MEDIZIN ÜBERSICHT Angeborene Schwerhörigkeit und Struma: Pendred-Syndrom Guntram Borck, Ulrike Napiontek, Nicole Pfarr, Wibke Müller-Forell, Annerose Keilmann, Joachim Pohlenz ZUSAMMENFASSUNG Einleitung: Das Pendred-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die klinisch durch eine obligate bilaterale Schallempfindungsschwerhörigkeit mit Innenohrfehlbildung und eine eu- oder hypothyreote Struma gekennzeichnet ist. Der Verlauf der Erkrankung kann sowohl hinsichtlich des Hörvermögens als auch der Schilddrüsenbeteiligung sehr unterschiedlich sein. Methoden: Medline-Recherche mit den Recherchekriterien: „Pendred“, „Pendred's“ oder „SLC26A4“ und dem Begriff „mutation“ und daraus folgende selektive Literaturauswahl. Ergebnisse: Das PendredSyndrom wird durch Mutationen im SLC26A4-Gen verursacht. Es stellt eine häufige Form sowohl der syndromalen Schwerhörigkeit als auch die zweithäufigste Ursache der isolierten Schwerhörigkeit dar. Mittels der molekulargenetischen Diagnostik ist die Identifizierung von SLC26A4-Mutationen möglich. Diskussion: Obwohl das Pendred-Syndrom eine häufige Form der angeborenen Schwerhörigkeit darstellt, ist es in Deutschland sicherlich unterdiagnostiziert. Mittels molekulargenetischer Untersuchungen kann bei klinischem Verdacht die Diagnose gesichert werden. Die Therapie des Pendred-Syndroms ist symptomatisch. Ziel ist es, eine möglichst normale Hör- und Sprachentwicklung der Patienten zu erreichen. Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3108–14. Schlüsselwörter: Pendred-Syndrom, Schwerhörigkeit, Hypothyreose, Struma, Molekulargenetik SUMMARY CONGENITAL DEAFNESS AND GOITRE: PENDRED SYNDROME INSERM U781, Hôpital Necker-Enfants Malades (Dr. med. Borck) Klinik und Poliklinik für HNO und Kommunikationsstörungen, Universitätskliniken der Johannes GutenbergUniversität Mainz (Dr. med. Napiontek, Prof. Dr. med. Keilmann) Kinderklinik und -poliklinik, Universitätskliniken der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Dipl.-Biol. Pfarr, Prof. Dr. med. Pohlenz) Institut für Neuroradiologie, Universitätskliniken der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (PD med. Müller-Forell) A 3108 Introduction: Pendred syndrome is an autosomal recessive condition characterized by bilateral sensorineural deafness, vestibular and cochlear abnormalities, and goitre. The clinical course is extremely variable both in respect of hearing and of thyroid function. Methods: Selective review of articles on Medline retrieved using search terms: „Pendred“, „Pendred's,“ or „SLC26A4,“ and „mutation“. Results: Pendred syndrome is caused by mutations in the SLC26A4 gene. It is a common cause of syndromic deafness as well as the second commonest cause of isolated deafness. Clinical genetic diagnosis allows identification of SLC26A4 mutations. Discussion: Despite being a common cause of congenital deafness, Pendred syndrome is probably underdiagnosed in Germany. Molecular analysis and thorough clinical assessment can confirm the diagnosis of Pendred syndrome. Treatment is largely symptomatic, and aims to optimize hearing and language development. Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3108–14. Key words: Pendred syndrome, deafness, hypothyroidism, goitre, molecular genetics B eim Pendred-Syndrom handelt es sich um die Kombination von Schwerhörigkeit und euoder hypothyreoter Struma (1). Obwohl diese Erkrankung bereits vor mehr als hundert Jahren beschrieben wurde, ist sie der Mehrzahl der klinisch tätigen Ärzte nicht bekannt und wird sicherlich häufig nicht diagnostiziert (2). Dies liegt möglicherweise daran, dass der Verlauf dieser seltenen Erkrankung hinsichtlich der Schwerhörigkeit und der Schilddrüsenpathologie