BRONCHIEKTASEN Vielfach unterschätzt Der diagnostische und therapeutische Nihilismus ist bei dieser Atemwegserkrankung eher die Regel als die Ausnahme. ronchiektasen, die nicht durch eine Mukoviszidose (zystische Fibrose, CF) bedingt sind (Non-CF-Bronchiektasen), galten lange Zeit als eine seltene Erkrankung, die in der postantibiotischen Ära mit dem Rückgang der Tuberkulose-Inzidenz weltweit an Bedeutung zu verlieren schien (1–3). Durch diesen Umstand ist erklärbar, dass eine systematische Erforschung dieser ätiologisch äußerst heterogenen Erkrankung über viele Jahrzehnte vernachlässigt wurde (4). Eine entsprechend entwickelte Forschungslandschaft existiert in Deutschland nicht (5). Dementsprechend spricht die European Respiratory Society (ERS) von einer der am meisten vernachlässigten pneumologischen Erkrankungen (6) – zumal sich die Hinweise verdichten, dass die Bronchiektasen-Erkrankung die Definition der Europäischen Kommission für eine seltene Erkrankung mit einer Prävalenz von weniger als fünf Betroffene pro 10 000 Einwohner nicht erfüllt (7–10). B Keine seltene Erkrankung Bis vor kurzem fehlten belastbare Daten zur Epidemiologie von Bronchiektasen in Deutschland. Eine 2010 durchgeführte Erhebung des wissenschaftlichen Informationsnetzwerks der niedergelassenen Pneumologen (WINPNEU) deutet die klinische Relevanz der Erkrankung bereits durch die Tatsache an, dass in jeder teilnehmenden Praxis Patienten mit Bronchiektasen behandelt worden waren (11). Darüber hinaus konnte unsere Arbeitsgruppe durch eine Analyse des ICD-10 Diagnosecodes J47 aus dem Fallpauschalensystem (DRG) der deutschen Krankenhausstatistik 2005–2011 zeigen, dass die mit Bronchiektasen assoziierten Krankenhausaufnahmen in diesem Zeitraum signifikant zunahmen (12). Eine in Folge durchgeführte, ebenfalls ICD-10-basierte Analyse einer repräsentativen FünfprozentStichprobe der deutschen im Jahr 2013 gesetzlich krankenversicherten Bevölkerung konnte zweifelsfrei belegen, dass die Bronchiektasen-Erkrankung mit einer Prävalenz von 67 pro 100 000 Versicherten nicht zu den seltenen Erkrankungen gehört und dass der Großteil der Patienten (92 Prozent) ambulant behandelt wird (8). Des Weiteren zeigte sich, dass der Übergang der Patienten vom stationären in den ambulanten Bereich von kritischer Bedeutung ist, denn mehr als die Hälfte der stationär behandelten Patienten befand sich im selben Jahr nicht mit der Diagnose „Bronchiektasen“ 4 in ambulanter Behandlung (55 Prozent). Bemerkenswerterweise hatten 58 Prozent aller mit der Diagnose „Bronchiektasen“ erfassten Patienten unserer Stichprobe zusätzlich die Diagnose einer COPD (ICD-10 Code J44) (8). Hierbei dürfte es sich weniger um eine COPD im engeren Sinne handeln als vielmehr um die Erfassung einer begleitenden chronisch-obstruktiven Ventilationsstörung. Die häufig eingeleitete Behandlung mit Bronchodilatatoren und inhalativen Steroiden greift jedoch hier zu kurz, da sie dem erforderlichen multimodalen Therapieansatz (Tabelle 1) nicht gerecht wird. Nach wie vor existiert keine zugelassene Pharmakotherapie für die Indikation „Bronchiektasen“. Aufgrund der bei Verordnungen abseits der eigentlichen Zulassung (Off-label) gegebenen Regressgefahr folgen der Diagnose „Bronchiektasen“ häufig nicht die medizinisch erforderlichen Medikamenten-, Heiloder Hilfsmittelverordnungen (13, 14). Die