Lösungsskizze Fall 1 (50 Punkte + 3 Zusatzpunkte) Frage a: Einweisung (18) I. Anwendbares Recht (1) • • Es gilt der Grundsatz, dass auf eine medizinrechtliche Fragestellung dasjenige Recht Anwendung findet, dem auch der Leistungserbringer untersteht. Gemäss Sachverhalt handelt es sich bei Silvia um die private Hausärztin von Johanna, es kommt somit Bundesprivatrecht (ZGB, OR) zur Anwendung. Hinweis: Vorliegend steht die Zulässigkeit einer freiheitsentziehenden Massnahme i.S.v. Art. 426 ff. nZGB in Frage. Bei den Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung handelt es sich materiell um öffentliches Recht, weshalb sie auch in öffentlichen Kliniken und Spitälern anwendbar wären. (1 ZP) II. Zulässigkeit des Einweisungsentscheids (17) 1. Qualifikation des Eingriffs (1) • Die Einweisung in eine Spezialklinik und die dortige Behandlung stellen einen Eingriff in die Persönlichkeit, genauer in die Bewegungsfreiheit sowie in die psychische und physische Integrität der betroffenen Person dar (Art. 28 Abs. 1 ZGB). • Eingriffe in die Persönlichkeit sind widerrechtlich, sofern nicht ein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 28 Abs. 2 ZGB vorliegt. • Einwilligung des Verletzten (informed consent) • Rechtfertigung durch Gesetz • Überwiegende private oder öffentliche Interessen 2. Rechtfertigung (2) • Einwilligung (informed consent) • Problem: Gemäss SV ist Johanna nicht mit der Einweisung einverstanden. Allerdings ist ohnehin fraglich, ob Johanna mit Bezug auf die Behandlung ihrer Magersucht urteilsfähig ist. Urteilsunfähigkeit bildet jedoch keine Voraussetzung der fürsorgerischen Unterbringung (wohl aber der Zwangsbehandlung), weshalb dieser Umstand hier auch nicht näher geprüft werden muss (vgl. aber unten). Johannas Mutter ist mit der Einweisung einverstanden; ihre Zustimmung entfaltet jedoch keine rechtfertigende Wirkung, da Johanna volljährig ist und damit nicht mehr unter elterlicher Sorge steht (Art. 296 Abs. 1 ZGB). • Auch die Vertretungsrechte nach Art. 377 ff. nZGB räumen Johannas Mutter kein Entscheidungsrecht ein. Zum einen kommen sie nur bei Urteilsunfähigkeit der betroffenen Person zur Anwendung (Art. 377 Abs. 1 nZGB), was i.c. zumindest fraglich ist. Zum andern würden sie Johannas Mutter aber auch kein Entscheidungsrecht zusprechen, wenn Johanna urteilsunfähig wäre. Denn die Behandlung einer psychischen Störung einer urteilsunfähigen Person beurteilt sich gemäss Art. 380 nZGB abschliessend nach Art. 426 ff. nZGB. • Rechtfertigung durch Gesetz • In Betracht kommen die Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung (Art. 426 ff. nZGB). Sie ermöglichen die Unterbringung einer an einer psychischen Störung oder geistigen Behinderung leidenden Person in einer geeigneten Einrichtung. 3. Fürsorgerische Unterbringung (12) • Materielle Voraussetzungen für die Unterbringung (Art. 426 Abs. 1 nZGB) • Schwächezustand: Die betroffene Person muss an einer psychischen Störung oder einer geistigen Behinderung leiden oder schwer verwahrlost sein; • Eignung: Die Einrichtung, in welcher die betroffene Person untergebracht werden soll, muss zur Behandlung oder Betreuung der psychischen Störung bzw. geistigen Behinderung geeignet sein; und • Subsidiarität: Die notwendige Behandlung oder Betreuung darf nicht auf andere Weise erbracht werden können. • Formelle Voraussetzungen für die Unterbringung • Zuständigkeit: Zuständig ist grundsätzlich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Art. 428 Abs. 1 nZGB). Es steht den Kantonen jedoch frei, die Einweisungskompetenz auf geeignete ÄrztInnen auszudehnen, wobei die Dauer der Unterbringung in diesen Fällen maximal 6 Wochen beträgt (Art. 429 Abs. 1 und 2 nZGB). • Persönliche Anhörung und Untersuchung (Art. 430 Abs. 1 nZGB). • Formalien des Einweisungsentscheids (Art. 430 Abs. 2 