Geschlecht - Uni

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Geschlecht
von Leonie Herwartz-Emden
Im folgenden Beitrag werde ich die jüngste theoretische Entwicklung in der feministischen
Theorie skizzieren: Geschlecht wird als sozial konstruierte Kategorie untersucht und nicht als
natürliche Differenz vorausgesetzt. Von dieser Denkweise ausgehend, werde ich darlegen,
welche Konfrontationen sich in der Flucht- und Migrationssituation im Bereich der
geschlechtsspezifischen Weltsichten und Verhaltensweisen der Klientel von Sozialer Arbeit
ergeben und was eine sinnvolle Praxis im Hinblick auf diesen spezifischen
Erfahrungshintergrund zu bedenken hat.
1. Geschlecht als Strukturkategorie und als interaktive Kategorie - methodologische
Prämissen
Seit Mitte der 80er Jahre wird in der englischsprachigen Forschung die Notwendigkeit
hervorgehoben, Geschlecht als analytische Kategorie zu entwickeln. Geschlecht wird in der
englischen Terminologie als gender bezeichnet, womit gemeint ist, dass es sich um das
soziale Geschlecht handelt. Sex bezieht sich in der englischen Sprache auf das biologische
Geschlecht. Der Begriff 'gender' wird auch in der deutschen Wissenschaftssprache benutzt,
um ganz deutlich hervorzuheben, dass man sich auf das soziale Geschlecht bezieht. Mit dieser
neuen Perspektive wurde die eher langweilige Forschung, die der Frage nach
festgeschriebenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern nachging, abgelöst.
Entgegengesetzt wurde der Unterschiedssuche eine Historisierung und Dekonstruktion der
Bedingungen des geschlechtlichen Unterschieds.
Lange Zeit wurde Geschlecht in den Sozialwissenschaften als askriptives Merkmal behandelt.
Geschlecht wurde als etwas der sozialen Praxis grundsätzlich Entzogenes, als natürliche
Gegebenheit bestimmt. Konstatiert wurde, dass Geschlecht dem historischen Wandel
unterworfen war, d. h., was jeweils als männlich bzw. weiblich galt, war durch historische
Bedingungen veränderbar, doch die Zweigeschlechtlichkeit als solche wurde allem
Gesellschaftlichen vorausgesetzt (vgl. hierzu Irene Dölling und Beate Krais 1995). Erst die
feministische Theoriedebatte und die empirische Frauenforschung, haben ein Bewusstsein
dafür entstehen lassen, dass Geschlecht für die sozialwissenschaftliche Analyse nicht einfach
ein natürliches Datum wie die Augenfarbe darstellt, sondern selbst gesellschaftlich produziert
wird. Eine solche Sichtweise auf die Geschlechterverhältnisse unterstellt, dass Geschlecht im
alltäglichen Handeln immer wieder neu konstruiert wird. D. h. aber auch, dass ganz generell
der Blick darauf gelenkt wird, dass soziale Strukturen und Institutionen in der sozialen Praxis
durch das Handeln der sozialen Subjekte gemacht, konstruiert und reproduziert werden.
Die Regeln, nach denen Geschlecht konstruiert wird und nach denen die
Geschlechterdifferenz als relevante Differenz verhandelt wird, sind, so die obige Prämisse,
nur im alltäglichen Erleben rekonstruierbar. Da diese Regeln als - binäre - soziale
Codierungen dem Alltagshandeln immanent sind, sind sie schwer fassbar. Um festzustellen,
wie diese Regeln in diversen thematischen Bereichen wirken, ist es für die Wissenschaft
unerlässlich, empirische Forschungen durchzuführen.
Die Thematisierung von Geschlecht in wissenschaftlichen Untersuchungen, ebenso wie in der
alltäglichen Interaktion zwischen Individuen in allen denkbaren gesellschaftlichen Bereichen
ist quasi regelhaft determiniert und bringt folgende thematische und kommunikative
Konsequenzen mit sich:
1. Geschlecht wird meist als Differenzereignis thematisiert. D. h., Männlichkeit und
Weiblichkeit werden als essentiell verschiedene Konzepte diskutiert.
2. Geschlecht wird in einer polarisierenden Perspektive, vornehmlich als sich
gegenseitig ausschließende Charaktereigenschaften gehandelt.
3. Mit der Zuordnung und der Benennung von Geschlecht ist eine Hierarchisierung in
Status, Position und biographischen Möglichkeiten verbunden.