epidemiologischen Daten aus Großbritannien übertreffen die deutschen um ein Vielfaches (Prävalenz unter Frauen: 68 versus 566 pro 100 000 in 2013) (8, 9). Daher ist anzunehmen, dass Bronchiektasen hierzulande mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu selten diagnostiziert werden. Unsere Analysen aus den Daten des deutschen DRGSystems und der gesetzlichen Krankenversicherung stellen daher wahrscheinlich eine Unterschätzung der tatsächlichen Bürde und Prävalenz von Bronchiektasen im deutschen Gesundheitssystem dar (8, 12). Folgende Charakteristika weisen auf das Vorliegen einer Bronchiektasen-Erkrankung hin und sollten Anlass für die Durchführung einer nativen (hochauflösenden) Computertomographie (HRCT) des Thorax sein: ● Kein Ansprechen auf COPD- oder Asthma-Standardtherapie ● Junges Patientenalter ● Nie-Raucher Perspektiven der Pneumologie und Allergologie 1/2016 | Deutsches Ärzteblatt Foto: Your Photo Today Typische Befunde: Perlschnüre bei zystischen Bronchiektasen, klecksige oder fingerförmige Verdichtungen von schleimgefüllten Bronchien und „Pseudoknoten“, wenn die Bronchiektasen schleimgefüllt sind. ● Jahre● ● ● bis jahrzehntelange Beschwerden, protrahierte Rekonvaleszenz Gehäufte Exazerbationen (≥ 2/Jahr) Viel purulentes Sputum während klinischer Stabilität Pseudomonas aeruginosa oder nichttuberkulöse Mykobakterien (NTM) in der Sputumkultur Therapeutisches Dilemma Die Therapie einer Bronchiektasen-Erkrankung ist aufgrund der oben genannten Zulassungssituation deutlich erschwert (13–16). Die meisten Präparate, wie zum Beispiel hypertone Kochsalzlösung und inhalative Antibiotika, sind nur für die CF zugelassen. Tabelle 1 zeigt die Stufentherapie von Bronchiektasen, wobei der frühen spezifischen Therapie der in mehr als zwei Dritteln identifizierbaren zugrunde liegenden Erkrankung eine kritische Bedeutung zukommt (17, 18). Entsprechend des multifaktoriellen Pathomechanismus der Bronchiektasen-Erkrankung mit einer zumeist monomorphen Endstrecke aus Inflammation, bronchialer Dilatation, Sekretreten- tion und chronischer Infektion ist in der Regel ein multidimensionaler Therapieansatz mit aktiver Mitarbeit des Patienten erforderlich. Unter bestimmten Umständen sind Off-label-Verordnungen, zum Beispiel für sechs- oder siebenprozentige hypertone Kochsalzlösungen als Adjunktiva im Rahmen der sekretfördernden physiotherapeutischen Atemtherapie, für inhalative Antibiotika als Suppressionstherapie der chronischen Pseudomonasaeruginosa-Infektion oder für eine antiinflammatorische Azithromycin-Dauertherapie bei gehäuften Exazerbationen nach Sozialgesetzbuch (SGB) V begründbar, insbesondere wenn ● eine schwere, unbehandelt progredient verlaufende Erkrankung und/oder eine relevante Einschränkung der Lebensqualität vorliegt, ● keine zugelassenen Alternativen verfügbar sind und ● eine Aussicht auf einen therapeutischen Erfolg besteht (14). Diese klinische Praxis wurde zwar durch zahlreiche Urteile des Bundessozialgerichts für andere Indikationen bestätigt, erfordert allerdings eine eingehende Erhebung der vor Therapiebeginn vorhandenen Einschränkungen – zum Beispiel der erkrankungsspezifischen Lebensqualität (19) oder der Erkrankungsschwere (20) – sowie eine gemeinsame Definition der Therapieziele und deren Verlaufsbeurteilung. Dies stellt einen erheblichen Dokumentationsaufwand für