Zeitschrift für Missionswissenschaft und

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Rechenschaft –
Als Priester und Philosoph
in Ankara
von Felix Körner 1
Zu den bekanntesten türkischen Denkern zählt Ahmet İnam. Er leitet den Fachbereich Philosophie der Middle East Technical University (türk. ODTÜ) in Ankara. Die 1956 gegründete
staatliche englischsprachige Universität hält im offiziellen Ranking einen Spitzenplatz unter
den türkischen akademischen Einrichtungen. Sie wird von der Öffentlichkeit als Gegenpol zu den islamistisch-nationalistischen Tendenzen im Lande wahrgenommen und daher
gelegentlich als »atheistisch und links« etikettiert. Landesweit bekannt ist der über 20 Meter
hohe Schriftzug, den Studenten vor Jahren in das universitätseigene Fußballstadion geätzt
haben und den manche bis heute für den tiefsten Wunsch der dort Studierenden halten:
Devrim – »Revolution«. Das Philosophische Seminar der ODTÜ steht mit der Mehrzahl
seiner Lehrkräfte in der angelsächsischen Tradition; 2 nicht so Ahmet İnam.
Bei der Erforschung koranhermeneutischer Neuansätze in der türkischen Hochschultheologie der Gegenwart 3 hatte mir ein Koranexeget auf die Frage, was ihn zu seiner
neuen Auslegungsmethodik gebracht habe, geantwortet: Entscheidende Anregungen verdanke er Ahmet İnam. Aus solchen Sondierungsinterviews war mir bereits bewusst, dass
es auch an einem sonst der analytischen Philosophie verpflichteten und gerade in Logik
profilierten philosophischen Seminar Interesse für kontinentaleuropäisches Denken gibt,
hermeneutische Philosophie gelehrt und Autoren wie Hans-Georg Gadamer gelesen
werden; und dass in der Türkei Philosophen selbst auf die andernorts als derzeit anregungsimmun geltende muslimische Theologie Einfluss haben können. All dies motivierte
mich zu einem vielleicht etwas dreisten Versuch. Im September 2004 bewarb ich mich
am Philosophischen Institut der ODTÜ und schlug vor, philosophische Anthropologie
oder Religionsphilosophie zu unterrichten: Fächer, die bisher keinen Raum im dortigen
Curriculum hatten. Auf mein Angebot hin wurde ich eingeladen, dem Dozentenkollegium
einen Vortrag freier Themenwahl zu halten. Ich sprach zu »Zeit und Ewigkeit«, einem
Thema, das mich neuerlich zu interessieren begonnen hatte, als ich eine Uhr erstand, die
meine langjährige Digitaluhr nun als Modell mit Zeigern ablöste. Nach diesem Aufhänger versuchte ich den türkischen Philosophen zu zeigen, dass Philosophie Einsichten
aus religiösen Traditionen aufnehmen kann, ohne dadurch unphilosophisch zu werden.4
Die anschließende Diskussion war furchterregend. Religionen, so hielt man mir entgegen,
könnten sich nur dogmatisch – und das heiße: nicht-begründend – äußern; sie seien
also genau das Ende jeder rationalen Erkenntnis. Mir wurde der Vorwurf gemacht, ich
1 Seit 2002 leben in der türkischen
Hauptstadt drei Jesuitenpatres. Die
erste Einladung nach Ankara ging von
der islamisch -theologischen Fakultät
aus, die theologische Gesprächspartner suchte. Die Jesuitenkommunität
betreut nun die türkischsprachigen
Christen vor Ort und steht im muslimisch -christlichen Dialog, insbeson-
dere auf akademischer Ebene. Wir
haben ihr deutsches Mitglied um
einen Erfahrungsbericht gebeten.
Da es sich hier um einen Erfahrungsbericht handelt, erlaubt sich der
Autor dieser Zeilen, in der Ichform
zu schreiben
2 Vgl. www.metu.edu.tr..
3 Felix Körner, Revisionist Koran
Hermeneutics in Contemporary
Turkish University Theology.
Rethinking Islam, Würzburg 2005.
Vgl. jetzt ders., Alter Text – neuer
Kontext. Koranhermeneutik in der
Türkei heute, Freiburg 2006.
4 Vgl. Felix Körner, Time and
Eternity. Bible and Koran, in:
Philotheos 5 (2005) 430 -438.
zmr | 91. Jahrgang | 2007 | 243 - 252
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Felix Körner SJ
wollte die Philosophie in Theologie verwandeln; und damit sei die in der Philosophie
glücklich gewonnene Freiheit dahin. In meiner Antwort legte ich dar, dass Theologie es
sich keineswegs leisten kann, dogmatisch zu behaupten, ohne zu begründen. Selbst ihre
Voraussetzungen kann sie nicht stillschweigend hinnehmen – sie muss sie rechtfertigen. Nur
handelt es sich bei theologischen Aussagen – wie bei Lebensdeutungen überhaupt – um
solche, deren volle Evidenz noch aussteht, die daher wissenschaftstheoretisch gesehen
hypothetisch sind. Der Gesprächspartner replizierte, wer so etwas vertrete, sei kein Theologe mehr; da ich aber qua Geistlicher ganz offenkundig Theologe sei, könne er dies nur
als Tarnung gelten lassen. Er endete mit einem Scherz, der sich auf meine Eröffnungsbemerkung bezog: »Und wie zeigt Ihre neue Uhr die Ewigkeit an?«
Nach dieser Veranstaltung gab ich die Hoffnung auf, in der Türkei Philosophie zu unterrichten. Man hielt mich offenbar für einen Missionar, der unter dem Deckmantel eines
neutralen Faches Proselytismus betreibt. – Diese Empfindung sollte sich zwar als verkehrt
erweisen. Dennoch ist es angezeigt, hier zuerst der Frage nachzugehen, wie Missionare
heute in der Türkei arbeiten.