sehr unterschiedlich sein kann. Die Vermutung liegt also nahe, dass es neben den etwa zehn bisher publizierten deutschen Familien (3–6) weitere Patienten in Deutschland mit dieser Erkrankung gibt, die von einer frühzeitigen Diagnosestellung und somit Förderung profitieren könnten. Interessanterweise können heute zwei der klinischen Zeichen des Pendred-Syndroms, die angeborene Hypothyreose (Häufigkeit 1 : 4 000) und die angeborene Schwerhörigkeit (Häufigkeit etwa 1 bis 2 : 1 000) bereits im Neugeborenenalter diagnostiziert werden (7, 8). Das Ziel dieses Übersichtsartikels ist es deshalb, diese Erkrankung vor allem hinsichtlich der Diagnostik und der therapeutischen Möglichkeiten dem klinisch tätigen Arzt darzustellen und dabei molekulargenetische und pathophysiologische Aspekte zu erläutern. Methoden Die wissenschaftliche Basis dieses Beitrages beruht auf einer Medline-Recherche, die zuletzt im Januar 2006 mit den Recherchekriterien: „Pendred“, „Pendred’s“ oder „SLC26A4“ und einem der Begriffe „mutation“ oder „mutations“ durchgeführt wurde. Pendred-Syndrom – Definition und Klinik Das Pendred-Syndrom folgt einem autosomal-rezessiven Erbgang. Es finden sich in beiden Allelen eines Patienten mit Pendred-Syndrom krankheitsrelevante Mutationen, und beide Elternteile sind phänotypisch unauffällige heterozygote Anlageträger. Jedes Kind eines solchen Elternpaares hat, unabhängig vom Geschlecht, ein Risiko von 25 Prozent betroffen zu sein. Erstmalig beschrieben wurde das Pendred-Syndrom im Jahre 1896 von dem britischen Allgemeinmediziner Vaughan Pendred (1869–1946) (9). Leitsymptom ist die Schwerhörigkeit, die in allen Fällen bilateral ist, auch wenn ein Ohr stärker betroffen sein kann als das andere (10). Die Schwerhörigkeit ist vom Typ der Schallempfindungsschwerhörigkeit und ist in ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN GRAFIK 1 Verlaufsformen der Schwerhörigkeit bei Pendred-Syndrom. Die Abbildung zeigt den Verlauf der Schwerhörigkeit bei drei Geschwistern mit Pendred-Syndrom und identischer homozygoter Mutation T416P. Dargestellt ist eine repräsentative Auswahl von Audiogrammen der drei Geschwister aus einem 23-jährigen Langzeitverlauf. Zur besseren Vergleichbarkeit sind die Audiogramme, die in unterschiedlichen Lebensaltern erstellt wurden, übereinander projiziert. Das rechte Ohr ist jeweils auf der linken Seite abgebildet und umgekehrt. Bei den Patienten 1 und 2 ist das jeweils erste Audiogramm (rot) ein Freifeld-Reaktionsaudiogramm, und ist auf der linken Seite dargestellt. Bei allen anderen Audiogrammen handelt es sich um getrenntohrige Reinton-Audiogramme. Trotz desselben Genotyps weisen die Patienten sehr unterschiedliche Schwerhörigkeits-Verläufe auf: hochgradige progrediente Schwerhörigkeit bei Patient 1; hochgradige, aber nicht progrediente Schwerhörigkeit bei Patient 2 und initial am wenigsten ausgeprägte, aber deutlich sich verschlechternde Schwerhörigkeit bei Patient 3. Abbildung aus Napiontek et al. (5) Copyright 2004, The Endocrine Society, Nachdruck mit Erlaubnis ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ A 3109 MEDIZIN KASTEN Diagnosekriterien des Pendred-Syndroms > Pathogene Mutationen in beiden Allelen des SLC26A4/PDS-Gens bei einer Person mit Schwerhörigkeit und Schilddrüsenpathologie (Struma und/oder Hypothyreose) sind beweisend für ein Pendred-Syndrom. > Sehr häufig (> 80 %) sind bei Patienten mit einem Pendred-Syndrom nachzuweisen: – bilaterale Schallempfindungsschwerhörigkeit (100 %) – erweiterter vestibulärer Aquädukt (CT oder MRT der Felsenbeine) – pathologischer Perchlorat-Discharge-Test (PDT) > Häufig (> 50 %) haben Patienten mit einem PendredSyndrom: – eu- oder hypothyreote Struma – erhöhte