
intellektuellen und sozialen Aspekte sexuellen Seins auf eine Weise, die positiv
bereichert und Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe stärkt. Grundlegend für
dieses Konzept sind das Recht auf sexuelle Information und das Recht auf Lust.
[…] Die Vorstellung sexueller Gesundheit impliziert also eine positive Einstellung
zur menschlichen Sexualität und der Zweck sexueller Gesundheitspflege sollte
nicht nur Beratung und Betreuung bei Fortpflanzung und sexuell übertragbaren
Krankheiten sein, sondern die Verbesserung der Lebensqualität und persönlicher
Beziehungen“ (WHO, 1975 zit. nach der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung).
Diese Definition von sexueller Gesundheit und „sexuellem Sein“ bleibt zwar unpräzise,
legt aber den Grundstein für ein komplexes Denksystem, das weit mehr als den
Sexualakt umfasst. Somit
ist anzunehmen, dass das „sexuelle Wesen“ als
Charakteristikum gilt, das allen Menschen eigen ist. So gesehen ist der Mensch ein
sexuelles Wesen wie er auch beispielsweise ein soziales oder kulturelles Wesen ist;
oder wie Uwe Sielert es ausdrückt: „Sexualität durchdringt den Menschen in seiner
Persönlichkeit und bestimmt zwischenmenschliche Beziehungen“ (Sielert, 1993 zit. nach
Fürst & Krall, 2012, S.27). Auch die Psychodramatikerin Sonja Hintermeier geht davon
aus, dass sich „im sexuellen Handeln die Persönlichkeit eines Menschen […] zeigt“
(Hintermeier, 2012, S.72).
Eng verknüpft mit dem Begriff „sexuelles Wesen“ und teilweise synonym
verwendet wird der Begriff „sexuelle Identität“. Wolfgang Hofer schreibt beispielsweise,
dass „Sexualität ein zentraler Teil der menschlichen Identität ist“ (Hofer, 2013, S.8).
16
Im engeren Sinne wird „sexuelle Identität“ folgendermaßen definiert:
„Die sexuelle Identität ist das grundlegende Selbstverständnis der Menschen
davon, wer sie als geschlechtliche Wesen sind – wie sie sich selbst wahrnehmen
und wie sie von anderen wahrgenommen werden (wollen). Sie umfasst das
biologische, das soziale und auch das psychische Geschlecht sowie die sexuelle
Orientierung1“ (Timmermanns, 2008, S.261).
Das
biologische Geschlecht (sex) beinhaltet das genetische,
gonadale2 und
anatomische Geschlecht; das soziale Geschlecht (gender) meint die kulturellen Normen
und Zuschreibungen an einen Mann oder eine Frau; das psychische Geschlecht (oder
die Geschlechtsidentität) bezeichnet die innere Überzeugung eines Menschen, sich dem
einen oder anderen Geschlecht (oder beiden) zugehörig zu fühlen und die sexuelle
(Partner)orientierung beschreibt, ob sich das Begehren an eine Frau, einen Mann oder
an beide richtet (vgl. ibid., S.261 f., vgl. Kluge, 2008, S.71 ff.). Das sexuelle Wesen ist
zwar nicht ident mit der sexuellen Identität, aber derart eng mit dem Menschen als
Geschlechtswesen verwoben, dass es keinen Sinn macht, diese beiden Aspekte
menschlicher Existenz zu trennen. Sexualität ist unmittelbar an das Geschlecht
gebunden.
2.1.2. Sinnaspekte – Motive sexuellen Handelns
Im sexuellen Handeln drücken sich nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen aus,
sondern auch verschiedene Motive. Ich vermute, dass dies auch Jakob Levi Moreno
bewusst war, wenn man das Beispiel eines kulturellen Paaratoms betrachtet (vgl. von
Ameln, Gerstmann & Kramer, 2009, S.221). Dem damaligen Zeitgeist entsprechend
verortete er allerdings die sexuelle Rolle auf der psychosomatischen – und damit auf der
1
Der Identitätsbegriff hat in erster Linie mit einer Selbstdefinition zu tun. Identitätsstiftende Elemente
können beispielhaft die Geschlechts-, die Generationen-, die Kultur-, die Professionszugehörigkeit sein.
Die sexuelle Orientierung bezieht sich auf ein begehrenswertes Gegenüber, ist also nicht immer
gleichbedeutend mit einer Eigendefinition. So zeigen sich häufig Widersprüche zwischen sexuellem
Handeln und sexueller Identität (vgl. Kap. 2.2.1.4.)
2
Gonaden = Eierstöcke bzw. Hoden
17
biologischen Ebene (vgl. Hutter & Schwehm, 2012, S.318). Dies deckt sich mit
Vorstellungen der Psychoanalyse, die auch heute Grundlage vieler weit verbreiteter
Sexualtherapiemodelle ist.
Laut der klassischen Psychoanalyse ist die Libido ein Trieb, der ständig –
biologisch begründet – aus sich heraus Spannung erzeugt, stärker wird und auf Abfuhr
und Entladung drängt (vgl. Buddeberg, 2005, S.32). Die sexuelle Motivation ist somit
biologisch vorgegeben. Da das Sexuelle in seiner Reinform nicht definierbar ist (vgl.
Lautmann, 2002, S.19ff.), weil es sich stets auch um ein Kulturprodukt handelt, müsste
man in der Rückschau die gesellschaftlichen Verhältnisse einbeziehen (vgl. Schmidt,
2011, S.55). 1906, als Freud den Begriff der Libido eingeführt hat, war Sexualität mit
einer Kultur des Patriarchats verwoben, in welcher der Geschlechtstrieb grundsätzlich
dem
Mann
zugeordnet
war
und
alle
sexuellen
Ausprägungen
abseits
des
Vaginalverkehrs zwischen Mann und Frau (in einer Ehe) als amoralisch galten und auch
verboten waren. Dies wirkte dann so, als wäre „diese Libido […] eine sich ständig
erneuernde Triebenergie, die durch gesellschaftliche Einflüsse gebändigt und geformt
werden muss“ (Uzler, 2007, S.4). Dies ist die Grundlage dafür, sexuelle Varianten als
Perversionen zu sehen und einem funktionierenden heterosexuellen Vaginalverkehr
verschiedene sexuelle Funktionsstörungen gegenüberzustellen.
Die Forschungen von William Masters und Virginia Johnson in den 1960er Jahren
zum „sexuellen Reaktionszyklus“ (vgl. Hofer, 2013, S.11ff.) haben zu einer weiteren
Vertiefung des Glaubens an eine „richtige“, „funktionierende“, „reife“ Sexualität geführt,
welche sich in uns als kollektiver Mythos eingebrannt hat.
In aktuell geschlechtsgerechteren Zeiten kam es zu einem wesentlichen
Paradigmenwechsel in der Sexualforschung, weil die meisten Techniken, Praktiken und
sexuellen Identitäten pluralisiert und gesellschaftlich lebbar geworden sind. Daher sind
viele „Perversionen“ aus dem Dunstkreis der Pathologie verschwunden. Volkmar
Sigusch spricht von Neosexualitäten und Neogeschlechtern (Sigusch, 2005). Daher
wird nach und nach das Triebmodell – auch als Dampfkesseltheorie bezeichnet (vgl.
Buddeberg, 2005, S.32) – durch ein neues Verständnis von sexueller Motivation ersetzt.
18
Gunter Schmidt spricht vom „Lustsucheprinzip“ (vgl. Schmidt, 2011, S.56ff.): „Kein Trieb
treibt uns mehr zum Sex, sondern die Suche nach Reizen, Vergnügungen, thrills
verlockt uns“ (ibid., S.163).
Bei aller biologischer Grunddisposition von sexueller Motivation ist demnach das
Augenmerk eher auf das Ziel und die Sinnhaftigkeit sexueller Handlungen ausgerichtet.
Dies passt gut mit dem humanistischen Menschenbild zusammen, denn „der Mensch ist
nicht nur kausal motiviert durch Ursachen, sondern auch final durch Absichten“
(Eberwein,
2004,
S.23).
Daher
ist
sexuelles
Handeln
nicht
allein
auf
der
psychosomatischen Ebene verankert, auch wenn der Körper im Handeln einbezogen ist.
Sielert definiert Sexualität folgendermaßen:
„Sexualität
kann
begriffen
werden
als
allgemeine,
auf
Lust
bezogene
Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist
wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedenster
Hinsicht sinnvoll ist“ (Sielert, 2005, S.41).
Sielert hat vier wichtige Sinnaspekte für sexuelles Handeln differenziert (vgl. ibid.,
S.49ff.):
2.1.2.1. Lustaspekt
Menschen handeln sexuell, weil sie dazu Lust haben und es Lust bringt. Lust hat einen
eigenständigen Wert und ist eine wesentliche Triebkraft menschlichen Lebens (vgl.
Starke, 2008, S.402; vgl. Sielert, 2005, S.50). Ulrich Clement meint, dass dem Begriff
„Lust“ eine sehr allgemeine Bedeutung innewohnt, die sich wiederum differenzieren
ließe in Interesse, Erregung, Motivation, Verlangen, etc. Er schlägt stattdessen den
Begriff „sexuelles Begehren“ vor (vgl. Clement, 2011, S.47f.).
Im Denkschema der Funktionsperspektive von Sexualität ist der Gegenspieler
von Lust die Angst. Daher werden, zum Beispiel in der Psychodrama-Sexualtherapie
(vgl. Hofer, 2013), Übungen angeboten, die diese Angst reduzieren und über
Entspannung zu einer langsamen Annäherung zu Sinnlichkeit und Erotik führen soll. Im
neueren Denkschema hingegen ist der Gegenspieler von Lust nicht automatisch die
Angst, sondern die Unlust, die sich bis zur Aversion steigern kann (vgl. Clement, 2011,
19
S.47). Wichtige Sexualtherapeuten, die sich auf diesen Denkansatz stützen, sind David
Schnarch (Schnarch, 2010) und Ulrich Clement, die eine gewisse Angst in sexuellen
Handlungen als notwendige Voraussetzung für Leidenschaft sehen (vgl. Schnarch &
Schmidt zit. nach Clement, 2011, S.25): „Mit der vollkommenen Entspannung werden
die anderen emotionalen Amplituden der Erotik gleich mitgekappt“ (ibid.).
Aus diesem Grund ist verständlich, warum „sexuelle Appetenzstörungen“ derzeit
scheinbar im Vormarsch sind: Es wirkt Angst reduzierend, wenn in Liebesbeziehungen
alles ausgehandelt wird und damit Sicherheit, Vertrauen und hohe Vorhersagbarkeit
sexueller Handlungen entstehen. Schnarchs Ansicht nach ist also eine Appetenzstörung
in erster Linie ein Hinweis auf zu starke Verschmelzung, auf zu viel Nähe (Schnarch zit.
nach Hintermeier, 2012, S.73).
Auch die sexuellen Funktionsstörungen werden in diesen beiden Denkansätzen
unterschiedlich interpretiert. So können sie laut Hofer sekundär zu Luststörungen führen
(vgl. Hofer, 2013, S.14). Nach Clement sind sie ein möglicher Ausdruck, eine Botschaft
mangelnder sexueller Lust (vgl. Clement, 2011, S.60f.).
Für die alltägliche psychotherapeutische Praxis sind beide Denkweisen relevant
und es kommt darauf an, ob sexuelle Lustlosigkeit auf zu viel Angst oder auf zu wenig
Reiz gründet.
2.1.2.2. Beziehungsaspekt
Der Beziehungscharakter von Sexualität lässt sich nicht bestreiten. Der Großteil der
sexuellen Handlungen, Phantasien und Wünsche sind, zumindest ab dem Jugendalter,
Du-gerichtet, selbst in der Autoerotik. Dieses Gegenüber muss jedoch keine konkrete
Person sein. Im engeren Sinn auf Paarsexualität bezogen stiftet und vertieft Sexualität
Beziehungen und stellt einen Code zur Kommunikation der Intimität in der Bezogenheit
von Ich und Du dar (vgl. Sielert, 2005, S.50). Kurt Starke drückt dies so aus:
„Für die allermeisten ist sie ein starker Liebesbeweis, ein Geschehen, das der
Liebe entspringt und sie fördert. […] An der Spitze der subjektiven
Bedeutungshierarchie steht: der geliebten Person nah zu sein“ (Starke, 2008,
S.403).
20
Clement betont eine weitere Facette des Beziehungsaspekts:
„Für die meisten Paare ist Sex ein Ritual, das mehr umfasst, als nur den
Sexualtrieb zu befriedigen. Sex ist nicht nur Spaß. Das sexuelle Ritual bekräftigt,
dass die Beziehung beständig ist“ (Clement, 2009, S.130).
Dem zugeordnet ist der Kommunikationsaspekt. Er zeigt sich sowohl in verbaler als
auch non-verbaler Gestalt „basierend auf Verständigung und Verständnis und getragen
von Vertrauen ineinander“ (Starke, 2008, S.402). Er hat vor allem in Form des
Zärtlichkeitsaustauschs einen hohen Rang, insbesondere bei Liebenden (vgl. ibid.).
2.1.2.3. Identitätsaspekt
„Sexualität ermöglicht das Geben und Nehmen von Selbstbestätigung als Bedingung für
Selbstliebe und als Voraussetzung, auch andere in ihrem Selbst zu achten“ (Sielert,
2005, S.51). Frauen und Männer werden im sexuellen Tun und Begehren in ihrer
Weiblichkeit bzw. Männlichkeit bestätigt. „Im Idealfall sieht sich der Mensch als Ganzes
in seiner Existenz bekräftigt“ (Starke, 2008, S.402).
2.1.2.4. Fruchtbarkeits- und Fortpflanzungsaspekt
Sexualität kann das Leben auf allen Ebenen befruchten – dieser Aspekt meint mehr als
physische Fortpflanzung und kann auch unabhängig von ihr gegeben sein:
„Die Tatsache, dass die Frau fruchtbar ist und der Mann ein Kind zeugen kann,
[spielt] bewusst oder unbewusst eine überragende Rolle. Dieses vitale
körperliche Vermögen ist in seiner Bedeutung für die Sexualität lange
unterschätzt worden“ (Starke, 2008, S.402).
2.1.2.5. weitere Sinnaspekte
Bringen diese verschiedenen Sinnaspekte manchmal schon Ambivalenzen mit sich (z.B.
Abenteuerlust versus Beziehungsbedürfnis), lassen sich für die Psychotherapie wichtige
weitere Bedeutungen (gelebter und nicht-gelebter) Sexualität zuordnen.
Starke (vgl. 2008, S.401ff.) ergänzt zum Beispiel die Sinnaspekte durch weitere
Funktionen, wie er sie nennt: unter anderen die Spaßfunktion – teilweise banalisiert, die
21
Entspannungsfunktion und die Kompensationsfunktion, die dazu dient, Nicht-sexuelles
durch Sexuelles auszugleichen. Aber Sex kann auch eine Tauschfunktion haben (Sex
wird gegen Sex getauscht), oder als Leistung und Gegenleistung, als Belohnung oder
Strafe verwendet werden, etc.
Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass es auch sinnvoll sein kann,
keinen Sex zu haben. Beispielsweise, weil niemand zur Verfügung steht, weil die Angst
vor Nähe zu groß, die persönliche Autonomie wichtiger ist, beruflicher oder privater
Stress im Vordergrund stehen, die Partnerschaft unbefriedigend oder keine sexuelle
Lust vorhanden ist.
2.1.3. Das erotische Profil der systemischen Sexualtherapie
Im sexuellen Handeln drücken sich „das sexuelle Wesen“ und verschiedene
Handlungsmotive aus. Um diese Komplexität sexuellen Handelns zu erfassen, braucht
es eine Struktur, mit der Psychotherapeutinnen und –therapeuten arbeiten können.
Clement (2009, 2011) bietet diese Struktur an, indem er von einem individuellen
erotischen Profil (andere Begriffe: sexuelles Profil, sexuelles Spektrum) spricht. Dieser
Begriff stammt aus der von ihm entwickelten systemischen Sexualtherapie.
Das sexuelle Profil eines Menschen setzt sich demnach aus seinen Erfahrungen,
aus den Phantasien und Wünschen, aus den erotischen Fähigkeiten und dem aktuell
gelebten Sex zusammen (vgl. ibid., 2009, S.76). Dieses Modell dient in erster Linie
dazu, Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen eines Menschen herauszuarbeiten. Es
ist biographisch und dynamisch zu verstehen: Während die Vergangenheit die
Vorstellungen und Einstellungen zu Erotik prägen, weisen die Wünsche und Phantasien
in eine mögliche Zukunft. Im aktuell gelebten Sex verschränken sich beide. Die
Fähigkeiten und Fertigkeiten sind als erotische Ressourcen eines Menschen zu
verstehen.
22
2.1.3.1. Die Erfahrungen
Jede Person hat ihre eigene sexuelle Biographie und entwickelt im Laufe des Lebens
individuelle Vorlieben, Abneigungen und Bedürfnisse (vgl. Clement, 2011, S.65).
„Sexuelle Erregung ist immer an Erinnerung und Erfahrung gebunden – außer
beim ersten Mal… Und selbst beim ersten Mal ist unsere Erregung angereichert
durch Erzählungen anderer, Bücher, Zeitschriften und Filme.“ (ibid., 2009, S.78)
Diese
Erzählungen
anderer
treffen
in
der
Jugendzeit3
aber
nicht
auf
ein
„unbeschriebenes Blatt“. Vielmehr treffen sie auf Beziehungs-, Liebes-, Nähe- und
Körpererfahrungen der Kindheit; auf Erinnerungen daran, wie die Bezugspersonen
miteinander Beziehungen gelebt haben; was mitgeteilt und tabuisiert wurde. John
Money spricht von „love maps“, also Liebeslandkarten (vgl. Money zit. nach Schmidt,
2011, S.100), die Soziologen John H. Gagnon und William Simon von sexuellen
Skripten4 (vgl. Simon und Gagnon zit. nach ibid.). Das Besondere an den Skripten liegt
darin, dass sie im Laufe des Lebens, „vor allem in der Adoleszenz und in neuen
Beziehungen modifiziert, umgeschrieben und fortgeschrieben werden können, sie sind
lebenslang in Arbeit“ (Schmidt, 2011, S.101).
2.1.3.2. Phantasien und Wünsche
„Fantasien sind traumartige Vorstellungen, was alles möglich wäre. […] Sie leben
zunächst nicht von der Absicht, danach zu handeln“ (Clement, 2009, S.96). Sie gründen
teilweise auf Erfahrungen, richten sich aber vor allem an zukünftige Möglichkeiten. Im
3
Die ersten sexuellen Kontakte finden in der Regel in der Jugendzeit statt: Laut BZgA haben mit 14
Jahren etwa 8% aller Jugendlichen ihre ersten Koituserfahrungen erlebt, zwischen 16 und 17 Jahren ist
der Median von 50% erreicht, d.h. die Hälfte aller Jugendlichen haben die ersten sexuellen Kontakte
bereits hinter sich, die andere noch vor sich. Dies hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Der
Unterschied zwischen Mädchen und Burschen in Bezug auf „das erste Mal“ ist sehr gering (vgl. BZgA,
2010).
4
Diese Masterthesis wird sich auf die sexuellen Skripte konzentrieren. Einerseits, weil dieser Begriff im
deutschen Sprachraum bekannter ist, andererseits, weil sie als Drehbücher verstanden werden können,
die für das Psychodrama plausibel verwendet werden können.
23
Reich der Phantasie führt eine Frau, ein Mann nur selbst Regie. Alles unterliegt
ausschließlich der eigenen Kontrolle:
„In dieser Vorstellungswelt lässt sich Unvereinbares zusammenbringen. Wir
handeln in unserer Fantasie losgelöst von Schwerkraft und Schmerzen, von
körperlichen Notwendigkeiten, körperlichen Fähigkeiten und gesellschaftlichen
Rücksichten. […] Die einzige Grenze liegt in der Begrenztheit der Fantasie selbst“
(ibid., S.104).
Zu den Phantasien gehören auch alle Praktiken und Handlungen, die jemand nie in die
Tat umzusetzen gedenkt. Sie sind aus der sexuellen Erregbarkeit nicht wegzudenken
und können „politisch unkorrekt“ sein. Sie werden häufig für sich behalten, weil die
Gefahr
droht,
das
Gegenüber
könnte
diese
Phantasien
mit
konkreten
Handlungsabsichten verwechseln. Clement betont, dass Phantasien privat sind, also nur
die oder der Phantasierende darüber bestimmt, was sie oder er davon mitteilt.
„Wünsche dagegen drängen nach Verwirklichung. Sie sind ´realistische´ und
absichtsvolle Fantasien. […] Wünsche sind näher am Handeln. […] In erotischen
Wünschen
drücken
sich
Sehnsüchte,
Erwartungen
und
auch
konkrete
Handlungsabsichten aus“ (Clement, 2009, S.96).
Wünsche sind flexibel, sie können sich ins Reich der Phantasie verlagern oder aber
drängender werden. Unerfüllte Wünsche neigen dazu, immer stärker zu drängen. Geht
ein erotischer Wunsch in Erfüllung, stellt sich bald ein neuer Wunsch ein. Wünsche sind
demnach wichtige Treiber in erotischen Entwicklungsprozessen.
2.1.3.3. Der aktuell gelebte Sex
Weder die erotische Vergangenheit, noch Phantasien und Wünsche sind grundsätzlich
monogam. Dies steht im Widerspruch zu den Wünschen der meisten Personen nach
einer monogamen Paarsexualität. Monogamie im Bereich der aktuell gelebten Sexualität
ist daher vor allem eine Frage von Entscheidungen, von Regeln und Abmachungen. Sie
wird aber relativ flexibel interpretiert. In früheren Zeiten beispielsweise, als
Selbstbefriedigung als schwer tabuisierter Bereich der Sexualität galt, war diese deutlich
seltener ein Teil des sexuellen Profils und wurde in erster Linie als Ersatzhandlung
24
verstanden (die häufiger von Männern genutzt wurde). In heutigen sexuellen
Verhältnissen wird Selbstbefriedigung von vielen nicht mehr als Treuebruch, sondern als
selbstverständlicher und selbstbestimmter Teil der persönlichen Sexualität verstanden:
„Als einzige Sexualpraxis ist [die Selbstbefriedigung] im Verlauf des 20.
Jahrhunderts nicht nur von einer verpönten und verfolgten zu einer von Männern
wie Frauen geschätzten Selbstpraktik geworden, sondern hat insgesamt auch
quantitativ
an
Bedeutung
gewonnen“
„[Selbstbefriedigungserfahrungen]
erreichen
(Sigusch,
bei
den
2005,
jüngeren
S.8).
Frauen-
generationen fast das gleiche Niveau wie bei Männern“ (Starke, 2008, S.406).
Daher setzt sich der aktuell gelebte Sex nach Clement aus den Bereichen
Paarsexualität (Sex mit dem fixen Partner/ der fixen Partnerin), Selbstbefriedigung (Sex
mit sich selbst) und Sex mit gegebenenfalls anderen Sexualpartnerinnen und -partnern
zusammen (vgl. Clement, 2009, S.76).
Ein
relativ neues Phänomen,
das sehr
unterschiedlich
in
Bezug
auf
Treuevorstellungen bewertet wird, ist die virtuelle Dimension der Sexualität (vgl. Döring,
2010, S.271ff.). Für Jugendliche und jüngere Erwachsene ist das Gebrauchen des
Internets für erotische Begegnungen sowie für explizite sexuelle Handlungen ein
selbstverständlicher
Anteil
des
erotischen
Profils.
Dabei
werden
sowohl
pornographisches Material als auch sexuell konnotierte Chats genutzt. Auch ein
Austausch von Nacktbildern oder sexuelle Interaktionen vor laufender Kamera finden
statt. Dabei werden „echte“ Gefühle durch die virtuelle Kommunikation produziert, denn
„schließlich ist auch die computervermittelte Kommunikation ein komplexes
soziales Geschehen, das entsprechende kognitive und emotionale Beteiligung
(…) erfordert“ (Döring zit. nach Spitzer-Prohazka, 2010, S.299).
Während wesentlich mehr Männer als Frauen Internetpornographie nutzen, werden
soziale Netzwerke, Singlebörsen und mobile Dating-Apps (Facebook, websingles,
Tinder,
gayromeo,
etc.)
sowie
Online-Partnervermittlungsagenturen
(Parship,
elitePartner, etc.) von beiden Geschlechtern gleichermaßen verwendet. Cybersex bietet
für einige Menschen die Chance zu „mehr, anderem und besserem Sex“ (Döring, 2010,
S.277), für andere stellen diese internetvermittelten erotischen Begegnungen die einzig
25
möglichen dar. Für Viele sind sie inzwischen eine wesentliche Hilfe für die Anbahnung
einer sexuellen Begegnung im physischen Raum geworden. Aus meiner Sicht ist es
daher unerlässlich, diese Dimension in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen
im Blickfeld zu haben.
2.1.3.4. Die erotischen Fähigkeiten
Mit erotischen Fähigkeiten sind vor allem soziale Kompetenzen eines Menschen
gemeint. Denn – um ein Beispiel Clements zu nennen – „zu Impotenz führt eine
Erektionsstörung erst dann, wenn ein Mann sie als ein relevantes Ereignis für sein
Selbstverständnis als Mann gelten lässt und sich in seiner sexuellen Aktivität
beeinträchtigen
lässt“
(Clement,
2011,
S.44).
Daher
sind
entlang
der
Ressourcenorientierung sexuelle Techniken und Praktiken wenig von Belang. Ebenso
sind Zahlen, Daten und Fakten, ob, unter welchen Umständen und wie oft „es“ Paare in
der Regel „tun“, also die leidige Frage, was „normal“ ist, völlig irrelevant.5
Wesentlicher sind folgende Fragen: Wie gut kann sich jemand auf die eigene Lust
einlassen? Sich auf das Gegenüber einlassen? Grenzen setzen? Sich einfühlen? Worte
verwenden? Ausverhandeln? Zärtlich sein und Zärtlichkeit aushalten? Verführen?
Initiieren?
Genießen?
Schmidt
sagt
dazu
in
Hinblick
auf
gegenwärtige
Beziehungsmodelle:
„Beide Partner [müssen] vielfältige Talente entwickeln, um das Sich-Wohlfühlen –
zumindest eine Zeit lang – zu gewährleisten, vor allem die Fähigkeit, Intimität zu
leben und auszuhalten“ (Schmidt, 2011, S.29).
5
Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass solche Daten, gut und unterstützend eingesetzt,
sexuelle Mythen entkräften können. Daher sind für Psychotherapeutinnen und –therapeuten
entsprechende Studien interessant.
26
2.1.3.5. Das erotische Profil im Paarkontext
Begegnen
einander
Verhandlungsprozesse:
zwei
Die
Personen
auf
individuellen
erotische
Vorlieben
Weise,
und
so
beginnen
Abneigungen
werden
miteinander abgeglichen und auf Kompatibilität überprüft.
„Der Reiz erster Begegnungen liegt darin, dass zunächst unklar ist, welche
Facetten
des
Begehrens
kompatibel,
welche
inkompatibel,
welche
im
Beziehungsspiel zum „weiter so“ oder zum „so nicht“ oder „anders weiter“ führen“
(Clement, 2011, S.63).
Wird zu Beginn einer Beziehung das Besondere des Gegenübers wahrgenommen und
eine Andersartigkeit als Ergänzung erlebt, entstehen mit der Zeit Handlungsroutinen,
bestimmte sexuelle Rituale, die einige sexuelle Aspekte einschließen, andere aber
exkommunizieren. Damit entsteht mit fortschreitender Dauer einer Partnerschaft eine
spezifische Paarkultur. Das Begehren des Anfangs nimmt üblicherweise ab, weil
Handlungskonserven eine Befriedigungsgewissheit innewohnt und die Unsicherheit
sowie die damit verbundene Auf- und Erregung sinken (vgl. ibid., S.64ff.):
„In dem Maß, wie die Beziehung fester wird, folgt auch die Sexualität nicht mehr
allein spontanen Impulsen“ (Clement, 2009, S.66).
Die exkommunizierten Anteile des individuellen erotischen Profils können im positiven
Fall als reizvoll erlebt werden, häufig werden sie aber als Bedrohung oder als
mangelnde Erfüllung der eigenen Wünsche verstanden. In länger andauernden
sexuellen Liebesbeziehungen ist dies ein wesentlicher Faktor zur Ausbildung einer
sexuellen Komfortzone (vgl. Clement, 2009, S.21), in der hauptsächlich sexuell
Etabliertes stattfinden darf aus Angst, die/ den anderen zu verstören bzw. seinen/ ihren
Erwartungen nicht zu entsprechen.
Allerdings
sind
sexuelle
Handlungsroutinen
ein
wichtiger
Teil
vieler
Partnerschaften, denn es geht „um den Vollzug einer bedeutungsvollen symbolischen
Handlung. Wiederholungs-Rituale haben die wichtige soziale Funktion, Kontinuität zu
bestätigen“ (Clement, 2011, S.72).
Aus psychodramatischer Sicht können diese Handlungsroutinen auch als
Rollenkonserven bezeichnet werden. Diese haben die wichtige Funktion, in Form von
27
Ritualen Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Als rigide Rollenkonserven aber
bergen sie die Gefahr, die Spontanität der Beteiligten zu blockieren. Dies wird individuell
manchmal als sexuelle Zufriedenheit, im schlechteren Falle als sexuelle Langeweile,
bisweilen auch als Mangel an sexueller Lust und Befriedigung erlebt – im Extremfall
führt dies zum Erliegen von sexuellen (Paar)handlungen insgesamt.
2.2. Das erotische Profil aus rollentheoretischer Sicht
Sexualität
und
damit
das
erotische
Profil
einer
Person
lassen
sich
aus
rollentheoretischer Sicht betrachten (vgl. Fürst & Krall, 2012, S.29). Die von Karoline
Hochreiter
systematisierte
Rollentheorie
ist
ein
zentraler
Baustein
sämtlicher
psychodramatischer Überlegungen (vgl. Hochreiter, 2004, S.128ff.): So werden alle
Menschen als Rollenspielerinnen und Rollenspieler gesehen, denen ein bestimmtes
Repertoire an Rollen zur Verfügung steht. Da Sexualität für praktisch alle Menschen ein
relevanter Bereich des Lebens ist, bietet es sich an, diese als sexuelle Rolle zu
beschreiben.
Aus Morenos Sicht ist Rolle in erster Linie ein Handlungsbegriff, seine
Rollentheorie eine Handlungstheorie, denn Rolle wird als aktuelle und greifbare Form in
einer spezifischen Situation definiert, an der andere Personen oder Dinge beteiligt sind
(vgl. Moreno zit. nach ibid., S.128f.). Die sexuelle Rolle würde analog dazu als sexuelles
Handeln verstanden werden können.
Moreno betrachtete die sexuelle Rolle – entlang der Rollenkategorien – als eine
somatische Rolle (vgl. Hutter & Schwehm, 2012, S.318). Damit setzte er sie anderen
existenziellen Vorgaben der Körperlichkeit wie Essen, Schlafen und Atmen gleich (vgl.
Hochreiter, 2004, S.135). Da aber im Unterschied zu anderen somatischen Rollen der
Verzicht auf sexuelles Handeln durchaus mit dem Leben vereinbar ist, ist diese
Zuordnung nicht haltbar. Clement weist darauf hin, dass sexuelles Handeln für sich
genommen völlig banal und sinnentleert ist (vgl. Clement, 1994, S.256). Sinnvoll wird
gelebte Sexualität erst durch Bedeutungen, die ihr zugeschrieben werden. Betrachtet
man die sexuelle Rolle, so kann sie daher nicht allein den somatischen Rollen
zugeordnet werden. Erst durch die Implikationen aus psychischen, sozialen und
28
transzendenten Anteilen wird der somatische Anteil einer sexuellen Rolle mit Bedeutung
gefüllt und für den Menschen und damit auch für die Psychotherapie interessant.
Der somatische Anteil zeigt sich nicht nur im explizit Genitalen, sondern erfasst
den gesamten Körper. Rüdiger Lautmann führt beispielhaft aus:
„Der Körper handelt beispielsweise, wenn er Geschlechtsmerkmale vorweist,
wenn er seine erotischen Vorzüge präsentiert, wenn er Zustände des Erregtseins
markiert“ (Lautmann, 2002, S.27, vgl. S.44ff.).
Dies erklärt auch, dass selbst ohne Körperkontakt über Mimik und Gestik eine erotische
Atmosphäre
hergestellt
werden
kann,
worauf
insbesondere
in
der
psychotherapeutischen Beziehung geachtet werden muss.
Die psychischen Anteile zeigen sich beispielsweise in Phantasien, Wünschen,
Träumen und mit Sexualität verbundenen Gefühlen. Sexuelles Handeln ist per
definitionem schon an ein Gegenüber geknüpft und damit sozial, und ethische sowie
religiöse Werthaltungen und auch spirituelle Bezüge, wie sie typisch für die
transzendenten Rollen sind, beeinflussen das Sexualleben enorm.
Die sexuelle Rolle als eine komplexe, alle Rollenkategorien einbeziehende
Handlung zu betrachten, hat einige Konsequenzen für die Arbeit als Psychodramatikerin
und Psychodramatiker. Zum Einen lassen sich verschiedene Akzentuierungen in den
Problemerzählungen von Klientinnen und Klienten ausmachen, wodurch sich auch
diverse Interventionsmöglichkeiten ergeben. Zum Anderen bietet sich dadurch die
Möglichkeit, nicht notwendigerweise den besonders körpernahen und schambesetzten
(und häufig non-verbalen) somatischen Anteil der sexuellen Rolle zu fokussieren.