den verordnenden Arzt dar. Ein erster Schritt in die richtige Richtung hin zu einer individualisierten und am Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko des Patienten orientierten Behandlungsstrategie ist die Verwendung einfacher ScoringSysteme. Auch hinsichtlich der Verordnungsproblematik kann die Dokumentation solcher Scores VorTABELLE 1 Stufentherapie von Bronchiektasen (modifiziert nach [17]) 1 Spezifische Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung, z. B. Substitution von Immunglobulinen bei angeborenem Immundefekt (CVID), Steroide bei allergischer bronchopulmonaler Aspergillose (ABPA) etc. 2 Physiotherapeutische Atemtherapie, inkl. Zuhilfenahme sekretfördernder Adjunktiva, z. B. Inhalation mit hypertoner Kochsalzlösung* 3 Prävention und ggf. Therapie der Infektion, z. B. durch Impfungen gegen Influenza, Pneumokokken und Pertussis und ggf. durch Antibiotika, auch in inhalativer Form bei chronischer Infektion durch Pseudomonas aeruginosa* 4 Therapie der bronchialen Obstruktion, z. B. durch Inhalation von Bronchodilatatoren entsprechend dem Ausmaß der Lungenfunktionseinschränkung* 5 Therapie der chronischen Inflammation, z. B. durch eine Dauertherapie mit dem Makrolidantibiotikum Azithromycin* 6 Prävention und Therapie der akuten Exazerbation, z. B. durch orale oder intravenöse Antibiotika, deren Auswahl sich am Ergebnis der letzten, während klinischer Stabilität veranlassten Sputumkultur orientiert *Als Off-label-Verordnung bei Vorliegen entsprechender Kriterien nach SGB V Perspektiven der Pneumologie und Allergologie 1/2016 | Deutsches Ärzteblatt 5 teile bieten. Für Bronchiektasen existieren zwei validierte Scoring-Systeme: ● der Bronchiectasis Severity Index (BSI) (20) und ● der FACED Score (21). TABELLE 2 Risikostratifizierung mit dem Bronchiectasis Severity Index (BSI, nach www.bronchiectasisseverity.com) Kategorie Punkte Alter < 50 0 50–69 2 70–79 4 ≥ 80 6 Body-Mass-Index (BMI) ≥ 18,5 0 < 18,5 2 Einsekundenkapazität (FEV1) Tabelle 2 zeigt exemplarisch die Komponenten des BSI und deren Gewichtung sowie das sich daraus ergebende Risiko für die Gesamtsterblichkeit und eine zukünftige Krankenhausaufnahme (20). Wir möchten allerdings ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Scoring-Systeme das Risiko jüngerer Patienten mit erhaltener Lungenfunktion unterschätzen können und dass gerade diese Patientengruppe in der Regel langfristig von einer konsequenten Abklärung der Ätiologie und einer aggressiven Therapie ihrer Bronchiektasen-Erkrankung – insbesondere mit inhalativen Antibiotika bei Pseudomonasaeruginosa-Infektion – profitiert (22). Einen weiteren wichtigen Schritt hin zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Bronchiektasen stellt die Erfassung im deutschen Bronchiektasen-Register PROGNOSIS dar (www.bronchiekta sen-register.de) (23), das eine Vergleichbarkeit mit dem Datensatz des europäischen EMBARC-Registers (www.bronchiectasis.eu) gewährleistet. Zusammenfassung > 80 % vom Soll 0 50–80 % vom Soll 1 30–49 % vom Soll 2 < 30 % vom Soll 3 Krankenhausaufnahme aufgrund Exazerbation in den letzten 2 Jahren Nein 0 Ja 5 Anzahl an Exazerbationen im letzten Jahr <3 0 ≥3 2 ● Bronchiektasen gehen häufig mit erheblichen kli- ● ● ● ● Medical Research Council (MRC)-Dyspnoeskala 1–3 0 4 2 5 3 Chronische Infektion mit Pseudomonas aeruginosa Nein 0 Ja 