nZGB); insbesondere Befund, Gründe und Zweck der Unterbringung sowie Rechtsmittelbelehrung. • Subsumtion • Schwächezustand: Nach h.L. ist der Begriff der psychischen Störung i.S.v. Art. 426 ff. nZGB weit auszulegen und umfasst auch Suchterkrankungen aller Art, z.B. Magersucht. • Eignung: Laut SV ist die betreffende Klinik auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert. • Subsidiarität: Eine fürsorgerische Unterbringung ist nur zulässig, wenn der Schwächezustand nicht anderweitig zufriedenstellend behandelt werden kann. Zu denken wäre beispielsweise an eine ambulante Therapie o.ä. Dem SV kann hierzu nur entnommen werden, dass Johanna schon seit einem Jahr an ihrer Essstörung leidet und sich ihr Zustand in den letzten Wochen dramatisch verschlechtert, was je nachdem, ob bereits ambulante Therapieformen ausprobiert worden sind, für die Subsidiarität sprechen könnte. Diese scheint aber bereits deshalb gegeben, weil sich Johanna mittlerweile in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet, weshalb eine ambulante Therapie wahrscheinlich nicht mehr zu verantworten wäre. • • • • Hinweis: Bei entsprechender Begründung ist auch eine andere Auffassung vertretbar. Zuständigkeit: Laut SV verfügt Silvia über die notwendige Einweisungskompetenz gemäss Art. 429 Abs. 1 nZGB. Allerdings ist diese bereits bundesrechtlich auf eine Einweisung während maximal 6 Wochen beschränkt, während im SV von einer Einweisung „auf unbestimmte Zeit“ die Rede ist. Ergeht innerhalb von 6 Wochen kein Entscheid der Erwachsenenschutzbehörde nach Art. 428 Abs. 1 nZGB, so ist Johanna nach Ablauf dieser Frist gemäss Art. 429 Abs. 2 nZGB zu entlassen, wenn sie das möchte. Persönliche Anhörung und Untersuchung: Gemäss SV hat Silvia den Unterbringungsentscheid aufgrund Johannas schlechtem Allgemeinzustand bei der Untersuchung getroffen. Zudem hat auch ein persönliches Gespräch mit Johanna stattgefunden. Somit ist diese Voraussetzung erfüllt. Formalien: Keine Angaben im SV. Wenn der Entscheid alle notwendigen Angaben enthält und Johanna schriftlich ausgehändigt wurde, ist er nicht zu beanstanden. Fazit: Die Einweisung war rechtmässig. 4. Einbezug der Mutter: Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht? (2) • Zu prüfen ist weiter, ob Silvia gegenüber Johanna ihre Schweigepflicht verletzt hat, indem sie die Einweisung nicht mit Johanna allein, sondern in Anwesenheit von Johannas Mutter besprochen hat. • Sofern Johanna zum Zeitpunkt der Untersuchung urteilsfähig ist, würde die Information ihrer Mutter gegen ihren Willen einen Verstoss gegen die ärztliche Schweigepflicht und damit eine Verletzung ihrer Privatsphäre darstellen (Art. 28 Abs. 1 ZGB), denn Informationen über den Gesundheitszustand zählen zu den persönlichkeitsrechtlich geschützten Daten. Sofern Johanna den Vertrag selbst abgeschlossen hat, wäre dies ausserdem eine Vertragsverletzung (Art. 398 Abs. 2 OR). Zudem wird die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht auch strafrechtlich sanktioniert (Art. 321 StGB). • I.c. darf aber von einer konkludenten oder mutmasslichen Einwilligung Johannas ausgegangen werden, da sie gemeinsam mit ihrer Mutter zum Arzttermin erschienen ist. Dies könnte ausserdem darauf hindeuten, dass Johanna ihre Mutter als Vertrauensperson i.S.v. Art. 430 nZGB beiziehen oder sie als nahestehende Person i.S.v. Art. 430 Abs. 5 nZGB informieren lassen möchte. • Wäre Johanna urteilsunfähig, wäre die Information ihrer Mutter wohl aufgrund ihrer mutmasslichen Einwilligung gerechtfertigt. • Fazit: Ein Verstoss gegen die Schweigepflicht ist Silvia nicht vorzuwerfen. Frage b: Legen der Sonde (26) I. Anwendbares Recht (1) • • Vgl. Frage 1.a: Anwendbar ist das Recht des Leistungsträgers. Gemäss SV ist die Spezialklinik privatrechtlich organisiert, weshalb das Rechtsverhältnis zwischen Johanna