7. Vorlesung: Nichtvornahme/Ziviler Ungehorsam/Widerstand

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Dietmar v. d. Pfordten Vorlesung Einführung in die Rechts- und Sozialphilosophie
7. Vorlesung: Nichtvornahme/Ziviler Ungehorsam/Widerstand/
Tyrannenmord
Zentraler Gegenstand der Vorlesung ist die Gerechtigkeit politischer Gemeinschaften. Mit
einer Bestimmung der Gerechtigkeit ist aber noch nicht beantwortet, wie sich der einzelne
Bürger gegenüber der politischen Gemeinschaft verhalten soll. Müssen die Bürger eine
Rechtsnorm befolgen oder nicht? Dürfen sie zivilen Ungehorsam oder gar gewaltsamen Widerstand gegen ungerechtes Recht leisten? Oder sind sie sogar rechtsethisch befugt, einen
Tyrannen zu töten? Vom Ausgangspunkt eines normativen Individualismus darf dieses weitere wichtige Kapitel der politischen Philosophie bzw. Rechtsphilosophie nicht unerörtert bleiben.
Die Frage nach der individuellen Verpflichtung gegenüber den politischen und rechtlichen
Entscheidungen der Gemeinschaft stellt dabei quasi die Kehrseite der Medaille der Suche
nach politischer Gerechtigkeit dar, denn es gibt zwei Alternativen:
(1) Ist die politische Gemeinschaft gerecht, so wird man annehmen müssen, daß der Bürger
sich ihren Entscheidungen unterwerfen muß.
(2) Ist die politische Gemeinschaft ungerecht, so wird man annehmen müssen, daß der Bürger
sich ihren Entscheidungen nicht unterwerfen muß.
Im ersten Fall ist die Verpflichtung durch die Rechtsnorm vorgegeben. Was aber der zweite
Fall bedeutet, soll nun näher untersucht werden:
Die Art und Weise der Nichtbefolgung einer Rechtsnorm läßt sich in mehrere Eskalationsstufen differenzieren: (1) einfache Nichtvornahme der geforderten Handlung, (2) Ziviler Ungehorsam, (3) Widerstand, (4) Tyrannenmord.
1. Einfache Nichtvornahme der geforderten Handlung
Um zu klären, ob die einfache Nichtvornahme einer rechtlich geforderten Handlung erlaubt
ist, muß man fragen, ob eine Rechtsbefolgungspflicht besteht. Dazu ist es wichtig, zwischen
drei Arten einer Rechtsbefolgungspflicht zu unterscheiden: einer juridischen, einer moralischen und einer ethischen.
In jedem Einzelfall sollte zunächst die juridische Rechtsbefolgungspflicht geprüft werden,
denn wenn das Recht selbst keine Befolgung fordert, so stellt sich die Frage nach einer ethischen Befolgungspflicht gar nicht. Die juridische Befolgungspflicht ist im Normalfall mit
jeder formal korrekten Rechtsnorm verbunden. Sie kann aber entfallen, wenn die Rechtsnorm
gegen anderes Recht verstößt, außer Kraft getreten ist etc.
Die Frage nach der moralischen Beurteilung einer Rechtsbefolgungspflicht nimmt nach der
hier vorgeschlagenen Definition von „Moral“ auf die tatsächlich bestehende Moralverpflichtung zur Rechtsbefolgung in einer Gesellschaft Bezug. Im Regelfall wird man davon ausgehen müssen, daß eine solche Moralverpflichtung besteht. Im Einzelfall wird man allerdings
fragen müssen, wie weit sie reicht, ob sie auch extrem ungerechtes Recht umfaßt. Wie aber zu
Beginn schon festgestellt wurde, kann die tatsächlich bestehende Moral kein guter Grund für
eine bestimmte rechtsethische Beurteilung sein. Wenn die herrschende Steuermoral sinkt, gibt
das dem einzelnen keine ethische Rechtfertigung, seine Steuern nicht zu bezahlen. Die allge-
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meine Rechtsbefolgung kann allenfalls als Faktum innerhalb ethischer Überlegungen eine
Rolle spielen. Wenn man z. B. den Gleichheitssatz als wesentliches rechtsethisches Prinzip
anerkennt, so gilt: Wenn der Staat über Jahre hinweg eine Nichtbefolgung durch einen erheblichen Teil der Rechtsunterworfenen sehenden Auges in Kauf nimmt, obwohl eine andere
Regelung möglich wäre und gefordert wird – wie dies bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften in der Bundesrepublik der Fall war – so wird die ethische Beurteilung auch mit Bezug
auf die moralische Tatsache einer fehlenden Steuermoral zumindest zweifelhaft. Der Staat
muß dafür sorgen, daß der „Ehrliche nicht der Dumme“ ist. Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht die frühere Form der Besteuerung von Kapitaleinkünften mit Bezug auf
den Gleichheitssatz für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 84, 239ff.)