2.2.1. Merkmale des Rollenbegriffs
Jede Rolle weist bestimmte Eigenschaften auf (vgl. Hochreiter, 2004, S.129ff.):
-
Jede Rolle ist gesellschaftlich vermittelt und individuell gestaltet
-
Rolle ist von Kontexten abhängig
-
Rolle ist ein inter-aktionaler Begriff
-
Rolle ist eine interpersonelle Erfahrung
-
Rollenentwicklung ist ein lebenslanger Prozess
29
-
Rollenhandeln ist ganzheitliches Handeln
-
Eine Rolle wird verkörpert
Auch die sexuelle Rolle weist diese Merkmale auf: Grundlage sexueller Handlungen ist
die jeweilige Sexualkultur, in der Menschen aufwachsen. Die jeweilige sexuelle
Handlung wird aber den persönlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend
variiert. Damit eine sexuelle Interaktion stattfinden kann, braucht es einen erotischen
Kontext. Dieser wird durch bestimmte Marker definiert, an dem die beteiligten Personen
als Role giver und Role receiver beteiligt sind. Sexualität verändert sich mit neuen
Erfahrungen ein Leben lang. Clement macht die erotische Entwicklung zur Grundlage
seines Therapieansatzes (vgl. Clement, 2011, S.50f.). Einige Merkmale sollen in Folge
vertiefend betrachtet werden.
2.2.2. Jede Rolle ist gesellschaftlich vermittelt – Die sexuelle Sozialisation
Eine wesentliche Facette der Rollentheorie stellt die Verschränkung von Individuum und
Gesellschaft dar, denn jede Rolle wird als Fusion von privaten und kollektiven
Elementen verstanden (vgl. Hochreiter, 2004, S.129). Dies zeigt sich auch in der
sexuellen Rolle: „Menschliches Sexualverhalten folgt zunächst bewusst oder unbewusst
den Sexualnormen der Gesellschaft, der jemand angehört“ (Kluge, 2008, S.70). Die
westlichen
Industrienationen
sind
gegenwärtig
gekennzeichnet
durch
einen
Diversitätsdiskurs, einen erhöhten Erlaubnis- und Möglichkeitsraum für sexuelle
Handlungen
im
Vergleich
zu
früheren
Generationen,
einer
Parallelisierung
verschiedenster Identitäten sowie einer Enttabuisierung und Entdramatisierung (Manche
sprechen auch von Banalisierung) des Sexuellen (vgl. Schmidt, 2011, S.63ff., Sigusch,
2005, S.39). Somit wird der Eindruck erweckt, Sexualität sei beliebig. Jedoch orientieren
sich Menschen an verschiedenen „[Sexual]formen, die jede Generation neu ausbildet
und zuerst in spezifischen Milieus heimisch werden“ (vgl. Lautmann, 2002, S.175).
Diese Sexualformen stehen den Individuen als sogenannte kulturelle Skripte/ kulturelle
Szenarien zur Verfügung. Diese sind „Anleitungen zum Handeln auf der Ebene des
kollektiven Lebens“ (ibid., S.182).
30
Diese Skripte sind schon vor dem ersten sexuellen Kontakt mit anderen vorhanden. Sie
speisen sich aus den Erzählungen anderer, aus „Liebesfilmen“, „Liebesromanen“,
Aufklärungsbroschüren oder auch pornographischem Material.
Heute stehen mehr gesellschaftlich akzeptierte Varianten zur Verfügung, die vor
allem von jüngeren Generationen „konfliktfreier“ genutzt werden können, denn
„jede Generation gedeiht in einem eigenen soziokulturellen Kontext, lebt in
unterschiedlichen
Kommunikationsräumen
und
erfährt
im
Kindes-
und
Jugendalter eine spezifische Sozialisation“ (Starke, 2008, S.399).
Daraus folgt, dass Menschen höheren und vor allem hohen Alters eine deutlich
restriktivere, tabuisiertere, aber auch aufgrund der Verbote mitunter „leidenschaftlichere“
Sexualität leben konnten, weil ein Teil ihrer Sexualisation6 auch mit einer Rebellion
gegen die herrschende Prüderie in Zusammenhang stand. Ein gewisser Nervenkitzel
begünstigt sexuelle Leidenschaft. Jüngere Menschen hingegen – ganz im Sinne einer
Sexualdemokratie – können verschiedene sexuelle Erlebnisräume inklusive der weit
verbreiteten
Selbstbefriedigung
nutzen
oder
auch
nicht,
ohne
politisch,
gesellschaftskonform oder rebellisch sein zu müssen, ohne jeglichen Gefühls von
Schmutzigem, Bösem und Verbotenem. Unterstützt wird die Differenzierung der
Sexualität meines Erachtens durch neue Kommunikationswege – in erster Linie das
Internet – die es erst ermöglichen, in verschiedenen Subkulturen scheinbar kompatible
Partnerinnen und Partner zu finden.
Trotz der Vielfalt an Möglichkeiten, die sexuelle Rolle zu gestalten, gibt es doch
einige kulturelle Leitfiguren, die sich in der großen Mehrheit der gegenwärtigen
Gesellschaft durchgesetzt haben. Diese Leitfiguren enthalten Werte und Normen, die in
den folgenden Kapiteln diskutiert werden. Sie können als axiologische Dimension (vgl.
Hochreiter, 2014, S.110f.) der sexuellen Rolle bezeichnet werden, stehen im
Hintergrund
sexueller
Handlungen
und
beziehen
sich
auf
verschiedene
Handlungsebenen. Für die oder den Einzelnen stehen sie als kollektive soziokulturelle
Stereotype zur Verfügung (vgl. Zeintlinger-Hochreiter zit. nach Stadler & Kern, 2010,
6
Sexualisation ist der Fachterminus für sexuelle Sozialisation
31
S.137). In der sexualwissenschaftlichen Literatur entsprechen diese den kulturellen
sexuellen Skripten (vgl. Kap. 2.2.4.1.).
2.2.2.1. Verhandlungsmoral als Idealkonstrukt
Schmidt hat den Begriff „Verhandlungsmoral“ unter Paaren als bedeutende Grundlage
sexual- und psychotherapeutischer Prozesse ins Spiel gebracht:
„Zwei Diskurse bestimmen die heutigen sexuellen Verhältnisse in den westlichen
Industriestaaten. Zum einen der liberale Diskurs der 1960er und 1970er – die
sexuelle Revolution – der sexuelle Tabus hinwegfegte, sexuelles Handeln und
sexuelle Normen enttraditionalisierte und pluralisierte. Zum anderen der
Selbstbestimmungsdiskurs der 1980er Jahre, der […] männliche Dominanz und
männliche Definitionen auf dem [freien Liebesmarkt] kontrollierte, sexuelle
Rechte, Chancen und Optionen geschlechtsgerechter machte“ (Schmidt, 2011,
S.10).
Diese Emanzipationsbewegungen, die zuerst von Frauen und später auch von
gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen getragen wurden und sich gegenwärtig in
den Queer- und Transidentitätsdiskursen niederschlagen, brachte neben einer
Sensibilisierung gegenüber sexuellem Zwang und Übergriffen
„einen neuen Sexualkodex hervor, einen Kodex, der nicht alte Verbote neu
installieren, sondern der den sexuellen Umgang friedlicher, kommunikativer,
berechenbarer, rationaler verhandelbar, herrschfreier machen oder regeln will“
(ibid.).
Diese Verhandlungsmoral setzt allmählich in breiten Teilen der Bevölkerung die „alte
Sexualmoral“ außer Kraft. Nicht mehr der sexuelle Akt wird prinzipiell als moralisch gut
(ehelicher Sex, der auf Fortpflanzung abzielt) oder schlecht (Masturbation, vor- und
außerehelicher Sex, Homosexualität, Oralverkehr, etc.) bewertet, „sondern die Art und
Weise ihres Zustandekommens. […] Sie hat klare liberale Züge“ (Schmidt, 2011, S.11).
Die Verhandlungsmoral setzt auch alte sexuelle Automatismen außer Kraft. Ein
Kuss muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass jemand von den Beteiligten mehr möchte,
Petting wird allmählich als eine eigenständige sexuelle Praktik verstanden und nicht
32
mehr nur als Vorspiel für Vaginalverkehr. Schritt für Schritt muss die sexuelle Interaktion
ausverhandelt werden, wenn sie als moralisch einwandfrei gelten soll (vgl. ibid., S.13).
Clement meint, alles ist inzwischen erlaubt. Tabu sind nur noch inzestuöse
Verhältnisse, Gewalt und sexuelle Gewalt an Kindern: „Was normal, was natürlich, was
männlich, was weiblich, was angemessen ist – all das entscheiden nur und nur die
Handelnden selbst.“ (Clement, 2011, S.14).
Jedoch gibt Schmidt zu bedenken, dass es sich bei der Verhandlungsmoral um
ein Idealkonstrukt handelt, welches nur so lange moralisch ist, „solange gleich starke,
das heißt ökonomisch, emotional oder sonstwie nicht erpressbare Partner beteiligt sind“
(Schmidt, 2011, S.16).
Aus
rollentheoretischer
Sicht
lässt
sich
Folgendes
feststellen:
Die
Verhandlungsmoral ist die wesentliche Leitfigur für selbstbestimmte, gleichberechtigte
Partnerschaften. Sie bezieht sich damit vor allem auf die sozialen Anteile der sexuellen
Rolle mit dem übergeordneten Wertekodex der Freiwilligkeit, des Achtens auf das
Wohlgefühl und idealerweise der symmetrischen Befriedigung der Beteiligten. Sie ist
damit stärker auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten, verlangt aber hohe
Handlungskompetenzen:
zu
wählen,
Grenzen
zu
achten
und
gegensätzliche
Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dies gelingt erst auf dem dritten Niveau der
soziodramatischen Rollenebene (vgl. Fürst & Krall, 2012, S.29).
2.2.2.2. Das romantische Liebesideal
Eng verknüpft mit der Verhandlungsmoral ist die Idee des romantischen Liebesideals,
denn „über allem thront die Liebe […] als eine einzigartige Kostbarkeit“ (Sigusch, 2005,
S.8). Die gültige, meist nicht hinterfragte „Norm der Kernsexualität wird […] grundiert
von der Vorstellung einer romantischen Liebe, wonach Liebe und Sexualität
zusammengehören“ (Lautmann, 2008, S.213). Damit ist die romantische Liebe der
Inbegriff des transzendenten Anteils der sexuellen Rolle. Sehnsüchte, Vorstellungen,
Phantasien und Wünsche fast aller Menschen sind vom Liebesideal durchdrungen. Sie
hat damit klare Bezüge zu den psychischen und sozialen Anteilen der sexuellen Rolle.
33
Tatsächlich wurde das romantische Liebesideal erst Ende des 18. Jahrhunderts mit dem
Aufstieg des Bürgertums konzipiert und etablierte sich im Laufe des 19. und 20.
Jahrhunderts als vorherrschender Grund für eine Eheschließung (vgl. Bartholomäus,
2008, S.161, Sigusch, 2005, S.13f.). Damit war gelebte Paarsexualität nicht mehr nur
als Ehepflicht und zum Zwecke der Fortpflanzung zu verstehen, sondern diente vor
allem als Instrument der Liebe. Ich bin davon überzeugt, dass diese Entwicklung durch
die Verbreitung der Anti-Baby-Pille (Mitte der 1960er- Jahre) stark vorangetrieben
wurde, um schließlich im Rahmen von Emanzipations- und Pluralisierungsprozessen
auch die Ehe als Institution abzulösen. Diese ist heute ebenso als Option zu verstehen
wie andere Beziehungsformen, denn „beim Sex kommt es nicht mehr auf das
Verheiratetsein der Eheleute, sondern auf die emotionale Qualität ihrer Beziehung an“
(Bartholomäus, 2008, S.182).
In den Sexualwissenschaften wird dieses Phänomen der wechselseitigen, auf
Liebe basierenden Partnerschaft als „reine Beziehung“ bezeichnet (vgl. Giddens zit.
nach Schmidt, 2011, S.28.). Diese ist unabhängig vom Familienstand und vom
Geschlecht der Partnerin bzw. des Partners und zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur
um ihrer selbst willen eingegangen wird. Es handelt sich um Beziehungen, die
unabhängig von ökonomischen oder sozialen Zwängen sind:
„Natürlich gibt es in diesen Beziehungen auch Verbindlichkeit, Verlässlichkeit,
füreinander da zu sein; aber diese ist nicht mehr als Ehepflicht vorgegeben,
sondern freiwillig“ (Schmidt, 2011, S.29).
Eine reine Beziehung ist jederzeit kündbar, denn „es geht nicht mehr nur um den
Wunsch nach Dauer per se, sondern nach Dauer bei emotionaler, intimer und (seltener)
sexueller Intensität“ (ibid., S.33).
Ferner fordert das romantische Liebesideal, die Basis der reinen Beziehung, die
Exklusivität der sexuellen Aktivitäten (abgesehen von der Selbstbefriedigung) (vgl.
Lautmann, 2008, S.335). Allerdings ist
„sexuelle Treue nicht an eine Institution (Ehe) oder per se an eine Person
gebunden, sondern an das Gefühl zu dieser Person. Treueforderungen und
34
-verpflichtungen gelten nur, solange die Beziehung als intakt und emotional
befriedigend erlebt wird“ (Schmidt, 2011, S.31).
Das romantische Liebesideal hat vielfältige Konsequenzen in Bezug auf gelebte
Sexualität. Zum Einen muss Sex in aller Regel stattfinden, um zu bestätigen, dass die
Partner einander lieben und die Partnerschaft noch intakt ist (vgl. Clement, 2009,
S.122). Dies mag mit ein Grund dafür sein, warum
„länger als drei Monate keinen gemeinsamen Sex gehabt zu haben, […]
insbesondere für Männer beunruhigend [ist]. […] Bleibt der Sex in Form des
Geschlechtsverkehrs aus, dann sind auch Frauen beunruhigt, nicht nur wegen
sich selber, sondern in Sorge um ihren Mann“ (Starke, 2008, S.405).
Dieses Ergebnis bezieht sich auf heterosexuelle Paare, gilt aber vermutlich in ähnlicher
Weise für homosexuelle Paare. Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis mit
gleichgeschlechtlich empfindenden Männern lassen zumindest diesen Schluss zu.
Bisweilen scheint das Sexualleben als Gradmesser für das Wohlergehen der
Partnerschaft sogar eine noch höhere Bedeutung zu haben, wenngleich der „Sex unter
Schwulen genauso oft oder noch öfter eingeschlafen ist wie unter Heterosexuellen“
(Lautmann, 2005).
Zum Anderen muss der Sex gemeinsam ausgehandelt werden und für beide
befriedigend sein. Dies nimmt ihm teilweise sein erregendes Element (vgl. Schnarch zit.
nach Clement, 2011, S.25). Rollentheoretisch gesprochen hat damit eine scheinbar
hohe soziodramatische Kompetenz einen intensitätsmindernden Effekt auf die
psychodramatische und letztlich auch psychosomatische Rollenebene der sexuellen
Rolle. Da Sex ohne Bedürfnis weitgehend abgelehnt wird, stellt sich ein scheinbar
neues, in den Medien regelmäßig rezipiertes Phänomen ein: die Sehnsucht nach dem
sexuellen Verlangen, die „sexuelle Appetenzstörung“. Das Prekäre daran: Durch die
Gleichschaltung von Liebe und Sex wird „Begehren“ mit „Lieben“ gleichgesetzt. Dadurch
entsteht für viele Menschen großes Leid, denn Begehren folgt einer ganz eigenen Logik:
„Der Eigensinn von Bindung liegt in stabilen, zuverlässigen, eindeutigen und
dauerhaften Verhaltensweisen. Diese Verhaltensweisen schaffen das als tragend
erlebte Gefühl von emotionaler Heimat, von Vertrauen und Zugehörigkeit. Das
35
sexuelle Begehren dagegen […] zielt auf sexuelle Befriedigung. Solange die
Befriedigung ungewiss ist, solange die Partner einander nicht haben, solange der
Kontext der sexuellen Begegnungen riskant ist, solange wird das Begehren
intensiver erlebt. Sobald die Befriedigung aber zuverlässig wird, […] lässt das
Begehren meist nach“ (Clement, 2011, S.59).
Für Psychotherapeutinnen und –therapeuten sei noch angemerkt, dass die Norm der
romantischen Liebe dazu verführen könnte, Sex nur dann als gut zu bewerten, wenn sie
dieses Kriterium erfüllt, womit sie der Mehrheit der Menschen entsprächen:
„Viele ethische Konzepte – keineswegs nur religiöse – verweigern [Sex ohne
Liebe] die Legitimation. […] Ohne Liebe wird die Sexualität als oberflächliche
Beziehung abgelehnt“ (Glück et. al. zit. nach Lautmann, 2008, S.335).
Besonders in der Arbeit mit Menschen mit bestimmten Migrationshintergründen ist dies
wichtig zu hinterfragen, denn in anderen Kulturen ist die Norm der Ehe, die nicht
unbedingt der Liebe entspringt (Stichwort: arrangierte Ehe), als Ort der sexuellen
Begegnung, weit verbreitet und beispielsweise Werte wie „Loyalität, Verpflichtung,
Versorgung und Elternschaft“ ein höheres Gut als die „romantische Liebe“.
Aber auch alternative innere Konzepte von Klientinnen und Klienten wie das
Ausleben von einmaligen (anonymen) sexuellen Kontakten, Freundschaften mit
gelegentlichem
Sex,
Sex
als
Gegenleistung
für
Status
und
Sicherheit,
Prostitutionserfahrungen, etc., werden leicht entwertet und bedürfen der regelmäßigen
Eigenreflexion und Inter- bzw. Supervision.
2.2.2.3. Heteronormativität
„Heteronormativität schreibt die heterosexuelle Beziehung als bessere, natürliche oder
gottgewollte Lebensform vor“ (Timmermanns, 2008, S.264). Sie wird als soziale Norm
angesehen, dem alle anderen Lebensentwürfe und Identitäten untergeordnet sind. In
diesem Konzept sind die geschlechtliche Identität und die sexuelle Orientierung
gleichgeschaltet. Das bedeutet, dass bei heteronormativen Betrachtungen Menschen
als eindeutig weiblich bzw. männlich sowohl in ihrer Körperlichkeit, in ihrer
36
Selbstdefinition und in ihrem Verhalten sowie in Bezug auf ihre Geschlechtspartner und
-partnerinnen als heterosexuell gesehen werden.
Heteronorme Vorstellungen sind tief in unserer Kultur verankert und beziehen
sich freilich nicht allein auf Sexualität, sondern haben weitreichende Auswirkungen auf
die gesamte Geschlechtsinszenierung, wie Hildegard Knapp (2010, 2011) ausführlich
aufzeigt. Da aber Sexualität unmittelbar an das Geschlecht gebunden ist, durchdringen
sie die gesamte sexuelle Rolle mit all ihren transzendenten, sozialen, psychischen und
somatischen Anteilen.
Das ist insofern bedeutsam, weil dies vielfache Auswirkungen auf die erotischen
Inszenierungen aller Menschen hat: Über sexuelle Handlungen werden meistens auch
Auf-
und
Abwertungen
der
Männlichkeit
bzw.
Weiblichkeit
ausgedrückt.
In
geschlechtsspezifischen Zuschreibungen sind – gerade auch in der sexuellen
Inszenierung – bestimmte Aufträge enthalten.
Auch Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung oder nicht-heterosexueller
Identität können sich den Normen praktisch kaum entziehen. Diese sind durch die
gesamte individuelle sexuelle Biographie hindurch inkorporiert. Das Gefühl des
Andersseins, das sich insbesondere in der Pubertät manifestiert, führt schon früh zu
einer Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Normen. Die Diskrepanz zwischen
innerer nicht-heterosexueller Identität und gesellschaftlichen heteronormen Vorgaben
zeigt sich teilweise auch als Ablehnung der eigenen Person. Dieses Phänomen wird als
internalisierte Homophobie (vgl. Knapp, 2010, S.100), Biphobie bzw. Transphobie
bezeichnet.
Aufgrund der historisch gewachsenen Vorurteile sowie Diskriminierungserfahrungen von gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen (vgl. ibid., 2010, S.94ff.)
suchen
sich
Klientinnen
und
Klienten
entweder
Psychotherapeuten
bzw.
-therapeutinnen, die sich selbst als gleichgeschlechtlich-empfindend deklarieren oder
überprüfen zumindest deren Offenheit sexueller Orientierungen gegenüber. Daher
bringen „homosexuelle PatientInnen […] ihre sexuelle Orientierung oft gleich zu Anfang
in die Therapie ein. Sie beziehen die Reaktion des/der TherapeutIn auf ihr Outing dann
in die Entscheidung mit ein, hier Therapie machen zu wollen/können“ (Schigl, 2012,
37
S.109). Ich teile die Ansicht Manuela Kleins, dass Psychotherapeutinnen und therapeuten bei der Frage nach Liebesbeziehungen im Erstgespräch möglichst offen
formulieren sollten, um nicht heteronormierend zu wirken (vgl. Klein, 2012, S.16).
Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass – unabhängig von der derzeit konkret
gelebten Sexualität – auch Wünsche und Phantasien sich nicht ausschließlich auf
dasselbe Geschlecht beziehen müssen. Und während Männer traditionell strenger als
Frauen sich selbst und andere alternativ, also entweder homosexuell oder heterosexuell
wahrnehmen, schwächt sich diese Ausschließlichkeit seit einiger Zeit ab (vgl. Starke,
2008, S.409). Bisexualität – nicht nur im Bereich der gelebten, sondern auch in der
vorstellbaren Sexualität – ist allerdings schwer zu definieren und eindeutig fest zu
machen. Studienergebnisse über die Verbreitung von bisexuellem Verhalten (bzw.
Selbstdefinitionen) klaffen weit auseinander. Denn
„für diese Neosexuellen [ist] charakteristisch […]: dass sie sich alten
Festlegungen verweigern, dass sie die alten Identitäten überwinden wollen.
Schließlich besteht die „Identität“ der Bisexuellen darin, keine Identität alter Art zu
haben, nicht eine Ausschließlichkeit, sondern eine Einschließlichkeit sein zu
wollen“ (Sigusch, 2005, S.107).
Volkmar Sigusch schreibt über die Rahmenbedingungen weiter:
„Es [ist] noch schwieriger, ein bisexuelles Leben zu leben als ein monosexuelles
und monogames mit gelegentlichen Ein- und Ausbrüchen. Außerdem ist nach
einigen Studien die „Biphobie“ […] größer als die Homophobie, weil es etwas
Nichtetabliertes ist, das alle zu verwirren in der Lage ist“ (ibid., S.107f.).
Schmidt schreibt in diesem Zusammenhang von der Macht der monosexuellen
Ordnung, die der Heterosexualität übergeordnet ist:
„Fast alle Zeitgenossen, Männer wie Frauen, Homosexuelle wie Heterosexuelle
[sind] lebenslang und ausschließlich monosexuell, d.h. ihr Verlangen und ihre
Liebe werden vom Geschlecht des Partners dominiert. […] Wenn ein Schwuler
seinen Freunden erzählt, er habe lustvoll mit einer Frau geschlafen, oder ein
Heteromann, er habe sich in einen Mann verliebt, dann herrscht im jeweiligen
38
Umfeld dieser Männer Aufregung und Bestürzung. Man fordert sie auf klar zu
stellen, was sie sind“ (Schmidt, 2011, S.139).
2.2.2.4. Leistungsaspekte: Neue sexuelle Mythen
Sexuelle Mythen beziehen sich vor allem auf die somatischen und psychischen Anteile
der sexuellen Rolle und sind in erster Linie Vorgaben für die psychosomatische
Rollenebene. Sexuelle Mythen sind Erzählungen unserer Leistungsgesellschaft, die von
den Medien aufgegriffen und vermarktet werden: Auf dem Arbeits-, Wirtschafts- und
„Heiratsmarkt“ sind Investitionen in sich selbst, Selbstoptimierung und Leistungsfähigkeit
wichtige Eigenschaften eines Menschen, die sich auch im Sexuellen niederschlagen.
„Fitness“, wenn man so sagen will, zählt auch im Sexuellen. Clement spricht z.B. vom
Mythos der sexuellen Unfähigkeit, die sich als Orgasmus-, Erregungs-, Erektions- und
Ejakulationsunfähigkeit zeigt:
„Die einengende Funktion dieses Mythos liegt nicht darin, dass Erregung und
Orgasmus zu beanstandende Erlebnismöglichkeiten wären. Sie liegt darin, dass
er ausweglos auf das sexuelle Können fokussiert und das sexuelle Wollen außer
Acht lässt“ (vgl. Clement, 2011, S.104).
Potenzmittel wie Viagra, Levitra und Cialis werden daher mit hohem Profit beworben
und verkauft. Mit Hilfe dieser Medikamente – ohne die Sinnhaftigkeit grundsätzlich in
Abrede stellen zu wollen – wird die Leistungsfähigkeit von Männern damit
„wiederhergestellt“. Für Frauen fehlt noch das sexuelle Wundermittel7.
Diese funktionierende „Leistungssexualität“ wird der Jugend eher zugetraut als
den reiferen Individuen unserer Gesellschaft. Nimmt man die Frequenz sexueller
Paarhandlungen in den verschiedenen Altersgruppen als Referenzwert, scheint sich
dieser Mythos auf den ersten Blick zu bestätigen:
7
Laut Zeitungsmeldungen vom 20.08.2015 (Spiegel, FAZ, Kronenzeitung, Heute) soll nun die Lustpille
Flibanserin in den USA auf den Markt kommen. Die Wirkung ist umstritten. Interview vom 31.08.2015 in
der NZZ: http://www.nzz.ch/lebensart/gesellschaft/lustpille-fuer-die-frau-1.18603091
39
„Bei großen interindividuellen Unterschieden sinken mit zunehmendem Alter
sowohl das sexuelle Interesse wie auch die sexuelle Aktivität, speziell die
Koitushäufigkeit. Dies ist nicht auf die Generationenzugehörigkeit und auch nicht
in erster Linie auf das biologische Alter, sondern bei Singles vor allem auf die
schwindenden
Gelegenheiten
und
bei
den
Partnergebundenen
auf
die
Beziehungsdauer zurückzuführen“ (Starke, 2008, S.411).
Dies bedeutet auf den zweiten Blick, dass nicht in erster Linie das Lebensalter, sondern
das Beziehungsalter für die sexuelle Aktivität eines Menschen ausschlaggebend ist.
Ein alternativer Mythos, der die Qualität sexueller Begegnungen, die erotische Erfahrung
und auch die „altersmilde Gelassenheit gegenüber der Veränderung der sexuellen
Wünsche“ (Clement, 2009, S.250) als Referenzwerte heranzieht, ist nicht etabliert. Erst
allmählich wird Sexualität im Alter in den Medien und damit in der Gesellschaft
aufgegriffen.
Mit Leistung sind auch Körpernormen verbunden: Schlank, fit, sportlich, jung sind
die Zutaten erotischer Attraktivität. Dies veranlasst Menschen zum Aufsuchen von
Fitnesscentern, das Einhalten strenger Diäten, etc. „Beide Geschlechter haben hart
dafür zu arbeiten, um das gewünschte Aussehen zu erzielen; Frauen schon immer,
Männer im zunehmenden Maße“ (vgl. Lautmann, 2005, S.48). Durch das Diktat zur
Optimierung des eigenen Körpers werden zunehmend auch Schönheits- und
Intimoperationen salonfähig. Medienkritiker geben dafür den Medien und insbesondere
der Pornographie die Schuld. Meiner Meinung nach ist hingegen Pornographie
überzeichneter Ausdruck heutiger Sexualitätsverhältnisse.
Die Mythen „Sex macht Spaß“ (vgl. Clement, 2011, S.105), „Regelmäßiger Sex
ist wichtig“ bzw. „Use it or lose it“ und „Sex ist gesund“ zielen darauf ab, dass Sex die
Lebens-, Beziehungs- und Liebesqualität steigern. Es ist besser, Sex zu haben als
keinen Sex zu haben.
2.2.2.5. Die Pro-Sex-Norm
Die „Pro-Sex-Norm“ ist das Ergebnis oben geschildeter Mythen. Sie schließt unmittelbar
an die WHO-Definition zur sexuellen Gesundheit an (siehe Kapitel 2.1.1.). Während eine
40
positive
und
wertschätzende
Einstellung
zu
Sexualität
für
die
Arbeit
von
Psychotherapeutinnen und -therapeuten unabdingbar ist, muss dies aber nicht für
Klientinnen und Klienten zutreffen. Sex ist nicht immer gesund, macht nicht immer Spaß
und lässt außer Acht, dass Erotik und sexuelles Begehren etwas höchst Persönliches
ist, über das jeder Mensch selbst verfügen darf. Das impliziert auch, dass in einer freien
Wahl auch auf das Ausleben von Sexualität verzichtet werden darf. „Selbst Abstinenz
kann sexualmoralisch wieder zu Ehren kommen, […] diesmal aber als freiwillige,
optionale Haltung“ (Schmidt, 2011, S.12).
2.2.3. Jede Rolle ist individuell gestaltet
Auf Grundlage der gesellschaftlichen Normen gestaltet jede Person individuell ihre
sexuellen Handlungen, denn
„das Sexuelle ist […] nicht nur eine gesellschaftliche Uniformierung, sondern
immer auch individuell und einzigartig und entsteht in dem ganz persönlichen
Trieb-, Beziehungs- und Geschlechtsschicksal“ (Schmidt zit. nach Uzler, 2007,
S.1).
Dabei unterscheidet die Rollentheorie verschiedene Freiheitsgrade, wie stark Menschen
ihre Handlungen an gesellschaftlichen Vorgaben orientieren. Im Rollenspiel (role
playing) werden die Rollenerwartungen und die freie Rollengestaltung ausbalanciert, in
der Rollenübernahme (role taking) werden in erster Linie die gesellschaftlichen
Rollenvorgaben erfüllt. Es besteht ein geringer Freiheitsgrad der Gestaltung der Rolle. In
der Rollengestaltung (role creating) ist die kreative Gestaltung einer Handlung am
höchsten (vgl. Hochreiter, 2004, S.132).
Wie hoch der Freiheitsgrad sexueller Handlungen ist, ist von mehreren Faktoren
abhängig. Neben der Orientierung an Kulturmustern, die sehr rigide sein können, wird
der Freiheitsgrad beeinflusst durch die persönliche sexuelle Biographie, durch sexuelle
und nicht-sexuelle Motive, aber auch durch die Rollenerwartungen der Partnerin oder
des Partners, die/ der selbst wieder eine spezifische Sexualisation und sexuelle
Biographie durchlaufen hat.
41
2.2.3.1. Sexualität zwischen Rollengestaltung und Rollenkonserve
Sabine Kern und Christian Stadler weisen darauf hin, dass eine freie Rollengestaltung
erst dann möglich ist, wenn die gesellschaftlichen Rollenerwartungen voll integriert sind
(vgl. Stadler & Kern, 2010, S.143). Daraus erklärt sich, dass zu Beginn der erotischen
Karriere
sexuelle
Handlungen
tendenziell
stereotyp
verlaufen
–
sowohl
im
biographischen Sinn (heterosexuelle Jugendliche neigen z.B. dazu, bei den ersten
sexuellen Erfahrungen die Missionarsstellung zu wählen) als auch mit eventuell neuen
Partnerinnen bzw. Partnern zu Beginn einer Beziehung. Clement spricht in diesem
Zusammenhang vom Metaskript der Erotik:
„Dieses Skript hat ein doppeltes Gesicht. Einerseits ist seine Struktur und
Funktionsweise überindividuell. […] Gleichzeitig ist die mit dem Skript inszenierte
Geschichte höchst individuell. Prozesstreiber dieses Austauschs ist die
euphorisierende Wahrnehmung des anderen als einzigartig, als noch nie
dagewesen, als nicht austauschbar“ (Clement, 2011, S.64).
Mit anderen Worten heißt das, dass bei den ersten erotischen Begegnungen zwar
stereotype Choreographien der sexuellen Interaktionen vorherrschen, jedoch dies als
einzigartig erlebt wird. Dauern sexuelle Beziehungen an, besteht die Möglichkeit, kreativ
die sexuelle Rolle neu zu gestalten, umzugestalten, mit dem Gegenüber abzugleichen,
zu
experimentieren.
Es
entsteht,
psychodramatisch
gesprochen,
eine
hohe
Spontanitätslage, in der sich das sexuelle Begehren meist wie von selbst einstellt.
Unterstützt wird dies durch die Unbestimmtheit der erotischen Zukunft des Paares:
„Gerade zu Beginn sexueller Beziehungen ist jeder Geschlechtsakt Erkundung
und Bestätigung zugleich, spielt also mit einer noch ungewissen Balance von
Unsicherheit und Sicherheit“ (Clement, 2011, S.64).
Moreno hielt Sexualität für eine Ausprägungsform der Spontanität (vgl. Moreno zit. nach
Fürst & Krall, 2012, S.29). Dies wird aber der erotischen Entwicklung eines Paares nicht
gerecht und beschreibt eher sexuelle Handlungen in der Aufbauphase einer
Partnerschaft. Wie alle Handlungen neigt auch die sexuelle Rolle dazu, eine
Rollenkonserve zu werden. Dies steht üblicherweise mit zunehmender Vertrautheit und
Sicherheit des Paares in Zusammenhang. Daher plädiert Clement dafür, dass eine
42
erotische Entwicklung auch bedeutet, eine adäquate, der Partnerschaft angemessene
Erotik zu entwickeln. Er betont, dass Erotik nicht nur spontanen Impulsen folgt, sondern
vor allem eine Frage von Entscheidungen ist (vgl. Clement, 2009, S.18).