und Gerard dem Bundesprivatrecht untersteht. Hinweis: Die Durchführung von Zwangsmassnahmen (vgl. Frage 1.b.II.3.) stellt zugleich eine hoheitliche Tätigkeit dar. Die Zulässigkeit von Zwangsmassnahmen ist daher immer auch im Lichte der Grundrechte (insbesondere Art. 7 und 10 BV) sowie unter Berücksichtigung von Art. 36 BV zu beurteilen. (1 ZP) II. Zulässigkeit der Sondenlegung (24) 1. Qualifikation des Eingriffs (1) • Das Legen einer Nasen-Magen-Sonde erfordert laut SV zwar keinen chirurgischen Eingriff, stellt aber aber dennoch wie jede medizinische Massnahme einen Eingriff in die körperliche und ggf. psychische Integrität der betroffenen Person dar (Art. 28 Abs. 1 ZGB). • Dieser Eingriff ist widerrechtlich, sofern kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 28 Abs. 2 ZGB vorliegt (vgl. Frage 1.a). o Einwilligung des Verletzten o Rechtfertigung durch Gesetz o Überwiegende private oder öffentliche Interessen 2. Rechtfertigung (5) • Vorliegend ist zunächst der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung zu prüfen, da Johanna sich die Sonde schliesslich widerstandslos legen lässt. o Voraussetzungen einer gültigen Einwilligung (informed consent) (vgl. Frage 1.a) Einwilligung entspricht dem freien Willen des Patienten Einwilligung basiert auf einer umfassenden Aufklärung durch den Arzt Einwilligung ist jederzeit widerrufbar Urteilsfähigkeit des Patienten (Die Diskussion der Urteilsfähigkeit kann hier oder unter b.4. erfolgen; die entsprechenden Punkte wurden jeweils nur einmal vergeben.) o Von einer genügenden Aufklärung ist auszugehen, weil Gerard den Behandlungsplan mit Johanna bespricht. In der Folge lässt Johanna das Legen der Sonde zwar zu, dies entspricht aber offenbar nicht ihrem freien Willen, sondern geschieht unter dem Eindruck der ausgesprochenen Drohung, sie ansonsten zu fixieren. Damit sind die Voraussetzungen an eine freie Einwilligung nicht erfüllt. o Zwischenfazit: Es liegt keine gültige Einwilligung vor. Der Eingriff erfolgt ohne gültige Einwilligung von Johanna und stellt deshalb eine sog. Zwangsbehandlung dar. • Die Zulässigkeit von Zwangsmassnahmen beurteilt sich nach Art. 434 f. nZGB. Sind die entsprechenden Voraussetzungen eingehalten, so entspricht dies einer Rechtfertigung durch Gesetz i.S.v. Art. 28 Abs. 2 ZGB. 3. Zulässigkeit von Zwangsmassnahmen (Art. 434 f. nZGB) (7) • Anwendungsbereich (Art. 434 Abs. 1 i.V.m. 433 Abs. 1 nZGB) o Die von einer Zwangsbehandlung betroffene Person muss zur Behandlung einer psychischen Störung in einer Einrichtung untergebracht sein; und o ihr muss vorgängig ein Behandlungsplan unterbreitet worden sein, dem sie nicht zugestimmt hat. • Materielle Zulässigkeitsvoraussetzungen (Art. 434 Abs. 1 nZGB) o Gefährdungslage: Ohne die Behandlung muss der betroffenen Person ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden drohen oder das Leben bzw. die Gesundheit einer Drittperson ernsthaft gefährdet sein (Ziff. 1) o Urteilsunfähigkeit: Die betroffene Person muss bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig sein (Ziff. 2); und o Verhältnismässigkeit: Es darf keine weniger einschneidende Massnahme zur Verfügung stehen, die ebenfalls zum Ziel führen würde (Ziff. 3). • Formelle Zulässigkeitsvoraussetzungen o Schriftliche Anordnung durch den Chefarzt (Art. 434 Abs. 1 nZGB) o Schriftliche Information inkl. Rechtsmittelbelehrung an Johanna und ihre Vertrauensperson (i.c. vermutlich die Mutter) (Art. 434 Abs. 2 nZGB) • Subsumtion o Anwendungsbereich: Johanna befindet sich zwecks Behandlung ihrer Magersucht in fürsorgerischer Unterbringung gemäss Art. 426 ff. nZGB. Gerard hat ihr einen Behandlungsplan unterbreitet, dem sie nicht (gültig) zustimmt. (vgl. Frage 1.b.II.2.) o Gefährdungslage: Laut SV wird Johanna bereits in stark untergewichtigem und lebensbedrohlichem Zustand in