Die ethische Beurteilung der Befolgungsfrage hat zwei Ansatzpunkte: die Rechtsethik und die
Individualethik. Die Rechtsethik beurteilt die fragliche Regelung danach, ob sie für die Gesellschaft allgemein als gerechte Regelung angesehen werden kann. Die Individualethik fragt,
ob die individuelle Vornahme der geforderten Handlung oder Unterlassung ethisch zulässig
ist bzw. die entsprechende Verhaltensabsicht ausgebildet werden soll. Verschiedentlich wird
die entsprechende Entscheidung als „Gewissensentscheidung“ in die Macht des einzelnen
gestellt.
Beide Beurteilungsmaßstäbe hängen aber natürlich zusammen. Grundsätzlich darf in einer
allgemeinen Regelung nur das gefordert werden, was auch jeder einzelne ausführen soll. Oder
konkret: Wer eine allgemeine Regelung zur Verteidigung mit Waffengewalt für gerechtfertigt
hält, muß auch den individuell geforderten Beitrag akzeptieren. Wer den eigenen Wehrdienst
aus ethischen Gründen verweigert, muß auch die Existenz von Streitkräften ablehnen.
Dieser Zusammenhang von individualethischer und rechtsethischer Beurteilung kann allenfalls mit Verweis auf das individuelle Faktum des einzelnen Gewissens bis zu einem bestimmten Grade relativiert werden. Man kann aus Verstandesgründen etwas als notwendig
ansehen und doch individuell in schwere Gewissensnöte geraten. Da das Gewissen aber kein
unumstößlich feststehendes Faktum darstellt, sondern seinerseits durch normativ-ethische
Überlegungen mitkonstituiert wird und insofern beeinflußbar ist, muß ein solcher Zwiespalt
immer prekär und zweifelhaft bleiben. Die Gefahr, daß sich der einzelne mit Verweis auf seinen Gewissenskonflikt individuelle Vorteile verschafft, liegt auf der Hand. Für den Regelfall
sollte man also eine Übereinstimmung von individualethischer und rechtsethischer Beurteilung anstreben und unterstellen.
Für die Beantwortung der Frage nach einer ethischen Rechtsbefolgungspflicht sind zunächst
zwei Unterscheidungen nötig:
(a) Die erste Unterscheidung betrifft den Charakter des verpflichtenden Staates. Man muß
zwischen Rechtsstaaten und Unrechtsstaaten differenzieren, allerdings nicht im Sinne einer
dualistischen Entgegensetzung. Man muß vielmehr graduelle Abstufungen annehmen. Der
absolute Rechtsstaat existiert nicht und kann auch nicht existieren, solange es keine vollkommenen Menschen gibt. Ein Fehlurteil oder eine Korruptionsaffäre machen einen Staat deshalb
noch nicht zum Unrechtsstaat. Entscheidend ist vielmehr die Beurteilung der Gesamtheit der
Regelungen. Ein Rechtsstaat ist gekennzeichnet durch die Beachtung der Menschenrechte,
das Demokratieprinzip, das Mehrheitsprinzip, die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes,
die Entschädigung bei Enteignungen usw.
(b) Die zweite Unterscheidung bezieht sich auf die Stellung des Verpflichteten. Es kann sich
entweder um einen einfachen Bürger handeln oder um einen Angehörigen des Öffentlichen
Dienstes, der gegenüber dem Staat zu besonderer Rechtstreue verpflichtet ist. Zunächst soll
nur der erste Fall des Normalbürgers interessieren.