3 ● nischen Beschwerden, einem chronisch-progredienten Verlauf und Einschränkung der Alltagsfähigkeit der Patienten einher. Es gibt keine zugelassene pharmakologische Therapie für Patienten mit Non-CF-Bronchiektasen. Off-label-Verordnungen beinhalten immer ein wirtschaftliches und forensisches Risiko für den Verordner und erschweren die Versorgung dieser Patientengruppe. Eine Verordnung ist fast immer möglich, erfordert aber eine aufwendige medizinische Begründung und Dokumentation. Die Diagnostik von Bronchiektasen ist komplex, teuer und nicht flächendeckend verfügbar. Der diagnostische und therapeutische Nihilismus ist daher eher die Regel als die Ausnahme. Eine eingehende Ursachenklärung ist allerdings unverzichtbar, da hierbei häufig Diagnosen erhoben werden können, die einen entscheidenden Einfluss auf das Management der Patienten haben. ▄ DOI: 10.3238/PersPneumo.2016.02.26.01 Chronische Infektion mit anderen Pathogenen Nein 0 Ja 1 Dr. med. Felix C. Ringshausen Klinik für Pneumologie, Medizinische Hochschule Hannover, Mitglied des Deutschen Zentrums für Lungenforschung Dr. med. Andrés de Roux Pneumologische Praxis am Schloss Charlottenburg, Berlin Dr. med. Jessica Rademacher Klinik für Pneumologie, Medizinische Hochschule Hannover Radiologischer Schweregrad < 3 Lappen betroffen 0 ≥ 3 Lappen betroffen o. zystische Bronchiektasen 1 Interpretation des BSI: 0–4 Punkte: Leichte Bronchiektasen-Erkrankung 1-Jahres-Outcome: 0–2,8 % Mortalitäts-, 0–3,4 % Hospitalisationsrisiko 4-Jahres-Outcome: 0–5,3 % Mortalitäts-, 0–9,2 % Hospitalisationsrisiko 5–8 Punkte: Mittelschwere Bronchiektasen-Erkrankung 1-Jahres-Outcome: 0,8–4,8 % Mortalitäts-, 1,0–7,2 % Hospitalisationsrisiko 4-Jahres-Outcome: 4–11,3 % Mortalitäts-, 9,9–19,4 % Hospitalisationsrisiko ≥ 9 Punkte: Schwere Bronchiektasen-Erkrankung 1-Jahres-Outcome: 7,6–10,5 % Mortalitäts-, 16,7–52,6% Hospitalisationsrisiko 4-Jahres-Outcome: 9,9–29,2 % Mortalitäts-, 41,2–80,4% Hospitalisationsrisiko 6 Interessenkonflikt: Autor Ringshausen erhielt Honorare für Beratertätigkeiten von den Firmen AstraZeneca, Bayer, Forest, Grifols und Insmed sowie Vortragshonorare von den Firmen Abbott, Chiesi, Gilead, Pfizer, PARI, Oxycare, Novartis, Heinen & Löwenstein, MSD, InfectoPharm, Pfizer, Bayer, Grifols, Basilea, Insmed und Boehringer Ingelheim. Autor de Roux erhielt Honorare für Beratertätigkeiten von den Firmen Insmed und Bayer sowie Vortragshonorare von der Firma Bayer. @ Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/0816 Perspektiven der Pneumologie und Allergologie 1/2016 | Deutsches Ärzteblatt BRONCHIEKTASEN Vielfach unterschätzt Der diagnostische und therapeutische Nihilismus ist eher die Regel als die Ausnahme. LITERATUR 1. Field CE: Bronchiectasis. Third report on a follow-up study of medical and surgical cases from childhood. Arch Dis Child 1969; 44: 551–61. 2. Keistinen T, Saynajakangas O, Tuuponen T, Kivela SL: Bronchiectasis: an orphan disease with a poorly-understood prognosis. Eur Respir J 1997; 10: 2784–7. 3. Saynajakangas O, Keistinen T, Tuuponen T, Kivela SL: Bronchiectasis in Finland: trends in hospital treatment. Respir Med 1997; 91: 395–8. 4. De Soyza A, Brown JS, Loebinger MR: Research priorities in bronchiectasis. Thorax 2013; 68: 695–6. 5. Ringshausen FC, Welte T: Bronchiektasen. 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