die Spezialklinik eingeliefert und verliert daraufhin sogar weiter an Gewicht. Ausgehend von Silvias Beurteilung (Frage 1.a) ist deshalb wohl davon auszugehen, dass Johanna ohne künstliche Ernährung bald einen Herzstillstand erleiden würde. o Urteilsunfähigkeit: fraglich, siehe sogleich. o Verhältnismässigkeit: Eine angemessene, weniger einschneidende Massnahme als die künstliche Ernährung scheint i.c. wohl nicht verfügbar zu sein, da Johannas Essverhalten sich trotz Klinikaufenthalt und Therapiesitzungen nicht verbessert hat. Allerdings ist das Verhältnismässigkeitsgebot auch bei der Durchführung der betreffenden Behandlung zu beachten. Es ist also eine für die Rechte der betroffenen Person möglichst schonende Art der Durchführung gewählt werden. I.c. erzwang Gerard das Legen der Sonde mit einer Drohung. Psychischer Zwang ist allerdings ein unverhältnismässiges Mittel, um den Zweck der Behandlung – die Bewahrung von Johanna vor einem schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden – zu erreichen. Hinweis: Bei entsprechender Begründung ist auch eine andere Auffassung vertretbar o Formalien: fraglich, siehe sogleich. • Fixation (4 ZP) o Gerard droht Johanna mit der Fixation ihrer Hände. Diese stellt einen (schweren) Eingriff in die Bewegungsfreiheit der betroffenen Person dar und ist gemäss Art. 438 nur unter den Voraussetzungen von Art. 383 ff. nZGB (Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Wohn- oder Pflegeeinrichtungen) zulässig. o Materielle Voraussetzungen (Art. 383 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 nZGB) Urteilsunfähigkeit der betroffenen Person Subsidiarität Abwendung einer ernsten Gefährdung für Leib/Leben der betroffenen Person oder von Drittpersonen oder Beseitigung einer schweren Störung des Gemeinschaftslebens o Formelle Voraussetzungen Aufklärung (Art. 383 Abs. 2 nZGB) Baldmögliche Aufhebung und regelmässige Überprüfung (Art. 383 Abs. 3 nZGB) Protokollierung und Information (Art. 384 nZGB) 4. Urteilsfähigkeit (Art. 434 Abs. 1 Ziff. 2 i.V.m. 16 nZGB) (6) • Urteilsfähig ist jeder, dem es nicht aufgrund seines Kindesalters oder infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände an der Fähigkeit zu vernunftgemässem Verhalten mangelt (Art. 16 nZGB). • Urteilsfähigkeit setzt sich zusammen aus der Fähigkeit, eine Situation richtig zu erkennen, einzuschätzen und sich einen entsprechenden Willen zu bilden (Einsichtsfähigkeit) sowie der Fähigkeit, sich gemäss diesem Willen zu verhalten (Bestimmungs- bzw. Willensumsetzungsfähigkeit). • Ein Patient ist im Hinblick auf eine medizinische Massnahme urteilsfähig, wenn er versteht, welche Vor- und Nachteile und welche Risiken die Behandlung bzw. Nichtbehandlung für ihn birgt und welche Auswirkungen seine Entscheidung für oder gegen sie auf ihn haben kann. • I.c. leidet Johanna an Magersucht. Aus dieser Tatsache allein darf nicht bereits auf ihre Urteilsunfähigkeit bezüglich der künstlichen Ernährung geschlossen werden. Aus ihren Äusserungen gegenüber Gerard wird aber erkennbar, dass sie die Gefahr ihrer Erkrankung zwar kennt und ihr Essverhalten ändern möchte, dies aber nicht in die Tat umzusetzen vermag. Es fehlt ihr deshalb an der für die Urteilsfähigkeit erforderlichen an Bestimmungs- bzw. Willensumsetzungsfähigkeit. • Zwischenfazit: Johanna ist urteilsunfähig. Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Zwangsmassnahme sind grundsätzlich gegeben. Allerdings verletzt die Anwendung von psychischem Zwang bei der Durchführung der Massnahme das Verhältnismässigkeitsgebot. Hinweis: Bei entsprechender Begründung ist auch eine andere Auffassung vertretbar. 