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Für Rechtsstaaten oder zumindest relativ gerechte Staaten, deren Fortbestehen in der gegenwärtigen oder allenfalls einer leicht modifizierten Form gerechtfertigt ist, gilt: Sollte das
rechtlich geforderte Verhalten unter Berücksichtigung aller fraglichen Interessen von der allgemeinen Ethik auch unabhängig von einer zusätzlichen abstrakten ethischen Rechtsbefolgungspflicht zu befürworten sein, z. B. die Verpflichtung zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen, so ist das Verhalten ethisch geboten. Auf das Bestehen einer eigenen ethischen Rechtsbefolgungspflicht kommt es nicht an. Problematisch sind Situationen, in denen die ethische Beurteilung ohne Berücksichtigung einer zusätzlichen abstrakten ethischen Rechtsbefolgungspflicht die Handlungen als ethisch nicht gerechtfertigt verwerfen würde, in denen also rechtliches und ethisches Gebot divergieren und letzteres den Ausschlag geben würde. Fraglich ist
dann, ob der rechtlichen Befolgungspflicht eine eigenständige zusätzliche ethische Verpflichtung zur Rechtsbefolgung korrespondiert, die in der Gesamtabwägung den Ausschlag für die
Verpflichtung zur Rechtsbefolgung geben würde.
Eine solche eigenständige abstrakte ethische Rechtsbefolgungspflicht kann sich nur auf die
Gefahr der Destabilisierung der Rechtsordnung als Ganzes stützen. Die Nichtbefolgung einer
Rechtsnorm durch einen einzelnen Normalbürger destabilisiert die Gesamtrechtsordnung im
Regelfall allerdings nicht. Mit Bezug auf die singulären Folgen des Verhaltens eines einzelnen kann eine allgemeine ethische Rechtsbefolgungspflicht also kaum begründet werden. Im
Regelfall würde die Rechtsordnung aber destabilisiert werden, wenn alle Bürger die fragliche
rechtliche Regelung nicht befolgen würden. Würde also niemand mehr bei Unglücksfällen
helfen und würden auch andere strafrechtliche Gebote und Verbote mißachtet, so geriete die
gesamte Strafrechtsordnung und schließlich die gesamte Rechtsordnung in eine schwere Krise. Vertraut der einzelne nun darauf, daß die anderen im wesentlichen die rechtliche Regelung
befolgen, hält er sich aber nicht daran, so verschafft er sich eine Sonderstellung, die möglicherweise mit Sondervorteilen verbunden ist (sog. Trittbrettfahrerproblem). Er nimmt zwar
am gemeinsamen Projekt der Rechtsordnung teil und bejaht diese auch als gerecht, zieht aber
im Einzelfall nicht die notwendigen Konsequenzen für sein eigenes Verhalten. Dies kann
nicht als ethisch gerechtfertigt angesehen werden. Damit besteht im Rechtsstaat bzw. einigermaßen gerechten Staat eine abstrakte ethische Rechtsbefolgungspflicht. Es handelt sich
dabei aber nur um eine prima facie bestehende Pflicht, die im Einzelfall mit anderen ethischen Pflichten kollidieren kann. Das ethische Verbot der Tötung Unschuldiger wird etwa die
ethische Rechtsbefolgungspflicht verdrängen, so daß es als Ergebnis der Abwägung ethisch
geboten ist, der rechtlichen Verpflichtung, einen Unschuldigen zu töten, nicht zu folgen.
Wenn man die bekannte Maxime „Gesetz ist Gesetz“, als bedingungslose Verpflichtung zum
Rechtsgehorsam interpretiert, so darf ihr also nicht gefolgt werden. Die abstrakte ethische
Verpflichtung zur Rechtsbefolgung ist nur ein ethisches Prinzip unter vielen, das sich einer
Abwägung mit diesen anderen Prinzipien zu stellen hat. Bei dieser Abwägung wird die abstrakte ethische Rechtsbefolgungspflicht gegenüber zentralen ethischen bzw. moralischen
Prinzipien wie dem Tötungsverbot Unschuldiger zurückzutreten haben, sich aber verschiedentlich gegenüber peripheren ethischen Verpflichtungen durchsetzen.
Im Unrechtsstaat, dessen Bestand rechtsethisch nicht zu rechtfertigen ist, greift die soeben
erläuterte Rechtfertigung einer eigenständigen abstrakten ethischen Rechtsbefolgungspflicht
nicht. Die Destabilisierung seiner Rechtsordnung ist ethisch nicht verwerflich. Es besteht somit keine eigenständige abstrakte ethische Rechtsbefolgungspflicht. Der einzelne muß in jedem Fall abwägen, ob die geforderte Handlung als solche ethisch zu rechtfertigen ist oder
nicht.
Für Angehörige des Öffentlichen Dienstes gilt: Im Rechtsstaat ist ihre ethische Rechtsbefolgungspflicht – je nach Funktion und Stellung in der Hierarchie – stärker ausgestattet als diejenige des Normalbürgers.
Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist die destabilisierende Wirkung der Gehorsamsverweigerung größer, wenn sogar die zur Rechtsdurchsetzung berufenen Beamten den rechtli-
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chen Verpflichtungen nicht folgen. Zum zweiten hat der Staatsdiener mit Eintritt in den Öffentlichen Dienst die Rolle als Vertreter der bestehenden Rechtsordnung angenommen und
bejaht.
Von dieser Verpflichtung ist er allerdings befreit, wenn sich der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat wandelt. Im Unrechtsstaat ist schon die individuelle Verpflichtung des einzelnen, als
Staatsdiener die Rechtsnormen durchzusetzen, ethisch negativ zu bewerten. Sie kann keine
ethische Folgeverpflichtung zur Treue hervorrufen. Darüber hinaus entfällt wie beim Normalbürger jede ethische Verpflichtung, eine Destabilisierung der Gesamtrechtsordnung zu vermeiden. Ähnlich wie der Normalbürger muß der Staatsdiener im Unrechtsstaat also in jedem
Einzelfall ohne Rücksicht auf die Rechtsbefolgungspflicht abwägen, ob die fragliche Handlung ethisch zu rechtfertigen ist. Darüber hinaus ist er gehalten, sich nicht zum Handlanger
eines Unrechtsregimes zu machen, und darf dieses nicht durch seine Stellung und Tätigkeit
als Staatsbediensteter unterstützen und stabilisieren. Man muß ihn folglich als ethisch verpflichtet ansehen, seinen Dienst so bald als möglich zu quittieren, vorausgesetzt, er ist anderweitig in der Lage, sein Überleben und das Überleben seiner Familie unter zumutbaren Bedingungen zu sichern. Märtyrertum kann nicht erwartet werden, aber eine klare Distanzierung
von staatlichem Unrecht.
2. Ziviler Ungehorsam
Ziviler Ungehorsam ist eine gesetzwidrige Handlung wie die soeben erörterte Nichtbefolgung
von Gesetzen. Zusätzlich ist er aber
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öffentlich,
gewaltlos,
gewissensbestimmt,
politisch motiviert und
wird als Mittel zur Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik eingesetzt.196
Beim zivilen Ungehorsam muß, anders als bei der einfachen Nichtbefolgung, nicht das gleiche Gesetz gebrochen werden, gegen das protestiert werden soll. Der zivile Ungehorsam trägt
den Charakter eines politischen Appells. Deshalb muß er öffentlich sein. Gewalt muß vermieden werden, weil das Ziel nicht die unmittelbare Herbeiführung des angestrebten Zustands,
sondern die Änderung der politischen bzw. rechtlichen Regelungen ist.
Die grundsätzliche Gesetzestreue drückt sich in der Bereitschaft aus, die gesetzlichen – v. a.
strafrechtlichen – Folgen der Handlung auf sich zu nehmen. Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich also wesentlich von militanten Aktionen oder organisiertem gewaltsamen Widerstand.
Berühmte Beispiele für zivilen Ungehorsam sind der Widerstand Gandhis gegen die britische
Kolonialmacht in Indien und derjenige Martin Luther Kings gegen die Rassendiskriminierung
in den USA. Da der zivile Ungehorsam auf eine Änderung rechtlicher Regelungen oder faktischer Benachteiligungen im Rahmen der bestehenden rechtlichen und politischen Verfahren
abzielt und durch öffentlichen Protest wirken will, kommt er nur im Rechtsstaat oder einigermaßen gerechten Staat in Frage. Der Unrechtsstaat wird keine gewaltfreie und legale Änderung der Verhältnisse zulassen.
Gerechtfertigt ist der zivile Ungehorsam unter folgenden Voraussetzungen:197 Es muß sich
um schwere Verletzungen grundlegender Gerechtigkeitsprinzipien im fraglichen Staat handeln, insbesondere also um gravierende Verletzungen der Menschenrechte. Der zivile Unge196
197
John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1971, p. 401ff.
John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1971, p. 409ff.
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horsam muß letzter Ausweg sein (ultima ratio), d. h. alle politischen und rechtlichen Möglichkeiten, die angegriffene Regelung zu Fall zu bringen, müssen ausgeschöpft worden sein.
Zu beachten ist weiterhin, daß die destabilisierende Wirkung des zivilen Ungehorsams naturgemäß größer ist als die einfache Nichtbefolgung einer rechtlichen Regelung. Auch hier gelten die Überlegungen, die oben eine ethische Rechtsbefolgungspflicht gerechtfertigt haben.