1 Siedler, Zeltmacher, Informatiker
Auf türkischem Boden sind etwa 1000 freikirchliche Missionare tätig. So sagt es mir zumindest eine Familie aus dem Nordosten der USA, die seit 1995 an der Schwarzmeerküste
lebt.5 »Wir werden von unserer Gemeinschaft daheim unterstützt; vor allem durch das
Gebet«, erklärt die Mutter. Sie ist Hausfrau und unterrichtet die beiden Töchter im Rahmen
eines amerikanischen Heimschulsystems. Darüber hinaus besuchen die zwei, zehn und
zwölf Jahre alt, keine Schule. Die Kinder zeigen mir, was sie heute gelernt haben: Wie die
amerikanischen Siedler Nägel herstellten. Daheim spricht man Englisch, man beherrscht
aber auch das Türkische. Eine Tochter betet vor dem Abendessen um die Bekehrung der
Muslime und übt anschließend Selbstkritik: Die Familie sei doch gar nicht genügend im
Sinne ihrer Sendung tätig. Gefragt, was man denn mehr tun solle, sagt sie: Bibeln verteilen.
Die Familie lebt eine Religiosität, die ganz auf die individuelle Glaubensentscheidung setzt.
Der Vater hat neben Informatik Theologie studiert, unter anderem in Harvard. Alle vier
stehen in freundschaftlichem Kontakt zu einem deutschen katholischen Geistlichen, Pfarrer
›Joseph‹. Er gestattet der örtlichen evangelikalen Gruppe, ihre Gottesdienste in seiner
Kirche zu halten. Der Familienvater meint, mir ein Kompliment zu machen, als er sagt:
»Sie sind neben ›Joseph‹ der einzige mir bekannte katholische Priester, der Jesus wirklich
liebt.« Die Gesellschaft Jesu sieht er folgendermaßen: »Ihr Jesuiten wart den Kirchen der
Reformation Beispiel und Ansporn, weil Ihr missionarisch wart. Heute redet Ihr mir zu viel
von Dialog und zu wenig von Bekehrung.« Er unterrichtet Informatik an der staatlichen
Universität vor Ort. »Wie Paulus Zeltmacher war, so bin ich Dozent«, sagt er. Dass er seine
eigenen Studenten auf den Glauben anspreche, komme in der Regel nicht vor. Eine Tochter
hakt ein und fragt, warum der Vater so zurückhaltend gegenüber seinen eigenen Hörern
sei. Er erklärt, dass er bei zu großer Offenheit seine Arbeitsstelle riskiere. Klientel für eine
mögliche Bekehrung sind vor allem Türken, die übers Internet auf Zeitungsanzeigen wie
»Möchtest du den wahren Jesus kennenlernen?« antworten und so in Kontakt mit eigens
dafür geschulten Missionaren kommen.
5 Aus Gründen der Diskretion werden Einzelheiten nicht bis zur Identifizierbarkeit ausgeführt; wenn im Text
Namen verändert sind, stehen sie
in einfachen Anführungszeichen.
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Die Missionare sind nicht aufdringlich. Sie schicken den Interessenten das Neue Testament und Broschüren. Ihre Theologie ist denkbar einfach. Das Evangelium wird in vier
Sätzen zusammengefasst: »Gott liebt dich. Du hast gesündigt. Jesus ist für dich gestorben.
Nimm ihn an.« Wer sich von dieser Botschaft ansprechen lässt, kann nach einigen Monaten
getauft werden. Die Missionare sind durch die Regeln ihrer Bewegung angehalten, den Kontakt nach dem dritten Versuch abzubrechen, wenn der Kandidat kein Interesse zeigt, »Jesus
in sein Leben aufzunehmen«. Monatlich erteilen sie der Zentrale in den USA Rechenschaft,
wie viele Kontakte man knüpfen konnte.