4. Mit der Thematisierung von Geschlecht werden Stereotypen und Geschlechterbilder
abgerufen, Geschlecht wird im Zusammenhang mit gesellschaftlichen
Glaubenssystemen (in Englisch: gender belief systems) definiert.
5. Geschlecht wird mit der Prämisse der Vergeschlechtlichung von Arbeit verknüpft denn in unterschiedlichen Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung wird
Geschlecht geschaffen.
2. Geschlechterbeziehungen in Herkunfts- und Einwanderungsland - Ausgangspunkt
für die Soziale Arbeit
Wie die oben genannten Determinanten des Geschlechterdiskurses in der sozialen Praxis
reflektiert und für das Verständnis der Flucht- und Migrationssitutation produktiv eingesetzt
werden können, zeige ich im folgenden an der Handhabung einiger theoretischer Prämissen
zur Wirksamkeit von 'gender' in Interaktionen. 'Gender' ist relational und weniger essentiell was für die Interaktion in der sozialen Arbeit zunächst heißt, an der Kontexthaftigkeit jeder
Äußerung sowie an ihrer Prozesshaften Konstitution anzusetzen. Die Konstruktionen von
Geschlecht beider Seiten in der Sozialen Arbeit sind somit zu reflektieren. Das sog. 'gender'Denken adäquat zu nutzen, sollte bedeuten, Überlegungen zu Geschlechterverhältnissen,
Geschlechterbeziehungen und geschlechtsspezifischen Aufgabenbereichen, aber auch alle
weiteren geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, kritisch in Frage zu stellen. Wird 'gender'
auf dem Hintergrund dieser Denkweise als Organisationsprinzip des täglichen Lebens
angesehen, veranlasst dies zur Analyse der je selbst erfahrenen Formen von Arbeit und
Arbeitsteilung ebenso wie von Familienstrukturen, biographischen Möglichkeiten,
Reproduktionsregeln, Bedingungen für Kindheit, Erziehung etc. Dazu bedarf es neuer Fragen
und neuer Konzepte und es muss ein selbstreflexiver Ansatz unter Berücksichtigung einer
kritischen Analyse der etablierten Diskurse entwickelt werden.
'Gender' muss im gesellschaftlichen, kulturellen und gruppenbezogenen Kontext des Klientel
verstanden werden. Eine auf Kommunikation und Interaktion, Prozesse und Kontexte
ausgerichtete Reflexion ist weitreichender, als Überlegungen dazu, wie Männer und Frauen,
Jungen und Mädchen als Subjekte sind und wie sie sich ggfs. unterscheiden. 'Gender' ist keine
statische Kategorie, sondern eine flexible und seine Bedeutung entfaltet sich nur im Kontext.
So muss bei der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen bzw. Jugendlichen aus anderen
Gesellschaften jeweils mit einbezogen werden, welcher Glaube in diesen Gesellschaften
darüber existiert, was die Aufgaben und Eigenschaften der Geschlechter jeweils sind und wie
diese Glaubenssätze und Vorstellungen den Verlauf von Interaktionen beeinflussen. Dieses
sogenannte Glaubenssystem ('gender belief system', nach Kay Deaux und Mary E. Kite 1987)
findet sich auf allen Ebenen eines gegebenen gesellschaftlichen Systems wieder,
beispielsweise in Glaubenssätzen des Rechtssystems ebenso wie in der Familienpolitik oder
schulpolitischen Verlautbarungen; es dominiert die Medien ebenso wie die alltäglichen
Strukturen und Interaktionen. 'Gender' manifestiert sich in den Glaubenssätzen der Menschen,
die Realität konstruieren. So muss die Analyse von 'gender' immer berücksichtigen, dass im
Zusammenhang mit Geschlecht fundamentale Tabus in Gesellschaften vorherrschen, die
substantieller Bestandteil des o. g. 'gender belief systems' sind. Nicht nur sexuelle Normen,
sondern bereits die geschlechtliche Arbeitsteilung bspw. kann in diesem Sinne verstanden
werden als das Ergebnis von Tabus - und weniger als die Ursache für die Differenz zwischen
Männern und Frauen (vgl. hierzu Beth B. Hess und Mary Ferree 1987). Differenz wird kreiert
und belohnt.