Der einzelne oder eine einzelne Gruppe darf sich im Rahmen des zivilen Ungehorsams keine
Sondervorteile verschaffen. Der zivile Ungehorsam ist also nur gerechtfertigt, wenn die Folgen der in Rede stehenden Regelungen so gravierend ungerecht sind, daß eine Abwägung zur
Hintanstellung der ethischen Rechtsbefolgungspflicht führt. Schließlich ist beim zivilen Ungehorsam zu beachten, daß eine Schädigung dritter Unbeteiligter nicht gerechtfertigt ist.
Wendet man diese Kriterien auf aktuelle Fälle des zivilen Ungehorsams an, so ergibt sich:
Die Blockade von Straßen durch Lastwagenfahrer oder Landwirte mit dem Ziel, für den eigenen Berufsstand günstigere finanzielle Regelungen zu erwirken, können nicht als gerechtfertigt angesehen werden. Handelt es sich nicht um eine Existenzgefährdung, so stehen keine
grundlegenden Gerechtigkeitsgrundsätze in Rede.
Die Blockadeaktionen gegen Raketenstandorte als Protest gegen den Nachrüstungsbeschluß
im Gefolge des sog. Nato-Doppelbeschlusses sind dagegen weniger einfach zu bewerten. Sofern die Blockadeaktionen nur kurzzeitig und symbolisch stattfanden, keine Personen- oder
Sachschäden entstanden und eine politische Änderung der Entscheidung angestrebt wurde,
erfüllen sie die Voraussetzungen des zivilen Ungehorsams. Ob die Stationierung von Waffen
grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien verletzt, ist zumindest nicht von vornherein unzweifelhaft. Aber auch wer dies bejaht und damit den zivilen Ungehorsam für ethisch gerechtfertigt hält, muß die anschließenden Verurteilungen akzeptieren, sofern sie dem geltenden Recht
entsprechen (was zweifelhaft und umstritten ist, da die Verwerflichkeitsklausel des Nötigungsparagraphen 240 Strafgesetzbuch ihrerseits auf eine ethische Bewertung verweist).
3. Widerstand
Widerstand richtet sich im Gegensatz zum zivilen Ungehorsam nicht darauf, im Rahmen der
gegenwärtig bestehenden politischen und rechtlichen Entscheidungsstrukturen möglichst gewaltfrei eine politische Änderung herbeizuführen, sondern bezweckt die unmittelbare, unter
Umständen auch gewaltsame bzw. revolutionäre Durchsetzung der geforderten Veränderungen. Er muß nicht öffentlich sein, sondern kann auch konspirativ ablaufen. Die Bereitschaft
zur Hinnahme einer Bestrafung wegen der Nichtbefolgung der rechtlichen Anordnungen ist,
anders als beim zivilen Ungehorsam, nicht notwendig. Regelmäßig richtet sich der Widerstand auf die partielle oder totale Veränderung des politischen und gesellschaftlichen Systems.
Da die demokratische Willensbildung und die Mehrheitsentscheidung mißachtet werden, ist
der gewaltsame Widerstand im Rechtsstaat oder im überwiegend gerechten Staat kaum zu
rechtfertigen. Anders ist die Situation im Unrechtsstaat. Hier ist Widerstand ethisch gerechtfertigt. Aber auch dort gilt die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck. D. h. je tyrannischer der Unrechtsstaat auftritt, desto massiver darf der Widerstand werden. Die Maxime der
Respektierung von Leib, Leben und Sachgütern unbeteiligter Dritter gilt allerdings auch hier.
Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung ist also nicht zu rechtfertigen. In Frage kommen
allenfalls Aktionen gegen staatliche Organe. Aber auch dann dürfen im Regelfall Leben und
körperliche Unversehrtheit nicht verletzt werden.
4. Tyrannenmord
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Die letzte und ultimative Eskalationsstufe eines gewalttätigen Widerstands stellt der sogenannte Tyrannenmord dar. Er ist nur unter der Voraussetzung der Notwehrregeln zu rechtfertigen, d. h. wenn der Diktator und/oder die herrschende Clique fortgesetzt und vorsätzlich
Morde an Bürgern oder Regimegegnern verüben. Ein Attentat gegen Hitler war also aus Notwehrgesichtspunkten von dem Zeitpunkt an gerechtfertigt, ab dem systematisch die Tötung
von Personen angeordnet bzw. zugelassen wurde.
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(1) einfache Nichtvornahme der geforderten Handlung, (2) Ziviler Ungehorsam, (3) Widerstand, (4) Tyrannenmord.
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