2.2.4. Jede Rolle ist von Kontexten abhängig
„Rolle als spontaner konkreter Handlungsvollzug […] hat eine bestimmte Situation, in
der sie entsteht“ (Hochreiter, 2004, S.130). Dies bedeutet für die sexuelle Rolle, dass sie
ausschließlich oder vorrangig in einer erotischen Atmosphäre entsteht, an der in der
Regel zwei Personen unter Ausschluss der Öffentlichkeit beteiligt sind.
Dies führt zu einem Paradoxon in der Psychotherapie. Sexuelle Handlungen
dürfen im psychotherapeutischen Kontext nicht stattfinden. Der Anspruch an den
Intimitätsschutz ist ein derart hohes Gut, dass auch „Als-ob“- Handlungen auf der
psychodramatischen Spiel-Aktionsbühne wahrscheinlich grenzverletzend erlebt werden.
Um daher psychotherapeutisch mit der sexuellen Rolle arbeiten zu können, muss für
eine entsprechende Rollendistanz gesorgt werden. Eine Möglichkeit, die Hintermeier
vorschlägt, ist die Arbeit auf der inneren Bühne (vgl. Hintermeier, 2012, S.87f.). Die
innere Bühne kann als Vorstellungswelt betrachtet werden.
Hochreiter weist darauf hin, dass Rollen nicht losgelöst von Szenen und Stücken
gedacht werden können (vgl. Hochreiter, 2004, S.137f.). Beschreibt jemand eine Szene
der inneren Bühne, handelt es sich aus sexualwissenschaftlicher Sicht um ein sexuelles
Skript. Sexuelle Skripte können als Drehbücher für erotische Szenen verstanden
werden.
Dabei
unterscheiden
die
Soziologen
Gagnon
und
Simon
kulturelle,
intrapsychische und interpersonelle Skripte (vgl. Lautmann, 2002, S.180ff.).
2.2.4.1. Kulturelle Skripte
Kulturelle Skripte beschreiben die Sexualnormen, die in einer Kultur gelten. Diese sind
selbst stets in Veränderung und Entwicklung. Sie sind die Drehbücher zu den im Kapitel
2.2.2. vorgestellten gesellschaftlichen Vorgaben. Wichtige kulturell vorgegebene
Drehbücher sind beispielsweise „Kennenlernskripte“, „Liebesskripte“, Skripte zu
weiblichen und männlichen Inszenierungen im sexuellen Kontext, etc. Mit den kulturellen
43
Skripten werden auch geschlechtsspezifische sexuelle Aufträge erteilt: Beispielsweise,
dass Männer die Aufgabe haben, Frauen zu einem Orgasmus zu bringen oder
„durchzuhalten“; Frauen zum Beispiel, „sich hinzugeben“ oder einen (vaginalen)
Orgasmus zu haben.
Ein wichtiges Skript beschreibt auch einen klaren, hierarchisch aufgebauten
Handlungsablauf
der sexuellen
Interaktion:
Vorspiel, vaginaler Geschlechtsakt,
Orgasmus. Wie bereits im Kapitel 2.2.2.1. beschrieben, verändert sich mittlerweile
langsam dieser „alte“ Automatismus.
Kulturelle Skripte gelten nicht für alle in gleichem Maße, sondern sind den
einzelnen Milieus angepasst. In der Arbeit mit Klientinnen und Klienten ist es daher
hilfreich, milieuspezifische Vorgaben zu kennen. Einflüsse auf die kulturellen Skripte
haben zum Beispiel der Bildungsgrad der Klientinnen und Klienten, die soziale und
ethnische Herkunft, die Generationenzugehörigkeit, die sexuelle Partnerorientierung,
etc. Besonders deutliche Unterschiede sind immer wieder für die Arbeit mit Frauen und
Männern mit Migrationshintergründen zu berücksichtigen. Doch zugleich sind auch
deren Skripte durch verschiedene Einflussfaktoren brüchig und vielfältig.
2.2.4.2. Intrapsychische Skripte
„Intrapsychische Skripte beschreiben, wie die erotische und sexuelle Reaktion seelischkörperlich zustande kommt“ (Lautmann, 2002, S.182). Darin drücken sich nicht nur
biographische Anteile, sondern auch Phantasien, Wünsche und zukunftsgerichtete Ziele
aus (vgl. ibid., vgl. Schmidt, 2011, S.101). Das individuelle erotische Profil aus der
systemischen Sexualtherapie lässt sich mithilfe dieser Skripte erfassen.
2.2.4.3. Interpersonelle Skripte
Interpersonelle Skripte ermöglichen ein Handeln in wechselseitiger Bezogenheit. „Der
einzelne Akteur stellt sich auf die Erwartungen einer anderen Person ein, d.h. orientiert
sein Verhalten an dem des Gegenübers“ (Lautmann, 2002, S.182). Die erotischen
Profile der Beteiligten werden im Wechselspiel von Role giver und Role receiver
ausgehandelt; es entsteht eine spezifische Paarkultur, die einen gemeinsam
44
kommunizierten Anteil enthält, aber niemals mit dem erotischen Profil eines Individuums
deckungsgleich ist.
2.2.4.4. Skripte in der systemischen Sexualtherapie
Die
rollentheoretische
Sichtweise,
wonach
die
Aktivierung
einer
Rolle
situationsabhängig ist, spiegelt sich in der systemischen Sichtweise von sexuellen
Handlungen wider. Clement illustriert dies an einem Beispiel:
„Sexuelles Verhalten wird vom Kontext, nicht von inneren Zuständen der Akteure
geschaffen. Ein erigierter Penis ist zunächst einmal „sinn-los“, ist demnach auch
nicht ohne weiteres als Ausdruck eines Wunsches oder emotionalen Zustandes
seines Besitzers zu interpretieren. Vielmehr bekommt er seinen Sinn erst im
Kontext eines Skripts, einer Szene8 also, in der Akteure Intentionen verfolgen und
dementsprechend handeln“ (Clement, 1994, S.256).
Im Unterschied zu den eher deskriptiv zu bezeichnenden Skripten, die Gagnon und
Simon im Sinn hatten, interpretiert die systemische Sexualtherapie Skripte prozesshaft
und daher veränderbar (vgl. ibid., S.257). Insbesondere dieser Skriptbegriff lässt sich
auch mit dem Spontaneitäts- und Kreativitätszyklus (vgl. Schacht, 2009, S.65ff.) des
Psychodramas in Einklang bringen: Die dramaturgische Figur der systemischen
Therapie
besteht
aus
dem
Skriptentwurf,
der
Skriptdurchführung
und
der
Skriptkonsequenz, welche wiederum an den Skriptentwurf rückgebunden wird und
diesen über Bestätigung oder Ablehnung verändern kann (vgl. Clement, 1994, S.258).
Kommt es zu einer Bestätigung des Skriptentwurfs entsteht nach dem Modell des
Spontaneitäts-
und
Kreativitätszyklus
eine
Rollenkonserve.
Wird
diese
als
Einschränkung erlebt, beginnt die Suche nach neuen Handlungsentwürfen (systemisch:
8
In der systemischen Sexualtherapie scheinen Szene und Skript als Synonyme zu gelten. Für diese
Arbeit ist von Bedeutung, Skripte als zugrundeliegendes Drehbuch einer Szene zu verstehen. Dieser
Unterschied ist den verschiedenartigen Therapieansätzen geschuldet: Legt die systemische
Psychotherapie den Schwerpunkt ihrer therapeutischen Arbeit auf das Schildern einer Szene, ist es im
klassischen Psychodrama üblich, die Szene zu spielen (vgl. Stadler & Kern, 2010, S.223).
45
Skriptentwürfen),
die
womöglich
zu
neuen
Handlungen
und
anderen
Handlungskonsequenzen führen können.
2.2.5. Rollenentwicklung ist ein lebenslanger Prozess
2.2.5.1. Biographie – Entwicklung von Sexualität und sexueller Identität aus
rollentheoretischer Sicht
Ein wesentliches Merkmal jeder Rolle ist ihre Entwicklung über die gesamte
Lebensspanne
hinweg
(vgl.
Hochreiter,
2004,
S.129).
Das
macht
das
psychotherapeutische Arbeiten mit der sexuellen Rolle und ihrer Weiterentwicklung erst
möglich und schließt unmittelbar an Clements Vorstellung an, den Menschen als
sexuelles Wesen zu sehen und das Augenmerk auf die erotische Entwicklung zu legen
(vgl. Clement, 2011, S.51).
Michael Schacht zufolge entwickeln Menschen im Laufe ihres Lebens
Handlungskompetenzen, die sich auf verschiedenen Strukturniveaus abbilden lassen
(vgl. Schacht, 2009, S.22ff.). Die erste ist die psychosomatische Rollenebene. Sie ist
angeboren und bis zum Ende des ersten Lebensjahres handlungsleitend. Auf dieser
baut die psychodramatische Rollenebene auf, die zwischen dem Ende des ersten
Lebensjahres und dem 6. Lebensjahr handlungsbestimmend wird. Danach folgt die
soziodramatische Rollenebene, die sich in vier aufeinander aufbauenden Niveaus bis in
das Erwachsenenalter hinein entwickelt. Das Niveau 4 wird nicht von allen erreicht.
Charakteristisch ist, dass alle schon ausgebildeten Strukturniveaus zeitgleich wirken
(vgl. idem, 2003, S.280). Dies bedeutet in der Arbeit mit Erwachsenen, dass sexuelle
Handlungen nicht nur – wie Moreno ursprünglich meinte – Handlungen auf der
psychosomatischen Ebene sind, sondern alle Rollenebenen einbeziehen.
Daher
werden
in
den
nächsten
Abschnitten
einerseits
die
sexuellen
Entwicklungsschritte in der Kindheit und Jugendzeit aufgezeigt, andererseits die
Rollenebenen konkreter sexueller Handlungen Erwachsener analysiert. Dies ist insofern
relevant, weil Störungen in der Sexualität jede Rollenebene betreffen kann (vgl. Hofer,
46
2013, S.37). Je nach Anliegen der Klientin bzw. des Klienten können daher
Interventionen auf der dem Anliegen adäquaten Rollenebene angeboten werden.
Ein
wichtiger
Aspekt
der
folgenden
Kapitel
wird
auch
die
sexuelle
Identitätsentwicklung sein. Schacht zufolge ist die Identitätsentwicklung ein Prozess auf
der soziodramatischen Rollenebene. Doch schließe ich mich Knapps Sichtweise an,
dass die sexuelle Identität schon von Anfang an entwickelt wird (vgl. Knapp, 2011,
S.13). Während Knapp in ihrer Arbeit das Augenmerk auf den Bereich „soziales
Geschlecht“/ „Gender“ legt, wird hier die Sexualisation den Fokus bilden.
2.2.5.2. Rollenanteile der psychosomatischen Rollenebene – Lustempfinden als
angeborene Fähigkeit
Die psychosomatische Rollenebene ist die erste Handlungsebene, auf der ein Säugling
agieren und interagieren kann. Auf dieser Ebene finden sich alle biologisch
vorgegebenen Rollen eines Menschen. Sie umfassen somatische Funktionen wie die
Fähigkeit, zu saugen, zu trinken oder zu schlafen. Auch sexuelle Funktionen wie
beispielsweise die Erregbarkeit von Klitoris oder Penis sind von Anfang an vorhanden.
Sexuelle Lust als zugrundeliegendes Gefühl ist zunächst noch nicht differenziert.
Lust ist ein diffuser angeborener Affekt, der sich anfangs aus Entdeckungslust, Lust auf
Aktivität,
Körperkontakt,
am
Effekt
und
auf
allgemein
sinnliche
Erfahrungen
zusammensetzt (vgl. Schacht, 2003, S.50, ibid., S.55, ibid., S.72). Sexuelle Lust wird in
den ersten Monaten eher zufällig, reagierend auf äußere Reize erlebt (vgl. Kluge, 2008,
S.75f.). „Besonders beim Wickeln und Waschen des Säuglings bleibt nicht aus, dass die
Eltern auch die Geschlechtsorgane berühren“ (Wanzeck-Sielert, 2008, S.365).
Wesentlich ist das Bedürfnis des Säuglings, mit anderen in Beziehung zu treten
(vgl. Schacht, 2003, S.48). Moreno selbst sieht in seiner Theorie den Menschen als
soziales Wesen ohne andere Menschen gar nicht überlebensfähig und spricht vom
sozialen Atom, das als kleinste Einheit mindestens zwei Personen umfassen muss (vgl.
Stadler & Kern, 2010, S.177). An die primären Bezugspersonen richten sich auch
Bedürfnisse nach Nähe, Zärtlichkeit und Intimität. Sielert spricht von „Hauthunger“ (vgl.
47
Sielert, 2005, S.45). In Bezug auf die Interaktion zwischen Eltern und Kind weist er auf
Folgendes hin:
„Viele Kinder bekommen […] die Erfahrung mit auf den Weg, dass es mit ihren
Geschlechtsorganen etwas Besonderes auf sich hat. Beim Streicheln des
Körpers wurden sie vielleicht öfter ausgelassen als die Nase oder die
Rückenpartie; damit konnte leicht der Eindruck entstehen, dass sie weniger
geliebt sind als alles andere an ihnen“ (ibid., S.102f.).
Positiv
betrachtet
wird
dem
kleinen
Kind
(non-verbal)
mitgeteilt,
dass
Geschlechtsorgane auch eines besonderen Schutzes bedürfen – etwas, das aus meiner
Sicht letztlich mit der Intimitätsentwicklung zu tun hat.
Auf der Hochphase der psychosomatischen Rollenebene, die Schacht bis zum
Alter von 7-9 Monaten verortet, „[…] werden in ersten Ansätzen Mittel eingesetzt, um ein
Ziel zu erreichen. Sobald dies geschieht, entwickelt sich eine neue Art von Erwartung.
Ein Ergebnis wird […] mit einer speziellen Handlung gekoppelt“ (Schacht, 2003, S.59).
Dies deckt sich mit Beobachtungen, dass ab der Mitte des ersten Lebensjahres
sexuelles Handeln in Form von Masturbation schon strategisch angewendet wird (vgl.
Kluge, 2008, S.76).
Bezogen auf die sexuelle Identität ist dem Säugling auf der psychosomatischen
Ebene das eigene Geschlecht noch nicht bewusst. Jedoch beginnen ab diesem
Zeitpunkt die Entwicklung und die Erziehung hin zum psychischen Geschlecht, das dem
anatomischen Geschlecht entsprechen soll (vgl. Knapp, 2011, S.11f.).
2.2.5.3. Wünsche und Phantasien – Anteile der psychodramatischen Rollenebene
Die psychodramatische Rollenebene, die laut Schacht zwischen dem Ende des ersten
und dem 6. Lebensjahr handlungsleitend wird (vgl. Schacht, 2003, S.88 und S.115) ist
gekennzeichnet durch die Fähigkeit, Realität und Phantasie zunehmend zu trennen (vgl.
ibid., S.46). Erst jetzt gelingt es dem Kind allmählich, sich etwas vorzustellen und in
bescheidenem Ausmaß auch etwas zu planen. Kinder sind nun in der Lage,
„Gefühle allein durch innere Vorstellungen [auszulösen]. Emotionen bekommen
damit eine ganz entscheidende Rolle als Handlungsmotive. Ereignisse, die –
48
möglicherweise auf Grund von Erfahrungen und Erinnerung – in der Erwartung
mit starken positiven Gefühlen verknüpft sind, werden zu Zielen, die das Kind zu
erreichen sucht“ (ibid., S.134f.).
Mädchen und Jungen „gehen auf Entdeckungsreise und erleben ganz bewusst und
strategisch eingesetzt, dass Berührungen [an den Genitalien] lustvoll sein können“
(Wanzeck-Sielert, 2008, S.366).
Auf dieser Handlungsebene „erlernt das Kind ganze emotionale Skripts samt
damit verknüpfter Gefühlsregeln“ (Schacht, 2003, S.134). Dies gilt auch für sexuelle
Skripte. Allerdings werden sexuelle Lustgefühle deutlich seltener besprochen als Angst,
Freude, Zorn, Trauer oder auch Liebe. Da aber nicht nur sprachlich kommuniziert wird,
werden die darauf bezogenen Reaktionen als erlaubendes Schmunzeln, Wohlwollen,
Scham, Ablehnung, etc. registriert. Damit kommt es meines Erachtens zu einer
Intimisierung und auch Tabuisierung von sexuellen Gefühlen. Der Preis dieses
Prozesses ist häufig eine mangelnde sprachliche Ausdrückbarkeit insbesondere von
erotischen Bedürfnissen und Wünschen.
Erotische Bedürfnisse beziehen sich im Kleinkindalter zuerst auf die primären
Bezugspersonen. Diese können aber nicht im erwachsenen Sinne beantwortet werden.
Damit kommt es zu einer Trennung der Generationen (vgl. Schnack & Neutzling, 2006,
S.24). Eltern zeigen aber als Vorbilder auf, wie intime Beziehungen gelebt werden (vgl.
ibid., S.55).
Sexuelle Bedürfnisse werden daher nun vermehrt unter Gleichaltrigen ausgelebt.
Sie „erforschen in Doktorspielen, Vater-Mutter-Kind- und anderen Rollenspielen den
eigenen Körper und den der anderen“ (Wanzeck-Sielert, 2008, S.366). Es ist die Zeit der
Schau- und Zeigelust, die zum Einen sexuelles Begehren ausdrückt, zum Anderen auch
die jeweils eigene Geschlechtlichkeit bestätigt. „Eine klare Trennung zwischen Homound Heterosexualität [scheint] für Kinder in ihrem praktischen Handeln nicht sehr
bedeutsam zu sein“ (Tervooren zit. nach ibid., S.369).
Auf die sexuelle Identitätsentwicklung bezieht sich ein wesentlicher Teil der
Skripte, vor allem auf die Geschlechterrolle (gender), die ein Kind einnehmen muss.
Knapp hat darauf hingewiesen, dass Interaktionen geschlechtsspezifisch codiert sind
49
(vgl. Knapp, 2011, S.12). Dies gilt insbesondere auch für den Umgang mit sexuellen
Themen. Schon sehr früh werden Unterscheidungen in der Sexualerziehung zwischen
Buben und Mädchen getroffen. Ich möchte zur Illustration ein paar Beispiele bringen, die
ich aus meiner jahrelangen Arbeit im Bereich der Sexualpädagogik erfahren durfte:
Buben erhalten eher Begriffe für ihre Genitalien als Mädchen. Viele Familien
verwenden zwar eigene Wörter für die weiblichen Genitalien, sie werden aber nur
innerhalb der Familie verstanden. Der Kitzler – als eigentliches Lustorgan der Frau – ist
üblicherweise noch nie erwähnt worden.
Sexuelle Lust wird Buben eher zugestanden. Wenn Mädchen im Kindergarten
masturbieren, stehen immer wieder Befürchtungen im Raum, dass das Kind sexuelle
Missbrauchserfahrungen erlebt haben könnte. In Ansätzen ist bereits ein Umdenken zu
bemerken, dennoch: Bei Buben wird in der Regel ein sexueller Übergriff erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Denn bei Männern gilt Selbstbefriedigung als normal, als
geschlechtstypisch. Meiner Meinung nach ist hier noch ein prekärer Aspekt zu beachten:
die gesellschaftliche Konstruktion von weiblichen Opfern und männlichen Tätern.
Bei Buben wird vor allem darauf geachtet, dass keine „zu weiblichen“
Handlungsweisen und Attribute gezeigt werden. Besonders eindrücklich war ein Erlebnis
im Rahmen eines sexualpädagogischen Workshops für Eltern von Kindergartenkindern:
Thema wurde, dass sich ein vierjähriger Bub gerne als Prinzessin verkleidet. Die Mutter
nahm dies noch einigermaßen gelassen hin. Sie versuchte dies für sich als
alterstypisches Rollenspiel zu erklären. Der Vater des Kindes hingegen war äußerst
besorgt. Er nahm es regelmäßig in den Wald mit, um mit ihm Lianen zu schwingen und
Cowboy- und Indianerspiele zu spielen. Dies sollte den Kleinen auf „andere Gedanken
bringen“. Die Sorge des Vaters war, dass sein Sohn später „schwul“ werden könnte,
obwohl das erotische Begehren sich in diesem Alter selten an ein „präferiertes“
Geschlecht wendet, sondern eher mit Verfügbarkeiten zu tun hat. Die Heteronormativität
zeigt sich in diesem Beispiel deutlich, weil Heterosexualität und typisch männliches
Verhalten bzw. sein Gegenteil – „weibliches“ Verhalten von Buben und Homosexualität
– gleichgeschaltet sind.
50
2.2.5.4. Rollenanteile der soziodramatischen Rollenebene – Voraussetzung für das
Ausverhandeln sexueller Handlungen
Schacht zufolge beginnt mit dem Schuleintritt des Kindes die Entwicklung auf der
soziodramatischen Rollenebene. Diese ist in vier Stufen aufgeteilt.
Entwicklungsniveau 1, Alter 5 – 10 Jahre
Freuds berühmte psychosexuelle Entwicklungstheorie ging davon aus, dass in dieser
sogenannten „Latenzphase“ bis zum Eintritt der Pubertät Sexualität zugunsten
intellektueller und sozialer Lernschritte in den Hintergrund rückt (vgl. Wanzeck-Sielert,
2008, S.367). Aus heutiger Sicht ist dem nicht so. Es scheint eher, dass Kinder in der
Volkschulzeit die sie umgebenden soziokulturellen Skripte verinnerlicht haben. Die
Tabuisierungen rund um Sexualität sind darin enthalten. Zudem dominieren Bedürfnisse
nach Intimität. Scham ist das dazugehörende Gefühl, das diese Intimität schützt. „Die
Zunahme von Schamepisoden […] und die Auseinandersetzung damit ist ein wichtiger
Prozess der sexuellen Identitätsfindung“ (ibid., S.368). Es geht um die Entwicklung der
„eigenen Intimitätsgrenzen und die der anderen“ (ibid.).
Es fällt auf, dass sich Mädchen und Buben oft voneinander trennen,
gleichgeschlechtliche Spielgefährtinnen und –gefährten bevorzugen und erste wichtige
Freundschaften schließen. Dies ist nicht zwingend, aber häufig – und dient den Jungen
und Mädchen auch dazu, die eigene Geschlechtsrolle stärker zu etablieren.
Laut Schacht entwickelt ein Kind in diesem Lebensabschnitt eine wichtige
Handlungskompetenz: Es begreift, dass zwei verschiedene Personen Situationen
unterschiedlich erleben und subjektiv erzählen. Damit steht die Fähigkeit in
Zusammenhang, eine eigene Geschichte konstruieren zu können. „Ähnlich wie Skripts
geben auch Geschichten (Narrationen) einer Abfolge von Ereignissen Ordnung und
Bedeutung“ (Schacht, 2003, S.132).
51
Entwicklungsniveau 2, Alter 10 – 15 Jahre
Dieses Entwicklungsniveau umfasst die Präpubertät (etwa das Alter von 10 – 12) und
den
Beginn
der
Pubertät.
Typisch
für
diese
Zeit
ist
die
sogenannte
„Zwangsheterosexualität“. Am Übergang zur Pubertät lehnen Kinder üblicherweise
andere sexuelle Lebensstile ab. „Die jeweiligen Mädchen- und Jungencliquen sind
zunächst Lernorte für heterosexuelle Umgangsformen und bieten die Möglichkeit der
Entwicklung eines eigenen Körperstils auf dem Kontinuum von Weiblichkeit und
Männlichkeit“ (Wanzeck-Sielert, 2008, S.369f.). Somit wird mit heteronormativen und oft
von Geschlechtsklischees durchzogenen interpersonellen Skripten experimentiert. Im
Schutz der eigenen Geschlechtskohorte kommt es zu ersten zwischengeschlechtlichen
erotischen Kontaktversuchen. Das berühmte „Willst Du mit mir gehen?“ zeigt sich hier
zum Beispiel noch in einer spielerisch-experimentellen Art.
Die Betonung der Geschlechtsstereotype wird dadurch verstärkt, dass es
Jugendlichen auf dieser Stufe nicht nur möglich ist, sich in das Gegenüber einzufühlen,
sondern auch zu begreifen, dass andere sich ebenfalls in sie einfühlen können. Sie
können
sich
selbst
von
außen
betrachten.
Schacht
nennt
diese
Fähigkeit
„selbstreflexive, reziproke Perspektivenübernahme“ (Schacht, 2003, S.199). Damit
gewinnt die Außenwirkung eine hohe Bedeutung. Die Aufnahme in die Peergroup ist in
diesem Alter von höchster Priorität, das Erleben von Ausgrenzung mit einem
Selbstwertverlust verbunden.
In Bezug auf die sexuelle Identitätsentwicklung bedeutet dies, dass es für die
meisten Jugendlichen ausgesprochen wichtig ist, als eindeutig männlich oder weiblich
bestätigt zu werden. Ein wenig ist hier noch das Patriarchat zu spüren, das Männlichkeit
höher bewertet als Weiblichkeit. In der Regel brauchen Burschen durch Gleichaltrige
des eigenen Geschlechts die Anerkennung und Bestätigung, während Mädchen sich oft
„aus den Augen der Männer“ sehen (vgl. Knapp, 2011, S.15).
52
Entwicklungsniveau 3, Alter 15 – 20 Jahre
In diesem Alter gehen die meisten Menschen erste sexuelle Beziehungen ein. Dabei
geht es aber nicht vorrangig um Lust, sondern oft vor allem um die Bestätigung und
Anerkennung als erotische Frau oder erotischer Mann:
„Mehrheitlich stehen zu Beginn der sexuellen Karriere Teile des Identitätsaspekts
im Vordergrund, vor allem […] die Frage der eigenen Bedeutung für andere und
die Bedeutung anderer für die eigene Person“ (Sielert, 2005, S.52f.).
Der erste Geschlechtsverkehr muss auch als Initiationsritual in die Erwachsenenwelt
verstanden werden. Daher ist es für viele (vor allem Burschen) entscheidender, dass
Geschlechtsverkehr stattfindet als sich in erster Linie darum zu sorgen, dass der Sex
sonderlich gut ist.
In Hinblick auf Handlungskompetenzen kann nun „eine Person […] aus der
Perspektive einer unparteiischen 3. Person betrachtet werden. [Es] kann die Beziehung
als solche von außen in den Blickwinkel genommen werden“ (Schacht, 2003, S.201).
Damit können auch gegensätzliche Rollenerwartungen berücksichtigt werden. Schacht
zufolge ist dies eine unerlässliche Voraussetzung für gelingende Paarsexualität (vgl.
ibid., S.221). Fürst und Krall relativieren diese Sichtweise, geben aber Schacht insofern
recht, wenn sie postulieren:
„Die höchste Form – wenn man so sagen will – einer gemeinsamen Sexualität
setzt […] voraus, dass beide Partner zu einem Rollenwechsel fähig sind und
gleichzeitig sich selbst wahrnehmen und spüren können. Dies würde dem dritten
Niveau in der Entwicklung der soziodramatischen Rollen entsprechen“ (Fürst &
Krall, 2012, S.29).
Auf Niveau 3 übernehmen Jugendliche die kollektiven Normen der sie umgebenden
Kultur (vgl. Schacht, 2003, S.237). Daher ist es von hoher Bedeutung, zu welchem
Milieu Jugendliche in diesem Alter gehören. Es lässt sich in der überwiegenden
Mehrheit der Bevölkerung feststellen, dass Mädchen und Burschen heute in ähnlichem
Alter ihre partnerschaftliche Sexualität beginnen. In der Sexualwissenschaft wird dies als
„Geschlechterangleichung im Sexuellen“ bezeichnet (Schmidt, 2011, S.106).
53
Folgende Phänomene lassen sich aus sexualpädagogischer Praxis beispielhaft
beschreiben: Die Kontaktaufnahme ist nicht mehr das Monopol von Männern.
Elternschaftsverhütung ist kein alleiniges Thema von Frauen mehr. Treue ist für beide
Geschlechter gleich wichtig und Sexualität wird in jetzigen Jugendgenerationen deutlich
stärker an eine Liebesbeziehung geknüpft als noch vor 30 oder 40 Jahren.
In anderen Milieus, insbesondere solchen, in denen ein Jungfräulichkeitsgebot
präsent ist, binden Männer seltener sexuelle Erlebnisse an Liebesbeziehungen und
werden häufiger in einem früheren Alter sexuell aktiv. Frauen aus diesen Milieus lassen
sich hingegen deutlich später auf partnerschaftliche Sexualität ein und koppeln diesen
Zeitpunkt oft an eine Eheschließung (vgl. BZgA, 2011, 2015).
In Bezug auf die sexuelle Identitätsentwicklung wird einer bzw. einem
Jugendlichen erst auf Entwicklungsniveau 2 und 3 allmählich bewusst, welches
Geschlecht sie oder er begehrt. Meistens – denn entsprechend der Vorstellung, wonach
sexuelle Identität ein biographischer Entwurf ist (vgl. Timmermanns, 2008, S.263), ist
auch die sexuelle Orientierung kein Merkmal, dass über die gesamte Lebenszeit bei
allen Individuen gleich bleiben muss. Betrachtet man die gesamte Population, dann
muss ohnedies eher von einer Vielzahl an Orientierungen auf dem Kontinuum zwischen
Hetero- und Homosexualität ausgegangen werden (vgl. Schmidt, 2011, S.138 ff.).
Entwicklungsniveau 4
Während die Übernahme kollektiver Normen auf Niveau 3 „noch relativ eng an den
sozialen Kontext geknüpft“ ist (Schacht, 2004, S.237), zeichnet sich die letzte
Entwicklungsstufe dadurch aus, sich von den vorgegebenen Normen distanzieren und
eine systemübergreifende Perspektive einnehmen zu können (vgl. ibid., S.202). Das hat
vielfältige
Auswirkungen
Beziehungsformen
und
auf
Einstellungen
all
ihren
zu
Sexualität,
widersprüchlichen
und
sexueller
Identität,
unterschiedlichsten
Ausdrucksformen.
Beispielhaft möchte ich noch einmal die sexuelle Partnerorientierung aufgreifen:
Die immer noch heteronormative Gesellschaft führt dazu, dass viele Menschen erst im
(jungen) Erwachsenenalter eine eventuelle nicht-heterosexuelle Identität mit allen
54
Facetten akzeptieren können. Denn erst auf Niveau 4 kann eine innere Distanz zu den
Werten der umgebenden Kultur eingenommen werden.
Ähnliches gilt auch zum Beispiel für Menschen mit Migrationshintergründen aus
traditionellen Familien: In Jugendcliquen kommt es immer wieder zu regelrechten
„Wertekämpfen“
zwischen
liberalen
Metaperspektive wird erst im Laufe der
und
traditionellen
Lebensstilen.
Eine
späteren Entwicklung eingenommen – und
manchen gelingt das nie.
In
der
sexualwissenschaftlichen
Fachliteratur
wird
die
sexuelle
Identitätsentwicklung als ein biographischer Entwurf gesehen (vgl. Timmermanns, 2008,
S.263). Dies entspricht auch der Vorstellung in der Rollentheorie:
„Identität wird gewonnen, indem sich ein Mensch in leibhaftem Wahrnehmen und
Handeln auf dem Hintergrund seiner Geschichte über längere Zeit als der
erkennt, der er ist (Identifikation) und indem er von den Menschen seines
relevanten Kontextes auf dem Hintergrund gemeinsamer Geschichte als der
gesehen wird, als den sie ihn sehen. Diese identitätsstiftenden und –erhaltenden
Prozesse erfolgen immer wieder aufs Neue und sie schließen persönliche und
gemeinsame Geschichte mit der dazugehörigen Zukunftsperspektive ein“
(Hochreiter, 2004, S.141).
Daher ist die Vorstellung Clements, dass Paare über das Ausverhandeln ihrer jeweiligen
erotischen Profile und dem Entstehen spezifischer Handlungsroutinen auch eine eigene
Paaridentität entwickeln, höchst relevant (vgl. Clement, 2009, S.74). Diese Paaridentität
schließt das Paar ein und definiert dieses unter Ausschluss der anderen (der
Öffentlichkeit, der anderen Identitätsrollen wie die berufliche oder die Rolle des
Freundes/ der Freundin, etc.). Sie spiegelt sich aber auch in der Frage „Wer bin ich als
erotischer Mensch?“ wider.
2.2.5.5. Rollenanteile und Rollenkompetenzen im Erwachsenenalter
In der sexuellen Rolle eines bzw. einer Erwachsenen ist die individuelle sexuelle
Biographie ein prägender Faktor. Die psychosomatische Rollenebene zeigt sich dabei in
zweifacher Hinsicht. Der biologische Anteil dieser Ebene – Erektion, Ejakulation,
55
Feuchtwerden der Scheide, etc. – und die Behandlung möglicher Funktionsstörungen ist
ein wesentliches Aufgabengebiet der Sexualmedizin in den Disziplinen Gynäkologie,
Endokrinologie, Urologie, Andrologie, Fortpflanzungsmedizin, usw.
