Die Prinzenrolle

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Leseprobe aus:
Dieter Schnack, Rainer Neutzling
Die Prinzenrolle
Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.
(c) 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei hamburg.
DER ZIEGENBOCK IM UNTERROCK
Ansichten über den Trieb des Mannes
«In der Woche zwier schadet weder ihm noch ihr.»
MARTIN LUTHER
«Männer wollen immer nur das Eine.» Dieser schlanke Satz
reicht auch heute noch aus, um das in unserer Gesellschaft vorherrschende Bild der männlichen Sexualität zusammenzufassen. «Das Eine» scheint dabei etwas ziemlich Unanständiges zu
sein. Natürlich wollen die Frauen auch «das Eine» – aber doch
nicht immer und nicht nur!
Männer interessieren sich demnach für die CD -Sammlung
ihrer Auserwählten ebenso wenig wie für deren schwierige
Kindheit. Sie schenken Wein nach und lächeln verträumt,
derweil sie an Fellatio und andere Sauereien denken. Schon
bei der Anbahnung eines ersten Kontaktes wird vom Mann
erwartet, dass er selbstbewusst und mit strategischer Sicherheit
die Initiative ergreift, obwohl er sich in einer typischen doublebind-Situation befindet. Dass sein Werben um die Schöne am
Tresen eindeutig und ausschließlich sexuell motiviert ist, gilt
als ausgemachte Sache. Gleichzeitig wird dieses vermutete Motiv in der Regel sehr gering geachtet. Ob er ein respektvoller,
menschlich akzeptabler und spannender Sexualpartner sein
kann, zeigt sich im Verlauf des Abends vor allem daran, wie er
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zu verbergen versteht, worauf er nach allgemeiner Auffassung
aus ist.
In einem Seminar baten wir einmal Männer zwischen 25 und
40 Jahren, die klischeehafte Situation mit der Schönen am Tresen durchzuspielen. Die anschließende Auswertung ergab das
altbekannte Muster. Alle Männer meinten, dass sie eigentlich
in der Lage sein müssten, locker, souverän und witzig Kontakt
aufzunehmen. Gleichzeitig befürchteten sie, als «Schleimer»
oder als «geiler Bock» abgelehnt zu werden oder aus anderen
Gründen einen Korb zu bekommen. Egal wie sie sich verhalten
würden, die Niederlage wäre gewissermaßen vorgezeichnet.
Nichts zu tun, die spannende Frau also einfach ihr Bier trinken
und die Gelegenheit verstreichen lassen, würde bedeuten, als
Mann zu versagen. Von den 18 Männern klagten andererseits
17 darüber, dass ihnen die Fähigkeit und der Mut zur offensiven Kontaktaufnahme weitgehend abging, zumal die Angst,
aufdringlich und grenzverletzend zu wirken, sehr groß sei. Wir
einigten uns mit viel Spaß darauf, allesamt Versager zu sein,
und fanden, dass so viele Versager auf einem Haufen gar nicht
verkehrt liegen können.