Im Gottesdienst am Sonntagnachmittag steht der »Lobpreis« im Mittelpunkt. Über
Overhead-Projektor an die Wand geworfene türkischsprachige, aus dem Englischen übersetzte Lieder werden in schneller Folge zu Gitarre und Bongo gesungen. Man singt auffallend laut. Der gemeinsame rhythmische Gesang, impulsiv-stereotypes freies Gebet und
der demagogische Tonfall der Predigt rütteln an den Emotionen der etwa fünfzehnköpfigen
Versammlung, schaffen eine »Es gibt viel zu tun, packen wir’s an«-Stimmung. Die Predigt
des Informatikers und Theologen zu Hebräer Kapitel 12 erfordert jedoch Mitdenken und
hat einen betrachtenden Zug: »Ihr steht hier nicht vor dem Berg des Gesetzes, ihr steht
vor Christus, vor der Erlösung, die er für euch bewirkt hat, Ihr seid zum Berg Zion hingetreten.«
2 Scriptura, Fides, Ratio
Das Reflexionsniveau dieses Predigers ist dem vieler seiner Kollegen überlegen. Dies wurde
mir auf folgende Weise klar. Ein 22-jähriger Student, ›Murat‹, läutet an unserer Kirchenpforte in Ankara. Er will mit mir sprechen, stellt präzise Fragen über die Heilsnotwendigkeit der
Sakramente und erzählt dann, dass er seit einem Jahr zu einer evangelikalen Gruppierung
gehört. Drei Monate nach der ersten Bekanntschaft sei getauft worden. Nun sei er verletzt,
und zwar von der antikatholischen Polemik der Prediger. Sie treffe ihn, weil seine Großmutter – im Unterschied zu seinen laut Personalausweis muslimischen, de facto areligiösen
Eltern – eine fromme Irin gewesen sei. Der junge Türke kommt mit ähnlichen Motiven wie
einige seiner Altersgenossen, die in den letzten Jahren den Weg zu uns gefunden haben.
Die feurige Glaubensentscheidung, die ihnen Zutritt zu einer Freikirche verschaffte, sucht
neue Nahrung. Sie monieren typischerweise viererlei. Erstens die unklare Struktur ihrer
evangelikalen Gruppierung; türkische Muslime, die einen bürokratisch verwalteten Islam
kennen und am Westen besonders die Ordnung schätzen, empfinden die hierarchische
Struktur der katholischen Kirche oft attraktiv, weil klar und sicher. Zweitens stört sie, wie
sie sagen, die »Pop-Kultur in den selbstgemachten Gottesdiensten«. In der Türkei gibt es
eine große Ehrfurcht vor Maria – täglich besuchen Muslime unsere Kirche und zünden
vor dem dortigen Marienbild eine Kerze an; sie suchen keine laute, den Feiernden nach
außen wendende Gottesdienstform, sondern Besinnung; die Empfindung, Mitfeiernder in
einer alten Tradition zu sein, ist für sie bergend. Drittens entdecken türkische Suchende,
beispielsweise über Internet und Fernsehen, die geistlichen Reichtümer der Kirche – Orden,
Heilige, Sakramentalien, Meditation – Traditionen, wie sie ihre Freikirche als unevangelisch
ablehnt, die die jungen Menschen aber ansprechen. Und schließlich können viele der
Prediger den ernsthaften Fragen der Neubekehrten keine weiterführende Antwort geben.
›Phil‹ und ›Helga‹ besuchen mich drei Wochen nach ›Murats‹ erster Kontaktnahme. ›Phil‹
hat in Alaska, wie er eindrücklich schildern kann, zum Glauben und in einer Bibelschule
seine deutsche Frau ›Helga‹ gefunden. ›Phil‹ ist ärgerlich, seitdem er erfahren hat, dass
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Felix Körner SJ
sein Kind – wie er sich ausdrückt – Katholik werden will. Der Prediger will entweder sich
überzeugen, dass man als Katholik doch Christ sein kann, oder aber mich überzeugen, dass
der Katechismus der Katholischen Kirche, den er aus gegebenem Anlass online untersucht
hat, biblisch unhaltbar ist. Sein Argument lautet: Da der Glaube allein genügt, ist die Taufe
nicht heilsnotwendig. – Meine Antwort, dass eine Begierdetaufe eine Ausnahme sei, sonst
aber nicht nur die private Entscheidung des Einzelnen notwendig für den Eintritt ins Heils
sei, sondern auch die Gemeinschaft der Kirche, durch die Christus sakramental handelt,
ist ihm unannehmbar: »I’m sorry, it’s not in the Bible.« Über seiner Meinung nach eindeutige Bibelverse hinaus kann er nichts gelten lassen. ›Helga‹ hatte bisher geschwiegen.
Sie spricht das Schlusswort, und zwar auf Englisch, damit es auch ihr Mann versteht: »You
know, Father, we are a bit simplistic.«
Gerade in der nationalistischen Presse wird christliche Missionarstätigkeit regelmäßig
gebrandmarkt. Zu gern wird der Vorwurf wiederholt, dass die amerikanischen Missionare Bibeln mit 100-Dollar-Scheinen verteilten und so die einheitliche türkische Nation
zersplitterten. Glaubwürdig daran ist, dass die Freikirchen ihre Gläubigen karitativ
unterstützen, wie das von jeder Gemeinde zu erwarten ist; Bekehrung durch Bestechung
passt nicht in die Entscheidungslogik evangelikalen Denkens. Dennoch schaffen solche
Zeitungsmeldungen ein Klima des Misstrauens. Verschwörungstheorien stellen die
Christen unter Generalverdacht. Die katholische Kirche rutscht gelegentlich ebenfalls unter
die Verdächtigten.