Auf dieser Ebene werden aber – für die psychotherapeutische Arbeit deutlich
wesentlicher – vor allem Rhythmus, Spannung und Entspannung, Lust und Unlust
reguliert. Diese Affekte sind stark an körperliche Empfindungen gekoppelt. Die
„Streichelübungen“ des Hamburger Modells der Paartherapie (vgl. Hofer, 2013, S.30ff.,
S.92ff.) sowie bestimmte Masturbationsübungen wie die „Start-Stop-Methode“9 für
Männer (vgl. Hanel, 2003, S.33) oder die Kontraktionsübung nach Kegel (vgl. ibid.,
S.84)10 sind Interventionen, die hauptsächlich auf der psychosomatischen Rollenebene
ansetzen. Diese Techniken sind aber in der systemischen Sexualtherapie nicht
sonderlich bedeutsam. Es wird – rollentheoretisch betrachtet – mit höheren
Rollenebenen gearbeitet, insbesondere mit der psychodramatischen.
Diese zeigt sich im Bereich von sexuellen Phantasien und Wünschen. „Wünsche
können als für die psychodramatische Rollenebene charakteristische Form von
Handlungsmotiven
bezeichnet
werden“
(Schacht,
2003,
S.288).
Über
gute
psychodramatische Handlungskompetenzen zu verfügen, bedeutet, dass Personen ihre
Empfindungen mit Gefühlen in Verbindung bringen, diese mittels der Sprache äußern
und
schließlich
Phantasien
von
Wünschen
unterscheiden
können.
Die
psychodramatische Rollenebene ist diejenige, in der erste Gefühlsskripte gelernt
wurden. Das Fokussieren auf sexuelle Skripte in der psychotherapeutischen Arbeit
bietet die Chance, sprachlich Erfassbares mit der Möglichkeit einer gewissen
Distanzierung von körperlichen, meist schambesetzten Reaktionen zu verbinden. Die
psychosomatische Ebene wird damit indirekt erreicht.
9
Diese Methode soll Männer für ihren „Point of no Return“ (= der Zeitpunkt, bei dem es in jedem Fall zu
einem Samenerguss kommt) sensibilisieren.
10
Diese Übung zielt darauf ab, die Beckenbodenmuskulatur kennen zu lernen und beim Sex einsetzen zu
können.
56
Interventionen auf dieser Ebene beziehen sich in erster Linie auf das Erkennen,
Wahrnehmen und Würdigen eigener erotischer Bedürfnisse. Dies ist häufig ein längerer
Prozess, und es zeigt sich regelmäßig in einer ersten Phase der Therapie, was die
Klientin bzw. der Klient nicht (mehr) will (vgl. Clement, 2009, S.40ff.).
Die eigenen erotischen Wünsche zu kennen und damit über gute intrapsychische
sexuelle Skripte zu verfügen, ermöglicht es Menschen prinzipiell, auch ohne
Perspektivenwechsel eine individuell befriedigende Sexualität zu leben (vgl. Fürst &
Krall, 2012, S.29). Allerdings muss auch ein gewisses Set an kulturell vorgegebenen
interpersonellen Skripten vorhanden sein.
„Um Wünsche erfüllt zu bekommen, müssen sie anschlussfähig sein“ (Clement,
2009, S.98). Um zu einer erfüllenden Paarsexualität zu gelangen, braucht es daher für
die meisten Menschen nicht nur kulturell vorgegebene interpersonelle Skripte, die eher
als Handlungsstereotype zu verstehen sind, sondern individuell angepasste, die mit der
Partnerin bzw. dem Partner abgeglichen werden müssen.
Das Niveau 1 der soziodramatischen Rollenebene in erotischer Hinsicht gut
integriert zu haben, bedeutet vor allem, ein Gespür für die eigenen und fremde Schamund Intimitätsgrenzen entwickelt zu haben. In der psychotherapeutischen Arbeit ist
deshalb für einen ausreichenden Intimitätsschutz zu sorgen, um die persönliche
Integrität einer Klientin bzw. eines Klienten nicht zu gefährden.
Das Niveau 2 der soziodramatischen Rollenebene hat die Selbstbestätigung
durch andere im Fokus. Sie zeigt sich beispielsweise in dem Bedürfnis der meisten
Menschen, durch ihre Partner bzw. Partnerinnen als begehrenswert erlebt zu werden.
Aus psychotherapeutischer Sicht ist der Aufbau eines erotischen Selbstwerts dann
wichtig, wenn die Bestätigung durch den Partner bzw. die Partnerin zu einem perfekten
Ziel wird und sexuelle Handlungen vorrangig partnervalidiert sind, eigene erotische
Bedürfnisse aber außer Acht gelassen werden. Partnervalidierte sexuelle Handlungen
sind solche, die ausschließlich die partnerschaftliche Bestätigung zum Ziel haben. Es
werden nur diese Facetten des erotischen Profils gezeigt, die keine Angst vor einer
möglichen Ablehnung auslösen (vgl. Clement, 2011, S.80ff.).
57
Das Niveau 3 der soziodramatischen Rollenebene befähigt Menschen dazu, eine
Beziehung von außen zu betrachten und verschiedene, auch widersprüchliche
Bedürfnisse auszuverhandeln. Besonders häufig zeigt sich in der Praxis, dass nicht ein
vermeintlicher Selbstbezug und daraus resultierend eine mögliche Rücksichtslosigkeit in
sexuellen Handlungen in einer Partnerschaft das Problem ist, sondern vor allem zu viel
Rücksichtnahme auf die Partnerin oder den Partner und zu wenig Wertschätzung der
eigenen erotischen Bedürfnisse.
Das Niveau 4 zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Menschen gelingt,
sich selbst im Anderssein zu würdigen. Dieses Niveau könnte zum Leitsatz haben: „Ich
bin wie ich bin und ich bin gut so, wie ich bin.“ Die persönliche Identität kann auf diesem
Niveau in ihrer Widersprüchlichkeit angenommen werden.
58
3. Die Gestaltung der Begegnungsbühne bei der Bearbeitung
sexualitätsbezogener Problemlagen im Monodrama
3.1. Einleitung: Warum das Setting des Monodramas?
Die
Psychodrama-Psychotherapie
ist
im
Ursprung
ein
gruppentherapeutisches
Verfahren. Dieses Setting ist für die Arbeit an sexuellen Themen allerdings heikel, weil
der Intimitätsschutz der Beteiligten nicht ausreichend gewährleistet werden kann. Falko
von Ameln, Ruth Gerstmann und Josef Kramer raten davon ab, sexuelle Inhalte im
Rahmen der Gruppe auf die Bühne zu bringen (vgl. von Ameln, Gerstmann & Kramer,
2009, S.268ff.). Sie argumentieren dabei nicht nur mit der Gefährdung des
Intimitätsschutzes von Protagonistinnen und Protagonisten, sondern auch mit jener von
Hilfs-Ichs und Beobachtenden aus der Gruppe. Ich möchte hinzufügen, dass
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Gefahr laufen durch ein mögliches
Eindringen in schambesetzte Themen von Klientinnen und Klienten das therapeutische
Arbeitsverhältnis insgesamt aufs Spiel zu setzen.
Ein weiteres Setting ist die Arbeit mit Paaren. Sexualtherapien verstehen sich
häufig als Paartherapien. Dazu zählen das Hamburger Modell der Paartherapie (vgl.
Hofer, 2013, S.27) sowie die systemische Sexualtherapie, die Clement auch als
Paartherapie des Begehrens (vgl. Clement, 2011, S.47ff.) begreift. Hintergrund dafür ist
die Tatsache, dass das Paar ein bedeutsamer Ort der sexuellen Inszenierung ist (vgl.
Hauch zit. nach Hofer, 2013, S.27). Gerda Trinkel macht für die therapeutische
Herangehensweise darauf aufmerksam,
„den Focus der therapeutischen Arbeit auf die gemeinsame Beziehung des
Paares zu legen. Der Problematik und dem Leid jedes einzelnen Partners darf
also nicht zu große Aufmerksamkeit geschenkt werden“ (Trinkel, 2010, S.76).
Sämtliche sexuelle Probleme und Störungen allein auf Paarebene zu bearbeiten, ist
daher aus meiner Sicht nicht immer passend.
Hier kommt das Monodrama, die in Österreich geläufige Bezeichnung für die
Psychodrama-Einzeltherapie, ins Spiel. Die auf dem Hamburger Modell basierende
Psychodrama-Sexualtherapie greift dies in ersten Überlegungen bereits auf (vgl. Hofer,
59
2013, S.81ff.): Hofer schlägt die Monodrama-Sexualtherapie für Alleinstehende vor. Bei
gebundenen Menschen argumentiert er für eine Einzeltherapie, wenn deren
Partnerinnen bzw. Partner der Sexualtherapie fernbleiben möchten und folgt damit vor
allem praktischen Überlegungen. Ich bin der Meinung, dass das Monodrama für die
Arbeit mit der sexuellen Rolle sehr gute Dienste leisten kann und bei manchen
Fragestellungen dem Paarsetting überlegen ist.
Argumentiert werden kann dies anhand folgender Überlegungen: Laut der
systemischen
Sexualtherapie
ist
das
sexuelle
Spektrum
eines
Paares
nicht
deckungsgleich mit dem erotischen Profil eines Individuums (vgl. Kap. 2.3.1.5.). In
Rücksichtnahme auf die Partnerin bzw. den Partner werden eigene erotische Wünsche
nicht gelebt. Das kann so weit gehen, dass erotische Bedürfnisse auch nicht mehr
gespürt werden (vgl. Clement, 2011, S.74ff.). Das Monodrama bietet sich daher an, zum
Einen schambesetzte erotische Bereiche in einem vertraulichen Rahmen besprechen zu
können, zum Anderen Wünsche des Individuums herauszuarbeiten, ohne die Partnerin
bzw. den Partner unmittelbar berücksichtigen zu müssen. Es ist hilfreich zu wissen, was
man selbst will, bevor man es mit dem Gegenüber ausverhandelt. Auch Fragen zur
eigenen sexuellen Identität sind nicht vorrangig mit der Partnerin oder dem Partner zu
diskutieren, sondern erst für sich selbst zu beantworten.
Außerdem stellt sich eine ethische Frage: Muss die Partnerin bzw. der Partner
alles wissen? Entgegen des romantischen Liebesideals bin ich davon überzeugt, dass
jeder Mensch das Recht darauf hat, auch erotische Geheimnisse vor dem Partner bzw.
der Partnerin zu haben. Dies betrifft insbesondere erotische Phantasien (vgl. Clement,
2009, S.104). Doch selbst eine Affäre muss nicht immer offenbart werden, denn
manchmal kann deren Verschweigen gegenüber der Partnerin oder dem Partner eine
höhere Tugend sein als sie bzw. ihn damit zu konfrontieren (vgl. Clement, 2010, S.62,
vgl. ibid., S.158ff.).
Praktische Überlegungen spielen freilich auch eine Rolle: Einzeltherapien sind
das bevorzugte Setting von Klientinnen und Klienten. Sie sind somit der Ort, an dem die
sexuelle Rolle am häufigsten relevant wird.
60
3.2. Die Begegnungsbühne im Monodrama
Der Umgang mit sexuellen Themen im Monodrama verlangt eine vertrauensvolle
Atmosphäre.
Um
diese
herzustellen,
muss
das
Hauptaugenmerk
auf
die
psychotherapeutische Beziehungsgestaltung gelegt werden. Ich lege daher in meiner
therapeutischen Arbeit den Fokus auf das Geschehen auf der Begegnungsbühne, denn
„Techniken und Methoden sind in der Sicht der meisten praktisch tätigen
Psychotherapeuten […] ein notwendiges, jedoch dem Beziehungsgeschehen
nachgeordnetes Handwerkszeug, das auf dem Hintergrund ethischer Standards,
passend zur Situation, zum Leiden und zu den Personen eingesetzt wird“
(Bleckwedel zit. nach Fürst, 2004, S.283).
Der Begriff „Begegnungsbühne“ entstammt dem von Hildegard Pruckner für das
Monodrama entwickelten „Dreibühnenmodell“ (vgl. Pruckner zit. nach Schacht &
Pruckner, 2010, S.240). Sie unterscheidet dabei die Begegnungsbühne, die Spielbühne
(aktueller: Spiel-Aktionsbühne) und die soziale Bühne. Die Begegnungsbühne ist dabei
der Ort, an welchem sich die therapeutische Beziehung entwickelt:
„Das Beziehungsgeschehen zwischen TherapeutIn und KlientIn wird als spontankreativer zwischenmenschlicher Prozess auf der Begegnungsbühne gesehen, bei
dem beide Beteiligten ihre jeweiligen Erwartungen aushandeln“ (Schacht &
Hutter, 2014, S.209).
Die Begegnungsbühne ist einerseits ein realer Ort der psychotherapeutischen Arbeit.
Sie bildet „das Fundament und rein äußerlich [den] Rahmen einer Therapieeinheit“
(Pruckner, 2001, S.81). Andererseits ist sie auch ein Ort der psychotherapeutischen
Beziehung
und
fokussiert
die
Inszenierungen
von
Psychotherapeutinnen
und
Psychotherapeuten mit ihren Klientinnen und Klienten. Mit den Worten Schachts und
Pruckners ausgedrückt:
„Auf der Begegnungsbühne treffen sich in der Einzelpsychotherapie zwei
Menschen als ProtagonistInnen. […] TherapeutIn und KlientIn gestalten das
zwischenmenschliche Geschehen“ (Schacht & Pruckner, 2010, S.243).
Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Sichtweise auf Psychotherapeutinnen und
-therapeuten als Menschen, die nicht nur in ihren beruflichen, sondern auch in ihren
61
privaten Rollen den Klientinnen und Klienten begegnen. Bezogen auf die Arbeit an
sexuellen Themen bedeutet dies unter anderem, dass auch Psychotherapeutinnen und
-therapeuten mit ihren individuellen erotischen Profilen auf diejenigen der Klientinnen
und Klienten treffen.
„Die Begegnungsbühne ist bei jeder Arbeit auf der Spiel-Aktionsbühne mit dabei“
(Pruckner, 2012, S.250). Daher wird im Folgenden auch bei beispielhaften
Interventionen auf der Spiel-Aktionsbühne vorrangig dem Aspekt der Begegnungsbühne
Aufmerksamkeit geschenkt. Die Spiel-Aktionsbühne definiert sich als Arbeit am Thema
der Klientinnen und Klienten. Sie beinhaltet somit sowohl typische Inszenierungen mit
Sesseln oder Symbolen auf der Tischbühne als Repräsentantinnen für andere
Personen, Gefühle oder Körperteile als auch die Arbeit mit den kulturellen,
intrapsychischen und interpersonellen Skripten – Techniken also, die auf die Arbeit auf
der inneren Bühne eines Menschen abzielen.
Der Vollständigkeit halber seien auch Überlegungen für die Arbeit auf der
sozialen Bühne erwähnt. Diese ist definiert als die Arbeit mit dem realen sozialen Atom
(vgl. ibid., S.249). In Bezug auf die sexuelle Rolle von Klientinnen und Klienten wären
dies
reale
Sexualpartnerinnen
und
-partner,
meist
gleichbedeutend
mit
Lebensgefährtinnen und -gefährten, Ehemännern oder Ehefrauen. Lädt man diese
Personen in die Psychotherapie ein, wäre dies in Form eines Besuches oder aber als
Übergang in eine Paartherapie vorstellbar. Es fallen mir derzeit kaum Situationen ein,
die einen Besuch einer Partnerin bzw. eines Partners nötig machten und nicht
ausgelagert werden könnten.
Hofer
meint
in
seiner
Masterthese,
dass
Sexualtherapien
häufig
als
Einzeltherapien beginnen (vgl. Hofer, 2013, S.81). Er lässt die Erweiterung zu einer
Paartherapie allerdings offen. Besonders bei gebundenen Menschen argumentiert er
damit, dass
„der nicht anwesende Partner […] von Anfang an in die Therapie mit hinein
genommen [wird] […] Durch das Soziale Atom ist er bereits Teil des Geschehens“
(ibid., S.82).
62
Was den Übergang von einer Einzel- zu einer Paartherapie betrifft, wie dies Hofer
vorschlägt, bin ich sehr skeptisch. Selbstverständlich ist auch die Arbeit auf der sozialen
Bühne „ohne Begegnungsbühne nicht denkbar“ (Pruckner, 2012, S.250). Dies bedeutet
demnach, dass eine schon etablierte therapeutische Beziehung sich für eine dritte
Person öffnen müsste. Was diese Öffnung der Einzel- zu einer Paartherapie für die
Begegnungsbühne bedeutet, müsste noch eingehend erforscht werden. Insbesondere
die tendenziell parteiische Haltung im Monodrama zugunsten einer grundsätzlichen
Allparteilichkeit (Clement nennt dies das Neutralitätsprinzip), die in einer Paartherapie zu
erwarten ist, würde die Psychotherapeutin bzw. den Psychotherapeuten vor eine große
Herausforderung stellen. Daher müsste sich wahrscheinlich schon in der ersten oder
den ersten Stunden entscheiden, welches Setting präferiert wird.
3.3. Grundüberlegungen zur Gestaltung der Begegnungsbühne bei der Arbeit mit
der sexuellen Rolle
3.3.1. Zur Haltung von Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern zum Themenfeld
Sexualität
Die Begegnungsbühne wird als Ort der Inszenierung der psychotherapeutischen
Beziehung verstanden. In diesem Kapitel wird daher zuerst der Fokus auf die
psychotherapeutische Haltung gelegt, denn auch Psychotherapeutinnen und therapeuten haben ein spezifisches erotisches Profil, das die Arbeit mit sexuellen
Themen beeinflusst. Im Psychodrama, verstanden als humanistische Therapieform,
macht sich
„der […] Psychotherapeut […] selektiv transparent, d.h. er ist spürbar als reale
Person, auch mit seinen Schwächen und Grenzen, aber gleichzeitig professionell
klar abgegrenzt“ (Eberwein, 2014, S.37).
Schacht und Pruckner betonen, dass die
„therapeutische Sicht […] immer eine persönliche [ist], wenn auch durch
Fachwissen und Erfahrung angereichert. Dies erfordert einen spielerischen
Umgang mit den eigenen Auffassungen im Bewusstsein des Als-ob, was nicht
63
heißt, eigene Ansichten bei jedem Widerspruch aufzugeben“ (Schacht &
Pruckner, 2010, S.243).
Daher ist es notwendig, eine Balance zu schaffen zwischen den eigenen persönlichen
Vor- und Einstellungen und der professionellen Haltung. Dies setzt voraus, dass
Psychotherapeutinnen und -therapeuten sich ausreichend mit ihrer eigenen Sexualität
und sexuellen Biographie auseinandergesetzt haben (vgl. Hofer, 1996, S.237).
Buddeberg zählt beispielhaft auf, dass jemand
„eigene
Einstellungen
zur
Selbstbefriedigung,
zum
oralen
Sex,
zur
Empfängnisverhütung, zu außerehelichen Beziehungen und anderen wichtigen
Fragen der Sexualität kennt“ (Buddeberg, 2005, S.64).
Aus meiner Sicht noch schwieriger ist es, die eigenen zugrundeliegenden Motive,
Bedeutungen und Werte zu reflektieren, nach denen sexuelle Handlungen bewertet
werden. Sie sind meist weniger deutlich zu fassen, prägen eher implizit die Sichtweise
auf Sexualität.
Hilfreich für die professionelle Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität ist
ein Bezugsrahmen. Zur Verfügung steht dafür zum Einen das Gesetz: Von Bedeutung
sind strafrechtliche und Jugendschutzbestimmungen sowie Gesetze, die dem
Diskriminierungsschutz dienen. Daneben gibt es auch Gesetze, die sich explizit auf den
Berufsstand der Psychotherapeutin bzw. des Psychotherapeuten beziehen. Die
wichtigste Bestimmung im Kontext dieser Masterthese ist diejenige, dass jegliche
sexuelle Handlung die psychotherapeutische Beziehung betreffend verboten ist (vgl.
Bundesministerium für Gesundheit).
Zum Anderen braucht es eine Art „Wertekatalog“, an dem man sich orientieren
kann. Ferdinand Buer befasst sich mit der psychodramatischen Ethik (Buer, 2004,
S.30ff.) und räumt ein, dass es die Entscheidung von Psychotherapeutinnen und
Psychotherapeuten ist, welche ethische Position sie vertreten:
„Ihre persönliche Moralität kann von einer privaten Weltanschauung geprägt sein,
aber auch von Religionen, denen sie angehören, therapeutischen Ansätzen, die
sie begeistern, oder philosophischen Überlegungen, die sie überzeugen. Auf
jeden Fall haben sie diese Position offen zu legen, nicht nur gegenüber ihrer
64
Profession und der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber ihren PatientInnen“
(Buer, 2004, S.52).
Für mich sind die in den folgenden Abschnitten vorgestellten Denk- und Wertsysteme
relevant und Grundlage vieler therapeutischer Überlegungen.
3.3.3.1. sexuelle und reproduktive Menschenrechte als Wertebasis
Kompatibel mit der humanistischen Weltanschauung, die Werte wie (Wahl)freiheit in
sozialer Verantwortung, Solidarität, Gerechtigkeitssinn, Pluralismus, Fürsorglichkeit und
Demokratie vertritt (vgl. Buer, 2004, S.45, Eberwein, 2014, S.29), sind für mich die
sexuellen und reproduktiven Menschenrechte, die sich aus der allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte (UNO, 1948) ableiten.
Diese wurden bei der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo erstmals
formuliert und von der IPPF11 1995 verabschiedet. Im Wesentlichen sind in dieser
Deklaration folgende Rechte verankert12: Personen haben das Recht, ihre persönliche
Sexualität auf die Art und Weise zu leben, wie es ihnen entspricht, so lange niemand
anderer ausgebeutet oder zu sexuellen Handlungen gezwungen wird. Sie haben das
Recht auf Gesundheitsversorgung (das schließt die Psychotherapie ein), auf Verhütung,
auf Informationen und auf den Schutz vor jeglicher Diskriminierung. Paare und Frauen
haben das Recht, zu entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder sie gebären wollen. In
Österreich wie auch in den meisten EU-Ländern schließt dies auch die Möglichkeit ein,
einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen.
11
Die IPPF (International Planned Parenthood Federation) ist ein Dachverband im Bereich der
Familienplanung, zu der NGOs in derzeit 172 Ländern gehören. In Österreich gehört die ÖGF
(Österreichische Gesellschaft für Familienplanung), in Deutschland z.B. Pro Familia zu den Mitgliedern.
Weitere Informationen: http://www.ippf.org/, www.oegf.at, http://www.profamilia.de/ (2015-08-05)
12
Genaue Informationen finden Sie in den von der IPPF herausgegebenen Erklärung der sexuellen
Rechte (IPPF, 2008, 2009).
65
3.3.3.2. Diversity-Ansatz
Als Diversity-Ansatz wird eine Strömung bezeichnet, die sich ursprünglich aus den
Diskursen der Frauen- und Homosexuellenbewegungen abIeitet und postuliert, dass
Menschen nie nur im jeweiligen Geschlecht, sondern auch in ihrem Alter, ihrer Herkunft,
ihren körperlichen Merkmalen, ihrem Bildungsgrad, etc. wahrgenommen werden (vgl.
Schigl, 2012, S.37ff.). Pruckner betont die Wichtigkeit dieser verschiedenen Aspekte für
die Arbeit auf der Begegnungsbühne und verweist auf Arbeiten von Knapp, Magrutsch
und Hutter (vgl. Schacht & Pruckner, 2010, S.244).
Im Monodrama kann dies in einer Haltung der Vielfalt von Psychotherapeutinnen
und -therapeuten auf der Begegnungsbühne zum Ausdruck kommen. Sinn davon ist
unter anderem, heteronorme Vorgaben und Geschlechtsstereotype aufzuweichen.
Brigitte Schigl äußert sich dazu folgendermaßen:
„Auch wenn Zusammenhänge mit der Geschlechterkonstellation in der Therapie
besprochen werden, sind solche Einordnungs- und Zuschreibungs-Prozesse
wahrscheinlich nicht auflösbar, da sie zutiefst identitäts- und kulturverankert sind.
Sie können aber gemeinsam angesprochen und metareflektiert werden und so
zum Therapieerfolg beitragen“ (Schigl, 2012, S.119).
Indem Psychotherapeutinnen und –therapeuten versuchen, verschiedene Lebensstile,
Geschlechtsidentitäten, Begehrens- und Familienformen in der Arbeit mit Klientinnen
und Klienten zu berücksichtigen, nehmen sie eine Haltung der Vielfalt, eine DiversityHaltung ein.
3.3.3.3. Neutralitätsprinzip
Die Psychodrama-Psychotherapie versteht sich als prozessorientiertes Verfahren. Dies
hat zur Konsequenz, dass Ambivalenzen in den Bedürfnissen der Klientinnen und
Klienten ausgehalten werden müssen und auch mögliche klare Zielformulierungen in
ihrer Mehrdeutigkeit überprüft werden sollten. Clement kritisiert an der klassischen
Sexualtherapie, dass implizit eine „gute“ Sexualität, die „funktioniert“, auch das Leitziel
von Sexualtherapeutinnen und –therapeuten darstellt. Mit anderen Worten soll der Sex
66
innerhalb einer Partnerschaft stattfinden, symmetrisch befriedigend, selbstbestimmt und
spontan sein. Dies entspricht der Pro-Sex-Norm in der Gesellschaft (vgl. Clement, 2011,
S.126ff.). Er plädiert daher für eine Neutralität gegenüber Veränderungswünschen der
Klientinnen und Klienten. Er nennt dies Neutralitätsprinzip13. Auch Hofer warnt davor,
„dass wir als Therapeuten […] in Versuchung geraten werden, perfekte Ziele in
der Sexualtherapie zu entwickeln. Zum Beispiel: […] meine Klientin muss
orgasmusfähig werden oder die Erektionsstörung muss sich beheben lassen,
meine Klienten müssen zufrieden sein“ (Hofer, 2013, S.85).
Nimmt man das Paradigma der Wahlfreiheit, ein wesentliches Kernelement der
humanistischen Therapien, hinzu, müssen auch scheinbar weniger „wünschenswerte“
Ziele, die implizit in den Problemschilderungen mitschwingen, bedacht werden. Diese
können beispielsweise lauten: letztlich keinen Sex haben zu wollen; ihn „hinzunehmen“,
wie er ist; Sex aus der Partnerschaft auszulagern; in keinen Ausverhandlungsprozess
mit der Partnerin oder dem Partner gelangen zu wollen; erotische Bedürfnisse
aufzugeben; etc.
Daher ist das Hauptziel der psychotherapeutischen Arbeit, Klientinnen und
Klienten darin zu unterstützen, Entscheidungen im Bewusstsein der Konsequenzen
treffen zu können. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit einer Entscheidung zur
Nichtveränderung.
3.3.3.4. Ressourcenorientierung
Entlang der Ressourcenorientierung der Psychodrama-Psychotherapie richtet sich die
Arbeit hauptsächlich auf das erotische Potenzial, sexuelle Phantasien und Wünsche
sowie auf die erotischen Fähigkeiten und die freie Wahl eines Menschen. Damit liegt
das Augenmerk auf der Exploration und Bewusstwerdung des individuellen erotischen
13
Der zweite Aspekt, derjenige der Personenneutralität, ist im Monodrama im Unterschied zu einer
Paartherapie nicht so streng zu sehen. Eine gewisse Parteilichkeit gegenüber den Anliegen der Klientin
bzw. des Klienten in einer Einzeltherapie gilt als wünschenswert.
67
Profils von Klientinnen und Klienten, um schließlich ein Verlassen von rigiden
Rollenkonserven
bzw.
eine
Erweiterung
des
erotischen
Rollenrepertoires
zu
ermöglichen.
3.3.2. gleichgeschlechtliche oder gegengeschlechtliche therapeutische Beziehung
Schigl (2012) hat sich ausführlich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle die
Geschlechtszugehörigkeit in psychotherapeutischen Prozessen spielt. Folgt man ihren
Ausführungen,
bevorzugen
Menschen
anscheinend
ein
gleichgeschlechtliches
Gegenüber, wenn es um sexuelle Probleme geht. Dies deckt sich mit meinen
Erfahrungen in der psychotherapeutischen Praxis. Zusätzlich lässt sich Folgendes
feststellen: Männer stellen sich eher auch mit einem explizit sexuellen Problem vor – sei
es, dass es sich um eine sexuelle Funktions- oder Appetenzstörung handelt, sei es,
dass es um den Umgang mit Erotik in der Partnerschaft geht. Frauen hingegen schildern
eher Paarbeziehungsprobleme, die die erotische Dimension aber einschließen.
Ob dies bei einer weiblichen Psychotherapeutin umgekehrt wäre, müsste noch
untersucht werden. Denn nach Schigls Beschreibung scheint es sich um eine
allgemeine Tendenz zu handeln. So schreibt sie:
„Klientinnen thematisieren zwar Beziehungsprobleme, Sexualität aber oft nicht
von sich aus; Klienten tun sich leichter, Sexualität anzusprechen; sie
bagatellisieren eher problematische Aspekte von Beziehungen“ (Schigl, 2012,
S.109).
Sexualität ist durch geschlechtsspezifische Normierungen bei Männern und Frauen auf
unterschiedliche
Weise
tabuisiert.
Dies
wirkt
sich
besonders
stark
im
gegengeschlechtlichen Kontext aus: Für männliche Psychotherapeuten ist in der
gegengeschlechtlichen Dyade das Sprechen über körpernahe Themen wie das
Feuchtwerden der Scheide oder über Selbstbefriedigung schwieriger. Daher habe ich
aus Rücksichtnahme auf Schamgefühle Interventionen, die die körperliche erotische
Lust betreffen oder einen Rollenwechsel in Vulva oder Vagina bisher nicht durchgeführt.
Interventionen, die die psychischen, sozialen und transzendenten Anteile der sexuellen
68
Rolle, in denen es um Wünsche, Vorstellungen, Bedeutungen, Identitätsaspekte und vor
allem um die Einbettung der Erotik in Beziehungen geht, funktionieren hingegen gut.
Bei Männern sind vor allem das Nachlassen der erotischen Potenz sowie ein
vorzeitiger Samenerguss mit viel Scham verbunden; widerspricht dies doch der
heteronormen Vorstellung und häufigen Selbstzuschreibung, ein Mann müsse immer
wollen und vor allem „können“. Mit Männern in der gleichgeschlechtlichen Dyade sind
körperbetonte Interventionen, das Thematisieren von sexuellen Praktiken und
Techniken oder auch der Rollenwechsel in den Penis selbstverständlicher möglich.
Sowohl Klient als auch Psychotherapeut sind scheinbar weniger befangen (vgl. Schigl,
2012, S.112, S.148).
3.3.3. Das Etablieren einer geeigneten Sprache
Sexuelle Handlungen sind in erster Linie auf den Körper bezogene Handlungen. Im
sexuellen Kontext wird über Mimik und Gestik ebenso ausverhandelt wie über
körperliche Annäherung oder Distanzierung. Diese „Körpersprache“ stellt für viele
Menschen eine hohe Kompetenz dar, von der ein besonderer Reiz ausgeht. Beim Flirten
zum Beispiel ist oft das, was „nur mit den Augen gesagt wird“ bedeutsamer als das, was
mit Worten ausgedrückt wird.
Während also das Ausdrücken und Decodieren der „Körpersprache“ in erotischen
Situationen eine hohe Kompetenz darstellt, wird es schwierig, wenn eine adäquate
Sprachfähigkeit nötig ist: Worte werden zum Beispiel gebraucht, um Bedürfnisse,
Phantasien
und
Wünsche
anzusprechen
sowie
um
Missverständnisse
und
Schwierigkeiten auszuräumen. Nicht zuletzt brauchen wir in der psychotherapeutischen
Arbeit eine Sprache. Leider haben jahrhundertelange Tabuisierungen dazu beigetragen,
dass kaum geeignetes Vokabular zur Verfügung steht. Zur Auswahl stehen (vgl.
Buddeberg, 2005, S.58ff.):
a) eine Fachsprache, die nüchtern, distanziert, medizinisch und teilweise
unverständlich ist – man denke an Wörter wie Penis, Vulva, Klitoris,
Geschlechtsverkehr, Koitus, Lubrikation, Erektion, Ejakulation
69
b) eine lieblich-blumig-verschleiernde Sprache: miteinander ins Bett gehen,
miteinander
schlafen,
Liebe
machen;
entsprechende
Wörter
für
Geschlechtsorgane wirken heute eher skurril: z.B. Luststab, das beste Stück, das
Schmuckkästchen, der Schmetterling
c) eine mehr oder weniger vulgäre Sprache: ficken, vögeln, bumsen,
schnackseln, budern, blasen, lecken oder Schwanz, Muschi, Fotze, Beidl
d) eine Kindersprache: z.B. „Spatzi“. Für die weiblichen Geschlechtsorgane
stehen keine allgemein verständlichen Begriffe zur Verfügung, sie werden fast
ausschließlich nur innerhalb einer Familie verwendet.
e) die Alltagssprache, eine Sprache, die auf Neutralität und Verständlichkeit
abzielt (vgl. Buddeberg, 2005, S.60): hierbei werden Begriffe wie die Pille, Regel,
Hintern, Popo, etc. verwendet. Ausdrücke für Geschlechtsorgane oder Sex sind
dagegen rar. Am ehesten können noch Scheide, Glied, Penis und „Sex haben“
verwendet werden.
Aus meiner Sicht fungieren hier Psychotherapeutinnen und -therapeuten vorwiegend als
Rollenvorbilder. Hilfreich ist eine Mischung aus Wörtern der Fach-, der Alltags- und der
lieblich-blumig-verschleiernden Sprache, während Ausdrücke aus der Vulgärsprache nur
besonderen Szenen, wo die Sprache eine bestimmte Atmosphäre ausdrückt,
vorbehalten sein sollte.