Dass es einem Mann tatsächlich von Anfang an nur um das
Eine geht, wird spätestens auf dem Heimweg deutlich. Mögen
sich insgeheim beide auf die Knutscherei an der Haustür oder
auf die Verabredung nur zum Kaffee gefreut haben, so ist es
nun an ihm, ihr zuerst wer weiß wohin zu fassen. Die eindeutige Sexualisierung einer Situation ist auch heute noch die
Aufgabe des Mannes. Ausnahmen sind zu selten, als dass sie
die Regel nicht immer noch bestätigen würden. In dieser Anordnung trägt die Frau das Risiko, dass ihr etwas Unerwünschtes geschieht, während der Mann befürchten muss, etwas Unerwünschtes zu tun.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird die sexuelle Annähe-
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rung an eine Frau als Eroberung bezeichnet, mit einem Begriff
also, der aus der Kriegführung stammt. Der Mann greift an,
die Frau verteidigt. Ob er sie dabei frontal attackiert oder in
einer Art freundlicher Übernahme Verteidigungslinie um Verteidigungslinie überwindet, ändert nichts an dem Dilemma,
dass er nicht genau wissen kann, ob er im nächsten Moment
als strahlender Sieger bejubelt oder als unerwünschter Aggressor abgelehnt werden wird. Vorsichtige, ihrer Sache nicht ganz
sichere Männer gehen deshalb eher Schritt für Schritt vor:
Über dem Pullover sanft Busen streicheln. Bis Ende September: Zügig
unter den Pullover fassen, dann unter die Bluse. Hand rechtzeitig wieder
raus. Küssen. Ohrläppchen nicht vergessen! Aber nicht ins Ohr – viel
zu schnell. Sanft Rücken streicheln, vorsichtig Po anpeilen. Wenn kein
Widerstand: kräftig zupacken, sonst zurück zum Ausgangspunkt. Brustwarze links streifen, nur aus Versehen, dann Brustwarze rechts treffen,
schon etwas mehr als nur zufällig. Feindbewegungen immer im Auge
behalten, kein Aktionismus. Überraschenden Rückzug anbieten, überzeugen, dass alles nicht so gemeint ist. Voller Inbrunst linken Zeigefinger
liebkosen. Dann in Verhandlungen eintreten. Langfristige Zusammenarbeit ankündigen. Deutlich machen, dass es die Liebe ist, die ihr da in
den Schritt fasst, und nicht das Begehren.
Diese Form der sexuellen Annäherung ähnelt häufig dem Versuch, alleine einen Hasen zu umzingeln. Meistens geht die Erotik an solchen Abenden ziemlich früh schlafen. Wenn die Sexualisierung einer Situation in der Hauptsache an den Mann
delegiert wird und von ihm verantwortet werden muss, können
vielfältige Verständigungsprobleme auftreten. «Wenn eine Frau
N EI N sagt, dann meint sie auch N EI N !» Diesen Satz bekommen Männer seit Jahrzehnten immer wieder zu hören. Manchmal geduldig, meistens aber voller Zorn versuchten Frauen der
althergebrachten Mär zu begegnen, dass eine Frau, die N EI N
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sage, in Wirklichkeit genommen werden wolle. Nein heißt
nein – im Grunde handelt es sich bei diesem Satz um einen
Hinweis für Doofe, der klarstellen soll, dass Frauen ebenso wie
Männer ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben. Verstöße gegen dieses Recht, daran kann es keinen Zweifel geben,
stellen Gewalt dar. Ohne Frage gibt es Neins, die nicht zu überhören oder falsch zu interpretieren sind. Ein sexueller Übergriff
entsteht nicht als Folge eines Kommunikationsproblems, und
eine Vergewaltigung ist kein Missverständnis.
Aber es gibt eben auch viele kleine Neins. Nein, nicht so.
Nein, nicht das. Nein, nicht jetzt, vielleicht in fünf Minuten.
Nein, nicht so schnell. Nein, sag mir erst, dass du mich liebst.
Nein, ich darf nicht, aber wenn du mich verführst, dann könnte
es schon angehen. Nein, ich will nicht, vielleicht aber doch.
Das Nein in der Liebe ist insofern nicht nur eine selbstbewusste Grenzziehung. Es kann ein spielerisches oder kontrollierendes Gestaltungsmittel sein, um Art und Tempo einer sexuellen Begegnung mitzubestimmen. Und häufig fällt es Frauen
sehr viel leichter, auszudrücken, was sie nicht wollen, als zu
zeigen, was sie wollen.