3 Prudence, Témoignage, Humilité
Wie agiert die katholische Kirche in der Türkei? Der oben als »Jesus wirklich liebend«
erwähnte Pfarrer ›Joseph‹ war sieben Jahre in der Türkei tätig. Im Priesterseminar seiner
Heimatdiözese erinnert man sich an ihn als »theologisch uninteressiert«. Er schließt sich
einer kleinen geistlichen Gemeinschaft in Deutschland an, die ihn auf seinen eigenen
Wunsch in die Türkei entsendet. Über seine jugendlich-offene Ausstrahlung gewinnt er ein
gutes Dutzend Muslime, die sich taufen lassen wollen. Pfarrer ›Josef‹ hat inzwischen nicht
nur die Türkei verlassen, sondern auch die Kirche. Seine Wirkungsweise in der Türkei ist für
katholische Priester und Ordensleute im Nahen Osten untypisch. Die lateinisch-katholische
Kirche hat, abgesehen von der rein diplomatisch agierenden Nuntiatur, vier Aufgabenfelder,
nämlich Ausländerseelsorge, Seelsorge für die einheimischen Katholiken (wegen eklatanten
Priestermangels oft riten- und kirchen-übergreifend), Caritas- und Schul-Dienste (unabhängig von der Religionszugehörigkeit und ohne Bekehrungsabsichten) und schließlich,
als neues und noch unabgestecktes Feld, den interreligiösen Dialog.
Die katholische Kirche hat in der Türkei noch keine Rechtspersönlichkeit. Eigentumserwerb ist daher erschwert. Kultfreiheit gewährleistet der Staat, auch Konversionen sind de
jure möglich. Anders sieht es teilweise in der gesellschaftlichen Tatsächlichkeit aus. Selbst
in den Großstädten kann eine Familie aggressiv reagieren, wenn jemand Christ werden will.
Die Polizei gewährleistet eine Be-wachung der sonntäglichen Gottesdienstgemeinde; die
Grenze zur Über-wachung ist jedoch fließend. Mitunter wurden unsere Gottesdienstbesucher aus einem halbwegs versteckten Winkel fotografiert. Als wir eine Adresskartei erstellen,
erklärt eine Familie: »Dass wir armenisch-katholisch sind, soll nicht bekannt werden;
unsere Kinder könnten ihre Arbeit verlieren.« Solche Befürchtungen sind vielleicht überzogen, aber sie prägen das Klima mit. Allzu leicht gilt jemand wegen seines Bekenntnisses
als ungenügend mit dem türkischen Nationalgedanken identifiziert. Andererseits absolviert
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einer der Katechumenen derzeit seinen Militärdienst, nennt offen seine Zugehörigkeit zur
Kirche und wird seiner eigenen Einschätzung zufolge nicht benachteiligt. Ihm wurde zwar
verboten, eine Bibel mit in die Kaserne zu bringen. Korane sind jedoch ebenso unerlaubt.
Der lateinische Bischof (»apostolischer Vikar«) von Istanbul, Msgr. Louis Pellâtre,
spricht von einer Kirche des humble témoignage, des demütigen Zeugnisses; er wendet sich
klar gegen Proselytismus und erinnert an das Prinzip der prudence, was nicht »Klugheit«,
sondern »Vorsicht« bedeutet. Wie aber können wir auf die Menschen eingehen, die von
sich aus kommen und katholisch sein wollen? Die Bischofskonferenz sieht ein dreijähriges Katechumenat vor. Das ist lange, aber klug. Denn ein Taufbewerber muss in einen
vielschichtigen Prozess der Unterscheidung eintreten.
• Auf der ersten Ebene sind querliegende Motive auszumachen. Wer katholisch werden will,
weil er sich mit der eigenen muslimischen Familie nicht mehr versteht, sich mit seinem
Bibel-Prediger überworfen hat oder ein Visum für Belgien braucht, spürt bald selbst, dass er
bei uns nicht am richtigen Ort ist. Wir sagen in aller Offenheit, dass, wer der Kirche beitritt,
die Nachfolge Christi antritt. Die Grundfrage ist also nicht, was ich gewinne, sondern was
ich dabei zu geben und aufzugeben habe.
• Auf einer zweiten Ebene muss der Bewerber durch theologische, wichtiger aber, durch
geistliche Kenntnis ein Gespür für den rechten Weg erlangen. Dabei bringen viele Taufbewerber eine Vorliebe für das Überzogene, das Markierende – das Nicht-Evangelische oder
Nicht-Islamische – mit. Unterscheiden heißt hier, erwägen lernen, was auf den größeren
Dienst Gottes hingeordnet ist; heißt aber auch, ein lebendiges geistliches Leben von den
oberflächlich gesuchten Gruppengefühlen und katholischen Unterscheidungsmerkmalen
der ersten Begeisterungsphasen unterscheiden lernen.
• Zugleich muss jeder Taufbewerber seinen Platz in der Gemeinde finden. Dies ist gerade in
Ankara ein schwerer Test, da unsere Gemeinde hauptsächlich aus armenischen Katholiken
türkischer Staatsbürgerschaft besteht. Viele von ihnen trauen einem »Türken« nicht zu,
wirklich Christ sein zu können. Dennoch überlassen sie die liturgischen Dienste wie Lesungen und Kollekte gerne ihnen. Hier bricht ein Prozess der Vorurteilsüberwindung an.
• Eine weitere Ebene, die viel Unterscheidungskunst erfordert, ist die Versöhnung mit der
eigenen Vergangenheit, mit der Familie, mit dem Freundeskreis, mit dem Islam. Unsere
fünf Katechumenen müssen lernen, den Eltern – in einem Fall auch: der Ehefrau –, und
den Arbeitskollegen ihre Konversion verständlich zu machen und sie doch frei zu lassen, ein
anderes oder kein Bekenntnis zu haben. Schwer fällt ihnen mitunter, die eigene muslimische
Glaubensgeschichte und die Gegebenheit des Islam dankbar anzuerkennen.