Claus Buddeberg betont, dass eine sprachliche Flexibilität für die Sexualberatung
(und in logischer Konsequenz für die Psychotherapie) eine der wichtigsten
Voraussetzungen für eine gelingende Bearbeitung sexueller Themen ist (vgl. ibid.,
S.60). Eine sprachliche Flexibilität drückt sich allerdings nicht nur in der Fähigkeit aus,
verschiedene Sprachniveaus verwenden zu können. Eine sexualitätsbezogene Sprache
kann potenziell enttabuisieren, aber auch potenziell Grenzen überschreiten. Daher hat
sie eine Enttabuisierung unter Berücksichtigung von Scham- und Intimitätsgrenzen zum
Ziel. Sie achtet auf eine sprachliche Abstimmung in der psychotherapeutischen
Beziehung, berücksichtigt die sprachlichen Fähigkeiten sowie die Lage der Klientinnen
und Klienten und ist situationsabhängig. Nicht zuletzt drücken sich in der Sprache auch
70
die Haltung zu Sexualität und der individuelle Stil der Psychotherapeutin bzw. des
Psychotherapeuten aus.
Ich vermute, dass das Fehlen einer passenden Sprache einer der Hauptgründe
ist, warum Menschen in psychotherapeutischen Kontexten sexuelle Themen umgehen.
Daher ist es auch verständlich, dass
„die überwiegende Zahl der PatientInnen, die sexuelle Schwierigkeiten haben,
[…] ÄrztInnen [und PsychotherapeutInnen, Anm. d. Verf.] jedoch wegen anderer
mehr oder weniger schwer wiegender Krankheiten [aufsuchen]. Sie erwähnen in
ihren Beschwerdeschilderungen ihre sexuellen Probleme nicht. Hier muss die
Initiative
zu
Fragen
nach
der
Sexualität
von
den
ÄrztInnen
[und
PsychotherapeutInnen, Anm. d. Verf.] ergriffen werden“ (ibid., S.68).
„Darüber in einer angenehmen Atmosphäre reden können“ ist das häufigste positive
Feedback von Jugendlichen im sexualpädagogischen Kontext. Ich bin davon überzeugt,
dass dies auch für die psychotherapeutische Arbeit zutrifft.
Wie mit Sprache umgegangen werden kann, soll anhand einiger Fallbeispiele
illustriert werden. Da die Verwendung der Sprache im Wesentlichen für alle gilt, wird auf
eine genaue Falldarstellung noch verzichtet. Alle Fälle werden im Kapitel 3.4. näher
beschrieben.
3.3.3.1. Fragen nach einer Partnerschaft unter Berücksichtigung möglicher nichtheterosexueller Begehrensformen
Üblicherweise sind im psychotherapeutischen Erstgespräch Fragen nach einer
Partnerschaft die ersten, die die sexuelle Rolle berühren. Genau genommen berühren
sie vor allem den Beziehungs- und den Identitätsaspekt der sexuellen Rolle (vgl. Kap.
2.1.2.). Fragen nach einer Partnerschaft sollten möglichst offen formuliert werden. Dies
wäre beispielsweise möglich, indem man sich möglichst neutral nach einer Beziehung
erkundigt, in etwa: „Leben Sie derzeit in einer Partnerschaft?“ Das Offenbaren einer
nicht-heterosexuellen Partnerschaft ist aber regelmäßig mit Scham oder Angst vor
Ablehnung verbunden. Eine Konkretisierung wirkt hier schwellenerniedrigend. Dies
bedeutet beispielsweise, so lange aktiv von „Freundin oder Freund“ zu sprechen, bis die
71
Klientin bzw. der Klient dies korrigiert. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass
heterosexuelle Klientinnen und Klienten irritiert reagiert hätten. Nicht-heterosexuelle
wissen aber das aktive Mitbedenken verschiedener Lebensstile zu schätzen. Auch
erleichtert dies für Manche, eine Ambivalenz in der sexuellen Partnerorientierung
ausdrücken zu können.
Fallbeispiel Martina W.:
Als ich Frau Martina W. danach frage, ob sie mit einer Frau oder mit einem Mann
zusammen ist, ruft sie:
„Genau das ist das Problem. Ich lebe zwar schon zwei Jahre mit meinem Freund
zusammen, aber ich grüble ständig, ob ich nicht auch an Frauen interessiert sein
könnte. (…)“
3.3.3.2. Unterstützung der Klientinnen und Klienten bei der Entwicklung einer adäquaten
sexualitätsbezogenen Sprache durch Konkretisierung
Welches Sprachniveau verwendet wird, bestimmen Klientinnen und Klienten sowie
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gemeinsam und ist abhängig von
individuellen Vorlieben, vom Stand des therapeutischen Prozesses und nicht zuletzt von
den auf der Begegnungsbühne mittransportierten Gefühlen. Am Beginn einer
Psychotherapie bin ich immer um eine möglichst neutrale Sprache bemüht, die
verständlich und angenehm ist. Haben Klientinnen und Klienten Schwierigkeiten,
passende Wörter zu finden, biete ich meine Unterstützung an.
Fallbeispiel Michael N.:
Herr Michael N. kommt wegen Erektionsstörungen in Psychotherapie. Sexualität ist
damit bereits beim Erstgespräch Thema. Auf der Begegnungsbühne ist spürbar, dass
das offene Ansprechen von sexuellen Inhalten schambesetzt ist. Daher benötigt er
meine Hilfe, die ich ihm wie folgt anbiete:
CH: „Vielen Menschen fällt es schwer, über Sexualität zu sprechen. Aber das
bekommen wir schon hin. Ich werde Sie dabei unterstützen.“
72
Fehlende Wörter werden von mir zur Verfügung gestellt. Dabei gilt eine Konkretisierung
als entlastend (vgl. Clement, 2012). Zum Beispiel meint der Klient:
MN: „Wir versuchen etwa drei bis vier Mal pro Woche Sex zu haben, aber es
klappt nicht.“
CH: „Meinen Sie damit Vaginalsex, der nicht klappt?“
MN nickt.
CH: „Und mit ´Nicht-Klappen´ meinen Sie, dass Sie Ihre Erektion verlieren?“
MN: „Ja.“
Mit der darauffolgenden Frage ziele ich auf die erotischen Fähigkeiten des Klienten ab:
CH: „Aber es gibt ja nicht nur Vaginalsex, sondern auch andere sexuelle
Spielarten wie Oralsex oder Streicheln von Penis und Scheide14. Klappt es da?“
MN: „Ja, da hab ich gar kein Problem.“
Eine immer konkretere und auch für den Klienten selbstverständlichere Exploration
gelingt.
3.3.3.3. Konkretisierungen unter Berücksichtigung von Intimitätsgrenzen
Wie konkret nach Sexualität gefragt wird, kann auch abhängig davon sein, in welcher
Beziehungsphase die Klientin bzw. der Klient ist. Manchmal bietet sich eher an, auf
einer Ebene zu sprechen, die möglichst vage ist und der Klientin bzw. dem Klienten die
Möglichkeit einer Grenzziehung erleichtert. Dies soll auch meinen Respektabstand zum
Ausdruck bringen.
Fallbeispiel Maria F.:
Frau Maria F. ist bereits seit einiger Zeit bei mir in Psychotherapie. Derzeit kristallisiert
sich ein Arbeitskollege als möglicher Partner heraus, die Klientin ist aber noch
ambivalent, ob er für sie ernsthaft passen könnte. Es folgt ein wörtlicher Dialog zwischen
der Klientin und mir:
14
Ich wähle bewusst nicht-penetrative sexuelle Praktiken, weil die Relevanz einer Erektion dabei geringer
und für die Hypothesenbildung wichtig ist, ob eine Erektion überhaupt stattfindet.
73
MF: „Ich weiß noch nicht, wohin das führt, und ob ich ihn wirklich will.“
CH: „Ja, das weiß ich auch nicht, aber können Sie sich vorstellen, den Mann zum
Beispiel zu küssen?“
Ich verwende in solchen Fällen immer „Küssen“, weil dies meistens der nächste
mögliche Schritt wäre und weil damit kaum eine Grenzverletzung stattfindet, dennoch
aber die erotische Rolle angesprochen wird.
MF: „Ja, das schon. Aber ob ich mehr will?“
CH: „Dürfen Sie sich Zeit nehmen, das herauszufinden?“
(…)
In der folgenden Sitzung erkundige ich mich nach dem Stand des Kennenlernens und
verwende dabei wieder das Wort „Küssen“.
MF: „Ich weiß, ich bin jetzt neugierig. Aber darf ich fragen, ob es zum Kuss
gekommen ist?“
Mit diesem Satz soll die Zugangsberechtigung zur Intimität ausgehandelt werden.
MF grinst: „Ja, mehr als das.“
CH: „Und darf ich fragen, ob es sich gut für Sie angefühlt hat?“
MF: „Ja, sehr sogar.“
Auf der Begegnungsbühne sind die Freude und die Aufregung der Klientin sehr stark zu
spüren. Da davon ausgegangen werden kann, dass hier ohnedies eine hohe
Spontanitätslage vorhanden ist, ist ein weiteres Nachfragen nach sexuellen Handlungen
nicht ratsam und würde eher einem Eindringen in die Intimsphäre der Klientin
entsprechen.
3.3.3.4. Die sprachliche Abstimmung in der psychotherapeutischen Beziehung
Eine grundsätzliche Frage soll noch aufgeworfen werden: Sollen die sexuellen
Ausdrücke
der
Klienten
und
Klientinnen
übernommen
werden
oder
sollen
Psychotherapeutinnen und –therapeuten bei ihren Wörtern bleiben. Aus meiner Sicht gilt
es hier zwischen der Arbeit auf der Begegnungsbühne und der Arbeit auf der SpielAktionsbühne zu differenzieren. Auf der Begegnungsbühne dürfen beide Seiten ihre
Wörter, die für sie authentisch sind, verwenden, solange beide einander verstehen. Dies
74
kann beispielsweise mit der Arbeit mit Menschen, die in Mundart sprechen, verglichen
werden. Ausnahmen mache ich dann, wenn mit einem Wort eine bestimmte Atmosphäre
ausgedrückt wird. Dazu folgendes Beispiel:
Fallbeispiel David K.:
Der Klient konsumiert Pornofilme und ist sich nicht sicher, ob das moralisch in Ordnung
ist. Er sagt Folgendes:
DK: „Dann schau ich mir Pornos an und dann zupf ich halt ein bisschen an mir
rum.“
CH: „Am Rumzupfen ist gar nichts auszusetzen, oder?“
Das Wort „Rumzupfen“ kann als Spielangebot betrachtet werden. Es bagatellisiert die
Handlung und macht sie für den Klienten moralisch leichter erträglich. Daher bleibe auch
ich bei diesem Wort.
Auf der Spiel-Aktionsbühne verwende ich in der Regel die Ausdrücke der
Klientinnen und Klienten. Das gilt vor allem für die psychodramatische Technik des
Doppelns.
3.4. Erstkontakt und Erstgespräch
3.4.1. Unterschiedliche Medien der Kontaktaufnahme
Mehrheitlich kommen Klientinnen und Klienten über Empfehlung in die Praxis, zum Teil
auch über meine Homepage. Auf dieser scheint Sexualität als ein Arbeitsschwerpunkt
auf. Daraus erklärt sich vermutlich, dass relativ viele Klientinnen und Klienten, die über
sexuelle Probleme klagen, den Weg zu mir finden.
Der Erstkontakt selbst findet entweder über E-Mail oder ein Telefonat statt.
Besonders bei der Kontaktaufnahme über E-Mail hat der vermeintliche Schutz des
Mediums eine hohe Bedeutung. Einige sind sofort bereit, sexuelle Probleme
ausführlicher
anzusprechen.
Zusätzlich
werden
auch
Informationen
über
die
Erwartungshaltung an mich auf der Begegnungsbühne geäußert bzw. liefern E-Mails
manchmal erste Hinweise für meine Gestaltung der therapeutischen Rolle.
75
Fallbeispiel Michael N.:
Neben Name und Alter (26) werden in dieser Anfrage die Problemstellung, der
Beziehungsstatus und die ersten Bewältigungsstrategien benannt:
„Ich habe seit einiger Zeit Erektionsprobleme, das Thema ist zwischen mir und
meiner Freundin keinesfalls ein Tabu. […] Ein Urologe meinte, ich solle es
einfach mit Viagra oder Cialis versuchen. […] Die Medikamente hatten bei mir
aber eher einen negativen als vereinfachenden Effekt. Ein weiterer Versuch war
eine Cranio-Sakral-Therapie, welche ich aber (vielleicht zu schnell) wieder
aufgegeben habe.“
Daraus lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen: Ein Urologe wurde bereits
aufgesucht. Es ist anzunehmen (und beim Erstgespräch zu erfragen), dass keine
organischen Ursachen die Erektionsstörungen (mit)verursachen sowie, dass Therapien,
die hauptsächlich den somatischen Anteil der erotischen Rolle in den Fokus nehmen,
bisher nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.
Fallbeispiel David K.:
Der Klient stellt in seinem E-Mail in den Vordergrund, dass er unter beruflichem Stress
leidet und sich zunehmend durch Phobien „(hier das Stichwort Ihrer Praxis: Aidsphobie)“
beeinträchtigt fühlt.
In diesem Fall liegt der Schwerpunkt der Problemschilderung im Bereich Phobie,
nicht Sexualität. Der Begriff „AIDS-Phobie“ liefert allerdings den Hinweis, dass das
Sexualleben beeinflusst sein könnte.15
15
Diese Hypothese gilt es zu überprüfen. In einem aktuellen Fall zeigt sich die AIDS-Phobie nicht im
sexuellen Erleben mit der Partnerin, sondern als Angst vor Ansteckung durch Blut, welches auf Zigaretten,
auf Gläsern, auf der Toilette oder sonst irgendwo sein könnte. Der Klient zeigt daher auch völlig andere
Vermeidungsstrategien: Beispielsweise muss er darauf achten, dass sein Badetuch nicht die Klobrille
neben seiner Dusche berührt, bevor er sich im Intimbereich abtrocknet. Das Glas Wasser, das ich ihm
anbiete, blieb bisher unberührt.
76
Fallbeispiel Julian A.:
In diesem Fall stellte der Vater des Klienten den Erstkontakt für eine mögliche
Psychotherapie her, ohne ein Anliegen des Sohnes zu nennen. Da ich vermutete, dass
es sich um ein Kind handelt, fragte ich nach, wie alt der Sohn sei und mit welchem
Anliegen er zu mir kommen wolle, worauf der Vater antwortete:
„[…] Mein Sohn wird demnächst 18 Jahre alt. Daher möchte ich nicht meine
Gedanken zu seinen Problemen äußern. Falls das aber von Bedeutung sein
sollte, würde ich dies schon tun.“
Wichtige Informationen sind in diesem E-Mail enthalten. Der Sohn benötigt noch
Unterstützung durch einen Erwachsenen. Sein Vater scheint eine wesentliche
Vertrauensperson zu sein, der offenbar auch eine Sensibilität für die Privatsphäre des
Sohnes hat. Für mich bedeutet das, meine therapeutische Rolle so anzulegen, dass sie
unterstützend, aber auch selbstermächtigend ist. Da „die Gewissheit der Autorschaft
eigener Handlungen“ (Burmeister, 2004, S.86) für Menschen im Psychodrama eine
wesentliche basale Rollenkompetenz darstellt, war es mir ein Anliegen, den Sohn zu
ermutigen, sich selbst bei mir zu melden. Dieser schildert etwa zwei Monate später per
E-Mail sein Problem folgendermaßen:
„Ich habe seit 5 Monaten eine Freundin und am Anfang war im Bett alles in
Ordnung. Doch als meine Oma starb, ging es bei mir einfach nicht mehr. Ich habe
keine Erektion mehr bekommen. Ich war danach mehrmals beim Urologen und er
meint, es ist ein psychisches Problem und er gibt mir 1 Viagra Tablette. Danach
war wieder alles gut bis vor 2 Wochen. Es war genau gleich, und mein Papa
meint, dass es nicht an meiner Oma gelegen hat, sondern weil meine Freundin
sehr sehr reich ist und mir das unangenehm war, weil ich sie als "was Besseres"
empfand. Ich bin 18 Jahre und sehr sportlich, trinke nicht oft Alkohol und ernähre
mich gut.“
Dieses E-Mail enthält einen weiteren Hinweis auf die Art der Vater-Sohn-Beziehung:
Bringt der Sohn seine Erektionsstörungen mit dem Tod der Großmutter in
Zusammenhang, so hinterfragt der Vater die Liebesbeziehung des Sohnes. Das
77
bedeutet für mich, eine vermutlich vaterähnliche Position einnehmen zu müssen und
den Klienten dabei zu unterstützen, sich ein wenig zu emanzipieren.
Im Unterschied zu E-Mails kann bei einem Telefonat nicht ohne weiteres davon
ausgegangen werden, dass die Privatsphäre der Klientin bzw. des Klienten in ähnlichem
Ausmaß geschützt ist. Es ist möglich, dass mein Rückruf zu einem für die Klientinnen
und Klienten ungünstigen Zeitpunkt erfolgt. Daher frage ich immer erst nach, ob der
Zeitpunkt für ein kurzes Telefonat günstig ist, um danach eine „Überschrift“ für das
Anliegen zu erbitten. Mit diesem ersten Auftrag gehen Menschen sehr unterschiedlich
um und geben damit erste Hinweise auf die Gestaltung der Begegnungsbühne: Erhalte
ich auf Anfrage Sätze wie: „Es geht um Sexualität“ oder noch verschleiernder: „Es geht
darum, was auf Ihrer Homepage steht“, liefert dies möglicherweise Hinweise, dass das
Thema „Sexualität“ eher tabuisiert ist. Andere Klientinnen und Klienten schütten ihr Herz
aus und wollen das Telefonat als erste Entlastung ihrer Problemlage nützen.16
3.4.2. Anliegen rund um Sexualität als Vorstellungsgrund
Auf Grundlage des Erstkontakts gestalte ich das Erstgespräch unterschiedlich, je
nachdem, ob und wie sexuelle Anliegen bereits beim Erstkontakt zur Sprache kamen.
Insbesondere die Frage, ob und wann eine Sexualanamnese sinnvoll ist, ist für mich von
Belang. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich die Fallbeispiele entlang der
Problemdarstellungen in verschiedene Gruppen einteilen.
3.4.1.1. Sexuelle Funktionsstörungen
Die erste Gruppe umfasst Klienten – ausschließlich Männer – die über sexuelle
Funktionsstörungen klagen. Sie sind nach dem ICD-10 in der Gruppe F52 (sexuelle
Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit) zu
diagnostizieren.
16
Aufgrund Erfahrungen in der Telefonberatung rufe ich immer zu einem Zeitpunkt zurück, zu dem ich
ungestört telefonieren und ausreichend Zeit zur Verfügung stellen kann. Ein Telefonat bietet bereits die
erste Chance für einen Beziehungs- und Vertrauensaufbau.
78
Bei diesen Klienten ist eine Sexualanamnese beim Vorstellungsgespräch sinnvoll und
auch einfach durchzuführen, weil dies für sie von vorrangigem Interesse ist. Auf der
Begegnungsbühne wird mir in der Regel zuerst die Rolle des Experten zugeschrieben.
Diese Rolle hat für beide den Vorteil einer gewissen Distanz. Distanz kann gerade zu
Anfang einer psychotherapeutischen Beziehung einen guten Schutz bei sexuellen
Themen bieten. Zusätzlich blitzen meist noch andere Beziehungsangebote auf, die ich
in den einzelnen Fallbeschreibungen darstellen möchte.
Bei der Sexualanamnese gilt es unter anderem zu explorieren, ob die
Funktionsstörung primär vorhanden war oder sekundär entstanden ist, sich auf
bestimmte Situationen bezieht oder situationsunabhängig besteht, sich nur mit der
Partnerin bzw. dem Partner aktualisiert oder partnerunabhängig ist (vgl. Hanel, 2003,
S.8). Das wesentliche Kriterium ist aber der Leidensdruck. Es gibt gar nicht wenige
Menschen,
die
Symptome
beschreiben, die
einer sexuellen
Funktionsstörung
entsprechen, sich jedoch keineswegs in ihrer sexuellen Zufriedenheit beeinträchtigt
fühlen (vgl. Buddeberg, 2005, S.67).
Es darf nicht vergessen werden, dass es möglicherweise eine organische
(Mit)ursache gibt! Dies gilt es, abklären zu lassen. In den meisten Fällen wurde aber
bereits eine körperliche Untersuchung durch eine Ärztin oder einen Arzt durchgeführt.
Folgende Fälle habe ich ausgewählt:
Fallbeispiel Marco R.:
Herr Marco R. (34) kommt mit folgendem Anliegen in meine Praxis: Er leidet darunter,
nicht mit einem Partner zum Orgasmus kommen zu können, während dies bei der
Selbstbefriedigung leicht möglich ist. Derzeit lebt er als Single und würde dies gerne vor
einer eventuellen neuen Beziehung durcharbeiten. Er definiert sich als ausschließlich
gleichgeschlechtlich empfindend, grenzt sich aber deutlich von der schwulen Szene ab:
„Sie wollen nur Sex. Es ist schwer jemanden für eine Partnerschaft zu finden.“
Besonders auffällig ist die Selbstbeschreibung als guter Liebhaber, der gerne die
Wünsche des Gegenübers erfüllt, sowie sein Mangel an Zorn auf den Ex-Partner,
dessen Trennungsgrund („die Liebe verfliegt“) für ihn nachvollziehbar war, und er daher
mit großem Verständnis reagierte.
79
Auf der Begegnungsbühne erlebe ich den Klienten als sehr überlegt und bemüht,
politisch korrekt zu sein sowie niemandem gegenüber Aggressionen zuzulassen. Er
erscheint mir sehr kompetent darin, sich in das Gegenüber einzufühlen. Das wirft aber
die Frage der Achtsamkeit für eigene Wünsche und Bedürfnisse auf, die er vermutlich
bei der Selbstbefriedigung in der Phantasie ausleben kann. Das Vorurteil gegenüber der
schwulen Szene lässt zumindest die Idee zu, dass hier eine internalisierte Homophobie
eine Rolle spielen könnte.
Fallbeispiel Michael N.:
Der Klient hat mir bereits per E-Mail von seinen Erektionsproblemen berichtet. Nach
Fragen zu seiner derzeitigen beruflichen und privaten Lebenssituation schildert er die
Entwicklung seiner Erektionsstörung folgendermaßen:
„Zu Beginn des Studiums bin ich häufig mit dem Rad gefahren. Das hat zu einem
Taubheitsgefühl meines Penis geführt. Ab da fühlte sich Selbstbefriedigung
komisch an.“
Er beschreibt sich Frauen gegenüber als schüchtern, hat vor seiner jetzigen Freundin
noch keine Erfahrungen mit Vaginalverkehr gesammelt und meint, „mir fehlt die
Erregung von innen“. Trotz der Beteuerung, dass diese Problematik kein Tabu in der
Partnerschaft darstellt, erwähnt er einen bemerkenswerten Satz seiner Freundin:
„Vielleicht brauchst du eine andere Frau?“ Ich gehe davon aus, dass dies implizit den
Erfolgsdruck erhöht. Das könnte ein Grund dafür sein, dass sie etwa vier Mal pro Woche
versuchen, Vaginalsex miteinander zu haben.
Auf der Begegnungsbühne fällt auf, dass es ihm sichtlich Mühe bereitet, über
seine Sexualität zu sprechen. Viel Scham ist spürbar, die mich dazu auffordert,
vorsichtig und langsam vorzugehen und ihn bei der Wortfindung zu unterstützen.
Außerdem gilt es, die Lust in den Vordergrund zu rücken (bzw. sie zu finden). Wichtig
für die Therapieplanung ist der Umstand, dass diese Erektionsstörung eine primäre
Störung ist, korrigierende Erfahrungen erstmalige Erfahrungen wären.
80
Fallbeispiel Julian A.:
Auch Herr Julian A. spricht von Erektionsstörungen, jedoch schildert er die Problematik
völlig anders: Er ist mit seiner Freundin seit fünf Monaten zusammen. Unter dem
Einfluss des Todes seiner Großmutter entwickelte er Erektionsschwierigkeiten, die nur
kurzfristig von seiner Freundin toleriert wurden. „Sie hat dann bald sauer reagiert.“ Die
Problemschilderung kreist bald auch darum, dass er große Angst vor seinem Versagen
(„Schlappmachen“) hat und formuliert als Therapieziel, mehr Selbstvertrauen zu
gewinnen und die Angst, „dass die Beziehung kaputt geht“, zu überwinden.
Auf der Begegnungsbühne begegnet mir ein sehr junger Mann, der gerade seine
ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Partnerin sammelt, die selbst noch kaum
Erfahrungen hat. Daher wird in mir vor allem eine wohlwollend unterstützende Rolle
aktiviert, die mich an meine Rolle als großer Bruder erinnert. Beruflich erinnert sie mich
an eine vielfach eingenommene: als Sexualberater bei „Herzklopfen“17. Für die
Therapieplanung ist außerdem von Bedeutung, dass die Erektionsstörung erst sekundär
und nur fallweise auftaucht.
Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen, beispielsweise einem nicht-organischen
Vaginismus,
mangelnder
Feuchtigkeit
der
Scheide
oder
Schmerzen
beim
Vaginalverkehr, haben bisher den Weg zu mir nicht gefunden. Der Hauptgrund wird
wahrscheinlich darin liegen, dass Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen eher
Psychotherapeutinnen wählen. Nur im Kontext einer Paartherapie konnte ich auch mit
einer Frau, die unter einer Luststörung litt, zusammenarbeiten.
3.4.1.2. psychische und körperliche Erkrankungen, die das Sexualleben beeinflussen
Die zweite Gruppe von Fallgeschichten umfasst solche, deren Krankheiten und
Probleme einen negativen Einfluss auf das Sexualleben haben, nicht aber das
17
Die Online- und Telefonberatungsstelle „Herzklopfen“ bietet Beratungen zu sexuellen Themen für
Jugendliche und junge Erwachsene an.
81
Sexualleben primär Störungen aufweist. Eine ähnlich ausführliche Sexualanamnese wie
in der ersten Klientengruppe ist daher meist nicht nötig.
Psychische und physische Erkrankungen können immer wieder Auswirkungen
auf das Sexualleben haben. Häufig sind sexuelle Probleme inklusive sexueller
Funktionsstörungen Begleiterscheinungen depressiver Symptomatik (vgl. Fürst & Krall,
2012, S.30). Clement weist darauf hin, dass einer Studie zufolge, bei der USamerikanische Männer beforscht wurden, 42% ein reduziertes, 9% hingegen ein
gesteigertes sexuelles Interesse zeigen (vgl. Bancroft et al. zit. nach Clement, 2011,
S.49). Für Männer, die unter Angst/ Stress leiden, sind die Ergebnisse noch
beeindruckender: „Die entsprechenden Zahlen lagen bei 28% und 21%“ (ibid.). Es
scheint so, als ob gelebte Sexualität oft eine Kompensationsfunktion übernimmt (vgl.
Kap. 2.1.2.5.). Clement spricht in diesen Fällen vom „Begehren aus der Leere“ (ibid.).
Sexuelle Symptome weisen manchmal auch erst auf zugrundeliegende
psychische Erkrankungen hin, wie Buddeberg anmerkt (Buddeberg, 2005, S.42). Seiner
Meinung nach besonders schwierig zu erkennen
„sind
Persönlichkeitsstörungen,
die
sich
bei
Erwachsenen
der
Durchschnittsbevölkerung in einer Häufigkeit von 10% (Punktprävalenz in
repräsentativen Studien) finden“ (ibid.).
An dieser Stelle sei auf den Artikel von Hintermeier verwiesen, der sich mit den
sexuellen
Besonderheiten
und
Schwierigkeiten
von
Menschen
mit
Persönlichkeitsstörungen auseinandersetzt (Hintermeier, 2012, S.71ff.).
Dass Psychopharmaka sowohl die sexuelle Appetenz als auch die sexuelle
Erregungsfähigkeit negativ beeinflussen können, ist hinlänglich bekannt (vgl. Egger zit.
nach
Fürst
&
Krall,
2012,
S.30).
Aber
auch
andere
Medikamente
wie
Bluthochdruckmittel – oder für diese Arbeit besonders interessant – hormonelle
Verhütungsmittel können einen lustmindernden Effekt haben. Dass Schmerzen,
(chronische) körperliche Erkrankungen, Operationen im Genitalbereich, etc. sich auf die
Sexualität auswirken können, ist einleuchtend und verlangt eine gute Kooperation mit
Ärztinnen und Ärzten.
82
In dieser Masterthese wird nur auf eine körperliche Erkrankung eingegangen, nämlich
auf die HIV-Infektion. Das Besondere bei HIV-Infizierten liegt darin, dass körperliche
Symptome praktisch nicht vorkommen, solange die manifeste Erkrankung AIDS nicht
ausgebrochen ist. Auf die gelebte Sexualität hingegen hat diese Infektion immer
Auswirkungen, nicht zuletzt durch große Ängste in der Gesellschaft.
Fallbeispiel Daniel H.:
Herr Daniel H. (31) befindet sich in einer Krisensituation. Vor drei Wochen wurde eine
HIV-Infektion
bekannt,
die
verschiedenartige
Ängste
auslöst:
Zukunfts-
und
Existenzängste, die auf früheren Panikattacken aufsitzen. In Bezug auf Sexualität
überschattet diese Diagnose eine Beziehungsanbahnung mit einem jüngeren Mann und
wirft Fragen zur Lebbarkeit von Sexualität auf. Die eigene Sexualität ist auch beeinflusst
von
Schwierigkeiten,
zu
einem
Orgasmus
zu
kommen,
gelegentlichen
Erektionsproblemen sowie „selbstzerstörerische Tendenzen, die sich in einer Suche
nach
Kicks
zeigen“.
Sexualanamnestisch
berichtet
er
von
früher
starkem
Pornographiekonsum, wobei immer härteres Material zur Lustgewinnung eingesetzt
werden musste.
Auf der Begegnungsbühne erlebe ich einen stark von Ängsten und Zweifeln
geschüttelten Mann, der sich in einer heftigen Krise befindet, die sein gesamtes Leben
zu verändern droht. Dies aktiviert in mir eine komplementäre Rolle: Überlegt, ruhig,
strukturierend, Halt gebend. Es ist vorerst ein „Krisenmanagement“ angesagt. Daher bin
ich in erster Linie dazu aufgefordert, mit ihm stark ressourcenorientiert zu arbeiten und
diejenigen Personen aus seinem sozialen Atom zu identifizieren, die ihn momentan am
meisten unterstützen können.
Wie stark die gesellschaftlichen Ängste das Individuum beeinflussen können,
zeigt folgendes Beispiel:
Fallbeispiel David K.:
Herr David K. (29) entwickelte eine AIDS-Phobie nach einem sexuellen Kontakt mit
einer legalen Sexarbeiterin. Obwohl er ein Kondom verwendete, kreisen in ihm
Gedanken, sich mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen angesteckt zu
83
haben. Wiederholte HIV-Virus- und Antikörpertests18 ebenso wie Abstriche aus der
Harnröhre ergaben keinerlei Nachweis für Infektionen. Dennoch leidet er unter
gelegentlichem Jucken und ähnlicher unspezifischer Symptome im Genitalbereich, die
seine Ängste auslösen und ihn veranlassen, regelmäßig Urologen, Dermatologen und
andere medizinische Experten aufzusuchen. Eine Trennung von der Partnerin war die
Folge seines „Abenteuers“. Mit dieser gibt es nun wieder eine Annäherung, wobei er
Sex aus Sorge sie anzustecken, tendenziell meidet und wenig Genuss dabei erlebt.
Auf der Begegnungsbühne erlebe ich einen Mann, der trotz der Schwere der
Angstsymptome eine humoristische, selbstironische Leichtigkeit in seinen Schilderungen
durchblitzen lässt. Humor scheint eine gute Ressource zu sein. Dennoch spüre ich
deutlich hinter diesem Humor die Angst, von mir als unmoralisch bewertet und verurteilt
zu werden. Die Rolle, die er mir auf der Begegnungsbühne anbietet, ist die Rolle eines
Richters.
3.4.1.3. Die sexuelle Identität19 und ihr Einfluss auf die gelebte Sexualität
Diese Gruppe von Fallgeschichten bezieht sich vorrangig auf die sexuelle Identität. Im
Wesentlichen geht es um die Frage, sich als Frau bzw. Mann begehrt zu fühlen sowie
um die Frage, an wen sich das eigene Begehren richtet. Begehren und Begehrtwerden
sind
wichtige
identitätsstiftende
Elemente.
Sie
müssen
zumindest
in
einer
grundsätzlichen erotischen Würdigung ihren Ausdruck finden (was in einer Partnerschaft
auch unabhängig von sexuellen Handlungen stattfinden kann).
18
Auszuschließen per Gesetz ist eine HIV-Infektion erst durch den Nachweis eines negativen HIVAntikörpertests, welcher drei Monate nach einer fraglichen Exposition als sicher gilt.
19
„Sexuelle Identität“ wird in diesem Abschnitt als ein grundlegendes Selbstverständnis der Menschen
begriffen, wie sie sich als geschlechtliche Wesen wahrnehmen und wahrgenommen werden (vgl. Kap.