Dass Männer ihrerseits in ihrer Wollust durch die Frau oder
ein hohes Maß an Selbstkontrolle gebremst werden müssen,
hängt mit ihrer scheinbar unbändigen Triebhaftigkeit zusammen. Im Klischee ist der Mann ein Sexomane, sein Begehren
ist drängend und unerbittlich. Eine Frau darf ihn nicht zu sehr
reizen, sonst reagiert er wie ein Pawlow’scher Hund. Damals
war es eine stramme Wade, heute ist es ein trägerloses Korsagen-Top – schon geht er ab wie eine Rakete.
In diesem Zustand gilt der Mann als nicht ungefährlich. In
Vergewaltigungsprozessen muss man immer wieder verfolgen,
wie die Verteidigung verdeckt oder offen dafür plädiert, dem
Angeklagten als ganz normalem Mann Verständnis entgegen-
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zubringen, weil er doch den Reizen des Opfers erlegen sei.
Wenn der Mann einmal über einen bestimmten Punkt hinaus
ist, hält ihn angeblich nichts mehr auf.
Jedermann ein potenzieller Vergewaltiger! Das Kränkende
an dieser alten Parole bestand für die Männer in den 70er Jahren nicht darin, dass frau ihnen unisono Brutalität und sexuelle
Gewalt zutraute. Vielmehr wurde damit eine vernichtende Aussage über den grundsätzlichen, den eigentlichen Charakter der
männlichen Sexualität getroffen: Wenn dem geilen Bock die
Kreide ausgeht, entpuppt er sich als Wolf. Und der frisst die
Ziege nicht einmal aus besonderer Bosheit heraus auf, sondern
weil es seiner Natur entspricht.
Dem im Prinzip gewalttätigen Sexus des Mannes steht der
gänzlich anders geartete Sexus der Frau gegenüber. Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt beschrieb einmal Mitte der
80er Jahre, welche Bilder sich aus der Spaltung männlicher und
weiblicher Sexualität in polare Gegensätze ergeben: «Männliche
Sexualität ist dann triebhaft, gewalttätig, rücksichtslos, peniszentriert, ein Vehikel für Machtausübung und Unterwerfung;
weibliche Sexualität ist dagegen sanft, liebevoll, personen- und
liebesorientiert, ganzkörperlich, friedfertig, eine Möglichkeit
zu Nähe und Austausch. Spitzt man diese Bilder zu, so wird
Vergewaltigung zum Paradigma männlicher, Zärtlichkeit zum
Paradigma weiblicher Sexualität» (S. 140).
Nach dieser Vorstellung existiert die Sexualität in zwei Ausfertigungen, einer bösen männlichen und einer guten weiblichen. Im Mittelpunkt dieser Aufspaltung steht nicht mehr die
Analyse gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse, sondern das vermeintliche Wesen, die Natur der Geschlechter: Männer und
Frauen sind ganz, ganz verschieden. Die Hormone, die Gehirne,
die Gestirne – alles ist anders. Die Gebärfähigkeit der Frauen
und die Muckis der Männer trennen die Geschlechter ebenso
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wie die frühe Kindheit und die Frühgeschichte der Menschheit.
Und Yin und Yang und überhaupt: Manchmal wundert man
sich, dass Mann und Frau überhaupt noch den Weg ins selbe
Bett finden.
Bei dieser «falschen Dichotomie von gut und böse» (ebd.)
verlieren beide Geschlechter, weil die Sexualität selbst gespalten wird, obwohl sie im Kern immer beides ist: sozial und egoistisch, zärtlich und aggressiv, hingebungsvoll und begierig.
Gewiss ist es nicht leicht, mit der Überzeugung zu leben
und zu lieben, dass der Mann seinem sexuellen Wesen nach
ein Ziegenbock und die Frau eine Anemone ist. Wiederum
helfen Aufspaltungen dabei, dem ambivalenten Charakter der
Sexualität zu entgehen, deren verschiedene Aspekte nicht nur
den Geschlechtern, sondern darüber hinaus offenbar grundverschiedenen Sorten von Menschen zugeordnet werden: Frauen
werden zu Heiligen oder Huren, Männer zu anständigen, sanften Partnern oder eben zu richtigen Männern.