Thyreoglobulinserumspiegel > Seltener findet man: – Mondini-Fehlbildung: erweiterter vestibulärer Aquädukt und hypoplastische Cochlea (CT oder MRT der Felsenbeine) den meisten Fällen hochgradig mit einem Hörverlust von mehr als 60 Dezibel (dB). Da sie im Allgemeinen schon bei Geburt vorliegt, wird sie in den meisten Fällen aufgrund eines fehlenden oder stark verzögerten Spracherwerbs diagnostiziert (so genannte prälinguale Schwerhörigkeit). In seltenen Fällen weist das betroffene Kind eine normale oder nur leicht verzögerte Sprachentwicklung auf, und die Schwerhörigkeit wird erst im Kleinkindalter oder später diagnostiziert. Die Schwerhörigkeit des Pendred-Syndroms betrifft alle Frequenzen, die hohen Frequenzen in der Regel stärker (10) (Grafik 1). Man kann drei Verlaufsformen unterscheiden: 1. die Schwerhörigkeit bleibt über mehrere Jahre stabil 2. sie kann fluktuieren mit Episoden plötzlicher Verschlechterung („Hörsturz“) und teilweiser oder kompletter Remission 3. sie kann progredient verlaufen und letztlich zur beidseitigen Taubheit führen. Die Ursache dieser phänotypischen Variabilität ist bislang nicht geklärt. So wurden zum Beispiel verschiedene Verlaufsformen bei betroffenen Geschwistern mit identischem molekulargenetischem Defekt nachgewiesen (5) (Grafik 1). Charakteristisch für das Pendred-Syndrom ist neben der Schwerhörigkeit die Schilddrüsenpathologie mit Struma und Hypothyreose (1, 11). Hierbei handelt es sich um einen Defekt der Schilddrüsenhormonsyn- A 3110 these, bei dem der Transport des Jodids aus der Schilddrüsenzelle in das Kolloid gestört ist. Im Gegensatz zur Schwerhörigkeit, die immer vorliegt, kann insbesondere bei Kindern die Schilddrüsenbeteiligung sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und bei Diagnosestellung der Schwerhörigkeit fehlen. Während Neugeborene mit einem Pendred-Syndrom selten eine vergrößerte Schilddrüse haben, ist insgesamt bei ungefähr 75 Prozent der Patienten eine Struma, die multinodulär oder diffus sein kann, nachzuweisen (11). Gelegentlich ist es im Verlauf erforderlich, die Struma aufgrund einer Kompression der Trachea zu resezieren. Aus welchem Grunde es erst im Laufe der späten Kindheit, der Adoleszenz oder des frühen Erwachsenenalters zu einer Struma kommt, ist nicht bekannt. Diagnostik Die Diagnose eines Pendred-Syndroms wird klinisch gestellt, da ein einfacher diagnostischer Test nicht verfügbar ist. Ein Pendred-Syndrom muss bei jedem Patienten erwogen werden, bei dem eine bilaterale Innenohrschwerhörigkeit mit einer Struma, einer Hypothyreose oder einer Innenohrfehlbildung assoziiert ist (Kasten). Wichtig für die korrekte Diagnosestellung sind eine präzise Anamneseerhebung und eine sorgfältige körperliche Untersuchung. Die Anamneseerhebung beinhaltet eine ausführliche Familienanamnese, da, wie bei anderen autosomal-rezessiv vererbten Schwerhörigkeitsformen auch, insbesondere eine Konsanguinität der Eltern oder die Erkrankung eines Geschwisters den Verdacht erhärten. Ebenfalls sollten das Hör- und Sprachvermögen sowie die bisherige psychomotorische Entwicklung überprüft werden. Wenn der Patient eine vergrößerte Schilddrüse hat oder Symptome der Hypothyreose zeigt, schließen sich weiterführende Untersuchungen an, die seinem Alter und Entwicklungsstand angepasst sein müssen. Dazu gehören sowohl subjektive audiometrische Verfahren (Reflex-, Reaktions-, Reinton- und Sprachaudiometrie) als auch elektrophysiologische Untersuchungstechniken zur Bestimmung der Hörschwelle, wie zum Beispiel die Messung otoakustischer Emissionen und die Ableitung akustisch evozierter Hirnstammpotenziale. Fast alle Patienten mit einem Pendred-Syndrom haben Fehlbildungen des Innenohrs (12). Die hochauflösende Untersuchung