• Schließlich, auf der tiefsten Ebene, braucht ein Taufbewerber, der in einem größtenteils
nichtchristlichen Umfeld leben wird, ein geistliches Fundament. Wir leiten die Katechumenen daher behutsam auf einen ignatianischen Exerzitienweg, in dem ihre persönliche
Lebenswahl zur Teilnahme an der Sendung Christi werden kann.
4 Aber
Der Botschafter der Europäischen Kommission hat mich zu einem Abendessen mit Gästen
aus dem öffentlichen Leben eingeladen. Wie er mir nachher gesteht, hat er mich bewusst
neben den Sprecher der Baha’i gesetzt, Professor Can. Er unterrichtet Physik an der ODTÜ,
der Universität mit dem Schriftzug »Revolution«, und ist deren Vizerektor. Er erinnert
sich an meinen Namen. Der Leiter des Philosophischen Instituts, Ahmet İnam, habe
meinetwegen bei ihm vorgesprochen und gesagt: »Er ist Priester; aber wir wollen ihn.«
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So ermutigt, frage ich wieder bei der Fakultät an. Die Antwort: »Sie unterrichten ab dem
kommenden Semester philosophische Anthropologie, vierstündig.« Man warnt mich nur:
»Reich werden sie nicht durch die Dozentur.« Das habe ich auch nicht vor. Ich weise auf das
christologische Armutsverständnis der Jesuiten hin, die wie Jesus arm werden wollen, »um
andere reich zu machen« (2 Kor 8,9). Die Veranstaltung wird als Wahlpflichtfach deklariert.
Es müssen also auch Examina gehalten werden, und man kann Credits erwerben. Zwölf
Studentinnen und Studenten erscheinen, acht sind im Grundstudium, zwei kommen von
anderen Fakultäten, zwei sind Promovenden. Man stellt mir in Aussicht, dass in künftigen
Semestern auch den Hörern aus Fächern wie »Öffentliche Verwaltung« und »Soziologie«
meine Vorlesung empfohlen werden soll.
Ich frage die Studenten, ob sie wissen, was das »S. J.« hinter meinem Namen bedeutet. Zu
meinem Erstaunen lautet die Antwort: Alle Philosophiestudenten müssen hier eine bestimmte
Philosophiegeschichte lesen, auf der steht als Autor Frederick Copleston, S.J. – Ich spreche anschließend die Dozentenkollegen darauf an. Man hält Pater Copleston für den ausgewogensten
Darsteller der Denkgeschichte. Das erklärt, warum man hier dem Jesuiten, der anbietet, Philosophie zu unterrichten, nicht mit mehr Misstrauen entgegengetreten ist. Man zieht mich
auch über den heftigen Debattierer bei meiner Probevorlesung ins Vertrauen. »Er stammt aus
Südostanatolien; dort hat er in einer klassischen islamischen Medrese seine erste Ausbildung
erhalten, die vor allem im Koranlernen bestand. Das ist lange her. Inzwischen ist er ein Meisterdenker und will seinen Kollegen zeigen, dass er der beste Atheist von uns allen ist.«
Die Gespräche mit Kollegen und Studierenden laufen auf Türkisch. Meine Einführung
in die philosophische Anthropologie ist jedoch wie alle Lehrveranstaltungen an dieser
Universität englischsprachig. In Absprache mit Ahmet İnam lege ich sie auf kontinentaleuropäische Denktraditionen aus. Ich beschränke mich aber nicht auf eine bestimmte
anthropologische Denktradition, sondern stelle aus immer neuen Blickpunkten dar, was
Menschsein sein kann. Jede Doppelstunde hat eine Überschrift, immer ein deutsches Wort.
Es ist jeweils ein Begriff, der in der Reflexion über die Frage »Was ist der Mensch?« eine
Rolle spielt, und in den meisten Fällen ist er im Deutschen mehrdeutig. Das erweist sich als
didaktisch günstig. Denn so ist der Vorlesungsinhalt leichter zu behalten; und zugleich lernen die Studenten deutsche philosophische Begrifflichkeit. Unter ihnen ist das Fremdsprachen-Interesse groß. Gelegentlich schreibe ich ein griechisches Wort, zuerst in griechischen
Buchstaben, an die Tafel. Inzwischen bitten mich mehrere Studierende eindringlich, einen
Griechischkurs anzubieten. Ich werde die ersten Semester Vorbereitungs- und Vorlesungszeit allerdings vor allem in systematische philosophische Darstellungen investieren. Einen
Hebräischkurs hatte ich bereits im Vorjahr einmal in unserer Kirche angeboten. Erschienen
waren, neben Jugendlichen unserer Gemeinde, ein Altphilologe von der Ankara Üniversitesi
und zwei türkische freikirchliche Pfarrer, deren Lernbegierigkeit manchem amerikanischen
Prediger gut gestanden hätte. Das Unterrichten einer alten Sprache auf Türkisch ist, wie ich
daher sagen kann, ein Abenteuer eigener Ordnung. Es beginnt damit, dass ich mit meinen
Schülern türkische Wörter für den grammatischen »Artikel« oder »Dual« finden muss:
Erscheinungen, die es im Türkischen nicht gibt. Aber durch interessante Textauswahl lassen
sich auch beim Grammatiklernen existenzielle Einsichten vermitteln.