Der mustergültige Gegenentwurf zum Sexmaniac mit Überdruck lautet: «Mein Partner ist rücksichtsvoll, zärtlich, geduldig.» Einer der ersten Sanften wird in Franz Schuberts «Ständchen» besungen. Voller Inbrunst flehen seine leisen Lieder die
Liebste in den Hain hernieder. Am Schluss kann er kaum noch
an sich halten, aber er reißt sich zusammen: «Bebend harr’ ich
dir entgegen, komm’ beglücke mich, komm’ beglücke mich.»
Die Romantik stellte den Mann nicht als getriebenen Sexbolzen
dar, sondern als jemanden, der vor Sehnsucht vergeht, aber auf
die Erfüllung seiner Wünsche warten kann.
Ein Auslaufmodell, denn nach den Zeiten des zweiten Hochfeminismus werden in den Frauenzeitschriften wieder munter
die Kleider vom Leib gerissen. Richtige Männer fallen über ihre
Gattinnen her, kaum dass sie die Aktentasche abgestellt und ihr
Jackett auf einen Bügel gehängt haben. «Nach faden Sexzeiten
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steht den Frauen der Sinn nach Deftigem», befand zum Beispiel
Eva Gesine Baur schon Anfang der 90er Jahre in «Elle». «Dirty
Sex» ist angesagt. «Der Typ stinkt nach Whisky und Zigarillos,
hat manchmal Ränder unter den Achseln. Einer, der, statt emsig
nach ihrem G-Punkt zu forschen, heftig zulangt. Ihre Nylons
zerreißt, ihr Make-up verschmiert, ihren Mund so nass küsst,
dass er wund wird. Und es manchmal keuchend und triefend in
Missionarsstellung mit ihr treibt.»
Der «Dirty Lover» macht dreckige Witze und hat «das ganze Vokabular drauf, was nach Gosse riecht». Der klitorale Orgasmus wird als langweiliger Ringelpiez mit Anfassen entlarvt:
«Da wurden Stellungen geübt, die im Sinne der Gleichstellungsstelle waren. Da wurde das stundenlange Vorspiel zur Pflichtfingerübung für moderne Männer erklärt. Es war denn auch
so lustig wie eine Klavieretüde von Czerny. Und mindestens so
lang, denn der Quickie ist uns ja vergrault worden. Aber keine
Angst, auch er kommt wieder. Und zwar gewaltig.»
Seife ist also wieder out, Fingerspitzengefühl mega-out. In ist
die Begierde und mega-in natürlich die unersättliche Begierde:
der Ziegenbock ohne Unterrock.
Nichts gegen sexuelle Phantasien, auch nichts gegen einen
Quickie und Keuchen und Triefen! Sogar das Zerreißen von
Nylons kann Spaß machen, selbst wenn es auf die Dauer etwas
teuer kommt. Und wer wund geküsste Münder mag, warum
nicht? Aber dieser Trend verändert nicht die sexuelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Uns scheint beim Lesen
solcher Phantasien, als wollten anständige Frauen auf der Sau
reiten, die die Männer überlieferterweise in sich tragen und
neuerdings wieder herauslassen sollen.
In der Mai-Ausgabe von «Elle» im Jahr 2004 gab es eine
Liste zu lesen, was «echte Männer» alles seien: Echte Männer
heulen demnach nicht in Frauenfilmen, hören nicht Xavier
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Naidoo, öffnen nie für sich allein eine Flasche Prosecco und
haben keine Psychoratgeber im Bücherregal. Sie haben keine
kleinen Füße, essen kein Fingerfood, tragen keine Boxershorts
und haben keine bunten Laptops … Auch heute noch besteht
offenbar die sicherste Definition des Mannes darin, dass er
nicht tun sollte, was Frauen gemeinhin tun.