der Felsenbeine mittels Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) zeigt in 85 bis 100 Prozent der Fälle einen erweiterten vestibulären Aquädukt (EVA) (Abbildung a–d). Ungefähr 20 Prozent der Patienten haben zusätzlich eine fehlgebildete, hypoplastische Cochlea, die so genannte MondiniFehlbildung. Das Vorliegen eines EVA bei einem schwerhörigen Kind sollte also differenzialdiagnostisch immer an ein Pendred-Syndrom denken lassen. Allerdings ist ein EVA der häufigste neuroradiologische Befund bei Kindern mit Schallempfindungsschwerhörigkeit und nicht spezifisch für das Pendred⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN Syndrom. Auch ist eine Korrelation zwischen Vorhandensein und Ausmaß des EVA und dem Schweregrad der Schwerhörigkeit bislang nicht nachgewiesen worden. Besteht der klinische Verdacht auf ein PendredSyndrom, so sollte die Schilddrüsenfunktion überprüft werden. Hierzu ist die Bestimmung der Serumkonzentrationen des thyroidea-stimulierenden Hormons (TSH) und des freien Thyroxins (fT4) besonders wichtig (11). Bei der mit einem Pendred-Syndrom assoziierten Hypothyreose handelt es sich um eine primäre Hypothyreose, das heißt, die Störung der Schilddrüsenhormonbiosynthese liegt in der Schilddrüse selbst und betrifft nicht die hypothalamisch-hypophysäre Achse (11, 13). Somit ist das fT4 niedrig und das TSH erhöht. Allerdings sind Neugeborene mit Pendred-Syndrom häufig noch euthyreot, sodass bisher nur über wenige Fälle berichtet wurde, bei denen die Diagnose eines Pendred-Syndroms bereits im Neugeborenenalter gestellt wurde (11). Bei einigen Patienten ist die Hypothyreose kompensiert, das heißt, die Schilddrüse produziert unter dem Einfluss des erhöhten TSH noch genügend Schilddrüsenhormon, um eine euthyreote Stoffwechsellage aufrecht zu erhalten. Wie auch bei anderen Defekten der Schilddrüsenhormonsynthese ist die Konzentration des Thyreoglobulins im Serum oft erhöht, was differenzialdiagnostisch wegweisend sein kann. Eine Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse erlaubt schließlich nicht nur die lappengetrennte Bestimmung des Schilddrüsenvolumens, sondern auch die Visualisierung von eventuell vorhandenen Zysten und erleichtert die Abgrenzung von entzündlichen oder malignen Schilddrüsenerkrankungen. Inwieweit die Struma beim Pendred-Syndrom einen Risikofaktor für eine maligne Entartung darstellt, lässt sich anhand der vorliegenden Publikationen nicht abschätzen. Es sei darauf hingewiesen, dass in der Literatur über einzelne Fälle von malignen Schilddrüsentumoren berichtet wurde, die aus Strumen von Patienten mit einem Pendred-Syndrom hervorgingen (14). Auch aus diesem Grunde sollte die Schilddrüse in regelmäßigen Abständen sonographisch kontrolliert werden. Der Perchlorat-Discharge-Test (PDT) wurde lange Zeit als wichtigstes Kriterium in der Diagnostik des Pendred-Syndroms angesehen (1). Er dient dem Nachweis eines Jodid-Organifikationsdefekts in der Schilddrüse. Hierbei wird mittels der Gabe von radioaktiv markiertem Jod und anschließender Applikation von Perchlorat, das das Jod verdrängt, festgestellt, ob die Schilddrüse das angebotene Jod adäquat fixiert. Beim Pendred-Syndrom, aber auch bei anderen Defekten der Schilddrüsenhormonsynthese, fällt dieser Test typischerweise positiv aus, das heißt, dass die Schilddrüse das angebotene Jod nicht in ausreichendem Ausmaß ins Schilddrüsenhormonmolekül einbaut. Die Trias angeborene bilaterale Innenohrschwerhörigkeit, Struma und positiver PDT galt vor einigen ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ a Abbildung Das erweiterte vestibuläre Aquädukt: die typische Innenohrfehlbildung des Pendred-Syndroms. Neuroradiologische Darstellungen eines beidseitigen