Neue Z}rcer Zeitung INLAND Montag, 03.01.2000 Nr.1 8 Gesellschaft und Religionen Ein neues Forschungszentrum in Lausanne rfr. Lausanne, Ende Dezember In Lausanne ist im Dezember das «Observatoire des religions en Suisse» an der Lausanner Universität der Öffentlichkeit vorgestellt und eingeweiht worden. Das «Observatoire» wird sich als eine interdisziplinäre Forschungs-, Informations- und Dokumentationsstelle mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des Religiösen befassen. Seine Funktion als Plattform hat es gleich zur Eröffnung mit einem international besetzten Symposium über «Regulierung der Religionen durch den Staat» wahrgenommen. Kein blosses «Sekteninstitut» In gewissem Sinne ergänzt es das «Département interfacultaire d'histoire et de science des religions», in dem seit gut zehn Jahren die theologische, die geisteswissenschaftliche und die sozialwissenschaftliche Fakultät zusammenarbeiten. Das von Roland Campiche geleitete Observatoire ist als ein vom Nationalfonds mitfinanziertes schweizerisches und interfakultäres Forschungszentrum (im Sinne der Kompetenzzentren) konzipiert, das eng mit anderen Hochschulen und Instituten zusammenarbeitet und in dessen Vorstand auch bereits andere Universitäten (JeanFrançois Mayer, Freiburg, Fritz Stolz, Zürich) vertreten sind. Campiche unterstrich bei der Vorstellung des Observatoire, dass es sich um ein seit langem verfolgtes Projekt handle. Er beugte damit dem Eindruck vor, dass dieses Forschungszentrum im Zusammenhang mit den Initiativen stehe, die auf den Sonnentempler-Fall hin ergriffen wurden. Nach dem Drama wurde allenthalben in kantonalen Parlamenten nach einem Engagement des Staates gerufen. Vor allem die Genfer Behörden entwickelten einen beträchtlichen Aktivismus, der auf eine Art Sektenprophylaxe hinsteuerte. Sowohl die Bemühungen um gesetzliche Bestimmungen, die vor allem kommerzielle Aktivitäten von problematischen «Kirchen» ins Visier nehmen sollten, als auch die Vorschläge für eine interkantonale Informationsstelle blieben bisher im schwierigen Terrain stecken. Von solchen politisch-rechtlichen Zielsetzungen unterscheidet sich der wissenschaftliche Charakter des neuen Forschungszentrums, das nicht © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG einfach als Veranstaltung zur Beobachtung von Sekten missverstanden werden darf. Es soll den Wandel des Religiösen und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen analysieren. Die Sekten werden ein wichtiges Thema bilden, das aber in diese Gesamtschau integriert bleiben soll. Es geht um die Frage, wie die Gesellschaft, der Staat, die Medien mit dem Religiösen umgehen. Destabilisierung von innen und aussen Soll der Staat in religiösen Angelegenheiten Zurückhaltung üben oder ordnend eingreifen? Das erste Symposium stand unter dem Titel «La régulation de la religion par l'Etat: nouvelles perspectives?» Das Kolloquium war geographisch und thematisch vielfältig angelegt. Drei Schwerpunkte liessen sich immerhin ausmachen: das Auftreten des Islam in Europa, wo er gegenwärtig bestehende Gleichgewichte besonders sichtbar herausfordert, weiter die Schule als erstrangiger Konfliktort und schliesslich Genf, das – dem französischen Modell verwandt – Staat und Kirche besonders klar trennt. Jean Baubérots (Paris) zeigte an der Wahl eines den Islam repräsentierenden Gremiums in Belgien im vergangenen Jahr auf, wie schwierig bei einem solchen Unternehmen Repräsentativität herzustellen und die Wählerschaft zu definieren ist. Danièle Hervieu-Léger (Paris) erläuterte am Beispiel Frankreichs, wie nicht nur neue, noch nicht institutionalisierte Formen von Religiosität das historisch begründete Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Frage stellen, sondern ebenso die grossen traditionellen Kirchen, die mit ihrem «inneren» Pluralismus nicht mehr fertig werden. Im Grunde verliess sich aber der laizistische Staat darauf, dass die Kirchen ihre Angelegenheiten selber regelten. Was soll der Staat nun tun? Als mögliche Szenarien sieht Hervieu-Léger erstens ein «Laisser-faire», bei dem der Staat Kirchen und Bewegungen gewissermassen dem Markt überlässt, zweitens eine ordnende Funktion des Staates, der beispielsweise vorschreibt, was eine akzeptable Religion sein soll, drittens eine Art Vermittlerdienste, welche die religiösen Organisationen untereinander ins Gespräch bringen. Hält das laizistische Modell? Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung INLAND Martina Späni (Bern) ging in ihrem historischen Rückblick auf die Entwicklung in der Schweiz von den Verhältnissen im 18. Jahrhundert aus, als die Kantone noch in hohem Masse konfessionell homogen waren. Im 19. Jahrhundert wirkte sich die Glaubensfreiheit zunächst mehr als eine Art Minderheitenschutz aus. Die liberalen Reformen in der Mitte des Jahrhunderts zielten dann auf eine Trennung von Schule und Kirche, ohne zugleich auch eine Trennung von Staat und Kirche anzustreben. Aus dieser Entwicklung ist eine Vielfalt von Lösungen hervorgegangen, die die Schweiz auch in diesem Bereich zu einem eigentlichen Laboratorium machen. Beim Genfer Modell muss, wie Walo Hutmacher (Genf) betonte, bedacht werden, dass es von einem Kanton gewählt wurde, in dem die calvinistische Stadt seit dem Wiener Kongress mit einem katholischen Umland zusammenleben musste. Der laizistische Staat sollte den konfessionellen Frieden sichern und ist insofern weniger © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Montag, 03.01.2000 Nr.1 8 antiklerikal als die im konfessionell homogenen Frankreich erfolgte Trennung von Staat und Kirche. Das Prinzip der «Neutralität» an der Schule ist in Genf tief verankert und, wie die eindeutige Reaktion im Fall des Kopftuches zeigte, auch heute noch kaum antastbar. Hutmacher leitete die von der Erziehungsdirektion eingesetzte Arbeitsgruppe, die sich mit der Behandlung religiöser Themen an der Schule befasste. Er konnte also aus Erfahrung berichten, mit welcher Subtilität dieses Thema behandelt werden muss, wenn nicht sofort Stürme der Entrüstung ausbrechen sollen. An andern Orten scheint dieser Grundsatz der Laizität heute zu wackeln. Enzo Pace (Padua) wies darauf hin, wie im Zeichen der Identitätskrise des Nationalstaates liberale Bestrebungen, auch den Schulbereich zu deregulieren, in bemerkenswerter Weise mit der katholischen Nostalgie für konfessionelle Schulen konvergieren. Blatt 2