5. Schriftliche Anordnung (Art. 434 Abs. 1 nZGB) (6) • Laut SV erfolgt das Legen der Sonde zwar gestützt auf einen schriftlichen Behandlungsplan, nicht aber auf der Grundlage einer schriftlichen Anordnung des Chefarztes. Eine Durchführung von Zwangsmassnahmen ohne chefärztliche Anordnung ist jedoch nur unter den Voraussetzungen von Art. 435 Abs. 1 nZGB zulässig. • Voraussetzungen der Notfallkompetenz (Art. 435 Abs. 1 nZGB) • Vorliegen einer Notfallsituation; und • die Zwangsmassnahme ist zum Schutz der betroffenen Person unerlässlich • Es ist fraglich, ob i.c. von einer Notfallsituation i.S.v. Art. 435 Abs. 1 nZGB gesprochen werden kann. • Denn bereits die „reguläre“ Kompetenz des Chefarztes zur Anordnung von Zwangsmassnahmen ist auf eigentliche Gefährdungslagen begrenzt (Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1 nZGB). An die Dringlichkeit einer Notfallsituation i.S.v. Art. 435 Abs. 1 nZGB sind deshalb sehr hohe Anforderungen zu stellen. • Johannas Zustand ist zwar äusserst bedenklich; dennoch wäre Gerard wohl noch genügend Zeit geblieben, um den Chefarzt um eine schriftliche Anordnung zu ersuchen. • Zwischenfazit: Es liegt kein Notfall vor, weshalb Gerard die Sonde nicht ohne Anordnung des zuständigen Chefarztes hätte legen dürfen. • Konsequenz der fehlenden Anordnung o Fraglich ist, ob die Erfordernisse von Art. 434 Abs. 1 und 2 nZGB lediglich Ordnungsvorschriften darstellen, deren Verletzung sich nicht auf die Rechtmässigkeit von Gerards Verhalten auswirken. o Angesichts der Schwere des in Frage stehenden Eingriffs liegt es aber näher, ihnen die Bedeutung von Gültigkeitserfordernissen zuzumessen. Dadurch entfällt die gesetzliche Rechtfertigung (Art. 28 Abs. 2 i.V.m. 434 f. nZGB). • Fazit zu Frage 1.b: Gerards Verhalten stellt eine widerrechtliche Verletzung der Persönlichkeit (Art. 28 Abs. 1 ZGB) bzw. eine Körperverletzung (Art. 123 StGB) dar. Denkbar wären auch haftungsrechtliche Folgen, welche gemäss Aufgabenstellung jedoch nicht zu prüfen sind. Frage c: Entscheidungsrelevante Aspekte aus rechtlicher Sicht (6) I. Anwendbares Recht • Vgl. Frage 1.b II. Überprüfungs- und Aktualisierungspflicht (6) • Ein Behandlungsplan ist gemäss Art. 433 Abs. 4 nZGB jeweils der laufenden Entwicklung anzupassen. Der behandelnde Arzt ist somit verpflichtet, bei jeder Änderung der Verhältnisse die Angemessenheit des Behandlungsplans zu überprüfen und ihn nötigenfalls – unter Einbezug der betroffenen Person (Art. 433 Abs. 1 nZGB) – zu aktualisieren. • Diese Pflicht des Arztes greift auch und umso mehr, wo medizinische Massnahmen gegen den Willen der betroffenen Patientin vorgenommen werden. So ist bei jeder Änderung der Verhältnisse zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anordnung resp. Aufrechterhaltung der Zwangsbehandlung gemäss Art. 434 Abs. 1 nZGB noch gegeben sind. Zu bedenken wären insbesondere folgende Punkte: o Gefahrenlage (Ziff. 1): Laut SV hat Johanna bereits wieder etwas an Gewicht zugenommen. Je nachdem, wie viel sie zugenommen und wie sehr sich ihr Gesundheitszustand dadurch verbessert hat, kann ev. nicht mehr von einem drohenden ernsthaften gesundheitlichen Schaden gesprochen werden. o Urteilsunfähigkeit (Ziff. 2): Johannas Einstellung hat sich positiv verändert. Es ist gut möglich, dass sie inzwischen ihre Urteilsfähigkeit (insb. die Willensumsetzungs- bzw. Bestimmungsfähigkeit) wiedererlangt hat. Das Vorliegen der Urteilsfähigkeit muss neu geprüft werden, was sich neben Art. 433 Abs. 4 nZGB insbesondere aus der zeitlichen Relativität der Urteilsfähigkeit ergibt. • Aus dem SV ist nicht ersichtlich, wie gründlich sich Gerard bzw. der Chefarzt mit diesen Punkten auseinandersetzen. Eine lediglich kursorische Prüfung würde sicherlich nicht genügen. • Haben sie den Entscheid zur Beibehaltung der Sonde aber nach eingehender Beschäftigung mit den entsprechenden Voraussetzungen gefällt, so ist dies grundsätzlich nicht zu beanstanden. • Formalien: U.U. könnte der mit einem Formmangel behaftete, ursprüngliche Entscheid