erweiterten vestibulären Aquädukts (EVA) bei Patienten mit PendredSyndrom mittels hochauflösendem CT (a, b) und MRT (c, d). Die Pfeile zeigen jeweils auf die Erweiterung des vestibulären Aquädukts; der Stern in d) auf eine zusätzliche ampulläre Zyste im KleinhirnBrücken-Winkel. Abbildung aus Napiontek et al. (5) Copyright 2004, The Endocrine Society, Nachdruck mit Erlaubnis b c d A 3111 MEDIZIN GRAFIK 2 Syntheseweg des Schilddrüsenhormons. Schematische und stark vereinfachte Darstellung einer Schilddrüsenzelle und der Synthese von Schilddrüsenhormon Jahren noch als beweisend für das Vorliegen eines Pendred-Syndroms. Allerdings hat der PDT keine 100-prozentige Sensitivität und Spezifität und wird von den wenigsten Patienten oder deren Eltern akzeptiert, sodass die molekulargenetische Analyse des Pendred-Syndrom-Gens diesen Test zunehmend ersetzt. Die molekulare Diagnostik ist seit 1997 möglich und erfolgt durch die Sequenzanalyse des PendredSyndrom-Gens (PDS/SLC26A4), wofür die Abnahme von EDTA-Blut erforderlich ist. Liegen bei einem Betroffenen zwei bereits bekannte krankmachende Mutationen vor (homozygot oder compound heterozygot), so gilt die Diagnose als gesichert. Weiterhin ist es auch möglich, dass nur eine heterozygote Mutation gefunden wird. In diesem Fall handelt es sich dann um ein Pendred-Syndrom, wenn in dem zweiten Allel eine kryptische, das heißt mit Routineverfahren nicht zu identifizierende, Mutation oder Deletion vorliegt. In seltenen, meist sporadisch auftretenden Fällen von Pendred-Syndrom wurde keine Mutation nachgewiesen. Dies deutet daraufhin, dass andere genetische Ursachen für das Pendred-Syndrom existieren könnten, obwohl bis heute nur ein Pendred-Syndrom-Gen bekannt ist. Grundsätzlich erfordern die Diagnosestellung und die optimale Betreuung der Betroffenen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pädiatern, Endokrinologen, Genetikern, Phoniatern/Pädaudiologen beziehungsweise HNO-Ärzten und Neuroradiologen. Differenzialdiagnose Die Besonderheit des Pendred-Syndroms besteht darin, dass sowohl hinsichtlich der Hörstörung, als auch der Schilddrüsenbeteiligung unterschiedliche Differenzialdiagnosen bedacht werden müssen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Sowohl Schwerhörigkeit als auch Struma für sich genommen kommen häufig vor, und ihr gemeinsames Auftreten bei ei- A 3112 nem Patienten bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Pendred-Syndrom vorliegt. Besteht bei einem Patienten eine ätiologisch ungeklärte Hörstörung, so sollten zunächst Ursachen der nicht genetisch bedingten Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden (15). Hierzu gehören neben intrauterinen Infektionen (zum Beispiel durch Toxoplasmen, Röteln- und Zytomegalieviren) auch die Frühgeburtlichkeit und die perinatale Asphyxie sowie ototoxische Nebenwirkungen von postnatal verabreichten Medikamenten, insbesondere von AminoglykosidAntibiotika und Zytostatika. Etwa 50 bis 60 Prozent der Fälle kindlicher permanenter Schwerhörigkeit werden durch genetische Defekte verursacht (16). Man unterscheidet eine syndromale Form, die mit Fehlfunktionen oder Fehlbildungen anderer Organe assoziiert ist, von einer nichtsyndromalen oder isolierten Schwerhörigkeit. Hinsichtlich der genetischen Grundlagen der nichtsyndromalen Hörstörungen sei auf die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Arbeit von Kubisch verwiesen (17). In diesem Artikel wird auch auf die Bedeutung der Connexine und insbesondere des Connexins 26 eingegangen, das das am häufigsten mutierte Schwerhörigkeitsgen darstellt (18). An erster Stelle steht somit die klinische Diagnostik zur Klärung, ob eine syndromale oder eine nichtsyndromale Hörstörung