Die Analyse von 'gender' muss neben diesen Tabus die herrschenden Differenzen in Prestige
und Macht für Frauen - und Männerleben offen legen. 'Gender' ist assoziiert mit Macht und
Herrschaft. Frauen und Männer differieren bspw. sehr stark im Zugang zu Ressourcen und
Chancen für ihre persönliche Entwicklung. In jeder Gesellschaft finden sich historische und
gegenwärtige Variationen zwischen Männern und Frauen in ihrem Lebensstil, in ihren
Aspirationen, in ihren Einstellungen, in ihren Verhaltensweisen. Es ist von daher unerlässlich,
die Analyse auf die Machtaspekte des 'gender'-Systems zu richten (vgl. hierzu Bernice Lott
1990; Rhoda K. Unger 1991; Deniz D. Kandiyoti 1988). Geschlecht erscheint als
Strukturkategorie, als ein für Migranten sowohl in der Herkunfts- als auch in der
Aufnahmegesellschaft erfahrenes und determiniertes Konzept. 'Gender' ist strukturell und
weniger individuell.
'Gender' in Zusammenhang mit Flucht und Migration zu reflektieren, führt zur Konfrontation
mit Grenzsituationen, die die Erfahrungen sowie die Interaktion mit den Klientel bestimmen.
Flüchtlingskinder und -jugendliche befinden sich in einer sehr schwierigen psychischen
Situation. Kriegerische Konflikte, Verfolgung, Terror und Gewalt bilden ihren
Erfahrungshintergrund. Im schlimmsten Fall addieren sich dazu Folter, Vergewaltigungen traumatische Erfahrungen, die im hiesigen Kontext mitverhandelt, thematisiert, verarbeitet
und rekonstruiert werden. Das Konzept von Geschlecht, das in einer solchen Situation, in
sogenannten 'points of change' (nach Beth B. Hess und Mary Ferree 1987, S. 10), sichtbar
wird, ist demzufolge ein situationsspezifisch determiniertes, interaktives Konzept. Es ist
'verwoben' in Überlebenseinstellungen und -strategien oder in symbolischen 'Rüstungen' (vgl.
Deniz Kandiyoti, 1988).
'Gender' zu verstehen, verlangt darüber hinaus die Antizipation von Veränderungen über eine
Zeitspanne. Veränderungen für Migranten ergeben sich auf der auf der Makro- und der
Mikroebene. Das heißt, geschlechtspezifische Erfahrungen der Herkunftsgesellschaft
verquicken sich mit den individuellen Erfahrungen der Flucht und Migration sowie im
weiteren mit den Determinanten für 'Gender', die das Aufnahmeland aufweist. Unumgänglich
ist es demnach, an den alltäglichen Bedingungen vor der Flucht anzusetzen (vgl. hierzu
Rachel T. Hare Mustin und Jeanne Marecek 1990) und hiervon ausgehend die
Mehrschichtigkeit der Erfahrungen zu explorieren. Die Prozesshaftigkeit der Kategorie
'Geschlecht' ist der Schlüssel für das Verständnis von Verhaltensweisen, die 'gendered' sind.
Persönlichkeitsmerkmale spielen in diesen Interaktionen eine sekundäre, d. h., untergeordnete
Rolle (vgl. Rhoda K. Unger 1990, S. 116). Ausgangspunkt für die Interpretation von
Verhalten und Interaktion kann nur der Horizont der Handelnden selbst sein.
Um genauer zu verstehen, welche Problematik sich in Bezug auf die Dimension der
geschlechtsbezogenen Selbsttypsierung im Selbstkonzept von einwandernden Kindern und
Jugendlichen im Aufnahmeland Bundsrepublik ergibt, ist es notwendig, nicht nur die
gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Herkunftslandes zu kennen,
sondern in der Mikroperspektive die verschiedenen, erfahrenen Ausdrucksformen von Macht
und Autorität zu untersuchen. Das heißt, davon auszugehen, dass das Klientel andersartige,
aber ausgeprägte Vorstellungen zum eigenen geschlechtsbezogenen Verhalten hat, zu
Männlichkeit und Weiblichkeit, zu Familienformen, Liebesmustern, Vorstellungen von
Eltern-Kind-Beziehungen, Alltagstheorien von Erziehung, Kindheitskonzepten, aber auch zu
der Gestaltung von Generationenverhältnissen, von Freundschaften bzw. peer-groupBeziehungen.
Den Ausgangspunkt für die Geschlechtsidentität und alle geschlechtsbezogenen Einstellungen
von Individuen bildet natürlich das jeweilige Geschlechterverhältnis in Gesellschaften.