2.1.1.). Begehren und Begehrtwerden sind dabei zentral und führen zu einer Aufwertung und Bestätigung
der eigenen Weiblichkeit bzw. Männlichkeit. Sie können im gleich- und/ oder gegengeschlechtlichen
Kontext erfolgen (vgl. Kap. 2.1.2.3.). Diese Masterthese befasst sich nicht mit der Behandlung von
Transgender- und Intersex-Personen, obwohl diese Personengruppen wesentliche Fragen im Bereich der
sexuellen Identität aufwerfen.
84
Fallbeispiel Anna G.:
Frau Anna G. (42) erlebt sich mitten in einer Lebenskrise. Sie zeigt ausgeprägte
depressive Symptome und berichtet von Suizidgedanken, kann aber wesentliche soziale
Rollen, wie die Rolle der Mutter und der Arbeitenden erfüllen. Besonders die Arbeit, sagt
sie, gibt ihr Halt und Struktur. Derzeit befindet sie sich in einer Trennungsphase von
ihrem Ehemann, mit dem sie 15 Jahre lang zusammen war und ein gemeinsames Kind
hat. Grund für die Trennung war die Begegnung mit einem Mann, in den sie sich
verliebte und mit dem sie eine Affäre begann. Die Partnerschaft beschreibt sie als
„geschwisterlich: Er wollte kaum noch Sex, obwohl ich das Thema Sexualität
immer wieder angesprochen habe. Ich habe mich nicht mehr begehrt gefühlt“.
Vor drei Monaten ist sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, erlebte dies
zuerst als Befreiung, fühlt sich aber jetzt einsam. Dass ihr Ehemann nun eine neue
Freundin hat, kränkt sie aus zwei Gründen sehr: Er habe nicht um sie gekämpft und sich
zu schnell auf eine neue (jüngere) Frau eingelassen. Aus Vernunftgründen, wie sie sagt,
hat sie eben die Affäre beendet, um der Partnerschaft noch eine Chance zu geben.
Auf der Begegnungsbühne erlebe ich eine hochambivalente Frau mittleren Alters.
Das Ringen um ein Begehrtwerden zeigt sich zwischen uns kaum. Allerdings behalte ich
im Hinterkopf, dass eine erotische Würdigung ihrer Person unter Umständen nötig sein
wird. Wichtig für den Therapieverlauf wird es sein, das eigene Wollen in den
Vordergrund zu rücken und weniger das Begehren, begehrt zu werden.
Die beiden folgenden Fälle beziehen sich auf Unklarheiten in der sexuellen
Partnerorientierung.
Fallbeispiel Robert S.:
Herr Robert S. (40) ist verunsichert wegen seiner sexuellen Partnerorientierung und
meint, dass er immer weniger Lebensqualität spürt. Er sei so eingenommen von der
Frage, wer er sei, dass er immer weniger Interesse an beruflichen oder privaten
Tätigkeiten zeige. Er berichtet von einem beruflichen Burnout im vergangenen Jahr.
Seinen momentanen Zustand erlebt er emotional ähnlich und spricht von einem Gefühl
des „inneren Burnouts“. Er lebt seit 10 Jahren in einer gut funktionierenden, liebevollen
Partnerschaft mit einer Frau, spürt aber seit einigen Jahren ein deutlich zunehmendes
85
Begehren, das sich auf Männer bezieht. Dies bedroht seine Partnerschaft. Sein
Anliegen ist es, seine Identität neu zu definieren und zu einer Eindeutigkeit im sexuellen
Begehren zu kommen. Außerdem fragt er sich, ob er seiner Freundin von seinen
erotischen Wünschen erzählen soll.
Auf der Begegnungsbühne spüre ich deutlich sein Verlangen, ihm zu bestätigen,
eindeutig gegengeschlechtlich oder gleichgeschlechtlich zu empfinden. Ich merke sein
Bedürfnis nach meiner Verantwortungsübernahme ähnlich eines Vaters oder eines
Arztes. Diese Rolle übernehme ich in einer ersten Intervention zum Teil, indem ich
versuche, seinen Druck, die homoerotischen Wünsche seiner Freundin gegenüber zu
offenbaren, zu reduzieren:
„Sie
müssen
ihrer
Freundin
nichts
beichten.
Zuerst
ist
es
sinnvoll
herauszufinden, was Sie wollen. Dafür braucht es vermutlich noch Zeit.“
Für die Therapieplanung wird bedeutsam sein, der Mehrdeutigkeit den Vorzug vor der
Eindeutigkeit zu geben und dies aushalten zu lernen. Da der Klient nicht nur
österreichische, sondern auch persische Wurzeln hat, gilt es, möglicherweise andere
kulturelle Normen in Beziehungsangelegenheiten zu berücksichtigen.
Fallbeispiel Martina W.:
Vorstellig wird eine Klientin (23), die unter einer mittelgradigen Depression mit
ausgeprägten
Schlafstörungen,
Ruhelosigkeit,
Ängsten,
Gedankenkreisen
und
Gewichtsverlust leidet. Sie klagt darüber, dass sie kaum aus dem Bett kommt,
stundenlang weint und sich kaum zu etwas aufraffen kann. Die Gedanken kreisen um
die permanente Frage, ob Frauen für sie auch sexuell interessant sein könnten. Seit
zwei Jahren führt sie eine Partnerschaft mit einem Mann, mit dem sie auch zusammen
wohnt. Er weiß vom Inhalt ihrer Gedanken, nimmt sie aber ebenso wenig ernst wie ihre
Herkunftsfamilie.
Auf der Begegnungsbühne sitzt mir eine junge Frau gegenüber, die verschüchtert
und aufgewühlt wirkt. Mir drängt sich die Idee auf, sie leide unter Zwangsgedanken, was
dazu verführt, den Inhalt ihrer Gedanken zu bagatellisieren. Im Laufe des Erstgesprächs
teilt sie mir schließlich mit, dass ihre Psychiaterin eben diese Diagnose stellte. Für den
Verlauf der Psychotherapie wird neben einem Aufbau des Selbstwerts und der
86
Reduktion des Gedankenkreisens vor allem wichtig sein, den möglichen Wunsch hinter
ihren Gedanken herauszuarbeiten und sie darin ernst zu nehmen.
3.4.3. Wenn sexuelle Probleme kein Vorstellungsgrund sind
In nahezu allen Psychotherapien greife ich das Thema Sexualität auf, weil die sexuelle
Rolle eine dem Leben immanente Rolle darstellt, die alle betrifft, selbst wenn sie aktuell
nicht gelebt wird. Knifflig dabei ist jedoch, dass Menschen üblicherweise eine Erlaubnis
dafür suchen. Daher muss meistens das Angebot von der Psychotherapeutin bzw. dem
Psychotherapeuten kommen. Hofer schlägt vor, dieses Angebot in der ersten oder
zweiten Stunde zu machen (vgl. Hofer, 2013, S.54). Eine Möglichkeit bestünde darin,
die Sexualanamnese zu einem fixen Bestandteil des Erstgesprächs zu erheben. Wenn
dies überlegt wird, dann müsste man, folgt man Buddeberg, auch überlegen, wann ein
geeigneter Zeitpunkt für entsprechende Fragen ist:
„Fragen am Anfang der Anamnese können PatientInnen den Eindruck vermitteln,
die Sexualität sei in Bezug auf Gesundheitsprobleme von vorrangiger Bedeutung.
Fragen am Ende des Gesprächs können den Eindruck erwecken, [der
Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin, Anm. des Verf.] habe keine Zeit
mehr, allfällige Fragen zu beantworten“ (Buddeberg, 2005, S.65).
Buddeberg, Clement und Hofer sind sich dahingehend einig, dass nicht in erster Linie
nach Störungen, sondern nach der sexuellen Zufriedenheit gefragt werden sollte. Hofer
schlägt folgende Formulierung vor:
„Darf ich Sie fragen, wie Sie ihre Sexualität leben? Sind Sie mit ihr, so wie sie ist,
zufrieden oder eher unzufrieden?“ (Hofer, 2013, S.54).
Damit verfolgt er ähnliche Ziele wie Clement, dem es außerdem ein Anliegen ist, die
Selbstbestimmung der Klientinnen und Klienten zu fördern, indem er die Kontrolle über
die Grenzen an diese abgibt. Er formuliert den Einstiegssatz ins Thema Sexualität etwa
so: „Wir haben noch nicht über ihre Sexualität gesprochen. Darf ich Sie danach fragen?“
(vgl. Clement, 2012). Ziel dabei ist, erst die Zugangsberechtigung auszuhandeln.
Eine Sexualanamnese in jedes Erstgespräch als selbstverständlichen Teil zu
integrieren, ist eine Möglichkeit, aus meiner Sicht aber recht programmatisch.
87
Clement und Hofer verstehen sich (auch) als Sexualtherapeuten, Buddeberg leitet die
sexualmedizinische Sprechstunde am Universitätsspital Zürich. Das bedeutet, dass der
Rahmen der Sexualtherapie bzw. –beratung bereits im Vorhinein feststeht. Dass Fragen
zu Sexualität gestellt werden, ist damit vermutlich bereits eine Vorannahme der
Klientinnen und Klienten. Diese Rollenerwartung haben wahrscheinlich Wenige an
Psychotherapeutinnen
und
Psychotherapeuten,
besonders
nicht,
wenn
der
Leidensdruck in anderen Lebensrollen zu spüren ist.
Um daher an Informationen zu gelangen und zugleich nicht zu irritieren, müssen
die Fragen anschlussfähig sein. Dafür gibt es einige Anknüpfungspunkte: beispielsweise
eine Unzufriedenheit in der Partnerschaft oder mögliche Nebenwirkungen von
Medikamenten. Ergeben sich keine Anknüpfungspunkte, verwende ich manchmal
Schlüsselwörter, die Klientinnen und Klienten aufgreifen können oder auch nicht.
Fallbeispiel Susanne L:
Die Klientin (39) berichtet davon, dass ihr Partner sie verlassen hat und per E-Mail
meinte, dass eine Liebesbeziehung für ihn derzeit nicht möglich ist. Sie leidet stark unter
Liebeskummer und zieht sich sozial zurück, kann aber ihre Mutterrolle und auch ihre
Arbeitsrolle einigermaßen aufrecht erhalten.
Im Kontakt wirkt sie wenig affizierbar, ihr Sprachduktus ist für mich verwirrend. Es
fällt mir schwer, ihren Erzählungen zu folgen. Eine Depression mit psychotischen
Anteilen erscheint mir eine mögliche Hypothese. Auch Suizidalität lässt sich vorerst nicht
ausschließen. In meiner Rolle als Psychotherapeut bin ich vor allem besorgt und
bemühe mich, eine tragfähige Beziehungsbasis herzustellen. Den Rahmen von 5
Arbeitseinheiten gebe ich aus der Überlegung heraus, Struktur und Halt zu geben, vor.
Damit übernehme vorerst ich die Verantwortung für den Beziehungsaufbau. Diese Zeit
möchte ich nutzen, um abzuklären, ob psychiatrische Hilfe angezeigt ist oder nicht.
Fragen nach Sexualität wären aus meiner Sicht in dieser Krisensituation völlig
unangebracht, hat diese Frau doch gerade auch in diesem Bereich einen schweren
Schlag erlitten.
Die Themen Erotik und Sexualität tauchen aber in der dritten Stunde im Rahmen
einer Arbeit am Aufstellungsbrett auf. Die Klientin ist ambivalent nach einem Treffen mit
88
ihrem Exfreund, der ihr zwiespältige Angebote macht. Die zu bearbeitende Frage lautet:
Was spricht für, was gegen eine Partnerschaft mit diesem Mann? Für die Erotik wählt
sie eine große rote Figur und meint:
„Das Sexualleben wäre ohne ihn für mich besser.“
Auf der Begegnungsbühne sind damit die Themen Erotik, Sexualität und Intimität
eröffnet, wenn mich der Satz auch überrascht. Bei diesem Satz zeigt sie erstmalig in der
Therapie ein süffisantes, fast triumphierendes Lächeln.
Fallbeispiel Maria F:
Die Klientin (Mitte 20) berichtet von depressiven Phasen, die aus ihrer Sicht mit ihrer
Familiengeschichte zusammenhängen. Derzeit fühlt sie sich bisweilen antriebslos,
weinerlich, leidet unter Schlafstörungen und nutzt Alkohol, um einschlafen zu können.
Sie befindet sich gerade in der Phase zwischen dem Ende des Studiums und dem
Beginn des Berufslebens. Mit dem Berufseinstieg sind Ängste verbunden. Die Ferienzeit
bedeutet aber auch einen Mangel an Tagesstruktur und einer sinnstiftenden
Beschäftigung. Sie beschreibt Schwierigkeiten durch eine Bevormundung der Eltern, die
im selben Mietshaus wohnen. Sie nimmt keine Medikamente und lebt als Single.
Mir sitzt eine sehr attraktive, sympathische Frau gegenüber. Mir fällt auch auf,
dass sie eine erotische Strahlkraft besitzt, und ich mich darüber wundere, dass sie
keinen Freund bzw. keine Freundin hat. Auf der Begegnungsbühne merke ich, dass ich
sie unterstützen möchte, sich zu emanzipieren und einen selbstbestimmten Weg zu
finden. Obwohl der Wunsch sicher legitim ist, merke ich, dass ich aufpassen muss, nicht
in die Rolle eines Retters zu kommen.
Sexualität ist in dieser ersten Stunde noch kein (ausgesprochenes) Thema. Es
bieten sich keine Anknüpfungspunkte für entsprechende Fragen an.
In der 3. Therapieeinheit arbeiten die Klientin und ich zur Frage: „Was und wer
unterstützt mich, meine Stimmung zu verbessern?“ Dabei ist meine Leitidee, nach und
nach den Alkohol durch gesündere Strategien zu ersetzen. Unterstützung durch andere
erarbeiten wir anhand des sozialen Atoms.
Beim Gespräch über persönliche Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten
verwende ich „Selbstbefriedigung“ als Schlüsselwort, ohne eine Frage damit zu
89
verbinden. Damit verfolge ich mehrere Ziele: Erstens eröffne ich damit die Themen
Erotik und Sexualität in unserer Zusammenarbeit. Zweitens stelle ich Selbstbefriedigung
als selbstverständliche Handlung dar, ohne von ihr zu erwarten, dass sie darüber
spricht. Drittens dient ein Schlüsselwort als Annäherung an ein mögliches Tabuthema
ohne grenzverletzend zu sein. Die Grenze setzt sie, indem sie selbst bestimmt, ob sie
das Thema aufgreift oder nicht.
In der darauffolgenden Stunde geht es um ihren Berufseinstieg als Lehrerin für
Biologie. Sie ergreift nun das Thema „Sexualität“, indem sie über ihre Diplomarbeit
spricht, welche Sexualpädagogik bei Jugendlichen behandelt. Sie wählt also einen
Expertenaustausch vorrangig über Haltung und Werte.
3.5. Die Arbeit auf der Spielbühne
In diesem Kapitel sollen verschiedene Möglichkeiten gezeigt werden, wie mit der
sexuellen Rolle gearbeitet werden kann. Zuerst sollen Techniken beschrieben werden,
wie erotische Aspekte externalisiert werden können. Das Darstellen des erotischen
Ressourcogramms, der Erregungskurve oder die Arbeit auf dem Aufstellungsbrett
verschaffen einerseits einen Überblick, andererseits aber auch die Möglichkeit einer
Distanzierung: Sich einen Überblick zu verschaffen bedeutet auch eine innere Distanz
zu erotischen Gefühlen zu ermöglichen. Danach folgen Beispiele für die Arbeit auf der
psychodramatischen Spiel-Aktionsbühne. Explizite sexuelle Begegnungsszenen –
Bettszenen, wie sie zum Beispiel Sabine Kistler (2015, S.24) beschreibt – sind
Interventionen aus der Anfangszeit meiner psychotherapeutischen Arbeit und heute
ausnahmslos durch die Arbeit auf der inneren Bühne ersetzt.
3.5.1. Das erotische Ressourcogramm
Besonders für Klientinnen und Klienten, deren Blick auf das sexuelle Problem eingeengt
ist, bietet es sich an, erotische Ressourcen und Fähigkeiten darzustellen. Dabei werden
die Fragen stärker entlang des erotischen Genusses und weniger entlang des
körperlichen Könnens gestellt. Schon Gelingendes wirkt meist sehr entlastend und
reduziert die Angst und die Scham.
90
Fallbeispiel Michael N.:
In der zweiten Einheit arbeiten wir mit den erotischen Ressourcen, wofür ich mir
folgende Übung überlegt habe: Ich bitte den Klienten, drei konzentrisch angeordnete
Ringe auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Im inneren Kreis werden explizite sexuelle
Handlungen niedergeschrieben, die angenehm sind; im mittleren diejenigen, die mit
Intimität verbunden und erregend sind; im äußeren die intimen Handlungen, die eher
eine sinnliche, aber keine erregende Qualität besitzen. Der Klient schreibt folgende
Handlungen nieder:
Innerer Kreis, Zentrum (Sexuelles): Orale Befriedigung, Petting
Mittlerer Kreis (Intimität, Erotik): Streicheln, Küssen, Schlafen
Äußerer Kreis (Intimität, Zärtlichkeit): gemeinsames Baden und Duschen, Kopf
kraulen, Hände halten, Kuscheln
Eine besondere Handlung ist die Massage. Angeordnet im äußeren Kreis kann
sie bis zum innersten Kreis führen. Dies stellt der Klient mit einem Pfeil dar.
3.5.2. Die Arbeit mit der Erregungskurve
Eine weitere Möglichkeit des Externalisierens besteht darin, die Erregungskurve zu
zeichnen und zu markieren, ab wann sexuelle Handlungen einsetzen. Dies hat sich
insbesondere bei Männern bewährt, die wenig sexuelle Lust und/ oder wenig Vertrauen
in ihr körperliches Können haben. So erzählen Männer manchmal, dass sie sich beim
ersten Anzeichen von Erregung sofort selbstbefriedigen, um zu überprüfen, ob die
Erektion stark genug ist. Auch im Paarkontext taucht dieses Phänomen auf.
Fallbeispiel Michael N.:
Herr N. zeichnet in einem Koordinatensystem seine Erregungskurve ein. Die x-Achse
stellt dabei die Zeitachse, die y-Achse die Erregungsstärke dar. Im zweiten Schritt bitte
ich ihn, einzuzeichnen, zu welchem Zeitpunkt üblicherweise sexuelle Paarhandlungen
beginnen und welche dies sind. Er markiert einen Punkt ganz zu Beginn. Die sexuelle
Erregung hat sich gerade spürbar gemacht, der Penis wird sogleich mit der Hand
manipuliert. In der Reflexion darüber erkläre ich ihm den Begriff „Vorlust“ (vgl. Dorsch,
91
2014). Mit Vorlust ist gemeint, dass das Paar einander in sexuelle Stimmung bringt,
indem es einander verführt, reizt, mit der Erregung spielt und körperliche sexuelle
Handlungen vorerst nicht einbezieht, sondern dies offen lässt. Im inneren Rollenwechsel
mit der Partnerin ist er sich sicher, dass sie das auch sehr vergnüglich fände.
Die Arbeit mit der Erregungskurve kann auch zum Aufspüren von hemmenden
Gefühlen und Gedanken verwendet werden. Dazu möchte ich folgendes Beispiel
anführen:
Fallbeispiel Marco R.:
Der Klient kann nur bei der Selbstbefriedigung einen Orgasmus erreichen, nicht aber im
Paarkontext. Daher lasse ich beide Erregungskurven zeichnen. Dabei zeigt sich, dass
der Klient bei der Selbstbefriedigung einen gleichzeitigen Orgasmus phantasiert und
dabei den sexuellen Höhepunkt erreicht. In der Erregungskurve im Paarkontext ist ihm
wichtig, dass der Andere den Orgasmus erreicht. Sobald dies aber geschieht, taucht
folgender Gedanke auf: „Jetzt muss ich auch kommen.“ Schlagartig steigt der Druck,
wodurch die Erregung sinkt.
3.5.3. Die Arbeit mit Sinnaspekten
Sexualität erfüllt immer einen Sinn. Dabei können unterschiedliche Sinnaspekte
differenziert
werden
(vgl.
Bedeutungszuschreibungen
Kap.
der
2.1.2.).
Ich
Klientinnen
und
erarbeite
Klienten
die
gerne
subjektiven
mit
dem
Aufstellungsbrett. Folgendes Beispiel soll diese Möglichkeit illustrieren:
Fallbeispiel Anna G.:
In einer ersten Phase der Therapie geht es viel um die Würdigung der eigenen Person,
die Steigerung des Selbstwerts und die Entwicklung von Selbstfürsorge. Die
Entscheidung für den Expartner und Vater ihres Kindes oder für den Liebhaber wird
immer wieder vertagt. Vor- und Nachteile werden abgewogen, eine dritte Möglichkeit,
sich von beiden zu trennen und eine Zeit lang für sich zu sein, schlägt sie aus. Sie ringt
um Eindeutigkeit, lebt aber real beide Beziehungen. Dabei pendelt sie in ihren
Nähebedürfnissen zwischen beiden Männern. Die Männer jedoch kämpfen nur begrenzt
92
um sie. Der Expartner ist gekränkt und sagt, er könne sich vorerst einen Neuanfang der
Partnerschaft nur unter bestimmten Auflagen vorstellen (unter anderem das Beenden
der Affäre). Der Liebhaber wirft ihr vor, zu viel Sex zu wollen – etwas, das er in dieser
Häufigkeit nicht braucht. Das Ziel, begehrt zu werden, erreicht sie vorerst nicht. Nach
einem Urlaub mit ihrem Expartner, mit dem sie dort auch schläft, kommt sie traurig in die
Therapie. Das ist die Ausgangslage für die folgende Intervention am Aufstellungsbrett:
Ich bitte sie, drei Figuren für sich (gelb), den Expartner (blau) und den Liebhaber
(rot) zu wählen. Sie stellt ihre Figur ins Zentrum, die beiden anderen an die oberen
beiden Ecken. Die Figuren bilden nun ein nahezu gleichseitiges Dreieck. Im zweiten
Schritt soll die vorrangige Qualität, die die jeweilige Beziehung ausmacht, dazu
positioniert werden. Sie wählt eine Figur für Leidenschaft und Emotion und positioniert
diese zwischen sich und den Liebhaber; eine Figur für Stabilität wird zwischen sich und
den Expartner gestellt. Zuletzt folgt je eine Figur für die Bedeutung der Sexualität in
diesen Beziehungen: Der Beziehung zum Liebhaber wird eine Figur hinzugefügt, die für
gelebte Sexualität steht, wobei sie initiativ sein muss. Zum Exfreund wird eine kleine
Figur positioniert, die Trauer über ihr verlorenes Begehren ausdrückt. Auf die Frage hin,
was sie mit ihrem Bedürfnis, begehrt zu werden, gemacht hat, fügt sie neue Figuren ins
rechte untere Eck diagonal zur Figur ihres Liebhabers hinzu: Diese stehen für ein
virtuelles Gegenüber (wobei dieses für keinen bestimmten Mann steht), für
Abenteuerlust als die zugehörige emotionale Qualität sowie für das Begehrtwerden:
Dabei betont sie, dass sie nur diejenigen Anfragen interessant findet, die ein
offensichtliches Begehren ihr gegenüber ausdrücken; ein reales Treffen schließt sie
aber aus. Mit dieser vorläufigen Balance stabilisiert sich ihre Lage. Sie wird ruhiger.
Im weiteren Verlauf gesteht ihr der Liebhaber seine Liebe und äußert sein
Begehren. Damit wird auch sie eindeutig, und sie beginnen eine Partnerschaft. Ihr
Umgang mit virtuellen potenziellen Partnern bleibt allerdings vorerst bestehen. Sie
vergleicht dies mit seinem Pornographiekonsum. Beide akzeptieren, dass es nicht nur
Paarsexualität gibt. Das Ende der Psychotherapie ist erreicht.
93
3.5.4. Das Benennen der sexuellen Rolle
Manchmal reicht es aus, im Rahmen einer Szene oder Skulptur die sexuelle Rolle bzw.
eine erotische Qualität zu benennen. Dies soll folgendes Fallbeispiel demonstrieren:
Fallbeispiel Maria F.:
Im Laufe der Psychotherapie freundet sich die Klientin mit einem Arbeitskollegen an, der
zunehmend eine wichtige Rolle in ihren Erzählungen spielt. In der Vorbereitung einer
Szene auf der Spiel-Aktionsbühne frage ich sie bei der Rolleneinkleidung des Kollegen,
ob es denn auch eine erotische Komponente zwischen den beiden gibt. Das verneint sie
in seiner Rolle.
Anmerkung: Retrospektiv betrachtet war diese Intervention von mir nicht
gründlich überlegt. Eigentlich sollte zuerst herausgearbeitet werden, ob die Klientin denn
an diesem Kollegen interessiert ist, nicht umgekehrt. Allerdings ist diese Frage einem
spontanen Impuls gefolgt. Vier Stunden später greift Frau F. diese Erfahrung wieder auf
und sagt:
„Ich habe viel über unser letztes Spiel nachgedacht. Und ich weiß nicht recht:
Vielleicht ist J. doch an mir interessiert?“
Ich bitte sie um eine Interpretation verschiedener Begegnungsszenen aus letzter Zeit,
indem sie zwei verschiedene „Brillen“ aufsetzen soll: eine „Freundschaftsbrille“ und eine
„Flirt-Brille“. Ihr scheint die Interpretation als Flirt durchwegs näher zu liegen. Auf der
therapeutischen Begegnungsbühne ist ihre Aufregung sehr deutlich zu spüren, und sie
beschließt, dem Ganzen weiter nachzugehen und zu überprüfen, was sie selbst fühlt
und möchte.
3.5.5. Dialoge mit der Lust und mit Geschlechtsorganen
Für die Arbeit mit Geschlechtsorganen oder Gefühlen auf der Spiel-Aktionsbühne finden
sich Beispiele bei Hofer (2013, S.51; S.66ff.) und Kistler (2015, S.22ff., S.28ff.).
Konkrete Handlungsanweisungen und Zukunftsproben wie der Rollenwechsel in die
Hand mit Anleitungen zur Selbstbefriedigung verwende ich im Unterschied zu ihnen
nicht. Das erlebe ich zu sehr als Eindringen in die Privatsphäre der Klientinnen und
94
Klienten. Der Schwerpunkt meiner therapeutischen Herangehensweise liegt in der
Aufnahme eines Dialoges mit diesen Anteilen, wie folgendes Beispiel zeigen soll.
Fallbeispiel Julian A.:
Ausgangspunkt ist eine „brenzlige Situation“, die der Klient folgendermaßen beschreibt:
Schon öfters hatten seine Freundin und er darüber phantasiert, wie es wohl wäre, wenn
sie Reizwäsche anhätte. Zuletzt kam sie mit „dieser Überraschung“. Er „konnte dann
aber leider nicht, und sie machte mir daraus Vorwürfe“. Den Klienten ärgerte sehr, dass
sein Penis ihm nicht gehorchte. Dies nehmen wir zum Anlass, um herauszufinden, was
denn im Penis vorgehen könnte.
Auf der Spiel-Aktionsbühne werden ein Sessel für den Klienten und einer für den
Penis positioniert. Im Rollenwechsel mit dem Penis beschwert sich dieser, dass der
Klient ihn unter Druck setzt, nur weil seine Freundin gerade will. In der eigenen Rolle
bringt er seine Angst zum Ausdruck, dass seine Freundin böse auf ihn ist, wenn es
keinen Sex gibt – also soll der Penis stehen! Wie stark der Leistungsdruck ist, zeigt sich
auch darin, dass er angibt, dass es oft bis zu drei Mal zu Sex kommen soll, wenn sie
einander sehen. Das führt zu einem kurzen Wechsel auf die Begegnungsbühne:
„Drei Mal“, rufe ich, „das ist ganz schön viel. Und da wunderst du dich, dass der
Penis nicht mehr kann?“
Dieser Input von mir ist von entscheidender Bedeutung, denn er vermittelt eine starke
Aufwertung der erotischen Potenz des Klienten. Die Dankbarkeit dafür kann ich seiner
Mimik ablesen.
Schwieriger gestaltet sich das Einfühlen in seine Partnerin. Er bleibt dabei in
seiner Position und versucht in einem inneren Rollenwechsel herauszufinden, was in
seiner Freundin vorgeht. Einiges an Doppeln ist dabei nötig: Wahrscheinlich fühlt sie
sich in ihrer Attraktivität unsicher, wenn der Penis nicht steif wird. Sie zweifelt daran, ob
sie begehrenswert ist und ob die beiden zusammenpassen. (Ich möchte hier noch
einmal festhalten, dass beide noch sehr jung sind!) Durch diesen inneren Rollenwechsel
wird Mitgefühl für seine Freundin aktiviert.
95
3.5.6. Erotische Handlungen auf der Spiel-Aktionsbühne
In den ersten psychotherapeutischen Prozessen versuchte ich, erotische Handlungen
über Symbolisierungen auf der Spiel-Aktionsbühne darstellen zu lassen. Hintergrund
dafür war die Idee, einen Kompromiss zwischen der Unmittelbarkeit erotischer Gefühle
und dem Intimitätsschutz zu ermöglichen. Diese Idee schließt unmittelbar an Fürsts und
Kralls Vorschlag an, mit Körperteilen als Repräsentantinnen der Geschlechtsorgane
(vgl. Fürst & Krall, 2012, S.32) oder mit Inter- bzw. Intramediärobjekten (vgl. ibid., S.34)
zu
arbeiten.
Schon
die
Vorstellung,
beispielsweise
Finger
und
Hände
als
Repräsentantinnen für sexuelle Handlungen zu verwenden, stieß in meinem Inneren auf
Widerstand. Die Arbeit mit Objekten mit teilweise hohem Symbolgehalt habe ich
ausprobiert. Hier folgt ein Beispiel.
Fallbeispiel Martina W.:
In der ersten Phase der Psychotherapie zeigt sich die Klientin über sich ihr
aufdrängende Gedanken beunruhigt. Diese haben zum Inhalt, dass eventuell erotische
Gefühle für Frauen ihre Beziehung mit einem Mann gefährden könnten. In einer ersten
Explorationsphase zeigt sich, dass sich diese Gedanken umso stärker aufdrängen, je
weniger das Gefühl von Verliebtheit zu spüren ist – ein schwer zu haltendes Gefühl in
depressivem Zustand. Der mögliche erotische Bezug zu Frauen hat aber mehrere
Facetten. Bei einer Arbeit am Aufstellungsbrett beispielsweise zeigt sich die begehrte
Frau idealtypischer Weise selbstbewusst, schlagfertig, einfühlsam, etc. Das sind
Eigenschaften, die sie sich selbst aber nicht zuschreibt. Vor allem jedoch hat diese
Phantasie einen grenzziehenden Effekt, der sich in folgender Intervention auf der SpielAktionsbühne deutlich zeigt.
Ausgangpunkt ist folgendes Thema: In der Partnerschaft fühlt sie sich wieder
wohler, sie traut dem Wohlgefühl aber nicht, denn immerhin muss ja ihre Phantasie eine
Bedeutung haben. Daher spielen wir eine Szene mit der Fragestellung, wann zuletzt im
Kontakt mit dem Freund diese „blockierenden Gedanken“ aufgetaucht sind. Die Szene
findet auf der Couch statt. Sie hat sich gerade etwas zu Essen hergerichtet, er schaut
fern. Nach einem kurzen Gespräch kuschelt sie sich zu ihm, was er im Rollenwechsel
96
als erotisches Signal interpretiert. Sie sagt, dass sie zwar Sex möchte, aber die
erotischen Gedanken an Frauen blockieren. Für folgende innere Rollen wählt sie
Intraintermediärobjekte (vgl. Pruckner, 2004, S.276), die sie sich auf der Couch
zuordnet: Eine Eule für die sexuelle Lust, einen rosa Hund für die Gedanken an Frauen
sowie ein nicht eindeutig identifizierbares Stofftier für folgenden Gedankengang:
„Vielleicht täusche ich dich oder mich.“ Von außen betrachtet zeigt sich deutlich, dass
die Lust von den beiden anderen Objekten eingesperrt ist.
In der Reflexion darüber sagt sie, dass die erotischen Phantasien Frauen
gegenüber erst aufgetaucht sind, als sie immer wieder ohne Lust mit ihrem Partner
geschlafen hat, um ihn zufrieden zu stellen und „zum Kuscheln danach“ zu kommen. Die
Phantasie bezweckt daher vorrangig, dass ihre Grenze ernst genommen wird. Ein
anderes „Nein“ wurde bisher nicht akzeptiert, allerdings auch kaum ausgesprochen.
Auf der Begegnungsbühne erlebte ich vor allem den ersten Teil der Szene als
eine Gratwanderung. Einer gespielten erotischen Annäherung beizuwohnen empfand
ich als grenzwertig, weil sie der Rolle eines Voyeurs nahekommt. Heute würde ich so
eine Intervention eher auf der inneren Bühne machen. Die zugehörigen Gefühle und
Gedanken aber können ohne Weiteres in Form von Symbolen, Inter- und
Intraintermediärobjekten dargestellt werden.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der erotische Gehalt der Gedanken an
Frauen auch einen Lustaspekt enthält. Mit der Zeit kann die Klientin diese Phantasie als
Tagträume für sich integrieren und pflegen, ohne sofort die Partnerschaft in Gefahr zu
sehen.
