Jean Boutan, Paris [email protected] Nationalitäten in Böhmen in der Gender-perspektive anhand der Gründungsmythen der nationalen Wiedergeburt Die Wiederentdeckung der böhmischen Volkssagen im 19. Jahrhundert Die Neuentdeckung nationaler Gründungstexte, –mythen und –legenden im frühen 19. Jahrhundert, die hauptsächlich durch die Romantik initiiert wurde, führt in Böhmen zu einer Erneuerung des literarischen Interesses an zwei böhmischen Sagen, nämlich der Legende von der Gründung Prags durch die Herzogin Libussa und der Legende eines Befreiungskampfes der Frauen im Lande gegen die entstehende patriarchale Autorität, welcher als “Mägdekrieg“ überliefert wurde. In dieser Hinsicht kann man diese neuen Themen entweder mit der Neuentdeckung im deutschen Raum zur Zeit der Romantik, oder mit den „Gesängen von Ossian“ vergleichen: zwei Texte, die die Suche nach Nationalepen in der vorromantischen und romantischen Zeit belegen. Dementsprechend zeugen die Mägdekrieg-Sagen auch von der Komplexität der nationalen Verhältnisse in Böhmen. Sie zeigen in einer verschärften Weise, in welchem Verhältnis die beiden Sprachen im literarischen Umfeld stehen. Sie wurden nämlich zunächst, z.B. mit Herders Volksliedern „Die Fürstentafel“ und „Das Roß aus dem Berge“, dann mit Clemens Brentanos Drama Die Gründung Prag in der deutschen Literatur neubearbeitet, und von tschechischen Autoren wenig angegriffen. Ausnahmen sind das verlorene Theaterstück von Václav Tham Vlasta a Šárka aneb dívčí boj u Prahy und Šebestian Hněvkovskýs satirisches Epos Děvín, beide stammen aber aus dem Bereich der Posse1. Erst danach werden diese Themen im böhmischen kulturellen Feld, auch infolge der Debatten über die Grünberger Handschrift, integriert. Man kann jedoch eine interessante Polarisierung der Literatur über die böhmischen Legenden beobachten. Während der Mägdekrieg fast ausschließlich von den böhmischen sog. „Utraquisten“, den Anhängern eines übernationalen Patriotismus (Carl Egon Ebert oder Josef Wenzig, beide Autoren 1 Über die Posse und die Parodie, siehe TUREČEK, Dalibor, « Amazonky na hranici humoru a travestie: české veselohry a vídeňská fraška », in Just, Vladimír, Divadelní revue 1996, Divadelní ústav v Praze, Prague, 1996. 19. Münchner Bohemisten-Treffen, 6. März 2015 — Exposé Nr. 35 Umdeutungen und Interpretationen des böhmischen „Mägdekriegs“ in den tschechischen und deutschsprachigen Literaturen der Romantik und Biedermeierzeit Boutan: Umdeutungen und Interpretationen des böhmischen „Mägdekriegs“ eines auf Deutsch geschriebenen „Wlasta“-Gedichtes, nach dem Namen der Anführerin des Mägdekrieges) angesprochen wird, ist die Sage nur teilweise in den Kreisen der tschechischen nationalen Wiedergeburt (národní obrození), und zwar lediglich im Bezug auf die Hellseherin und Herrscherin Libussa, übernommen worden. Bedeutend ist, dass sie zum nationalen Symbol schließlich auserwählt wurde. Hingegen wird die Legende vom Mägdekrieg zur selben Zeit zum Gegenstand einer scharfen Kritik, namentlich bei František Palacký, der diese Sage als die wunderlichste und bizarrste in der Geschichte Böhmens bezeichnet. Die Periode entspricht einer Zeit der Koexistenz deutschsprachiger und tschechischer Literaturen, manchmal bei denselben Autoren; zugleich aber auch einer Verschärfung der nationalen Antagonismen, die zur historischen Wende im Jahr 1848 führen wird. Nach dem „Völkerfrühling“ übersetzt Palacký die auf Deutsch geschriebenen Bände seiner Geschichte Böhmens und schreibt fortan auf Tschechisch; auch Wenzig hört beinahe auf, auf Deutsch zu schreiben. Diese längere Vormärzzeit ist in der tschechischen Geschichte durch die nationale Wiedergeburt gekennzeichnet. Literarisch beginnt sie mit der frühen Romantik in der deutschen Literatur und endet mit der Durchsetzung einer nationalen Romantik im tschechischen Umfeld, für die Karel Jaromír Erbens Kytice emblematisch ist: Auch diese Sammlung enthält ein Libussa-Gedicht. Gerade im selben Zeitraum tauchen Figuren von Kämpferinnen auf, erstens im deutschen Lager während der Befreiungskriege gegen Napoleon, zweitens in Prag auf den Barrikaden des Jahres 1848. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Geschichte spielen die Frauen eine wichtige symbolische Rolle. Sexualisierung der nationalen Verhältnisse Vom Anfang an fällt die zentrale Rolle der Frauen in diesen Legenden auf. Schon Franz Grillparzer verweist darauf: „Merkwürdig ist, welche große Rolle in den alten böhmischen Geschichte die Weiber spielen“2. Auch in ihrer kriegerischen Tätigkeit liegt etwas Ungewöhnliches, ja Störendes. In der Kultur der nationalen Wiedergeburt werden sogar die „böhmischen Amazonen“ als Helden eines Nationalepos durch die erfundenen Figuren Slávoj und Záboj in der Königinhofer Handschrift ersetzt. In der Tat entspricht diese „merkwürdige Rolle“ der Frauen den sexualisierten Vorstellungen, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts den Deutschen einen männlichen Charakter und den Slawen einen weiblichen zuschreiben, und deren literarisierte Form letztendlich zu den Rassentheorien Otto 2 Zitiert in SCHMITZ, Walter, « Utraquismus als poetisches Programm : Karl Egon Eberts Nationalepos ‘Wlasta’ zwischen ‘Romantik’ und ‘jungem Deutschland’, in Höhne, Steffen et Ohme, Andreas, Prozesse kultureller Integration und Desintegration: Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert, Oldenburgverlag, [München, 2005], p. 161-210. 2 Boutan: Umdeutungen und Interpretationen des böhmischen „Mägdekriegs“ Weiningers bzw. Paul Eisner, der in seinem Essay Milenky genau auf diesen Stoff zurückgreift, führen wird. Dabei sind aber die böhmischen Amazonen nicht so eindeutig einzuordnen und spielen die Komplexität der Verhältnisse in Böhmen wider. Man kann eine erste Differenzierung in der Behandlung des Sagenmotivs beobachten, insofern Libussa, dank des Falsums der Grünberger Handschrift, allmählich zum nationalen Symbol der Tschechen, und die Kriegerin Wlasta vorwiegend zum Thema der deutschsprachigen Literatur wird. Für Schiller ist die Allegorie Böhmens bezeichnenderweise nicht durch Herders Libussa, sondern durch eine Amazonenfigur verkörpert: „Die stolze Amazone da zu Pferd [...] Könnt Ihr mir sagen, was das all bedeutet? K e l l e r m e i s t e r. Die Weibsperson, die Ihr da seht zu Roß, Das ist die Wahlfreyheit der böhm’schen Kron.“3 Beide Frauenfiguren verkörpern verschiedene Weiblichkeitsmodelle, die dementsprechend verschieden gedeutet wurden, je nach der Nationalität. Ferner zeigen die Umschreibungen dieser Legenden eine geschichtliche Entwicklung in der Aneignung ursprünglich als „deutsch“ empfundener Motive im Umfeld der tschechischen Wiedergeburt. Eine Zwiespalt in der Rezeption Obwohl sie den Autoren „merkwürdig“ erschienen sind, wurden diese Sagenmotive nur wenig in der Literaturwissenschaft behandelt, zumindest was die Literatur des 19. Jahrhunderts angeht. Außer der unvollendeten Dissertation Jean-Pierre Danes über Böhmen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, anhand des Beispiels der Libussa-Sage, gibt es keine synthetischen Studien zu diesem Thema. Dabei sind in der deutschen Literaturwissenschaft besonders viele Aufsätze über die deutschsprachige Literatur erschienen, öfters in der Gender-perspektive; diesen fehlt es aber an Betrachtung des tschechischen Zusammenhanges, auch was die literarischen Traditionen in Böhmen in Bezug auf diesen Stoff betrifft. Wenn z.B. die krankhafte, hysterische Figur Wlastas in Brentanos Drama als eine Abwertung der Weiblichkeit analysiert wird, so übersieht man den relativen Fortschritt, der im Vergleich zur von Hájek z Libočan dargestellten Hexe von den Autoren der Romantik unterdessen geleistet wurde. Die tschechische Literaturwissenschaft hingegen hat traditionell eine nationale Perspektive angenommen. Es gibt keine Studien, die das Thema komparativ im deutsch-tschechischen Zusammenhang behandeln. 