Flüchtende Kinder und Jugendliche kommen in der Regel aus gesellschaftlichen Kontexten,
die einen anderen Entwicklungsstand aufweisen als die bundesdeutsche Gesellschaft, sich
meist auf dem Weg von der Tradition in die Moderne befinden und noch Elemente von
einfachen bzw. nicht-industrialisierten, pluralen Lebensformen - trotz anhaltender
Verstädterungsprozesse - aufweisen. Sozial polarisierte Lebensverhältnisse und - Niveaus
kennzeichnen diese Gesellschaften, was für Kinder und Jugendliche, und insbesondere
Mädchen, bedeutet, dass Bildung keine universale Option ist, sondern ein seltenes Privileg.
Das erfahrene Konzept von Geschlecht bildete sich auf dem Hintergrund von Lebensformen,
deren Basis der erweiterte, patrilokale Haushalt ist und in dem die Lebenswelten der
Geschlechter (so die Terminologie Fatima Mernissis), 'territorial', d.h. räumlich, segregiert
sind (so z.B. in der Türkei, Algerien, Marokko). Segregierte Geschlechterverhältnisse sind
strukturell und kulturell in Welten und Räume für Männer und für Frauen separiert (vgl.
hierzu Leonie Herwartz-Emden, 1995c). Für die weibliche Lebenswelt bedeutet eine solche
separierte Geschlechterwelt, dass ein eigener 'kultureller Raum' (Maya Nadig 1987 und 1989a
und b) für die Frau zur Verfügung steht, der ihr eine durchaus machtvolle Position offeriert
und ggf. Aspekte von Geschlechtersymmetrie (vgl. zu dem Begriff Ilse Lenz, 1990) enthält.
Dazu zählen weibliche Netzwerke und Unterstützungssysteme sowie auch die sog. 'multiple'
Mutterschaft, somit grundsätzlich andere Bedingungen für die Gestaltung der Mutter-KindBeziehung (vgl. Leonie Herwartz-Emden, 1995a).
Die Lebensbasis und -form der westlichen Welt ist hochindustrialisiert und hochurbanisiert
und sie weist ein - vergleichsweise - hohes Wohlstands- und Bildungsniveau, auch für die
Frau, auf. In der 'integrierten' Geschlechterwelt des Westens dominiert im Vergleich dazu die
Gestaltungsform der Kleinfamilie auf der Basis einer 'singulären' Mutter-Kind-Beziehung
(vgl. ebd.) bzw. der individuell zu tragenden Alleinverantwortlichkeit der Frau für das Kind
und der daraus resultierenden Vereinbarkeitsproblematik zwischen Beruf, Bildung, Familie.
Das vergleichsweise 'integrierte' Geschlechterverhältnis in westlichen, modernen
Gesellschaften zeichnet sich gegenüber der segregierten Geschlechterwelt aufgrund der hohen
Bildungsbeteiligung der Frau durch erweiterte biographische Möglichkeiten für Frauen aus.
Zugleich weist es aber einen fundamentalen Widerspruch auf zwischen dem ideologischen
Gleichheitsdiskurs und der andauernden faktischen Ungleichheit der Geschlechter bzw. der
Benachteiligung der Frau.
Die Lebens- und Beziehungsformen und damit die Aufwachsbedingungen der
Kinderflüchtlinge aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaften sind insofern anders als im
Westen, als sie in der Regel so angelegt sind, dass der aufwachsenden Generation strukturell
und potentiell der erweiterte Haushalt zur Verfügung steht (wenn auch oft, je nach
Herkunftsschicht, nicht in der alltäglichen Versorgung). Die Mutter-Kind-Beziehung ist
ebenfalls strukturell in die Gruppe integriert; die Psychodynamik dieser Beziehung ist
deutlich anders konturiert. Für Kinder und Jugendliche beinhaltet ein solch sozialisierter
Kontext von Mutterschaft bzw. Elternschaft, dass sie über ein vergleichsweise weit
gefächertes Bezugssystem in der weiblichen Erwachsenenwelt verfügen. Ihnen werden große
Bewegungsmöglichkeiten zugestanden, sie sind aber zugleich in zentrale Aufgabenbereiche,
Verantwortungen und Verpflichtungen im familiären Alltag eingebunden. Anders als bei