Der Sanfte als Un-Mann, der reißende Wolf als zerstörender
Vergewaltiger, der Dirty Lover als netter Vergewaltiger von
nebenan: Alle diese Bilder kreisen um ein Thema. Sie variieren
das uralte Motiv der wilden Triebhaftigkeit des Mannes, die es
zu kontrollieren, zu fürchten oder zu nutzen gilt.
Das Motiv der wilden Triebhaftigkeit des Mannes lässt sich
scheinbar mühelos aus der Realität ableiten. Viele Männer
erleben ihre Sexualität so, wie es dem Klischee entspricht. Sie
haben das Gefühl, von einem «Trieb» regelrecht überrollt zu
werden. Zu Anfang der Pubertät haben sie vielleicht versucht,
gegen die Masturbation anzukämpfen. Der Kampf gegen die eigene Lust hatte nicht nur mit Schuldgefühlen zu tun, die ihnen
jemand eingeredet hatte. Sie war auch ein Versuch, der plötzlich so drängenden Begierde Herr zu werden. Dahinter stand
der Wunsch, sich seiner Erregung nicht hilflos ausgeliefert zu
fühlen und bewusst mit ihr umgehen zu können. Im Kontakt
mit Mädchen machten sie die Erfahrung, dass ihre Lust oft
schneller und drängender zu sein schien als die ihrer Partnerin.
Sie übernahmen den Part, die Knutscherei zu beschleunigen,
während die Mädchen eher dafür sorgten, das Ganze langsamer
zu machen. In Gesprächen mit Gleichaltrigen lernten sie, dass
junge Männer offenbar sehr viel mehr von sexuellen Wünschen
beherrscht sind als junge Frauen, weil sie offener, zotiger und
direkter darüber redeten. An jedem Kiosk war anhand vieler
nackter Frauen zu sehen, dass sich die Veröffentlichung von Sexualität vor allem an Männer richtet. Männer, so war zu hören
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und auszuprobieren, kauften Sexualität. Am Ende der Pubertät
hatte sich erwiesen, dass das Bild vom triebhaften Mann der
Wirklichkeit zu entsprechen schien.
Allerdings ist der Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit
und den Bildern, mit denen wir versuchen, sie zu beschreiben,
in etwa so kompliziert wie der zwischen Henne und Ei. In aller Regel stammen die Bilder gar nicht aus der Wirklichkeit,
sondern stellen Wirklichkeiten her, obwohl sie lediglich bebilderte Phantasien sind. So lassen sich die hier geschilderten
Pubertätserfahrungen nicht nur als überzeugende Hinweise
auf die drängende Triebhaftigkeit des Mannes, sondern auch
anders deuten: Je weniger ein Mann es aushalten kann, sich
ausgeliefert zu fühlen, desto eher wird er seinen rebellierenden
Phallus für einen Fremdling halten, für einen Triebtäter, den er
wie einen Feind zu beherrschen lernen muss. Je bedrohlicher
es für einen Mann ist, langsamer und vorsichtiger zu sein als
eine Frau, umso mehr Einsatz wird er zeigen, die Inszenierung
einer sexuellen Begegnung aktiv zu steuern. Je fremder und
irritierender ihm seine eigene Erregung ist, umso mehr wird
er sich auf seine Partnerin konzentrieren. Je schwerer es ihm
fällt, sein sexuelles Begehren wohlwollend in seine Gesamtpersönlichkeit zu integrieren, umso mehr wird er möglicherweise
in der Öffentlichkeit seine Geilheit zur Schau stellen und der
allgemeinen Bewertung unterziehen. Je größer seine Angst ist,
ohne eingebaute Sicherungen sexuell einer Frau zu begegnen,
umso verständlicher wird er es finden, eine Frau und ihre Sexualität einfach zu kaufen.
Sexualität macht nicht nur Spaß, sie fordert auch eine
Menge. Viele dieser Anforderungen vereinbaren sich aber nur
schwer mit dem in unserer Kultur vorherrschenden Konzept
souveräner Männlichkeit.