3 SCHILLER, Friedrich, Die Piccolomini, in Wallenstein, Deutscher Taschenbuch Verlag, Bibliothek der Erstausgaben, München, 2004, IV. 5, S. 184. 3 Boutan: Umdeutungen und Interpretationen des böhmischen „Mägdekriegs“ Um 1900 sind infolge des erneuerten Interesses an der Romantik zur Zeit einer Entwicklung der Spätromantik einerseits und der Völkerkunde andererseits wichtige Studien über die deutschsprachigen Bearbeitungen tschechischer Legenden entstanden. So wurde in der tschechischen Germanistik das Versammeln eines literarischen Korpus bereits von Arnošt Kraus und Imanuel Grigorovitsa, zum Teil auch von Matthias Murko geleistet. Für die tschechische Literatur gibt es keine ähnliche Auflistung, wie der tschechische Philologe František Graus es später bedauert hat. Darüber hinaus wurden die angeführten Archive im Laufe des 20. Jahrhunderts meistens umgestaltet, so dass Kraus’ Hinweise erneut zu erkunden sind. Die hauptsächlichen Texte habe ich in Wien und in Prag erforschen können: Es gibt aber für die Prager deutschsprachige Literatur kein zentralisiertes Archiv, wie dies für die tschechische Literatur teilweise gegeben ist. Ein zweiter Aspekt meiner Forschung besteht in der Gender-Problematik. Diese Methode wird in der Germanistik zwar viel auf die böhmischen Legenden angewandt, aber nur spezifisch auf einige Autoren bzw. Werke begrenzt; und ohne dass der deutschtschechische Rahmen insgesamt angesprochen wird, dessen Erforschung meistens eine Angelegenheit der traditionellen nationalen Geschichte bleibt. Was den Fall Libussens angeht, ist die Spaltung zwischen der Frauenfigur und dem nationalen Symbol auch in den verschiedenen Historiographien spürbar, die ihre problematische Stellung auf den Kreuzungen zweier Literaturgeschichten unterstreicht. Die kriegerische Wlasta wird ihrerseits sehr früh mit dem Feminismus in Verbindung gebracht (z. B. durch Autoren wie Theodor Mundt), aber vielmehr im fortschrittlicheren Jungen Deutschland als in den böhmischen Ländern, wo sie vermutlich deswegen dauerhaft in den Hintergrund gerückt wird. In den Opern, wo der Mägdekrieg am Ende des Jahrhunderts nach langer Zeit wieder aufgenommen wird, z. B. in Fibichs Šárka und in Janáčeks gleichnamigem Werk, spielt sie eine zweitrangige Rolle. Dabei handelt es sich mehr um eine Geschichte der Vorstellungen als des literarischen Schöpfungsprozesses, denn es gibt unter den Autoren, die in diesen soziopolitischen Umständen zu diesem Thema greifen, nur eine Schriftstellerin, Caroline von Woltmann. Die soziologische Perspektive ist aber nicht von der Hand zu weisen, insofern sie eine Beleuchtung der nationalen Verhältnisse erlaubt, besonders im engen Kreis der Prager Autoren und der nationalen Wiedergeburt. Wenn man die deutschen (Clemens Brentano, Carl Franz Van der Velde, Theodor Mundt) und die österreichischen Fremdautoren (vor allem Franz Grillparzer, Josef Carl Bernard und die Adaptationen für die Vorstadttheater) beiseite läßt, sind alle Schriftsteller in der Prager Gesellschaft tätig und kennen meistens einander. Nach den Nationalen- und Geschlechtsantagonismen liegt eine weitere Stufe der Erforschung dieser komplexen Verhältnisse in der Differenzierung der ausländischen und der Prager zweisprachigen Literatur. 4