Die Anthropologie-Vorlesung gliedert sich in sieben Abschnitte, die in einen systematischen Zusammenhang bilden.
1. – Ansatz
Hier wird der erkenntnistheoretische Zugang zu einer philosophischen Anthropologie
begründet. In der ersten Vorlesung, zum Begriff des »Begriffs«, zeige ich, warum es
keineswegs nachteilig ist, dass manche Wörter, die das Deutsche philosophisch verwendet,
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mehrdeutig sind. Ich sehe meine Vorlesung in einem dreifachen Kontext: Islamisch-theologische Tradition, positivistisch-areligiöse Modernität, türkisch-nationale Identitätssuche.
Ohne im Unterricht eine Kontroverse vom Zaun zu brechen, steht im Hintergrund der
ersten Vorlesung besonders der erste Kontext, die islamische Denktradition. Ihre Hauptschwierigkeit ist meinen Beobachtungen zufolge ihr Bemühen, Begriffe so scharf zu verwenden, dass sie der Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden können. Gott steht dann als
Schöpfer der Schöpfung nur noch gegenüber; »Ich« und »Du« sind nicht vermittelt, Sieg
und Niederlage nicht ineinander verwoben. Eine flexiblere, der geschichtlichen Wirklichkeit angemessenere Weise, mit den Begriffen umzugehen, könnte auch islamischerseits
interessante Folgen haben.Die weiteren Titel dieses ersten Vorlesungsabschnitts sind
»Geheimnis«, »Erkenntnis«, »Sinn« und »Bestimmung«. Eine zentrale Pointe ist hierbei,
dass nicht gewaltsame Erkenntniswut zu befriedigenden Antworten gelangt, sondern die
Einsicht, dass jedes Einzelne eine Rolle im Gesamt hat – eine Einsicht, die, da das Ganze
noch nicht vorliegt, hypothetisch bleiben muss und darf.
2. – Anspruch
In diesem Abschnitt werden vor allem personalistische Ansätze behandelt. In ihnen zeigt
sich der andere, und zwar als Fordernder. Die Entscheidung, nicht beim Ich, sondern beim
Du einzusetzen, ist anthropologisch gut begründbar. Wir lernen das Ich-Sagen, finden zu
Selbstbewusstsein über das Angesprochensein. Dennoch vertrete ich keinen Personalismus,
der dem andern Einzelnen ein so absolutes Gewicht und Recht einräumt, dass das Gesamt
aus dem Blick gerät. Ein entscheidender Begriff für diesen Abschnitt ist Max Schelers »Weltoffenheit«, der nicht nur unsere Geöffnetheit zur Welt hin benennt, sondern die Offenheit,
also Unabgeschlossenheit der menschlichen Welt zum Ausdruck bringt.
3. – Aufruf
Nach der personalen Angesprochenheit behandelt dieser dritte Abschnitt nun verschiedene Weisen menschlichen In-die-Pflicht-genommen-Seins. Hier eignen sich die Mehrdeutigkeiten dreier deutscher Wörter besonders, auch die religiösen Dimensionen solcher
Verpflichtung zu bedenken. Den »Beruf« hat Martin Luther auf die Arbeit außerhalb des
Klosters übertragen und damit auch das weltliche Wirken unter die Frage persönlicher Berufung gestellt. Das Wort »Bildung« ist bereits von Meister Eckhard geprägt. Er benennt damit
den Vorgang, in dem unsere Gottesebenbildlichkeit herausgearbeitet wird. Das dritte Wort
ist »Verantwortung«. Im Arabischen (mas’ûlîya) und Türkischen (sorumluluk) wird mit
dem Gedanken des »Gefragt-Seins« (wie auch in der »responsabilité«) ebenfalls ein Rechtfertigungs-Dialog vorgestellt. Ob man nun bereit ist, sich eine Gerichtsszene am Ende der
Geschichte vorzustellen oder nicht: Verantwortliches Leben kommt aus der Bereitschaft,
mein Leben grundsätzlich in Frage stellen zu lassen. Im Koran lautet die entscheidende Gerichtsfrage: »Warum habt ihr einander nicht geholfen?« (37:25). Wie reagieren Studierende
an einer Universität mit atheistischem Ruf auf die deutliche religiöse Durchprägung mancher
meiner philosophisch-anthropologischen Gedankengänge? Wie also passt die Vorlesung in
den zweiten Kontext, die positivistisch-areligiöse Modernität, wie sie Mustafa Kemal Atatürk
als Mentalität der Zukunft anvisiert hatte und wie sie nicht wenige Kemalisten noch heute
als Idealzustand und Problemlösung für die Türkei sehen? Ich spreche nicht bekennerisch,
sondern stelle in sachlicher Sprache dar, dass am Grunde vieler philosophischer Begriffe
religiöse Erfahrungen liegen. Eine Studentin formuliert in der Auswertungsrunde am Ende
des Semesters: »Ich bin nicht religiös. Aber ich sehe jetzt, dass man Religionen respektieren
kann.« Ein Student zeigt sich dagegen von vorn herein als an Religion besonders interessiert.