Wäre es anders, hätten die rund 400 000 Prostituierten in
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Deutschland nicht so viele Kunden. (Geht man von täglich
fünf Kunden pro Prostituierter aus, kommt man auf die stolze
Summe von rund zwei Millionen Männern, die sich Tag für Tag
eine Illusion aus Fleisch und Blut kaufen.) Auch die Pornoindustrie florierte nicht so krisensicher, T V -SchlüssellochguckerMagazine blieben uns ebenso erspart wie Sexclips nach 24 Uhr,
die allesamt nur eine Botschaft verkünden: «Jetzt besorg es der
Alten doch endlich mal auf dem blöden Ikea-Sofa …» Würden
kommerzielle Versender von Spam-Mails, die einem mir nichts,
dir nichts per Mausklick «fickgeile Schlampen» andienen, nicht
auf reges Interesse stoßen, sparten sie sich garantiert den Aufwand. Wenn es prickeln soll, geht es in unserer Kultur unverändert um das Spannungsverhältnis von Lust und Schmutz,
von Verbot und dem Verstoß dagegen, von Sich-Zieren und
Überwältigen. So schnell ändern sich nun mal weder die Zeiten
noch die Geschlechterverhältnisse.
Designter Sex
Dazu passt, dass allenthalben von der großen und allgemeinen
Lustlosigkeit die Rede ist. Die Leute, heißt es, gehen heute viel
seltener miteinander ins Bett als früher. In Wahrheit steht es
um die aktuellen Koitusfrequenzen gar nicht so schlecht, wie
es die Boulevardpresse schon von Berufs wegen immer meinen
muss («Große Flaute in deutschen Betten»). Eine Untersuchung
von Gunter Schmidt kam im Jahr 2004 zu dem Ergebnis, dass
in festen Partnerschaften 66 Prozent der 30-Jährigen, 62 Prozent der 45-Jährigen und immerhin die Hälfte der 60-Jährigen wenigstens einmal in der Woche mit ihren Partnern und
Partnerinnen schlafen. Im Schnitt tun es Paare sechs Mal im
Monat. Diese Zahl ist zwar etwas geringer als jene, die der
Kinsey-Report vor einem halben Jahrhundert noch ermittelte,
doch damals galten andere sexuelle Standards als heute. Sex
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war etwas, das der (triebhafte) Mann brauchte, um regelmäßig
Dampf abzulassen, während die (liebende) Frau zumeist eine
eheliche Pflicht erfüllte, denn der weibliche Orgasmus gehörte
noch nicht zum Programm.
«Diese Zeiten sind vorbei», schreibt Gunter Schmidt in seinem Buch «Das neue Der Die Das», zumindest «so gut wie. Die
mechanisch-energetische Sichtweise der Sexualität tritt in den
Hintergrund, eine psychologisierende und ästhetisierende in
den Vordergrund.» Heute sei die partnerschaftliche Sexualität
«dem Ideal nach zu einem entfalteten, phantasiereichen, erfinderischen und beide Partner erfüllenden Akt» erkoren worden,
und den produziere man schließlich nicht alle Tage (S. 73).
Gleichzeitig heißt es oft, Deutschland (und mit uns die westliche Welt) sei auf dem Weg zu einer masturbatorischen Gesellschaft. Nicht nur, dass, wie auch Gunter Schmidt schreibt, die
Tendenz stark zugenommen habe, die Selbstbefriedigung ganz
selbstverständlich neben der Partnersexualität zu betreiben.
Darüber hinaus würden inzwischen nicht wenige Zeitgenossen
der Selbstbefriedigung dem Wagnis der realen Sexualität sogar
den Vorzug geben – wie die täglich millionenfachen «Hits» der
pornographischen Internetseiten bezeugten.