vorliegt. Gelingt der Nachweis einer Struma oder einer Schilddrüsenunterfunktion, so ist an ein Pendred-Syndrom zu denken. Besteht der typische Symptomenkomplex (angeborene bilaterale Innenohrschwerhörigkeit mit erweitertem vestibulären Aquädukt und Struma oder pathologischem Perchlorat-Discharge-Test), so ist die Diagnose eines Pendred-Syndroms sehr wahrscheinlich und molekulargenetische Untersuchungen sind anzuraten. Allerdings sind Mutationen im Pendred-Syndrom-Gen auch eine häufigere Ursache der nichtsyndromalen Hörstörung, sodass ein Fehlen zusätzlicher klinischer Zeichen diese Erkrankung nicht ausschließt. Die andere Möglichkeit, ein Pendred-Syndrom zu diagnostizieren, besteht über die Schilddrüsenpathologie, die auch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Im Folgenden soll daher kurz auf die diesbezüglichen differenzialdiagnostischen Überlegungen eingegangen werden. Die weltweit häufigste Ursache einer Struma ist der Jodmangel (7). Bei Vorliegen einer kindlichen Struma ist aber auch an eine andere Störung der Schilddrüsenhormonbiosynthese sowie an eine entzündliche oder an eine maligne Schilddrüsenerkrankung zu denken. Die Abgrenzung des Pendred-Syndroms gegenüber den anderen Schilddrüsenhormon-Synthesestörungen ist mitunter schwierig, doch gehen diese meist nicht mit einer Schwerhörigkeit einher (19). Liegt eine entzündliche oder eine maligne Schilddrüsenerkrankung vor, so sind andere Laboruntersuchungen (zum Beispiel Schilddrüsenantikörper, Tumormarker) und eine Ultraschalluntersuchung sowie auch eine Szintigraphie der Schilddrüse erforderlich. ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN Molekulargenetik und Pathophysiologie Fast genau 100 Jahre nach der klinischen Erstbeschreibung des Pendred-Syndroms wurde das hierfür verantwortliche, auf dem Chromosom 7 lokalisierte PDS-Gen (oder SLC26A4, wie es heute offiziell genannt wird) identifiziert (20). Es wird außer in der Schilddrüse und im Innenohr auch in der Niere exprimiert. Das dazugehörige, Pendrin genannte Protein funktioniert in der Schilddrüsenzelle als Transporter des Jodids aus der Zelle in das Kolloid, wo die Schilddrüsenhormonsynthese stattfindet (Grafik 2). Mutationen in beiden Allelen dieses Gens führen zum Pendred-Syndrom (3–6, 20). Mittlerweile sind über 90 Mutationen im SLC26A4-Gen bekannt, die ein Pendred-Syndrom verursachen (Grafik 3). Nur acht der in Deutschland gefundenen Mutationen wurden bisher publiziert (3–6). Eine dieser Mutationen (V138F) scheint in Deutschland häufiger vorzukommen (4). In selteneren Fällen können SLC26A4-Mutationen auch die Ursache für eine isolierte Schwerhörigkeit mit EVA, aber ohne Schilddrüsenbeteiligung sein (21). In-vitro-Untersuchungen haben gezeigt, dass der Struma ein Funktionsverlust des Pendrinproteins zugrunde liegt. Es wurde für mehrere Mutationen nachgewiesen, dass sie zu veränderten Pendrin-Proteinen führen, die in der Schilddrüsenzelle fehlerhaft verteilt sind. Statt in die Zellmembran zu gelangen, wo das Pendrin seine Funktion normalerweise ausübt, verbleiben diese mutierten Pendrinmoleküle im endoplasmatischen Retikulum (22). Hierdurch kommt es zu einem verminderten Jodidtransport ins Schilddrüsenkolloid, zu einer verminderten Synthese von T3 und T4 mit konsekutiver Unterfunktion der Schilddrüse und schließlich zur Struma. Therapie Die Therapie des Pendred-Syndroms ist symptomatisch. Ziel ist es, eine möglichst normale Hör- und Sprachentwicklung der Patienten zu erreichen. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung gibt es bisher keine kontrollierten Therapiestudien. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Betroffene von einer früh eingeleiteten Hörgeräteversorgung und sonderpädagogischen Förderung profitieren. Somit ist eine frühe Diagnose von wesentlicher Bedeutung. Regelmäßige Verlaufskontrollen hinsichtlich des Hörvermögens sind anzuraten, um gegebenenfalls einen progredienten Verlauf zu erfassen und die Hörgeräteversorgung entsprechend anzupassen. Schließlich ist in Fällen von beidseitiger Taubheit eine Cochlea-Implantat-Operation indiziert (23). Bei Vorliegen einer Hypothyreose sollte umgehend eine Substitutionsbehandlung mit Schilddrüsenhormon begonnen werden, um dem Betroffenen eine normale geistige und somatische Entwicklung zu ermöglichen. Diese medikamentöse Therapie beeinflusst auch die Größe der Schilddrüse günstig. Allerdings verläuft die Größenentwicklung der Schilddrüse in einigen Fällen aufgrund mangelnder Compliance oder ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ GRAFIK 3 bislang unbekannter Ursachen ungünstig, sodass eine engmaschige Kontrolle insbesondere der adoleszenten Patienten erforderlich ist. Zusammenfassung und Ausblick Das Pendred-Syndrom stellt eine häufige Form der syndromalen Schwerhörigkeit dar, und Mutationen im SLC26A4-Gen sind die zweithäufigste Ursache der nichtsyndromalen Schwerhörigkeit (24, 25). Mittels der molekulargenetischen Diagnostik ist die Identifizierung von SLC26A4-Mutationen in beiden Allelen beim Betroffenen möglich, wodurch der formale Beweis für diese Erkrankung erfolgt. Eine frühzeitige Diagnose ist für die behandelnden Ärzte und die Betroffenen wichtig, um entsprechende Maßnahmen mit dem Ziel einer möglichst normalen Hör- und Sprachentwicklung umgehend einzuleiten. Auch die Aufmerksamkeit von Eltern und Betreuern im Kindergarten oder in der Schule ist gefragt. Jeder Verdacht auf eine Schwerhörigkeit oder aber ein verzögerter Spracherwerb sollte eine audiologische Untersuchung nach sich ziehen. Jede Neuentdeckung einer Hörstörung sollte zu einer Überprüfung der Schilddrüsenparameter führen, damit eine Schilddrüsenhormonsubstitutionsbehandlung gegebenenfalls rechtzeitig eingeleitet werden kann. Es wäre wünschenswert, durch molekulargenetische Untersuchungen einen prognostischen Faktor zum Verlauf dieser Erkrankung und zur Optimierung der Betreuung dieser Patienten zu erstellen. Deshalb ist es erforderlich, den klinischen Verlauf und den dazugehörigen molekulargenetischen Befund möglichst vieler Patienten mit einem Pendred-Syndrom zu untersuchen. PDS/SLC26A4-Mutationen und Pendred-Syndrom. Schematische Darstellung des Pendrin-Moleküls. Die Sterne zeigen die Position der häufigsten Mutationen im Pendrin-Protein an. In rot sind die weltweit am häufigsten identifizierten Mutationen dargestellt (L236P, IVS8+1g>a, T416P, H723R), in grün die bisher publizierten Mutationen deutscher Familien mit PendredSyndrom (3–6). Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 6. 9. 2005; revidierte Fassung angenommen: 17. 3. 2006 A 3113 MEDIZIN LITERATUR 1. Reardon W, Trembath RC: Pendred syndrome. J Med Genet 1996; 33: 1037–40. 2. Reardon W, Coffey R, Phelps PD et al.: Pendred syndrome – 100 years of underascertainment? QJM 1997; 90: 443–7. 3. Coyle B, Reardon W, Herbrick JA et al.: Molecular analysis of the PDS gene in Pendred syndrome. Hum Mol Genet 1998; 7: 1105–12. 4. Borck G, Roth C, Martine U, Wildhardt G, Pohlenz J: Mutations in the PDS gene in German families with Pendred's syndrome: V138F is a founder mutation. J Clin Endocrinol Metab 2003; 88: 2916–21. 5. Napiontek U, Borck G, Müller-Forell W et al.: Intrafamilial variability of the deafness and goiter phenotype in Pendred syndrome caused by a T416P mutation in the SLC26A4 gene. J Clin Endocrinol Metab 2004; 89: 5347–51. 