westlichen Kindern entwickelt sich ihre geschlechtsspezifische Identität, einem türkischen
Kind bspw. wird eine gänzlich andere Geschlechtstypisierung vermittelt als einem in der
westlichen Gesellschaft sozialisierten: Das geschlechtsspezifische Selbstkonzept ist
beispielsweise nicht mit den polarisierten Eigenschaftspaaren Instrumentalität (Männlichkeit)
versus Expressivität (Weiblichkeit) abzubilden, sondern umfasst ausgeprägte Anteile von
Androgynität für beide Geschlechter und eine (besonders im Alter) höhere Expressivität des
Mannes sowie wünschenswerte Instrumentalitätsmerkmale für die Frau (vgl. Leonie
Herwartz-Emden/Manuela Westphal, 1998). Typische Geschlechtscharaktere sind also nicht
im westlichen Sinne gegensätzlich konstruiert; Geschlechtsunterschiede lassen sich innerhalb
der Instrumentalitätsdimension finden und eine ganze Reihe expressiver Merkmale erscheinen
für beide Geschlechter erstrebenswert (siehe für die Türkei Cigdem Kagitcibasi und Diane
Sunar, 1997 und für Migrantinnen in Deutschland Leonie Herwartz-Emden, 1995b). Im
Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung von Flüchtlingskindern und die dazu
notwendigen pädagogischen Hilfen stellen diese nicht-dichotomisierten, komplexen
Konstruktionen von Geschlecht ein Potential dar, an das in der Sozialen Arbeit unbedingt
angeknüpft werden sollte. Das heißt, in diesem Bereich sind, jenseits von Stereotypisierungen,
Fähigkeiten und Qualitäten zu entdecken, die beispielsweise für die Bildungsmotivation und karriere der Kinder und Jugendlichen genutzt werden könnten.
Auf dem Hintergrund der letztgenannten Überlegungen wird besonders deutlich, dass die
Konzepte von migrierten Kindern und Jugendlichen mit dem hiesigen, hierarchischen
Modernitäts- - und Emanzipationsdiskurs und mit einer polarisierten Beurteilung - zwischen
Tradition und Moderne - nur schwerlich einzufangen sind. Zugleich muss eine
kulturrelativistische Beurteilungsweise je kritisch überprüft werden, da ihnen die universalen
Gerechtigkeits- und Emanzipationsideale nicht vorbehalten werden dürfen (insbesondere gilt
dies für die Situation von Mädchen).
All diese, sehr eng mit dem emotionalen 'Innenleben' von Kindern und Jugendlichen
verbundenen, geschlechtsbezogenen Erfahrungen, Konzepte und Erwartungen müssen
bekannt werden, um sie in die Arbeit einbeziehen zu können. Konflikte, Spannungen und
Widersprüche zwischen den Sozialisationsmustern des Herkunftskontextes und den
Bedingungen des Aufnahmekontextes ergeben sich zwangsläufig in dieser spezifischen
Dimension der Identität - siehe die grundverschiedenen Geschlechterverhältnisse der in der
Migrationssituation beteiligten Gesellschaften. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass
Erziehung in traditionellen und/oder ruralen Kontexten meist eine wenig intentionale
Erziehung ist, sie findet in öffentlichen Sphären statt und ist in der institutionalisierten Form
nicht selten durchdrungen von kolonialen Ideologien , westlich dominierten Einflüssen. In
bezog auf die geschlechtsspezifische Erziehung bedeutet dies für Jugendliche und
Schulkinder, dass sie bereits alltägliche und ideologische Differenzen zwischen
Bildungseinrichtung und lokaler Kultur zu vereinbaren hatten bzw. ihnen die Integration
verschiedener Geschlechterbilder als eine vertraute Entwicklungsaufgabe erscheint. Es kann
aber auch bedeuten, dass sie eine vereinheitlichende, religiös fundierte geschlechtsspezifische
Erziehung durchliefen. Für Flüchtlingskinder und -jugendliche liegen genau in diesem
Bereich bedeutsame Herausforderungen für die von ihnen zu erbringende
Akkulturationsleistung.