3.6. Die Arbeit auf der inneren Bühne
Wie Hintermeier vorschlägt, bearbeite ich mittlerweile explizit sexuelle Szenen
ausschließlich auf der inneren Bühne (vgl. Hintermeier, 2012, S.87f.). Die innere Bühne
kann als Vorstellungswelt betrachtet werden. Die inneren Szenen können als erotische
Drehbücher verstanden werden, die sich beispielsweise in Phantasien, Wünsche, Ziele
und Handlungsabsichten differenzieren lassen. Für Handlungsbeschreibungen ist
charakteristisch, dass sie dem Handeln zwar nahe sind, aber meistens zugleich eine
97
Rollendistanzierung gelingt. Das ist vonnöten, um zum Einen für einen Intimitätsschutz
der Klientinnen und Klienten zu sorgen. Zum Anderen trägt es dazu bei, die
Begegnungsbühne selbst nicht zu sexualisieren. Diese Erzählungen von sexuellen
Szenen lassen sich aus sexualwissenschaftlicher Sicht als sexuelle Skripte identifizieren
(vgl. Kap. 2.2.4.). Bezug kann zum rollentheoretischen Begriff der „Lage“ hergestellt
werden (vgl. Hochreiter, 2004, S.130, vgl. Hintermeier, 2012, S.88).
Insbesondere
der
systemische
Skriptbegriff
lässt
sich
auch
mit
dem
Spontaneitäts- und Kreativitätszyklus des Psychodramas in Einklang bringen (vgl. Kap.
2.2.4.4.). Für die Arbeit mit Klientinnen und Klienten gilt somit, Skripte als veränderlich
und dynamisch zu verstehen. Jedoch ist es auch hilfreich, die deskriptiven Kategorien
„kulturelle“, „intrapsychische“ und „interpersonelle Skripte“ als Differenzierungsmodell
einzubeziehen. Dies bietet die Möglichkeit, sich eher der kollektiven oder der privaten
Seite der sexuellen Rolle anzunähern. Die Trennung zwischen den einzelnen Arten der
sexuellen Skripte ist nicht scharf. Die Skripte fließen vielmehr mehrdimensional
ineinander über.
3.6.1. Umgang mit kulturellen Skripten
Kulturelle sexuelle Skripte sind „Anleitungen zum Handeln auf kollektiver Ebene“
(Lautmann, 2002, S.182). Rollentheoretisch können sie als kollektive soziokulturelle
Stereotype bezeichnet werden (vgl. Zeintlinger-Hochreiter zit. nach Stadler & Kern,
2010, S.137). Diese Handlungsanleitungen bauen auf den von der Gesellschaft
vorgegebenen Werten auf (vgl. Kap. 2.2.2.).
Der sexuelle Leistungsdruck, unter dem Julian A. leidet, wäre ein Beispiel für den
Einfluss dieser kulturellen Skripte im Sinne eines Stereotyps (vgl. Kap. 3.5.5.). Häufiger
jedoch zeigen sich kulturelle Skripte in individualisierter Form als innere Glaubenssätze.
3.6.1.1. Kulturelle Skripte in Form von inneren Glaubenssätzen
Fallbeispiel Maria F.:
Die Klientin zeigt sich verunsichert, weil sie wenig Begeisterung für ihren neuen Partner
fühlt. Die Gefühlsqualität ist von Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit und Wohlgefühl
98
getragen. Das Gefühl des „Frisch-Verliebt-Seins“ mit den Hauptaspekten Aufregung und
Nervosität stellt sich nicht in dem Maße ein, wie sie es bisher kennt. Dabei spielt ein
Glaubenssatz ihrer Mutter eine entscheidende Rolle: „Schon beim zweiten Treffen mit
deinem Vater wusste ich: Das ist der Mann fürs Leben!“ Dieses Wissen scheint sie nicht
zu haben, was sie irritiert und zur Annahme verleitet, dass ihr Partner vielleicht nicht die
richtige Wahl ist.
Der Satz der Mutter vermittelt zwei Botschaften. Deutlich wird ein romantisches
Liebesideal, das sich die Mutter in der Rückschau erzählt und bestätigt, und die Tochter
als inneres kulturelles Skript übernommen hat. In der Auseinandersetzung mit diesem
Skript zeigt sich, dass die Rahmenbedingungen des Kennenlernens verschieden waren.
Insbesondere die Tatsache, dass der Partner der Klientin mit ihr schon befreundet und
damit vertraut war, spielt eine große Rolle. Sicherheit und Nähe können der Sehnsucht
entgegen wirken. Sehnsucht nährt aber die Aufregung und Nervosität zu Beginn einer
Partnerschaft, was sich als Gefühl von Verliebtheit zeigen kann. Im Laufe der Therapie
wird dies immer wieder deutlich: Sobald der Partner beispielsweise eine Woche nicht
zur Verfügung steht, „kribbelt es im Bauch“ und die Sehnsucht stellt sich ein (und damit
die Bestätigung, dass er der „Richtige“ ist). Die zweite Botschaft lautet: „Wenn die
Gefühle stimmen, dann weiß man, dass es fürs Leben ist!“ Diese Botschaft zu
dekonstruieren tut weh: Nichts muss von Dauer sein. Die Kündbarkeit von Beziehungen
ist heute gesellschaftlich akzeptiert und steht in engem Zusammenhang mit der
Verhandlungsmoral (vgl. Kap. 2.2.2.1.).
3.6.1.2. Heteronormativität und monosexuelle Ordnung
Eine wesentliche Norm unserer Kultur ist die Heteronormativität (vgl. Kap. 2.2.2.3.).
Schmidt postuliert zudem, dass die Macht der monosexuellen Ordnung der
Heterosexualität übergeordnet ist (vgl. Schmidt, 2011, S.139). In folgendem Fallbeispiel
ist dies ein wesentlicher Aspekt des Leidensdrucks des Klienten.
99
Fallbeispiel Robert S.:
Für Herrn S. stellt sich die Frage, an welches Geschlecht sich das Begehren richtet.
Heteronorme Vorstellungen sind an diese Frage gekoppelt – dies zeigt sich
beispielsweise in der scheinbar besseren Lebbarkeit einer heterosexuellen Identität im
ländlichen Bereich, aber auch in einer real leichter zu verwirklichenden Möglichkeit, eine
Familie zu gründen. Solange der Klient erotische Erlebnisse mit Männern als Spiel
begreifen konnte, stellte sich die Frage der eigenen Identität und der daraus
resultierenden Konsequenzen nicht. Vor Beginn der Therapie kam es allerdings zu einer
Begegnung mit einem Mann, wo Partnerschaftswünsche auftauchten, welche nun als
unmittelbare Konkurrenz zu der etablierten Partnerschaft mit seiner Freundin erlebt
werden. Seinen Wunsch nach Eindeutigkeit der sexuellen Orientierung drückt er
regelmäßig aus. Der für ihn erleichternde Gedanke wäre: „Wenn ich schon nicht hetero
bin, dann lass mich wenigstens schwul sein!“ Dies zeigt sich beispielsweise in
folgendem Anfangssatz einer Therapiestunde in einem schon fortgeschrittenen Prozess:
„Angenommen, ich wäre schwul…“ Gleichzeitig zeigt sich aber durchgängig: Lässt er
sexuelle Erlebnisse mit Männern zu, führt dies auch zu mehr sexuellem Appetit in der
Partnerschaft, verweigert er diese Erlebnisse, kappt er die gesamte sexuelle Lust. Das
Etablieren einer uneindeutigen, wahrscheinlich bisexuellen Partnerorientierung, ist
herausfordernd und schmerzhaft. Von mir verlangt es, die Partnerschaft immer wieder
als reale Gegebenheit in Erinnerung zu rufen. Einmal muss ich sogar das Verbot
äußern, die Partnerschaft in der Rückschau zu entwerten, nur um die eigene Identität
eindeutig definieren zu können.
3.6.1.3. Einflussfaktoren auf kulturelle Skripte
Kulturelle Skripte sind unter anderem geschlechts-, generations-, alters- und
milieuabhängig. In folgendem Beispiel wird vor allem ein milieubedingter Einfluss
deutlich.
100
Fallbeispiel Robert S.:
Im Therapieverlauf zeigt sich, dass die persische Abstammung väterlicherseits für den
Klienten ein nicht unwesentlicher Einfluss ist. Der Klient meint, die persische Kultur hätte
in seiner Familie kaum Bedeutung, sein Vater sei assimiliert und dieser würde sich zwar
wahrscheinlich mit einer nicht-heterosexuellen Identität etwas schwerer als die Mutter
tun, letztlich damit aber zurechtkommen. Der persische Einfluss zeigt sich jedoch in
einer anderen Art: Der Vater verzichtete unter dem Druck seiner Ehefrau, die mit den
Familienwerten des Mannes nicht zurechtkam, auf das Aufrechterhalten des Kontakts
mit seinen Geschwistern (die alle in Österreich leben). Angesprochen auf eine mögliche
Reinszenierung, nämlich einen Teil der eigenen Identität zugunsten der Partnerschaft zu
verleugnen, führt dazu, dass er Gespräche mit seinem Vater sucht. Zu dessen
nächstem Geburtstag wird die gesamte persische Familie eingeladen. Der Vater weint
und bedankt sich bei seinem Sohn. Dieses Erleben der Erfüllung einer Sehnsucht des
Vaters hat eine Signalwirkung: Trotz der Loyalität zu seiner Partnerin akzeptiert er nun
eine bisexuelle Identität und äußert die Absicht, sich ihr gegenüber zu bekennen. Das ist
das Ende der Psychotherapie, jedoch schreibt er etwa ein Jahr später folgendes E-Mail:
„(…) Nach ein paar Gesprächen mit K. bin ich in Beziehungspause – ihre
Reaktion war sehr „erwachsen“ und für mich in dieser Art total überraschend. So
hatte jeder eine Überraschung für den anderen. Ich genieße die Ruhe. (…)
Inzwischen dreht sich der Männer- wieder zum Damengedanken im Kopf,
komisch – langsam komm ich mir von mir selbst verarscht vor. (Also wenn schwul
schwierig sein soll, dann ist bi noch anstrengender.)
3.6.1.4. kulturell vorgegebene sexuelle Abläufe
Zu den kulturellen Skripten können auch vorgegebene sexuelle Abläufe gezählt werden.
Diese Automatismen können zu einer kompletten Aversion und Verweigerung
partnerschaftlicher sexueller Handlungen führen.
101
Fallbeispiel Marco R.:
Im Therapieverlauf arbeiten wir vor allem daran, auf eigene Bedürfnisse und Wünsche
zu achten. Dies hat zur Konsequenz, dass er keinesfalls mehr Sex dem Anderen zuliebe
haben möchte, was dazu führt, dass er dem jetzigen Partner gegenüber allmählich in
eine Ablehnungsposition gerät. Sobald der Andere sich ihm erotisch nähert, fühlt er sich
bedrängt. Sein Partner hingegen fühlt sich nach und nach abgelehnt. Hintergrund dafür
ist ein typisches kulturelles Skript, das den gesamten sexuellen Ablauf umfasst und
szenisch im Kopf abgespeichert ist. Folgender Dialog findet statt:
CH: „Haben Sie auf gar nichts Lust? Auch nicht auf Küssen?“
MR: „Doch, ich hätte auch nichts gegen Blasen einzuwenden, aber muss es
immer das volle Programm sein?“
CH: „Nein, sicher nicht. Haben Sie ihm schon gesagt, was Sie sich vorstellen
können oder sagen Sie ihm nur, dass Sie keine Lust haben?“
MR: „Meistens ist es so, dass ich ihn küsse und mich anschmiege und sage, dass
ich schon zu müde bin.“
CH: „Können Sie sich vorstellen, ihm zu sagen, was Sie wollen und was nicht?“
Nachdem er dies bejaht, folgt ein Ausverhandlungsdialog auf der Spiel-Aktionsbühne,
wo sich im Rollenwechsel mit dem Partner zeigt, dass dieser sich bestimmt darauf
einlassen wird. Im Rollenwechsel ist dem Partner wichtig, als erotische Person nicht
abgelehnt zu werden. Welche sexuellen Handlungen erfolgen, hat dagegen momentan
wenig Bedeutung.
3.6.2. Umgang mit intrapsychischen Skripten
Intrapsychische sexuelle Skripte sind innere erotische Drehbücher, die sich aus
Phantasien, Wünschen oder Zielen speisen (vgl. Kap. 2.2.4.2.). Das Hauptkriterium ist
meist das Kreieren von sexueller Lust.
102
3.6.2.1. Die Differenzierung von Phantasien und Wünschen
Einen großen Bereich der intrapsychischen sexuellen Skripte machen Phantasien aus.
Angelika Eck arbeitet mit ihnen in der Einzeltherapie. Sie beschreibt dabei einen Mangel
an erotischen Phantasien als Minussymptome, die sie
„im engen Zusammenhang mit dem Leiden an sexueller Lustlosigkeit, sexueller
Aversion
oder
Ängsten
im
Zusammenhang
mit
(…)
sexuellen
Funktionsstörungen“ (Eck, 2015, S.1, 2016)
sieht. Diese unterscheidet sie von Plussymptomen:
„Frauen [Menschen, Anm. d. Verf.] mit Plussymptomen leiden unter einem Zuviel,
d.h. sie fühlen sich durch die Art oder Ausprägung ihrer Fantasien belastet oder in
ihrer Freiheit eingeschränkt“ (ibid.)
Phantasien können „in Form von Erinnerungen, Tag- oder Nachtträumen in Erscheinung
treten. Pornos und sexuelle Rollenspiele sind ausagierte Fantasien“ (ibid.).
Für die psychotherapeutische Situation gilt es, Wünsche und Phantasien zu
differenzieren, um deren Verwechslung zu vermeiden. Dazu möchte ich folgendes
Beispiel bringen.
Fallbeispiel David K.:
In einer ersten Phase der Psychotherapie gelingt es dem Klienten zunehmend, die
AIDS-Phobie einzudämmen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er aufhört,
Ärztinnen und Ärzte aufzusuchen. Paardynamisch aber lässt ihn die betrogene Partnerin
in ihrer Kränkung weiterhin für seinen Fehltritt büßen, indem sie sagt: „Eigentlich finde
ich es blöd, dass du so davonkommst.“ Vermutlich verlagern sich deshalb seine Ängste
zunehmend auf die partnerschaftliche Sexualität.
In einer therapeutischen Einheit berichtet er von seinem Pornokonsum. Inhalt
dieser Pornos sind nachgestellte Vergewaltigungsszenen. Auf der Begegnungsbühne ist
deutlich zu spüren, dass er mich in eine verurteilende Rolle bringen möchte. Im ersten
Schritt frage ich ihn, ob es sich um eine Phantasie oder einen möglichen Wunsch
handeln könnte. Er antwortet, dass es sich bloß um eine Phantasie handelt, die er aber
bedrohlich erlebt.
103
Was die Bedrohung ausmacht, erarbeiten wir auf der Spiel-Aktionsbühne. Er wechselt in
zwei beurteilende Rollen. In der Rolle des Richters kann er die pornographischen Inhalte
definitiv als legal beurteilen. In der Rolle des „Moralapostels“ (eine Rolle, die sich schon
in früheren Stunden etabliert hat) findet er sein Verhalten frevelhaft. Diese Rolle wird
durch die moralischen Ansprüche seiner Partnerin genährt. Denn diese empfindet das
Konsumieren von Pornofilmen grundsätzlich als frauenverachtend und verwerflich.
Meine therapeutische Intervention erfüllt folgenden Zweck: Das Bewerten einer
sexuellen Handlung und besonders sexueller Phantasien obliegt dem Klienten selbst.
Damit nehme ich mich auch aus einer potenziell strafenden Instanz heraus.
Die nächste therapeutische Intervention findet wieder im Sitzen statt und bleibt
auf der inneren Bühne, weil es nun um den Inhalt der Pornographie geht: Diese müssen
nicht im Detail offenbart werden und bleiben daher skizzenhaft. Ich betone das sexuelle
Selbstbestimmungsrecht und die Verantwortung des Klienten, selbst zu entscheiden, ob
und wie er seine Sexualität unabhängig von seiner Partnerin leben möchte, stelle aber
die Frage, ob Teile dieser Phantasie in sein Sexualleben mit der Partnerin einfließen. Er
teilt mir mit, dass diese sexuelle Phantasie bei seiner Partnerin anschlussfähig ist und
als gemeinsames Liebesspiel gelebt werden kann („Gutsherr und Magd“). Damit wirkt
sie auf die interpersonellen sexuellen Skripte ein.
3.6.2.2. sexuelle Wünsche
Sexuelle Wünsche sind ebenfalls ein wesentlicher Teil der intrapsychischen Skripte und
dem sexuellen Handeln nahe. Clement bezeichnet sie als „absichtsvolle Fantasien“
(Clement, 2009, S. 96; vgl. Kap. 2.1.3.2.). Sie bilden manchmal einen interessanten
Kontrast zu den realen interpersonellen Skripten.
Fallbeispiel Michael N.:
Herr N. beschreibt sein intrapsychisches erotisches Skript folgendermaßen: Die sexuelle
Szene findet nicht im Bett, sondern in der Küche statt. Seine Freundin verführt ihn und
lässt nicht locker. Sie wird aufdringlich trotz seiner Ambivalenz, fasst ihm in die Hose
und befriedigt ihn oral, (…).
104
Dieses Skript steht in einem deutlichen Kontrast zur aktuell gelebten Paarsexualität, bei
der er üblicherweise der Initiator sexueller Handlungen ist. Er und seine Partnerin leben
derzeit in einer Wohngemeinschaft. Die Küche steht ebenso wenig zur Verfügung wie
ausreichend Zeit und Raum, um sich auf spontane und außergewöhnlichere Situationen
einlassen zu können. Angesprochen auf diese Differenz äußert der Klient mehrere
Schwierigkeiten: Seine Freundin lässt ihre optischen Reize zu wenig spielen. Er weiß
nicht, wie er ihr gegenüber seinen Wunsch kommunizieren soll. Seine Angst besteht
darin, etwas zu wollen, das sie nicht will und abgelehnt zu werden.
3.6.2.3. sexuelle Wünsche im biographischen Zusammenhang
Sexuelle Wünsche entstehen auf Grundlage früherer Erfahrungen. Sie drücken
verschiedene Bedürfnisse aus, in denen auch nicht-sexuelle Motive bedeutsam sind.
Daher sind sie immer wieder erst in einem größeren biographischen Zusammenhang
verstehbar. Bei folgendem Fall zeigt sich die Brisanz des intrapsychischen Skripts erst in
der Zusammenschau mit Erlebnissen aus der Kindheit.
Fallbeispiel Daniel H.:
Herr H. spricht von Verlassensängsten, die in Zusammenhang mit seiner frühen Kindheit
stehen. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er drei Jahre alt war. Ab diesem
Zeitpunkt war sie nur mehr „eine Stimme am Telefon zu Weihnachten und zum
Geburtstag.“ Daraus ergeben sich Probleme in der Nähe-Distanz-Regulierung, die sich
auch im gegenwärtigen Beziehungsaufbau zeigen. So neigt er dazu, die Treffen rational
zu regulieren, um nicht Gefahr zu laufen, „zu sehr zu verschmelzen“.
Sein intrapsychisches sexuelles Skript bezieht zwei Männer ein. Die beiden
Männer sind als Positionen, nicht als konkrete Personen zu verstehen. Dieses
Gruppensexszenario bringt er mit dem Konzept einer offenen Partnerschaft in
Verbindung. Er argumentiert dies damit, dass sein möglicher neuer Partner und er
vielleicht nicht ausreichend sexuell kompatibel sind. Ich vermute aber, dass dies auch
mit der Angst vor zu viel Nähe und Verschmelzung in Verbindung steht. Das Konzept
der offenen Partnerschaft stelle ich nicht grundsätzlich in Frage, aber ich biete folgendes
105
kulturelles Skript an: „Ich weiß, dass das Konzept der offenen Partnerschaft in der
schwulen Community weit verbreitet ist. Doch häufig ist es so, dass sich dieses erst mit
der Zeit entwickelt. Meinen Sie, es würde sich lohnen, erst herausfinden, wie kompatibel
Sie und P. tatsächlich sind?“
3.6.3. Umgang mit interpersonellen Skripten
Interpersonelle Skripte sind solche, die auf dem Wechselspiel von Role giver und Role
receiver beruhen. Sie dienen in erster Linie als Lagebeschreibung der gegenwärtigen
Paarsexualität. Dabei zeigen sich der erotische Rahmen (Zeit, Raum), erotische Marker,
die in eine sexuelle Begegnung münden, wer die Initiative ergreift, etc. Beschreibungen
dieser Art sind vor allem dann sinnvoll, wenn sie mit einer konkreten Frage verbunden
sind. Der Fall Martina W. (Kap. 3.5.4.3.) wäre beispielsweise auch mittels Arbeit auf der
inneren Bühne vorstellbar. Die erotische Annäherung wäre als interpersonelles Skript
zur Verfügung gestanden.
3.6.3.1. Die Stellung des Kondoms in interpersonellen sexuellen Skripten
Für viele sexuelle Interaktionen ist die Verhütung von Schwangerschaften, manchmal
auch der Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen ein wesentlicher Aspekt. So
können hormonelle Verhütungsmittel beispielsweise die sexuelle Lust von Frauen
reduzieren, ein ambivalenter Kinderwunsch zu einem schwierigen Umgang mit der Pille
führen, Potenzprobleme mit einer Ablehnung des Kondoms in Zusammenhang stehen.
Fragen zu diesem Aspekt der Sexualität und Fruchtbarkeit sind daher aufschlussreich.
Das Kondom ist insofern eine besondere Verhütungsmethode, weil es als
selbstverständlicher Teil einer sexuellen Interaktion im interpersonellen sexuellen Skript
eines Menschen verankert sein muss. Das erklärt, wieso bei Vielen das „Vergessen des
Kondoms“ ein häufiger Verhütungsfehler ist, und heterosexuelle Paare regelmäßig auf
ein anderes Verhütungsmittel umsteigen.
Nicht verzichtbar sind Fragen zum Umgang mit dem Kondom bei HIV-Infizierten.
Dabei ist weniger von Bedeutung, wie sich Klientinnen und Klienten angesteckt haben
106
als vielmehr, wie sie in Zukunft mit dem Kondom umgehen werden20. Lautmann verweist
auf eine Arbeit von Clement:
„Clement untersucht das Coping von HIV-Infizierten, worin das „Kondom-Skript“
wichtig wird. Gemeint ist damit die Stellung, die das Präservativ im szenischen
Ablauf der sexuellen Interaktion einnimmt“ (Clement zit. nach Lautmann, 2002,
S.187).
Fallbeispiel Daniel H.:
Herr H. hat sich bei anonymem Sex ohne Kondom mit dem HI-Virus infiziert. Der
Hintergrund für folgende Frage ist die Hypothese, dass Nervenkitzel manchmal die
Erregung steigert:
CH: „Herr H., bei dem Sex damals, haben Sie auf das Kondom verzichtet, weil
das ein Kick sein kann?“
DH: „Nein, gar nicht. Ich würde sagen, ich kann auf mich allein nicht so gut
aufpassen. Ich kann im Wir-Modus besser mit Verantwortung umgehen. Bei dem
Sex damals habe ich leider zu viel getrunken und keiner hat das Kondom
eingefordert.“
Es zeigt sich in dieser Sequenz seine Schwierigkeit, Grenzen zu setzen. Relevant wird
dieses Thema auch in der neuen Partnerschaft. Folgende sexuelle Interaktion findet
statt: Unter massivem Alkoholeinfluss will sein Partner endlich erleben, wie sich passiver
Analverkehr anfühlt. Der Klient gibt diesem Wunsch nach, hat aber ein schlechtes
Gewissen. Er wollte abwarten, bis der HIV-Virustest negativ ausfällt.21
20
Bei medikamentös behandelten HIV-Infizierten ist derzeit State of the Art, so lange mit Kondomen zu
verhüten, bis das Virus mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr nachgewiesen werden kann. Ich
betone aber immer, dass das Verwenden von Kondomen auch dem Schutz vor klassischen
Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Gonorrhoe dient. Insbesondere eine Co-Infektion mit
chronischer Hepatitis stellt Ärztinnen und Ärzte vor große Herausforderungen bezüglich der
medikamentösen Therapie. Co-Infektionen mit Hepatitis C sind fast durchwegs bei iv-Drogenabhängigen
zu finden; Hepatitis B ist eine durch sexuelle Handlungen leicht zu übertragende Infektion. Viele
Menschen sind aber heute dagegen geimpft.
21
Die medikamentöse Therapie hat schon begonnen. Er wartet noch auf das Testergebnis, dass das HIVirus nicht mehr feststellt.
107
Mitten in der sexuellen Interaktion verliert er die Erektion. Zur Stellung des Kondoms
frage ich ihn:
CH: „Haben Sie ein Kondom verwendet?“
DH: „Ja, schon, aber ich muss mich sehr anstrengen, daran zu denken. Es ist ein
notwendiges Übel. Und ich habe schon öfters deswegen meine Erektion
verloren.“
Die Verwendung des Kondoms ist nicht selbstverständlich ins interpersonelle sexuelle
Skript eingebaut. Eine emotionale Aufwertung des Kondoms gelingt kaum. Daher ist es
auch nicht verwunderlich, dass es in einer der nächsten sexuellen Interaktionen zu
ungeschütztem Analverkehr kommt. Die Verantwortung gibt der Klient an den Freund
ab. Dieser habe es nicht eingefordert. Wir arbeiten in einem Rollenwechsel an der
Frage, ob der Freund das Restrisiko eingehen möchte. Dabei zeigt sich: Der Partner ist
anfangs begeistert vom ungeschützten Sex, am nächsten Tag kommen allerdings
Ängste vor einer Infektion in ihm hoch.
Dieses Einfühlen in den Partner hat zur Konsequenz, dass der Klient zum Einen
verstärkt selbst die Kondomverwendung einfordert, zum Anderen mit seinem Partner
bespricht, wie sie beide mit dem Kondom umzugehen gedenken. In einer der folgenden
Stunden berichtet er darüber, dass beide an der Verwendung des Kondoms festhalten
und darin einander unterstützen, bis die HI-Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt.
3.6.3.2. Variationen interpersoneller Skripte
Clement spricht davon, dass jede Person „ein Set von mehr oder weniger präferierten
Skriptentwürfen zur Verfügung hat“ (Clement, 1994, S.258). Daher kann auf der inneren
Bühne auch mit alternativen Szenarien gearbeitet werden. Das folgende Beispiel zeigt
eine Intervention, die auf der Spiel-Aktionsbühne stattfindet. Das eigentliche
interpersonelle sexuelle Skript wird aber beschrieben, nicht gespielt.
Fallbeispiel Michael N.:
Trotz des ersten gelungenen Vaginalsex, der für Herrn N. erfüllend war, berichtet er von
folgenden Bedenken seiner Partnerin: Sie fürchtet, dass er noch zu wenige Erfahrungen
108
mit anderen Frauen gesammelt haben könnte, und sie vielleicht der Grund für seine
Erektionsstörungen sein könnte. Er ist sich nicht sicher, ob sie damit nicht Recht hat.
Daher biete ich ihm die Entwicklung eines Alternativszenarios an.
Auf der Spiel-Aktionsbühne werden zwei Sessel positioniert. Der eine steht für ihn
als Beziehungspartner. Ein Stück entfernt wird ein zweiter Sessel positioniert. Dieser
steht
für
eine
alternative
Lebensrealität:
den
Klienten
als
Single.
In
der
Rolleneinkleidung des Singles ist er 27 Jahre alt, arbeitet viel und ist am Wochenende
mit seinen Freunden unterwegs. Er flirtet gern. Der Sessel ist so positioniert, dass er von
dort aus die Rolle als Partner nicht sehen kann. In der Singleposition imaginiert er
folgende Szene, welche ich mittels Interviewtechnik unterstütze:
MN: „Ich begegne einer brünetten Frau im Bikini bei einem Kiosk auf der
Donauinsel.“
CH: „Diese Frau, wie alt ist sie?“
MN: „Sie ist ungefähr 23 Jahre alt.“
CH: „Was tun Sie?“
MN: „Ich spreche sie an und wir flirten.“
CH: „Wie fühlt sich das an? Was spüren Sie im Körper?“
MN: „Ja, ich spüre schon ein Kribbeln im Bauch.“
Mit dieser Frage soll der somatische Anteil der sexuellen Rolle hereingeholt werden. Ich
leite einen Szenenwechsel ein.
CH: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen nach dieser Begegnung nach Hause.
Denken Sie an diese Frau?“
MN: „Ja, die hat mir den Kopf verdreht.“
CH: „Befriedigen Sie sich selbst dabei?“
MN: „Ja, das kann schon sein. Auf jeden Fall interessiert mich, wie diese Frau
nackt aussieht.“
(…)
Einen neuerlichen Szenenwechsel leite ich so ein:
CH: „Angenommen sie sind beide darauf aus, miteinander ins Bett zu gehen.
Was würde bei einem Wiedertreffen geschehen?“
109
Das interpersonelle Skript, das nun folgt, beinhaltet Küssen, Streicheln, Ausziehen,
Petting und Oralsex. Danach setze ich folgende Intervention:
CH: „Ihr sexuelles Skript endet beim Oralsex, wo ist der Vaginalsex?“
MN: „Hm, na wissen Sie, der Vaginalsex ist noch nicht sonderlich etabliert.“
Darauf folgt ein Rollenwechsel in seine Rolle als derzeitiger Partner, und ich stelle
folgende Frage:
CH: „Was fehlt hier im Unterschied zur Singlerolle? Was ist besser?“
MN: „Es fehlt ´das Ungewisse´, ´die Aufregung´; aber dafür gibt es mehr
Sicherheit und Vertrauen. Ich kann mich besser ausprobieren.“
Das bestätige ich, indem ich noch darauf hinweise:
„Sie machen mit Ihrer Freundin gerade Ihre ersten Vaginalsexerfahrungen. Und
so, wie es sich für mich darstellt, brauchen Sie dafür Sicherheit, die Sie außerhalb
einer Partnerschaft derzeit wahrscheinlich nicht finden können.“
3.6.4. Das ideale sexuelle Szenario und das Worst Case Szenario
Eine zentrale Intervention in der systemischen Sexualtherapie ist das ideale sexuelle
Szenario (vgl. Clement, 2011, S.188ff., vgl. idem, 2009, S.133ff.). Sie ist eine wichtige
Paarintervention.
Das ideale sexuelle Szenario ist eine Hausübung, die folgendermaßen angeleitet
wird: Dem Paar wird bis zur nächsten Sitzung aufgetragen, die sexuelle Szene
aufzuschreiben, die zu maximalem Genuss führt. Wichtig ist dabei, bei möglichst
konkreten Handlungen zu bleiben und sie möglichst detailreich zu beschreiben. Diese
können, müssen aber den Partner bzw. die Partnerin nicht einbinden. Der Text wird in
ein Kuvert gegeben und verschlossen. Darüber wird bis zur nächsten Therapieeinheit
nicht gesprochen. Was mit dem Text passiert, entscheiden dort beide für sich. Vor der
Psychotherapeutin bzw. dem Psychotherapeuten beginnt die Ausverhandlung: Es wird
jede und jeder unabhängig voneinander gefragt, ob sie/ er den Inhalt des/ der Anderen
hören will und ob sie/ er den Text preisgeben will. Der Fokus in der therapeutischen
Intervention liegt in der Exploration, welche Bedeutung der Text haben und welche
Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. Ob die Texte ein- oder beidseitig
110
offengelegt werden, bleibt bis zuletzt unklar. Im Einzelsetting habe ich diese Intervention
bisher nicht angewendet. Denn sie lebt vom Spannungsaufbau und der Ausverhandlung
zwischen dem Paar.
Abgeleitet vom idealen sexuellen Szenario habe ich aber ein Worst Case
Szenario etabliert, das ich im Monodrama manchmal anwende:
Fallbeispiel Susanne L.:
Der
folgende
Dialog
findet
zu
einem
Zeitpunkt
statt,
zu
welchem
unsere
Zusammenarbeit bereits zwei Jahre dauert und damit schon lange etabliert ist. Die
Klientin ist inzwischen stabil, wesentliche Lebensrollen meistert sie gut, von der
Trennung durch den Expartner hat sie sich erholt und erste Kontakte mit Männern finden
statt. Die Klientin thematisiert ein Treffen mit einem Mann, den sie über eine
Internetplattform kennengelernt hat. Es war angenehm, aber sie ist ambivalent, ob sie
sich auf ihn einlassen soll.
CH: „Naja, können Sie sich vorstellen, ihn zu küssen?“
SL: „Geküsst haben wir uns schon, aber das war unbefriedigend. Er war so
nervös.“
CH: „Also wenn das Küssen schon unbefriedigend war, ob sich der Sex dann
lohnt?“
SL: „Na, so schlecht war es auch wieder nicht.“
CH: „Hm… Wissen Sie eigentlich, dass wir gleich alt sind?“
SL wartet.
CH: „Wir sind erwachsen. Und vielleicht haben Sie da schon ähnliche
Erfahrungen gemacht wie ich. Manchmal weiß man nicht so recht, ob es sich
auszahlt, sich auf etwas einzulassen. Manchmal wird es dann ganz angenehm
und oft ist es so, dass man nachher sagt: Ich habs schon vorher gewusst. Das
hab ich jetzt gebraucht, um zu wissen, was ich nicht will.“
SL lacht und nickt.
CH: „Daher möchte ich Sie fragen: Was ist das Schlimmste, das Sie sich
vorstellen können?“
SL: „Abgesehen von Gewalt?“
111
CH: „Trauen Sie ihm Gewalt zu?“
SL: „Nein, sicher nicht.“
CH wartet.