Er versteht sich als Muslim, meint aber, mit Imamen könne man nicht diskutieren. Ihn muss
ich während der Vorlesung mitunter bitten, seine Fragen zurückzustellen. Das könnte zwar
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Felix Körner SJ
den Eindruck erwecken, dass ich nicht bereit bin, Rede und Antwort zu stehen, hat sich aber
auf lange Sicht bewährt. So kann der vorgesehene Stoff in angemessener Tiefe vorgestellt
werden. Außerdem sind meine Spontanantworten nicht immer die treffendsten. Und die
meisten Kommilitonen des Fragers interessiert der Vorlesungsinhalt mehr als meine Antwort auf die häufig etwas abwegige Einwendung eines einzelnen.
4. – Aufgabe
Dieses Kapitel untersucht den jeweiligen »Augenblick«, in dem sich die Gelegenheit zeigt,
der zuvor bedachten Angesprochenheit gerecht zu werden. Ein Problem der Vorlesungsreihe hatte sich früh gestellt. Jede Doppelstunde hat zwar eine innerhalb ihres Abschnittes
und innerhalb des Gesamtaufbaus sinnvolle Rolle, bricht jedoch mit dem je neuen Begriff
auch eine neue Gedankenpackung an. Der Übergang muss zugleich deutlich und behutsam
sein. Darüber hinaus haben die jüngsten Studierenden noch leichte Verstehensschwierigkeiten im Englischen, die besonders im Nachvollziehen von Abstraktem zum Tragen
kommen. Daher lernte ich, den jeweils neuen Titelbegriff narrativ einzuleiten. Bei Luthers
»Beruf« konnte sein Erfurter Turmerlebnis erzählt und beim Begriff »Bildung« Ignatius
von Loyola vorgestellt werden, der von sich sagte, er sei bei Gott in die Schule gegangen.
Da sich aber allzu gern biblische Geschichten als Einleitung nahelegten, ich den Kreis der
Explikationsquellen aber möglichst weit ziehen und nicht den Eindruck des Missionars
im Philosophenrock erwecken wollte, stellte es sich als besonders mühsam, aber lohnend
heraus, auch anderes Material zu suchen und zur Einleitung heranzuziehen. So beginnt die
Vorlesung zu »Du« nun mit einer von Martin Buber erzählten chassidischen Geschichte,
von der – wie ich erwartet hatte – der muslimisch besonders informierte Hörer sofort sagen
konnte: »Etwas ganz Ähnliches erzählt auch Dschalāladdīn Rūmī«, der persisch-schreibende sufische Meisterdichter des 13. Jahrhunderts. »Gegenwart« wird mit einem japanischen
Haiku eingeleitet, einer Gedichtform, die Präsenzerfahrung auf den Punkt bringt. Und die
Vorlesung »Augenblick« beginnt mit einer Beschreibung der spätklassischen Kairos-Statue
zu Olympia. Dieser vierte Abschnitt bietet auch Raum für das Thema »Geschichte«. Anhand einer Ezechielstelle (Kapitel 3) zeige ich, wie Israel es verstand, das Geschehen immer
neu zu lesen, und zwar als bedeutungsvollen Zusammenhang, dessen Gesamtsinn schon
ahnbar, aber noch nicht erwiesen ist. »Geschichte« ist ein Zentralthema für weiterführende
Gespräche mit dem islamischen Denken. Israel kann die geschehende Ereignisfolge, so sehr
die Menschen auch frei – und verkehrt – agieren mögen, als Handeln Gottes begreifen.
Göttliches und geschöpfliches Handeln sind hier nicht gegeneinander auszuspielen. Sind
sie aber zusammenzusehen, dann muss auch Offenbarung nicht als ein Eingriff von außen
gedacht werden, bei dem Menschen unbeteiligt sind. Hier liegt wohl der grundlegende
theologische Schlüssel für die Frage, wie Prophetie, auch die des Muhammad, als geschichtliche, das heißt menschliche anerkannt werden kann.
5. – Annahme
Dieser Abschnitt behandelt, nachdem das Du bereits begegnet ist (2.) und das Ich in der
Geschichte sein Selbst erspähen konnte (4.), nun den »Anderen«, wie er uns fremd und
daher bedrohlich begegnen kann. Inspiriert durch Jesu Gleichnis vom Barmherzigen
Samariter und von der Formulierung des Nikolaus Kusanus »Gott, der Nicht-Andere«
schlage ich vor, den andern in seiner Andersheit anzuerkennen, ohne mich damit von ihm
getrennt zu sehen. Unterschiedenheit und Einheit schließen sich nicht aus. Damit beziehe
ich mich auf jenen dritten Kontext, in dem diese Philosophievorlesung zu sehen ist: In
der Türkei sind nationalistische Tendenzen zu spüren; sie tarnen sich leicht unter einer
unitaristischen Ideologie, derzufolge alle in der Türkei Lebenden einheitlich sunnitische
Muslime und Türken sind. Das Thema war in meinem ersten Semester besonders brisant,
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da sich unter den Hörern auch zwei Kurden befanden, die mit Vergnügen das eine oder
andere kurdische Wort beisteuerten. Beim Nachdenken über den Begriff der Fremdheit
lesen wir auch ein Lied des geistlichen Volksdichters Yunus Emre, der im 14. Jahrhundert
türkische Lieder schrieb, die bis heute bekannt sind. In einem Kehrvers sagt er, womöglich
augenzwinkernd, jedenfalls in köstlicher Paradoxie: »So einen Fremden wie mich habe ich
ja noch nie getroffen.« Die Studenten, auch die kurdischen, interessiert die altertümliche
türkische Sprache des Yunus Emre, und ich meine auch einen gewissen Stolz unter den
Studenten zu spüren, dass nicht nur Shakespeare, Zen-Kō’ans und die Bibel als philosophische Einleitungen taugen. In der nachfolgenden Stunde beschwert sich ein Philosoph im
vierten Semester, dass die Türkei von Europa immer als der andere, der Fremde gesehen
werde, » … dabei sind wir ganz anders, als Ihr meint.« Seine Bemerkung gibt Anlass zu
mehrfacher Reflexion. Lässt sich so klar von einer europäischen Sicht reden, wie er es tut?