Literatur:
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(Hg.): Analyzing Gender. A Handbook of Social Science Research, Newbury Park/Beverly
Hills/London u.a.: Sage Publications 1987, S. 92-117
Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel: Geschlechterkonstruktion in der
sozialen Praxis, (Gender Studies, edition suhrkamp 1731) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997
Gümen,Sedef /Herwartz-Emden, Leonie. / Westphal, Manuela.: "Die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie als weibliches Lebenskonzept: Eingewanderte und deutsche Frauen im
Vergleich", in: Zeitschrift für Pädagogik (Schwerpunktheft zu Fragen der Migration und
Remigration), 1/1994, S. 63-80
Hare-Mustin, Rachel T. / Marecek, Jeanne: On Making a Difference, in: Dies. (Hg.): Making
a Difference. Psychology and the Construction of Gender, New Haven/London: Yale
University Press 1990, S. 1-21
Hess, Beth B. / Ferree, Myra Marx (Hg.): Analyzing Gender. A Handbook of Social Science
Research, Newbury Park/Beverly Hills/London u.a.: Sage Publications 1987
Hess, Beth B. / Ferree, Myra Marx: Introduction, in: Dies.: Analyzing Gender. A Handbook
of Social Science Research, Newbury Park/Beverly Hills/London u.a.: Sage Publications
1987, S.9-30
Herwartz-Emden, Leonie: "Mutterschaft und weibliches Selbstkonzept. Eine interkulturell
vergleichende Untersuchung." Weinheim und München 1995(a), (Juventa-Verlag)
Herwartz-Emden, Leonie: "Konzepte von Mutterschaft und Weiblichkeit. Ein Vergleich der
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Herwartz-Emden, Leonie: "Geschlechterverhältnisse und Mutterschaft in einfachen und
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Herwartz-Emden, Leonie: "Erziehung und Sozialisation in Aussiedlerfamilien:
Einwanderungskontext, familiäre Situation und elterliche Orientierung", in: Aus Politik und
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Herwartz-Emden, Leonie: "Ausländische Familien in Deutschland - Stereotypen und
Alltagsrealitäten" in: Lernen in Deutschland. Zeitschrift für Interkulturelle Erziehung. Journal
of Intercultural Education. Heft 1/1997, S. 10-22
Herwartz-Emden, Leonie: "Die Bedeutung der sozialen Kategorien Geschlecht und Ethnizität
für die Erforschung des Themenbereiches Jugend und Einwanderung", in: Zeitschrift für
Pädagogik, Jahrgang 43, Heft 6/1997, S.895-913
Herwartz-Emden, Leonie/Westphal,Manuela: "Konzepte mütterlicher Erziehung in
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Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (ZSE) 1997, 17. Jg./ Heft 1/
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Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela: "Frauen und Männer, Mütter und Väter:
Empirische Ergebnisse zu Veränderungen der Geschlechterverhältnisse in
Einwandererfamilien" in: Zeitschrift für Pädagogik, Themenheft, 5/1998 (im Erscheinen)
Kagitcibasi, Cigdem/Sunar, Diane:" Familie und Sozialisation in der Türkei." In: Familien in
verschiedenen Kulturen. Hg. von Nauck, Bernhard/Schönpflug, Ute, Stuttgart 1997,
S.145-161 (Enke-Verlag)
Kandiyoti, Deniz: Bargaining with Patriarchy, in: Gender and Society, 2.Jg., Nr.3 (1988),
S.274-290
Lenz, Ilse: Geschlechtersymmetrie als Geflecht von Frauen- und Männermacht. Zu den
Minangkabau in der vorkolonialen Epoche, in: Lenz, Ilse/ Luig, Ute (Hg.): Frauenmacht ohne
Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, Berlin 1990, S.
280-305 Orlanda Frauenverlag
Nadig, Maya: Die gespaltene Frau - Mutterschaft und öffentliche Kultur, in: Brede, Karola
(Hg.): Was will das Weib in mir? Freiburg im Breisgau 1989(a) S.141-161 Kore
Nadig, Maya: Frauen in der Kultur - Macht und Ohnmacht. Zehn ethnopsychoanalytische
Thesen, in: Kossek, Brigitte/Langer, Dorothea/Seiser, Gerti (Hg.): Verkehren der
Geschlechter. Reflexionen und Analysen von Ethnologinnen (Reihe Frauenforschung; Bd.
10), Wien 1989(b) S. 264-271 Wiener
Nadig, Maya: Mutterbilder in zwei verschiedenen Kulturen. Ethnopsychoanalytische
Überlegungen, in: Braun, Christina von/Sichtermann, Barbara/Nadig, Maya u.a.: Bei Licht
betrachtet wird es finster. FrauenSichten (Die kleine weiße Reihe; Bd. 98), Frankfurt a. M.
1987, S. 81-104 Athenäum
Unger, Rhonda K.: Imperfect Reflections of Reality. Psychology Constructs Gender, in: HareMustin, Rachel T.; Marecek, Jeanne (Hg.): Making a Difference. Psychology and the
Construction of Gender, New Haven/London: Yale University Press 1990, S.102-149
Quellenangabe:
Herwartz-Emden, Leonie: Geschlecht. In: Woge e.V. & Institut für Soziale Arbeit e.V.
(Hrsg.): Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Münster: Votum Verlag 1999,
S. 64-71
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