über die Legung der Sonde geheilt werden, indem der neue Entscheid über die Beibehaltung der Sonde ausführlich begründet und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen wird (Art. 433 Abs. 2 i.V.m. 434 Abs. 2 nZGB). (2 ZP) Frage 1.a – 1.c 3 Zusatzpunkte insgesamt für sehr guten Aufbau, Sprache/Stil, konzise und schlüssige Argumentation. Fall 2 (30 Punkte + 2 Zusatzpunkte) Vertraglicher Schadenersatzanspruch von Anna gegen Dr. Meier I. Anwendbares Recht (3) • Es gilt das Recht des Leistungserbringers. Die Sterilisation wurde in einem öffentlichen Spital von Dr. Meier als Belegarzt durchgeführt. Gemäss SV ist Dr. Meier ein niedergelassener Gynäkologe. Er untersteht folglich dem Privatrecht. Dies gilt auch dann, wenn er neben seiner Tätigkeit in der Praxis einzelne Aufgaben als Belegarzt erfüllt (Gächter/Vollenweider, Gesundheitsrecht, 2. Aufl., Basel 2010, N 521). Folglich kommt Privatrecht zur Anwendung. • Die Sterilisation wird in casu zu Verhütungszwecken vorgenommen. Deshalb kommt zudem das Sterilisationsgesetz zur Anwendung (Art. 1 Sterilisationsgesetz). II. Qualifikation des Vertrages (1) • Der Arzt schuldet der Patientin nach herrschender Lehre und Rechtsprechung keinen Behandlungserfolg, sondern lediglich ein sorgfältiges Tätigwerden. Der Behandlungsvertrag wird deshalb dem Auftragsrecht (Art. 394 ff. OR) zugeordnet. III. Zustandekommen und Gültigkeit des Vertrages (3) • Der Sacherhalt enthält keine Hinweise darauf, dass der Vertrag nicht zustande kommen ist. Anzunehmen ist jedenfalls ein konkludenter Vertragsschluss. Insbesondere ist davon auszugehen, dass beide Vertragspartner urteilsfähig (Art. 16 ZGB) und mündig, also handlungsfähig sind. • Zudem kann der Vertrag formfrei abgeschlossen werden. Art. 5 Sterilisationsgesetz sieht zwar vor, dass die Einwilligung in die Sterilisation schriftlich erfolgen muss. Diese Vorschrift bezieht sich jedoch nicht auf das Zustandekommen des Vertrages. Damit steht auch die Gültigkeit des Vertrages ausser Frage. • Hinweis: Bezüglich Gültigkeit ist zu erwähnen, dass Verträge betreffend die Sterilisation früher als unsittlich qualifiziert wurden. Diese Auffassung ist überholt, denn der Gesetzgeber hat die Sterilisation mittlerweile im Sterilisationsgesetz geregelt und damit deren Zulässigkeit unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich anerkannt. (2 ZP) IV. Schadenersatzanspruch 1. Anspruchsvoraussetzungen im Allgemeinen • Der vertragliche Schadenersatzanspruch setzt gemäss Art. 97 Abs. 1 OR Folgendes voraus: • • • • 2. Vertragsverletzung Schaden Kausalität Verschulden Vertragsverletzung (6) • Der Beauftragte haftet dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des Geschäfts (Art. 398 Abs. 2 OR). Beim Arztvertrag ist insbesondere erforderlich, dass der Patient vom Arzt vollständig über den bevorstehenden Eingriff aufgeklärt wird und dass der Arzt darauf achtet, dass der Patient in Kenntnis sämtlicher Umstände rechtsgültig einwilligt. • Nach Art. 5 Sterilisationsgesetz muss der Patient nach umfassender Aufklärung frei und schriftlich einwilligen. • I.c. hat Dr. Meier Anna zwar vollständig über die Sterilisation aufgeklärt, er hat es jedoch unterlassen, eine schriftliche Einwilligung einzuholen. Anna hat lediglich telefonisch eingewilligt. • Zudem hat Dr. Meier sich nicht vergewissert, dass Anna in Kenntnis sämtlicher Umstände einwilligt, was er jedoch hätte tun sollen, da zwischen dem Aufklärungsgespräch und dem Telefonanruf vier Wochen vergangen sind. • Zweck der Formvorschrift im Sterilisationsgesetz Das Schriftlichkeitserfordernis schützt den Einwilligenden vor übereilten Entscheidungen bei einem grundsätzlich irreversiblen Eingriff und soll ihm die Tragweite eines Sterilisationsentscheids bewusst machen. Es ist zu fragen, welche Auswirkungen das Nichteinholen einer schriftlichen