Ob das alles so stimmt, ist schwer zu sagen, denn repräsentative Forschungsergebnisse liegen dazu nicht vor. Immerhin
weiß man heute, dass die Koitusfrequenz weniger vom Alter als
von der Lebens- bzw. Beziehungssituation abhängt. Zwei frisch
verliebte 60-Jährige gehen der Statistik nach häufiger miteinander ins Bett als zwei 30-Jährige, die seit ihrem 15. Lebensjahr
zusammen sind (vgl. Gunter Schmidt S. 69 f.).
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben Männer und Frauen
mehr denn je mit der Chance und mit dem Fluch, Schmied
ihres eigenen Glücks zu sein. Heute ist man für alles selbst verantwortlich. Wenn aber das aktuelle zeitgenössische Ideal für
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Paare vorsieht, über Jahrzehnte hinweg in leidenschaftlicher
Liebe und Sexualität verbunden zu sein, muss die große Mehrheit zwangsläufig viel falsch machen. Und so leiden Männer
und Frauen zunehmend unter fehlender Leidenschaft, oder sie
trennen sich, weil doch keine Liebe sein kann, wo kein Begehren mehr ist. Ebenso wie praktisch kein Mann und keine
Frau den veröffentlichten Schönheitsidealen entspricht und
ganze Industrien von der Lüge leben, mit ein wenig Mühe, viel
Spaß und tollen Tricks sei es eben doch möglich, schafft die
vorgebliche Machbarkeit von Leidenschaft endlos Frust und
Leid. Schließlich kriegt man nicht hin, was andere angeblich
locker hinbekommen. Steht nicht in jeder Frauenzeitschrift,
wie lecker die ultimative Diät ist und was Männer wirklich anmacht? Und sind Männer, die immer noch keinen Waschbrettbauch haben, nicht bloß zu bequem, «Men’s Health» zu lesen,
von der sie außerdem erfahren könnten, was Frauen wirklich
anmacht?
Unterm Strich scheint die Sexualität im Vergleich zu früheren
Zeiten zwar freier, dafür aber auch komplizierter geworden zu
sein. Es fällt schwerer, Schuldige auszumachen. Die Frauen sind
nicht mehr per se «frigide» (müssen also nicht ständig zum Sex
überredet werden), und die Männer sind auch nicht dauergeil
(stehen also nicht ständig zur Verfügung). Früher konnte eine
Frau, die ihren Mann klassisch weiblich abwies, sich immerzu
begehrt fühlen und schützte damit gleichzeitig die Potenz des
Gatten, der ja in Wahrheit gar nicht immer konnte. Dafür durfte er sich ohne Nachweispflicht als superpotent phantasieren.
«Wenn sie mich nur öfter ranließe …» stand dem «Wäre er nur
zärtlicher …» gegenüber, und damit hatte alles seine Ordnung.
Wären beide Wünsche in Erfüllung gegangen, hätte allerdings
gut passieren können, was aus Paartherapien heute sehr häufig
berichtet wird: Mann und Frau wären dermaßen irritiert von
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der neuen Unordnung, dass gar nichts mehr liefe (zumindest
nicht mehr als vorher). Heute habe man es oft nur scheinbar
mit einem lustlosen Mann oder einer lustlosen Frau zu tun,
schreibt Gunter Schmidt, sondern mit einem lustlosen Paar,
«bei dem die Wechselseitigkeit sexueller Wünsche aus dem Lot
geraten ist» (S. 70).
Auf Gunter Schmidt geht auch der viel zitierte Begriff «Verhandlungsmoral» zurück, der die alte Ordnung vom drängenden Mann und der abwehrenden Frau abgelöst habe. Zusammengefasst bedeutet er, dass alles erlaubt ist, solange ein Paar
sich darüber einvernehmlich verständigen kann: Ob sanft oder
reißerisch, sado oder maso, fünfmal am Tag oder fünfmal im
Jahr, ob mit Tieren oder zu fünft, im Bett oder in der Kirche …
sind zwei sich einig, ist es in Ordnung. Ist man sich uneins, geht
man besser getrennter Wege.