Lässt sich sein eigenes Türkeibild möglicherweise als Wunschdenken erweisen? Brauchen
wir stets einen »anderen« als Gegenüber, um zu definieren, wer wir selbst sind, sei dies nun
Europa, die Türkei oder ein angeblich verkehrtes Türkeibild?
6. – Angst
Die vorletzte Einheit bringt nun die Spannungen des menschlichen Lebens zur Sprache.
Unter den Begriffen fungiert auch »Sünde«. Man könnte fragen, ob ein derart glaubensbezogenes Wort überhaupt in eine Anthropologie gehört, die sich philosophisch nennt.
Ist dies nicht ein Begriff, der nur in eine Glaubensverkündigung gehört, die an der persönlichen Entscheidung hängt und wie sie evangelikale Theologie in ihren Kleinschriften
vertritt? Bereits von der Geschichte des Denkens her war angezeigt, das Wort ohne derartige
Befürchtungen, aber auch ohne Deckmantel zu verwenden. Denn die bei Paulus – dessen
anatolische Herkunft natürlich auch herausgestellt wird – wird das menschliche Drama
schärfer als je zuvor benannt, und eben mit dem Wort Sünde: Wir tun nicht, was wir eigentlich wollen. Ich muss nicht blind glauben, dass ich gegen ein göttliches Gebot verstoßen
habe. Vielmehr ist die Erfahrung des Strukturproblems gegen meine grundlegenden Hoffnungen zu handeln, eine menschliche Konstante. Damit hat sie ihren Platz auch in einer
philosophischen Anthropologie.
7. – Aufbruch
Schließlich werden fünf Zielbegriffe zusammengestellt: Person, Geist, Freiheit, Liebe und als
letzter »sich verlassen auf«. Der abschließende Gedanke lautet, dass die Selbstverfangenheit,
die wir erleben, sich nur in einer Bewegung vertrauender Hingabe löst. Die Atmosphäre
wurde im Laufe des ersten Semesters zunehmend spiritueller. Es waren weniger die anfangs erwarteten kritischen Einwände der Studenten, die ein frommes Abheben meiner
Gedankengänge hinderten: Vielmehr wollte ich selbst stets die Begründbarkeit auch von
glaubenden Vollzügen – wie Vertrauen – aufzeigen. Und ich wollte stets den Anschluss an
die philosophische Tradition aufrechterhalten. So kamen immer auch anthropologische
Klassiker zu Wort. Ich nannte beispielsweise gerne Helmuth Plessner, der auf der Flucht vor
den Nazis kurz in Istanbul Halt gemacht hatte, als Kronzeugen: Der Mensch ist, wie Plessner
formuliert, »exzentrisch positioniert«. Der Gedanke, dass wir uns nicht verlieren, sondern
finden, wenn wir über unser bisheriges Menschsein hinausgehen, kann hier angeschlossen
werden. Er fand bei den Jugendlichen erst nach einer Phase des Unverständnisses Zustimmung, dann aber begeisterte.Als christlicher Theologe Philosophie, und gerade das
Fach Anthropologie, in Ankara zu unterrichten ist eine spannende Aufgabe, die ständig
Rechenschaft meines Glaubens ist, die allerdings zugleich auch ständige Rechenschaft
vor mir selbst verlangt: Werde ich dem mir entgegengebrachten Vertrauen gerecht, die
Studenten bei der Entwicklung ihrer eigenen Überzeugung fair zu begleiten?
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Felix Körner SJ
Zusammenfassung
Der Erfahrungsbericht eines deutschen Jesuiten in Ankara zeigt ein Bild der jetzigen
religiösen Situation in der Türkei zwischen atheistischem Main-Stream auf einer bestimmten akademischen Ebene, einer kleinen Gruppe evangelikaler Christen und in diesem Fall
der jesuitischen Kommunität, die sich in der türkischen Hauptstadt dem interkulturellen
und interreligiösen Dialog verschrieben hat.
Summary
The report of the experiences of a German Jesuit in Ankara shows a picture of the current
religious situation in Turkey where there are an atheistic mainstream on a certain academic
level, a small group of evangelical Christians and, in this case, the Jesuit community which
has devoted itself to intercultural and interreligious dialogue in the Turkish capital.
Sumario
El relato de un jesuita alemán en Ankara sobre sus experiencias muestra una imagen de
la situacíon religiosa actual en Turquía entre el ateísmo mayoritario en ciertos estamentos
universitarios, un pequeño grupo de cristianos evangelicales y una comunidad jesuita, que
en la capital turca se dedica al diálogo intercultural e interreligioso.
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