Bestätigung auf die Gültigkeit der Einwilligung von Anna hat. Hierzu sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten denkbar: • Schriftlichkeit als Gültigkeitserfordernis: Das Schriftlichkeitserfordernis dient unmittelbar dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Integrität des Patienten. Konsequenz: Eine lediglich mündliche Einwilligung wäre ungültig und die Behandlung an sich bereits widerrechtlich (Art. 28 Abs. 2 ZGB). Dr. Meier haftet für den gesamten, aus der Behandlung resultierenden Schaden, und zwar unabhängig davon, ob er diesen verschuldet hat. • • Schriftlichkeit als Ordnungsvorschrift: Das Schriftlichkeitserfordernis stellt (ähnlich wie die Pflicht zur Sicherungsaufklärung) eine vertragliche Pflicht dar. Konsequenz: Die Gültigkeit der grundsätzlich vorliegenden Einwilligung wird nicht tangiert. Die Nichteinhaltung der Formvorschrift stellt jedoch eine Vertrags-verletzung dar, welche eine vertragliche Haftung des Arztes auslösen kann. Vorliegend ist eher davon auszugehen, dass es sich beim Schriftlichkeitserfordernis um eine Ordnungsvorschrift handelt, zumal Anna nicht geltend macht, sie habe sich die Einwilligung in die Sterilisation zu wenig überlegt. Sie macht vielmehr implizit geltend, dass sie die OP nicht in dieser Form hätte durchführen lassen bzw. noch weitere Verhütungsmassnahmen ergriffen hätte, wenn sie sich des Versagerrisikos dieser OP-Methode bewusst gewesen wäre. • Fazit: Dr. Meier hat seine vertraglichen Pflichten gegenüber Anna verletzt. 3. Schaden (10) • Der Schaden ist eine unfreiwillige Vermögensverminderung. Haftpflichtrechtlich relevant ist die Differenz zwischen dem gegenwärtigen – nach dem schädigenden Ereignis festgestellten – Vermögensstand und dem hypothetischen Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte. Sie kann in einer Vermehrung der Passiven, einer Verminderung der Aktiven oder in entgangenem Gewinn bestehen. • Subsumtion: • Vermögensverminderung • Die Vermögenseinbusse besteht vorliegend darin, dass Anna gesetzlich dazu verpflichtet ist, für den Unterhalt des eigenen Kindes aufzukommen (Art. 276 ZGB). Durch diese Verbindlichkeit erhöhen sich die Passiven. • Nicht das Kind selbst stellt also den Schaden dar, diese Betrachtungsweise wäre mit der Menschenwürde (Art. 7 BV) nicht zu vereinbaren. Der Schaden besteht in der Pflicht zur Unterhaltsleistung. Das Grossziehen eines Kindes wird auch in anderen Lebensbereichen (z.B. bei Scheidungen und Unterhaltsverfahren) in Geld berechnet und insofern kommerzialisiert. Zudem entspricht die Zusprechung von Schadenersatz dem Kindeswohl, da Anna finanziell entlastet wird. Dies umso mehr, als sie gemäss Sachverhalt in finanziell knappen Verhältnissen lebt. • Unfreiwilligkeit • Über die Unfreiwilligkeit einer derartigen Vermögenseinbusse bestehen unterschiedliche Ansichten: • Nach einer Mindermeinung schliesst die Akzeptanz des ursprünglich ungewollten Kindes durch die Mutter die Unfreiwilligkeit aus. • Nach Ansicht der h.L. und Rechtsprechung hingegen sollen mit einer Sterilisation jedoch gerade die Unterhaltskosten für ein Kind vermieden werden. Das schadenstiftende Ereignis tritt demnach gegen den Willen der Mutter ein, wodurch die in der Folge erlittene Vermögenseinbusse nicht gewollt sein kann. • Weiter wird die Unfreiwilligkeit vereinzelt mit der Begründung verneint, es bestehe die Möglichkeit einer Freigabe des Kindes zur Adoption. Nach Rechtsprechung und Lehre können jedoch vom Geschädigten nur rechtlich erlaubte und zumutbare schadensabwendende Massnahmen verlangt werden. H.L. und Rechtsprechung betrachten die Freigabe zur Adoption nicht als zumutbare Massnahme für die Eltern. I.c. ist ausserdem zu bedenken, dass der Vater (Peter) das Kind • • anerkannt hat und dass er seiner Unterhaltsverpflichtung nachkommen will. Daher