Das eigentliche Essential der Verhandlungsmoral ist jedoch,
dass beide Seiten auf ihre Kosten kommen müssen. Nur theoretisch wäre die Anordnung denkbar, dass eine Frau zwar keine
Lust auf Sex hat, es aber in Ordnung findet, wenn der Mann
ganz aus sich herausgeht. Das widerspräche dem neuen Ideal
der Wechselseitigkeit: «Macht es ihr/ihm Spaß, habe auch ich
Spaß» und «Hat sie/er keine Lust, habe auch ich nichts davon».
Das klingt schlicht und nahe liegend. Der alte «triebhafte»
Mann aber scherte sich dem Ruf nach herzlich wenig darum.
Der Mann von heute dagegen ist je nach Bedarf mal ein zärtlicher oder mal ein leidenschaftlicher Liebhaber, dessen Lust
sich aus der Lust seiner Frau speist. Er sollte nach Möglichkeit kein Problem damit haben, ihr jedes Mal einen tollen Orgasmus zu schenken, auch nicht nach zwanzig Ehejahren. Und
kann man heute nicht über alles reden? Über seine Wünsche
und geheimen Phantasien, zum Beispiel. Es sind auch Hilfsmittel erlaubt. Ein paar neckische Fesselspielchen vielleicht? Sind
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wir nicht alle ein bisschen pervers? Nur Mut! Oder ein Abo für
den Swinger-Club? Bringen Sie Ihrer Frau mal wieder Blumen
mit! Lieben Sie sie zur Abwechslung mal am Strand! Oder auf
der Anrichte. Und immer daran denken: Vorher fragen, ob es
auch recht ist. So denkt der Ziegenbock im Unterrock.
Dass so viele Männer zu Prostituierten gehen und wahrscheinlich häufiger masturbieren, als dass sie mit ihren Frauen schlafen, erweckt den Anschein, dass demokratischer Sex
schwieriger ist als jener der guten alten patriarchalischen Zeiten.
Zumindest scheinen sich die Dinge im Bett nicht vereinfacht zu
haben. Liegt es daran, dass das Gebot, die Frau befriedigen
zu müssen, zu sollen und zu wollen, die rollenkonform ohnehin große Versagensangst der Männer verstärkt? Hat die neue
Lustlosigkeit der Männer, mit ihren Frauen zu schlafen, auch
damit zu tun, wie anstrengend sie es finden, mit einer Frau zu
schlafen? Ziehen sie deshalb so häufig die «designte Sexualität»
der realen Beziehungssexualität vor, weil bei der Prostituierten
und in den (pornographischen) Phantasien weder Versagensgefahren drohen noch mühsam darüber verhandelt werden
muss, welches Begehren statthaft ist und welches gerade nicht?
Durchaus möglich.
Aber was hat das alles noch mit dem starken, unbändigen
männlichen Sexualtrieb zu tun? Nichts. Heute ist man zum
Sex motiviert, oder man ist es nicht. Tatsächlich kann es in
demokratischen Verhältnissen keine andere Organisationsform
der Sexualität geben als die der gütlichen Verhandlungsmoral
auf der einen und der designten Sexualität (in der jeder allein
bestimmen darf) auf der anderen Seite. Gleichwohl stimmt es
unverändert, dass man nirgendwo leichter zu verunsichern und
zu kränken ist als in der Sexualität. Was bleibt, ist die große Befangenheit, die sich aus jeder Lebensgeschichte ergibt – gegenüber der Sexualität und gegenüber dem Leben überhaupt. Und
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ein Leben soll ja daraus werden. Ein gutes nach Möglichkeit,
auch wenn man weder den gängigen Schönheitsidealen entspricht noch den medial vermittelten Sexualitäten nachzueifern
vermag.
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