SL: „Dass er schwitzt.“
CH: „Angenommen er würde schwitzen, was tun Sie da?“
SL: „Na ich kann ihm schlecht sagen, dass er zu viel schwitzt!“
CH: „Ja da haben Sie Recht, das wäre wahrscheinlich ein bisschen unhöflich. (…)
Wie wäre es zum Beispiel mit: Es tut mir leid, es passt für mich nicht. Dann
trinken Sie noch was gemeinsam und beenden den Abend.“
SL lacht: „Ach so macht man das?“
CH: „Es ist nur ein Vorschlag. Sie müssten das für sich adaptieren. Das
Entscheidende ist, bei einer Ich-Botschaft zu bleiben.“
Das eigentlich Entscheidende aber ist die Erhöhung des Selbstbestimmungsgrades,
indem ich ihre erwachsene Seite anspreche sowie die Selbstverständlichkeit, jederzeit
eine sexuelle Handlung beenden zu dürfen. Das Worst Case Szenario dient vor allem
dazu, mögliche Befürchtungen zu thematisieren. Hätte die Klientin die Angst vor Gewalt
in den Vordergrund gerückt, hätte ich anders reagiert und wir hätten an inneren
Schutzrollen gearbeitet.
In der folgenden Stunde meint sie, dass der Sex in Ordnung war, aber dass sie
ihn nicht wiederholen muss.
3.7. Erotik auf der Begegnungsbühne „pur“
Dieses Schlusskapitel legt den Fokus auf die Erotik, die sich zwischen Klientinnen und
Klienten auf der einen Seite und Psychotherapeutinnen und –therapeuten auf der
anderen Seite zeigen kann. Ich möchte dies als Erotik auf der Begegnungsbühne „pur“
(vgl. Pruckner, 2012, S.250) bezeichnen. Grundlegend sind folgende Aspekte in
Erinnerung zu rufen: Sexuelle Handlungen sind aus berufsrechtlichen und ethischen
Gründen in der psychotherapeutischen Beziehung verboten, weil sie immer einem
Machtmissbrauch entsprechen würden. Dennoch werden sowohl Klientinnen und
Klienten als auch Psychotherapeutinnen und –therapeuten nicht nur in ihren
112
professionellen, sondern auch in ihren privaten Rollen und bestimmt auch immer wieder
als erotische Wesen wahrgenommen. Befragt man Erwachsene, was wichtige Faktoren
für eine Liebesbeziehung sind, so nennen sie häufig Vertrauen, Respekt, Stabilität und
Sicherheit
–
Faktoren,
die
auch
in
der
psychotherapeutischen
Beziehung
wünschenswert sind. Daher sind Liebes- und Verliebtheitsgefühle, Partnerschafts- und
auch erotische Wünsche in der psychotherapeutischen Beziehung nicht auszuschließen.
Da dieses Kapitel mich selbst – als Teil der Begegnungsbühne „pur“ – einbezieht,
entspricht der Umgang mit erotischen Impulsen, Gefühlen, etc. auch meinem
persönlichen Bedürfnis nach Intimitätsschutz und Intimitätsgrenzen. Das Kapitel ist
daher als Skizzierung und als Anregung für Kolleginnen und Kollegen zu verstehen.
3.7.1. Setting
Um mit sexuellen Themen zu arbeiten, braucht es nicht nur Offenheit, Klarheit sowie
eine passende Sprache. Das Arbeiten mit der sexuellen Rolle verlangt auch Schutz und
Grenzen. Eine Grenze markiert in meiner Praxis ein kleiner Tisch, der sich zwischen der
Klientin/ dem Klienten und mir befindet. Die Sitzordnung ist so gewählt, dass wir
einander gegenüber sitzen, aber die Sessel schräg versetzt zueinander stehen. Damit
ist es sowohl der Klientin/ dem Klienten als auch mir möglich, den Blickkontakt gut
aufnehmen und halten zu können, aber auch ohne Weiteres aneinander vorbei zu
sehen. Das halte ich für förderlich, um eine „Innenschau“, wie sie für die Arbeit auf der
inneren Bühne wichtig ist, zu ermöglichen. Ein direkter Blickkontakt würde vielleicht zu
konfrontativ, ein Blick von der Seite als unangenehm beobachtend erlebt werden.
Auf der Spiel-Aktionsbühne halte ich mich an eine Konvention, ein kulturelles
Skript. Die maximale Körpernähe zwischen der Klientin/ dem Klienten und mir entspricht
in etwa dem Abstand, den man bei der Begrüßung mit einer/ einem Bekannten einhält.
Dies wäre in etwa der Abstand von einer Armlänge. Trete ich näher, wie dies manchmal
beim Doppeln nötig wird, frage ich erst um Erlaubnis. Körperliche Berührungen finden
außer zur Begrüßung und beim Abschied nicht statt. Das ist aus meiner Sicht nicht nur
bei erotischen Szenen wichtig, sondern auch bei anderen Szenen; beispielsweise
solchen, bei denen es um Trost geht. Spüre ich zum Beispiel den Impuls, eine Klientin
113
oder einen Klienten zu umarmen und damit zu beruhigen, biete ich als Intermediärobjekt
ein Taschentuch an. Eine andere Möglichkeit besteht darin, der Klientin/ dem Klienten
einen Polster anzubieten, selbst einen Polster zu nehmen und zu zeigen, wie man sich
trösten kann.
3.7.2. Sharing
Als Sharing wird eine Technik bezeichnet, die eigene Erfahrungen Klientinnen und
Klienten zur Verfügung stellt. „Sharing entlastet durch die Erfahrung, mit den eigenen
Gefühlen, Gedanken, Impulsen und Erfahrungen nicht allein zu sein“ (Stadler & Kern,
2010, S.132). Dabei gilt, eigene Erfahrungen nur dann einzubringen, wenn sie der
Klientin bzw. dem Klienten dienen. Bei erotischen und sexuellen Themen überlege ich
mir nicht nur, was ich erzähle, sondern auch in welcher Form ich persönliche
Erfahrungen mitteile. Ein für mich typisches Sharing findet sich im Fallbeispiel von
Susanne L. im Kapitel 3.6.4. Intrapsychische und interpersonelle sexuelle Skripte
offenbare
ich
praktisch
nie,
kulturelle
Skripte
in
Maßen.
Eine
Form
einer
sexualitätsbezogenen Mitteilung, die dem Sharing ähnlich ist, habe ich mir in vielen
Stunden
Sexualpädagogik
erarbeitet.
Dabei
werden
persönliche
Informationen
zugunsten einer allgemeineren Ebene verändert. „Vielen Menschen geht es so wie
ihnen derzeit…“. Voraussetzung dafür ist freilich, dass diese Informationen auch richtig
sind sowie, dass es sich nicht um Plattitüden handelt.
3.7.3. Umgang mit eigenen erotischen Impulsen
Menschen sind nicht nur beispielsweise durch Freude oder Trauer affizierbar, sondern
selbstverständlich auch durch sexuelle Lust. Dabei können eigene erotische Impulse als
Reaktion
auf
verschiedene
Signale
entstehen.
Sehr
wahrscheinlich
nehmen
Psychotherapeutinnen und –therapeuten erotische Impulse, Gefühle und auch
körperliche Reaktionen wahr, wenn Klientinnen oder Klienten innere sexuelle
Drehbücher offenbaren. Vor allem dann, wenn diese Erzählungen beim eigenen
erotischen Profil anschlussfähig sind, also eigenen sexuellen Phantasien, Wünschen
114
oder Vorlieben entsprechen. Die Fähigkeit zu einer professionellen Rollendistanz zu den
eigenen Impulsen ist daher für die Arbeit mit Klientinnen und Klienten unabdingbar.
Sexuelle Impulse können aber auch aufgrund von (körperlicher) Attraktivität des
Gegenübers entstehen. Der Unterschied zur Reaktion auf die Offenbarung von
sexuellen Skripten liegt darin, dass sich diese Impulse direkt auf die Klientin bzw. den
Klienten beziehen. In solchen Fällen ist eine regelmäßige Reflexion nötig. Für mich
beispielsweise verwende ich den Satz: „Wenn ich sie/ ihn in einem anderen Kontext
kennengelernt hätte, würde ich mit ihr/ ihm auf einen Kaffee gehen?“ Fällt die Antwort
für mich positiv aus, muss mir bewusst sein, dass gegenseitige Sympathie und
Attraktivität hilfreich für die psychotherapeutische Arbeit sein können, aber auch die
Gefahr lauert, die Beziehung für meine Bedürfnisse zu missbrauchen.
Sinnvoll ist zudem, Supervision für die Erarbeitung folgender Fragen zu nutzen:
Was finde ich an dieser Person anziehend? Was mache ich, wenn ich mich verliebt
habe? Kann ich noch eine professionelle Distanz wahren? Bin ich noch hilfreich für die
Klientin/ den Klienten? Kann ich die beiden letzten Fragen nicht mehr eindeutig bejahen,
muss ich die Klientin bzw. den Klienten an eine Kollegin oder einen Kollegen weiter
verweisen.
3.7.4. Sexualisierungen auf der psychotherapeutischen Begegnungsbühne Grenzverletzungen
Trotz allen Bemühens um den Schutz der psychotherapeutischen Beziehung kann nicht
immer garantiert werden, dass es keinesfalls zu Grenzverletzungen kommt. Sie sollten
aber zumindest nicht von therapeutischer Seite her stattfinden22. Dies soll folgendes
Fallbeispiel illustrieren.
22
Wobei nicht immer ausgeschlossen werden kann, dass Grenzüberschreitungen unbeabsichtigt und
unbemerkt von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stattfinden. Aber das betrifft nicht nur den
Bereich „Erotik und Sexualität“!
115
Fallbeispiel Karl T.:
Für den Klienten, Anfang 50, rief ein Arzt mit der Bitte um eine Krisenintervention bei mir
an. Das war auffällig, weil sich in der Regel Klientinnen und Klienten selbst bei mir
melden. Der Klient nahm etwa drei Tage später mit mir Kontakt auf. Den vereinbarten
Termin verschob er noch einmal um eine Woche. Als er schließlich zu mir kommt – 5
Minuten nach der vereinbarten Zeit – ist er noch mitten in ein Telefonat verwickelt, das
er vor mir noch zu Ende führt. Nach dem Telefonat berichtet er mir von einem Überfall
während seines Urlaubs im Ausland, bei dem er schwer verletzt wurde. Daher kann er
nun längere Zeit seiner Arbeit nicht nachgehen. Die Täter kannte er aus dem illegalen
Sexarbeitermilieu und vermutet als Motiv einen homophoben Anschlag auf ihn. (…).
Auf der Begegnungsbühne bin ich hin- und hergerissen zwischen Ärger,
Neugierde, Überforderung und Faszination ob seiner Inszenierung. Es fällt mir schwer,
eine Grundstruktur meines Erstgesprächs zu halten und durchzusetzen. Am Ende des
Gesprächs habe ich sehr viel von seiner Lebensgeschichte inklusive seiner Sexualität
erfahren, aber weder wurde ein Therapieziel festgelegt noch die Rahmenbedingungen
geklärt. Aber ich spüre folgenden Auftrag ganz deutlich: Es geht ihm um Kontakt, um
Beziehung per se. Dabei reinszeniert er mit mir ein für ihn scheinbar typisches
Beziehungsmuster: für (intime) Kontakte zu zahlen. Die Ausgangslage ist daher etwas
schwierig, denn einerseits bin ich bereit, ihm in seiner Not als Gesprächspartner zur
Verfügung zu stehen, andererseits besteht die Gefahr, instrumentalisiert zu werden.
Auch merke ich sehr wohl, dass er erotisch an mir interessiert ist. Ich vermute allerdings,
dass das mit mir als Person sehr wenig zu tun hat, und ich für ihn völlig auswechselbar
bin. Die therapeutische Leitlinie lautet daher für mich: Grenzen setzen und sehr achtsam
im Spannungsfeld von Nähe und Distanz zu arbeiten. Struktur und Zeitrahmen zu
wahren ist ein vorrangiges Ziel. Dies zeigt sich sofort zum Abschluss des Erstgesprächs,
das wir um ca. 5 Minuten überzogen haben. Er meint, er findet den österreichischen
Umgang mit Zeit kleinlich, woraufhin ich entgegne: „Wenn Sie zu spät kommen, haben
Sie weniger Zeit für die Psychotherapie zur Verfügung; das ist Ihre Verantwortung. Ich
werde nicht überziehen und für heute ist die Zeit schon um.“ Dennoch muss ich ihn sehr
deutlich aus meiner Praxis hinauskomplimentieren.
116
Im Verlauf des relativ kurzen psychotherapeutischen Prozesses ist es für ihn hilfreich,
den Überfall im Ausland zu besprechen. Allerdings zeigt sich bald, dass er sich sehr
häufig in Risikosituationen bringt: Diese zeigen sich in Form seines Drogenkonsums,
seiner wahllosen sexuellen Kontakte, die ihm regelmäßig sexuell übertragbare
Infektionen bescheren, seines Hanges, sich auf Menschen einzulassen, die ihn
bestehlen oder ihn ausbeuten, etc. In mir wird eine komplementäre Rolle aktiviert, die
immer wieder zu Vernunft und zur Vorsicht mahnt. Diese Rolle mag angemessen und
verständlich sein, aber hilfreich ist sie nicht. Vorsicht ist auch das leitende Motiv in der
Nähe-Distanz-Regulierung.
Die Sexualisierungstendenz auf der Begegnungsbühne fordert mich ständig auf,
„auf der Hut zu sein“ und gipfelt letztlich in der letzten gemeinsamen Therapieeinheit. Es
gilt Abschied zu nehmen. Er thematisiert unsere Beziehung und meint, dass er es
interessant findet, dass wir immer per Sie geblieben sind. Ich antworte, dass ich das DuWort für unsere Art der Arbeitsbeziehung als nicht-passend erlebe und das nicht will. Er
drückt sein Bedauern aus, berichtet aber sogleich von einem Physiotherapeuten, den er
ab dem 3. Mal geduzt hat. Ein sexuelles Abenteuer mit ihm war das Ergebnis. Mein
strenger Blick lässt ihn kleinlaut werden und er sagt, dass er verstehen kann, dass wir
einander nie geduzt haben.
Bei der Verabschiedung an der Praxistür bemerke ich ein echtes Bedauern
seinerseits, er bedankt sich sichtlich traurig, aber zuletzt drückt er mir zu meiner
Überraschung doch noch einen Kuss auf die Wange und geht.
117
4. Diskussion
Begriffe unterliegen häufig einem Bedeutungswandel. Bei einem derart vielschichtigen
und komplexen Begriff wie „Sexualität“ trifft dies umso mehr zu. Tatsächlich verzichten
einige Autorinnen und Autoren auf eine Definition des Begriffes „Sexualität“ und setzen
auf ein intuitives Verstehen (vgl. Lautmann, 2002, S.19ff.).
Der Begriff „Sexualität“ ist erst ungefähr 200 Jahre alt. Er entstand „im
Zusammenhang mit einer Neubestimmung der Kategorie Geschlecht, insbesondere der
Bilder von Frau und Mann“ (ibid., S.19). Seit damals gab es eine Unzahl an Versuchen,
den
Begriff
zu
präzisieren.
Eine
genaue
Definition
scheitert
aber an
ihrer
Vielschichtigkeit. Daher muss eine Abstraktion erfolgen, die einen Bedeutungskern
definiert (vgl. Sielert, 2005, S.37f.). Dies waren die erste Herausforderung und auch
Ausgangspunkt für diese Masterthese.
Grob vereinfacht lassen sich heute zwei verschiedene Gedankenkonstrukte zu
„Sexualität“, „sexuellem Sinn“ und Sexualverhalten ausmachen. Das ältere Konstrukt
geht von einem biologischen Sinn aus. Dabei gilt das Sexualverhalten über Hormone
gesteuert und dient dem Zweck der Arterhaltung. Das aus der Psychoanalyse
stammende „Triebmodell“ ist das zugehörige Erklärungsmodell (vgl. Kap. 2.1.2.). Dieser
Glaube an eine „natürliche“ Sexualität wurde durch die Forschungen von Masters und
Johnson
in
den
1960er-Jahren
noch
verstärkt.
Das
Modell
des
sexuellen
Reaktionszyklus (vgl. Hofer, 2013, S.11f.), das auf empirischen Daten beruht, führte zu
einer Grundposition in der klassischen Sexualtherapie, die einen „normalen“,
„ungestörten“ und „gesunden“ sexuellen Ablauf postuliert und vor allem „von
feministischer und sozialwissenschaftlicher Seite kritisiert und relativiert“ (Clement,
2011, S.20) wird:
„Die Kritik kreist um zwei Kernpunkte: (1) der HSRC [= Human Sexual Response
Cycle, Anm. d. Verf.] nehme ein soziales Geschehen (Geschlechtsverkehr) aus
dem interaktiven Kontext heraus, in dem es entsteht, und mache damit
unzulässigerweise kulturelle zu natürlichen Abläufen. (2) Der HSRC bagatellisiere
den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität und stelle ein
118
scheinbar geschlechtsneutrales Muster dar, das faktisch aber von einer
männlichen Sicht dominiert sei.“ (vgl. ibid.)
Das zweite Gedankenkonstrukt versucht sich daher an der Vielfalt an verschiedenen
Lebens- und Liebeskonzepten zu orientieren. Damit wird sexuelles Handeln aus einer
sozialwissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Dieses recht moderne Konzept, das
sich in vielfacher Weise in aktueller Literatur namhafter deutscher Autorinnen und
Autoren widerspiegelt (z.B. Clement, 2011, Schmidt & Sielert, 2008, Schmidt, 2011,
Sigusch, 2005, etc.), rückt die biologischen Motive in den Hintergrund und betont
kulturelle, individuelle und interpersonelle Faktoren. Auch nicht-sexuelle Motive werden
berücksichtigt: beispielsweise Bedürfnisse nach Nähe, nach Intimität, nach Spaß, nach
Kommunikation. Fruchtbarkeit und insbesondere der Fortpflanzungsaspekt spielen eine
Rolle, sind aber den anderen Sinnaspekten nicht übergeordnet (vgl. Kap. 2.1.2.). Mit
diesem Konzept lassen sich die sexuelle Motivation und die Pluralität der sexuellen
Ausdrucksmöglichkeiten gut erklären.
Ich habe diese Sichtweise von Sexualität als Grundlage meiner Arbeit gewählt.
Auch deshalb, weil sie mit dem humanistischen Menschenbild gut vereinbar ist. Ich habe
in
dieser
Masterthese
versucht,
dieses
breite
Sexualitätsverständnis
für
Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker über die Rollentheorie aufzubereiten. Ich
beschreibe Sexualität als sexuelle Rolle, die einen kollektiven (z.B. das romantische
Liebesideal, die Heteronormativität, die aktuelle sexuelle Leistungsorientierung oder die
Pro-Sex-Norm, vgl. Kap. 2.2.2.) und einen individuellen Anteil (Sexualität zwischen
Rollengestaltung und Rollenkonserve, vgl. Kap. 2.2.3.) enthält. Die sexuelle Rolle
entwickelt sich entlang der persönlichen Rollenentwicklung ein Leben lang. Typische
Stufen dieser Entwicklung sind: Auf der psychosomatischen Rollenebene die
Entwicklung der sexuellen Lust (vgl. Kap. 2.2.5.2.), auf der psychodramatischen
Rollenebene die Entwicklung von sexuellen Skripten sowie das Erlernen der Fähigkeit,
Wünsche
und
Phantasien
soziodramatischen
entwickelnde
zu
Rollenebene
Fähigkeit
zur
unterscheiden
schließlich
eine
(vgl.
Kap.
über
Perspektivenübernahme
2.2.5.3.),
mehrere
(vgl.
Kap.
auf
der
Niveaus
sich
2.2.5.4.).
Sie
beeinflussen auch die „sexuellen Kompetenzen“ im Erwachsenenalter (vgl. Kap.
119
2.2.5.5.). Für das Rollenverständnis als Handlungsprinzip lassen sich gut die sexuellen
Skripte, verstanden als Drehbücher sexueller Handlungen, verwenden (vgl. Kap. 2.2.4.).
Sie
bieten
sich
als
eine
weitere
wesentliche
Grundlage
der
psychodramatherapeutischen Arbeit mit sexuellen Themen an: nämlich einen gewissen
Intimitätsschutz in der psychotherapeutischen Arbeit zu ermöglichen. Insbesondere der
systemische Skriptbegriff kann mit dem Spontaneitäts- und Kreativitätszyklus in
Einklang gebracht werden (vgl. Kap. 2.2.4.4.).
Ich beschränke meine Überlegungen in dieser Masterthese ausschließlich auf das
Setting des Monodramas und lege hierbei zusätzlich den Schwerpunkt auf die Arbeit auf
der sogenannten „Begegnungsbühne“. Der Begriff „Begegnungsbühne“ hat eine
Doppelbedeutung (vgl. z.B. Pruckner, 2001, S.81). So meint er ursprünglich sowohl
einen realen Ort, an dem sich die Arbeit zwischen Klientinnen und Klienten mit ihren
Psychotherapeutinnen und –therapeuten entfaltet, als auch die Arbeit an der
psychotherapeutischen Beziehung. Pruckner merkt an, dass nicht jede Arbeit im Sitzen
auch Arbeit auf der Begegnungsbühne bedeutet (vgl. idem, 2012, S.243). Sie markiert
deutlich die Arbeit an der psychotherapeutischen Beziehung, indem sie von
„Begegnungsbühne pur“ spricht (vgl. ibid., S.250). In einer brandaktuellen Kursunterlage
(nicht veröffentlicht) scheint der Begriff „Begegnungsbühne“ ausschließlich die
Rollenkonfigurationen,
die
Inszenierungen
und
Reinszenierungen
in
der
psychotherapeutischen Beziehung zu beschreiben.
Ich differenziere analog zu Pruckner Begegnungsbühne und Begegnungsbühne
„pur“. Wie
ich
in Kap. 3.3. dargelegt
Begegnungsbühne
folgende
Faktoren
habe,
sind für die
relevant:
Die
Gestaltung der
Haltung
der
Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten zu Sexualität/sexuellen Themen, die
therapeutische Konstellation in Bezug auf Geschlechts- bzw. Genderzugehörigkeit und
das Etablieren einer geeigneten Sprache im Rahmen der therapeutischen Begegnung.
Die Werte, die meine psychotherapeutische Haltung in der Arbeit mit sexuellen
Themen begründen, sind im Kapitel 3.3.1. genauer ausgeführt. Diese sind: die sexuellen
und reproduktiven Menschenrechte, der Diversity-Ansatz, das Neutralitäts-Prinzip und
die Ressourcenorientierung.
120
Zur Frage der geschlechtsspezifischen Konstellation in der therapeutischen Dyade zeigt
sich, dass psychotherapeutische Interventionen, die sehr körpernah sind und damit die
psychosomatische Rollenebene fokussieren, in der gegengeschlechtlichen Konstellation
schwieriger als in der gleichgeschlechtlichen durchzuführen sind. Sexuelle Themen, die
sich aber auf die psycho- und soziodramatische Rollenebene beziehen, z.B. erotische
Wünsche, sexuelle Motive, Identitäts- und Beziehungsaspekte, sind auch in der
gegengeschlechtlichen therapeutischen Konstellation gut bearbeitbar (vgl. Kap. 3.3.2.).
Wesentlich
für
sexualitätsbezogenen
passenden
das
Gelingen
Fragestellungen/
sexualitätsbezogenen
psychotherapeutischer
Problemlagen
Sprache.
Im
ist
Kapitel
Prozesse
das
Entwickeln
3.3.3.
werden
zu
einer
sowohl
verschiedene Sprachniveaus thematisiert als auch anhand von Beispielen der
situationsbezogene Einsatz der Sprache vorgestellt: Dabei gilt eine Konkretisierung als
hilfreich, die Lage der Klientinnen und Klienten muss aber immer berücksichtigt werden.
Die Begegnungsbühne ist implizit in der psychotherapeutischen Arbeit immer
enthalten. Rollenerwartungen der Klientinnen und Klienten zeigen sich häufig schon im
Erstkontakt oder im Erstgespräch. In Kapitel 3.4. wird darauf eingegangen, welche
Medien zur Kontaktaufnahme genutzt werden (können) und welche Anliegen rund um
Sexualität Anlass der Kontaktaufnahme für therapeutische Begleitung/ Behandlung im
Einzelsetting sein können. Hier habe ich aufgezeigt, dass nur ein Teil der Klientinnen
und Klienten wegen sexueller Funktionsstörungen in der psychotherapeutischen Praxis
vorstellig wird. Das Sexualleben kann vielfach negativ beeinflusst werden: von
verschiedenen psychischen und physischen Erkrankungen, Unzufriedenheit in der
Partnerschaft und Unklarheiten in der sexuellen Orientierung.
Wichtig erschien mir, mich damit zu beschäftigen, wie Fragen nach Sexualität in
psychotherapeutischen Prozessen auch dann Platz finden können, wenn Klientinnen
und Klienten wegen anderer Problemlagen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch
nehmen. Das ist deshalb von Bedeutung, weil das Sprechen über Sexualität oft
tabuisiert ist, Unsicherheiten und Schwierigkeiten im Sexualleben aber häufig sind. Im
Kapitel 3.4.2. zeige ich anhand von Fallbeispielen, dass entsprechende Fragen
anschlussfähig sein müssen, um nicht zu irritieren.
121
Kapitel 3.5. beschreibt Möglichkeiten, wie mit sexualitätsbezogenen Themen auch auf
der Spiel-Aktionsbühne gearbeitet werden kann, ohne den Intimitätsschutz zu
gefährden. Die Arbeit auf der Begegnungsbühne spielt hierbei eine besondere Rolle,
weil sie ermöglicht, den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Intimitätsschutz und nach
Offenheit zu berücksichtigen. Hier wird deutlich, dass das Externalisieren von erotischen
Ressourcen, die Arbeit mit Sinnaspekten, das Benennen der sexuellen Rolle und auch
Dialoge mit der Lust sowie mit Geschlechtsorganen möglich sind, das Darstellen
erotischer Handlungen auf der Spiel-Aktionsbühne aber den Intimitätsschutz der
Klientinnen und Klienten gefährdet.
In Kapitel 3.6. wird dargestellt, wie die Arbeit mit sexuellen Handlungen auf der
„inneren Bühne“ erfolgen kann. Das Beschreiben sexueller Szenen in Form von
kulturellen, intrapsychischen und interpersonellen Skripten ermöglicht mehr Distanz als
das psychodramatische Spiel sexueller Szenen und trägt daher dem Bedürfnis nach
Intimitätsschutz in besonderem Maße Rechnung.
Das Kapitel 3.7. beschäftigt sich mit der Erotik, die sich zwischen Klientinnen
bzw. Klienten und Psychotherapeutinnen bzw. –therapeuten zeigen kann sowie, welche
Strategien ich einsetze, um möglichst einer Sexualisierung der psychotherapeutischen
Beziehung vorzubeugen. Da es hier um die psychotherapeutische Beziehung per se
geht, spreche ich analog zu Pruckner von der Erotik auf der Begegnungsbühne „pur“.
Theoretischer
Erkenntnisgewinn
dieser
Masterthese
ist
also
die
Entwicklung
psychodramatheoretischer Überlegungen zu „Sexualität als Rolle“, zur Entwicklung
dieser „sexuellen Rolle“ und der mit ihr verbundenen (sexuellen) Kompetenzen.
Der praxisbezogene Erkenntnisgewinn dieser Masterthese ist die Darstellung, wie
die Arbeit auf der Begegnungsbühne („pur“ ebenso wie begleitend zur Arbeit auf innerer
oder äußerer Bühne) gestaltet werden kann, um eine weitgehende Offenheit zu
ermöglichen und zugleich die Intimität des Klienten bzw. der Klientin zu schützen. Diese
Überlegungen zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist die Basis für jegliche
Intervention. Daher ist es wichtig, sich der psychotherapeutischen Haltung zu widmen
(vgl. Kap. 3.3.1.). Diese ähnelt dem Ansatz aus der systemischen Sexualtherapie
insofern, als sie als ressourcenorientiert und ergebnisoffen bezeichnet werden kann.
122
Um für einen Intimitätsschutz der Klientinnen und Klienten zu sorgen, arbeite ich auf der
inneren Bühne mit Drehbüchern für erotische Szenen. Diese entsprechen den sexuellen
Skripten aus der systemischen Sexualtherapie, werden jedoch um die ursprünglichen
Begriffe „intrapsychische, interpersonelle und kulturelle Skripte“ von Gagnon und Simon
ergänzt (vgl. Kap. 2.2.4. und Kap. 3.6.). Mit dieser Differenzierung wird es möglich, eher
den kollektiven oder den privaten Anteil der sexuellen Rolle zu fokussieren. Die
Berücksichtigung auch der kollektiven, kulturellen Seite einer Rolle zeichnet für mich in
besonderem Maße das Psychodrama aus.
Deutlich unterscheidet sich mein therapeutisches Vorgehen von dem der
systemischen Sexualtherapie insbesondere durch die Arbeit auf der Spiel-Aktionsbühne
(vgl. Kap. 3.5.). Auf dieser finden beispielsweise Dialoge mit Gefühlen oder Körperteilen
statt, Verhandlungsprozesse mit der Partnerin oder dem Partner werden probiert,
bewertende und beurteilende Rollen werden eingenommen, etc. Auch die Arbeit mit
dem Aufstellungsbrett, auf der Anteile der sexuellen Rolle, Motive und Bedeutungen
externalisiert werden können, findet sich in der Literatur Clements nicht.
Diese typischen psychodramatischen Interventionen zeigen deutliche Parallelen
mit
der
von
Hofer
vorgestellten
Psychodrama-Sexualtherapie
(Hofer,
2013),
unterscheiden sich aber auch in einigen Punkten wesentlich. Dies betrifft vor allem die
aus dem Hamburger Modell stammenden Streichelübungen (vgl. ibid., S.25ff.), die aus
meiner Sicht die psychosomatische Rollenebene im Paarkontext betonen. Ich wende
diese Übungen nicht nur deshalb nicht an, weil sie im Monodrama nicht durchführbar
sind. (Es fehlt das Einverständnis der Partnerin bzw. des Partners.) Vor allem liegt dies
daran, weil ein wesentliches Kernelement der therapeutischen Herangehensweise in
dieser
klassischen
Therapieform
zu
wenig
berücksichtigt
wird,
nämlich
die
Veränderungsneutralität. Das wird insofern deutlich, als die Übungen einen linearen,
aufeinander aufbauenden Charakter haben und sich an einem „natürlichen“ sexuellen
Reaktionszyklus orientieren: Nach Streicheln 1 folgt Streicheln 2 – das Ziel ist
gelingender Vaginalverkehr.
123
5. Resümee und Ausblick
Mein Hauptanliegen für diese Masterthese war, eine Möglichkeit zu finden, einen
Sexualitätsbegriff in die Psychodramatheorie einbetten zu können. Dafür habe ich mich
auf
die Rollentheorie konzentriert. Auch das therapeutische Vorgehen sollte
psychodramatisch erklärbar und anschlussfähig sein, mit der Auflage, für einen
ausreichenden Intimitätsschutz von Klientinnen und Klienten zu sorgen. Damit war mir
von Anfang an bewusst, dass das Spielen sexueller Szenen nicht möglich ist.
In Hinblick auf die Bedürfnisse von Klientinnen und Klienten erscheint mir vor
allem wichtig, Möglichkeiten anzubieten, wie mit der sexuellen Rolle in der
„psychodramatischen Allgemeinpraxis“ im weit verbreiteten Einzelsetting gearbeitet
werden kann. Das hat für mich deshalb diese hohe Bedeutung, weil das Angebot von
Psychotherapie
für
Klientinnen
und
Klienten
niederschwelliger
ist
als
eine
sexualtherapeutische Praxis aufzusuchen. Daher finden sich in dieser Masterthese nur
wenige Fallbeispiele, die Klientinnen und Klienten mit sexuellen Funktionsstörungen
behandeln; ein typisches Betätigungsfeld von Sexualtherapeutinnen und -therapeuten.
Ich lege in dieser Masterthese den Schwerpunkt auf die psychotherapeutische
Beziehungsgestaltung in Bezug auf Anliegen rund um Sexualität. Die therapeutische
Beziehung ist immer die Basis für das Gelingen eines Prozesses. Davon ausgehend
wären noch viele weitere Forschungsarbeiten sinnvoll. Beispielsweise wäre interessant,
welche Rollenerwartungen Klientinnen an Psychotherapeutinnen in Bezug auf sexuelle
Themen haben. Was bei der Gestaltung der Begegnungsbühne mit Paaren zu beachten
ist,
in
welcher
Weise
bei
der
Arbeit
mit
heterosexuellen
Paaren
das
Geschlechterverhältnis eine Rolle spielt (z.B. eine weibliche Psychotherapeutin und ein
verschiedengeschlechtliches Paar – wie sieht es mit Geschlechterloyalität oder mit
Konkurrenz aus?). Auch wäre für mich interessant, wie eine Öffnung einer Einzel- zu
einer Paartherapie gelingen und mit der Triangulierung umgegangen werden kann.
Zuletzt stellt sich die Frage, ob und wie sexuelle Themen in einem Gruppensetting Platz
finden könnten, vor allem in Hinblick darauf, wie für die Balance zwischen Offenheit und
Intimitätsschutz für alle Beteiligten gesorgt werden kann.
124
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