scheidet die Möglichkeit, das Kind zur Adoption freizugeben aus, da hierfür die Zustimmung der Mutter und des Vaters notwendig ist (Art. 265a Abs. 1 ZGB). Weiter wird die Unfreiwilligkeit vereinzelt mit der Begründung verneint, es bestehe die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Dies wäre i.c. rechtlich möglich gewesen, denn bis zur 12. Woche seit der letzten Periode darf der Fötus mit Einwilligung der schwangeren Frau abgetrieben werden (Art. 119 Abs. 2 StGB) und Anna hat die Schwangerschaft bereits im zweiten Monat bemerkt. Jedoch halten h.L. und Rechtsprechung den Schwangerschaftsabbruch als schadensabwendende Massnahme ebenfalls für nicht zumutbar. Fazit: Ein Schaden im Rechtssinne liegt somit vor. 4. Kausalität (4) • Vorliegend besteht die Vertragsverletzung in einem Unterlassen. Dr. Meier hat die Einwilligung nicht schriftlich eingeholt, und er hat sich zudem nicht darüber erkundigt, ob Anna in Kenntnis sämtlicher Umstände eingewilligt hat. • Folglich kommt die „conditio-cum-qua-non-Formel“ zur Anwendung. Es ist zu prüfen, ob der Schaden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre, wenn sich Dr. Meier richtig verhalten hätte. • Entlastungsgrund der hypothetischen Einwilligung • Die Haftung des Arztes für Aufklärungsfehler entfällt, wenn er nachweist, dass der Patient auch bei gehöriger Aufklärung eingewilligt hätte. • Analoge Anwendung auf das Schriftlichkeitserfordernis des Sterilisationsgesetzes: Dr. Meier haftet nicht, wenn er nachweisen kann, dass Anna auch eingewilligt hätte, wenn Dr. Meier eine schriftliche Bestätigung verlangt hätte. • Subsumtion: Die Frage kann nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit beantwortet werden. Bei einer lebensnahen Interpretation des Sachverhaltes kommt man aber zum Schluss, dass Anna wohl auch ungeschützten Verkehr gehabt hätte, wenn Dr. Meier sie pflichtgemäss nochmals auf das (sehr kleine) Versagerrisiko hingewiesen hätte und die Einwilligung wie gefordert schriftlich erfolgt wäre. Anna wäre mitunter trotzdem schwanger geworden und die Verpflichtung zur Leistung des Kindesunterhaltes wäre entstanden. • Hinweis: Die hypothetische Einwilligung kann alternativ auch unter dem Stichwort des Verschuldens geprüft werden; die entsprechenden Punkte wurden jedoch nur einmal vergeben. Als Alternative zur hypothetischen Einwilligung könnte sodann das rechtmässige Alternativverhalten – ebenfalls im Zusammenhang mit der Kausalität oder beim Verschulden – geprüft werden. Da sich die jeweiligen Argumente mehrheitlich decken, wurden auch diese Punkte jeweils nur einmal vergeben. • Fazit: Die hypothetische Kausalität zwischen der pflichtwidrigen Unterlassung und dem Schaden ist nicht gegeben. Hinweis: Bei entsprechender Begründung ist auch eine andere Lösung vertretbar. Hinweis: Die Problematik mit der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und der Adoptionsfreigabe kann auch unter dem Titel Kausalität diskutiert werden. Die entsprechenden Punkte wurden jeweils nur einmal vergeben. 5. Verschulden (1) Dr. Meier ist vermutungsweise urteilsfähig (Art. 16 ZGB). Er hat zudem fahrlässig, d.h. unter Ausserachtlassung der im Verkehr üblichen Sorgfalt gehandelt, da er die erforderliche schriftliche Einwilligung nicht eingeholt hat. Damit ist das Verschulden gegeben. Zur Entlastung durch die hypothetische Einwilligung resp. das rechtmässige Alternativverhalten vgl. den Hinweis zur Kausalität. V. Verjährung (1) Die Forderung verjährt nach zehn Jahren (Art. 127 OR). In casu sind seit dem Eingriff erst drei Jahre vergangen. Die Forderung ist daher noch nicht verjährt. VI. Fazit (1) Anna hat gegen Dr. Meier keinen vertraglichen Anspruch auf Ersatz des Kindesunterhaltes (a.M. vertretbar). 2 Zusatzpunkte insgesamt für sehr guten Aufbau, Sprache/Stil, konzise und schlüssige Argumentation.