6. Birkenhäger R, Knapp FB, Klenzner T, Aschendorff A, Schipper J: Identifizierung von zwei heterozygoten Mutationen im SLC26A4/PDS-Gen einer Familie mit Pendred-Syndrom. LaryngoRhino-Otologie 2004; 83: 831–5. 7. Roberts CG, Ladenson PW: Hypothyroidism. Lancet 2004; 363: 793–803. 8. Thompson DC, McPhillips H, Davis RL, Lieu TL, Homer CJ, Helfand M: Universal newborn hearing screening: summary of evidence. JAMA 2001; 286: 2000–10. 9. Pendred V: Deaf-mutism and goitre. Lancet 1896; ii: 532 10. Luxon LM, Cohen M, Coffey RA et al.: Neuro-otological findings in Pendred syndrome. Int J Audiol 2003; 42: 82–8. 11. Reardon W, Coffey R, Chowdhury T et al.: Prevalence, age of onset, and natural history of thyroid disease in Pendred syndrome. J Med Genet 1999; 36: 595–8. 12. Phelps PD, Coffey RA, Trembath RC et al.: Radiological malformations of the ear in Pendred syndrome. Clin Radiol 1998; 53: 268–73. 13. Kopp P: Pendred's syndrome and genetic defects in thyroid hormone synthesis. Rev Endocr Metab Disord 2000; 1: 109–21. 14. Camargo R, Limbert E, Gillam M et al.: Aggressive metastatic follicular thyroid carcinoma with anaplastic transformation arising from a long-standing goiter in a patient with Pendred's syndrome. Thyroid 2001; 11: 981–8. 15. Smith RJH, Bale JF, White KR: Sensorineural hearing loss in children. Lancet 2005; 365: 879–90. 16. Cryns K, Van Camp G: Deafness genes and their diagnostic applications. Audiol Neurootol 2004; 9: 2–22. 17. Kubisch C: Genetische Grundlagen nichtsyndromaler Hörstörungen. Dtsch Arztebl 2005; 102: A 2946–53. 18. Smith RJ, Robin NH: Genetic testing for deafness – GJB2 and SLC26A4 as causes of deafness. J Commun Disord 2002; 35: 367–77. 19. Park SM, Chatterjee VK: Genetics of congenital hypothyroidism. J Med Genet 2005; 42: 379–89. 20. Everett LA, Glaser B, Beck JC et al.: Pendred syndrome is caused by mutations in a putative sulphate transporter gene (PDS). Nat Genet 1997; 17: 411–22. 21. Pryor SP, Madeo AC, Reynolds JC et al.: SLC26A4/PDS genotype-phenotype correlation in hearing loss with enlargement of the vestibular aqueduct (EVA): evidence that Pendred syndrome and non-syndromic EVA are distinct clinical and genetic entities. J Med Genet 2005; 42: 159–65. 22. Rotman-Pikielny P, Hirschberg K, Maruvada P et al.: Retention of pendrin in the endoplasmic reticulum is a major mechanism for Pendred syndrome. Hum Mol Genet 2002; 11: 2625–33. 23. Vescan A, Parnes LS, Cucci RA, Smith RJ, MacNeill C: Cochlear implantation and Pendred's syndrome mutation in monozygotic twins with large vestibular aqueduct syndrome. J Otolaryngol 2002; 31: 54–7. 24. Park HJ, Shaukat S, Liu XZ et al.: Origins and frequencies of SLC26A4 (PDS) mutations in east and south Asians: Global implications for the epidemiology of deafness. J Med Genet 2003; 40: 242–8. 25. Hutchin T, Coy NN, Conlon H et al.: Assessment of the genetic causes of recessive childhood non-syndromic deafness in the UK – implications for genetic testing. Clin Genet 2005; 68: 506–12. Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Joachim Pohlenz Kinderklinik und -poliklinik Universitätskliniken der Johannes Gutenberg-Universität 55131 Mainz REFERIERT Chronisch entzündliche Darmerkrankungen und Krebs Widersprüchliche Daten wurden über die Häufigkeit eines Darmkrebses auf dem Boden einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung publiziert, je nachdem, ob es sich um die Erfahrung eines Referenzzentrums oder um epidemiologische Untersuchungen handelte. Die Autoren des St. Mark' s Hospital, London, berichten über ein koloskopisches Überwachungsprogramm eines auf Colitis ulcerosa spezialisierten Zentrums, in dem bei 600 Patienten insgesamt 2 627 Follow-up-Koloskopien durchgeführt wurden. Das Überwachungsprogramm umfasste insgesamt 5 932 Patientenjahre. 12,3 Prozent der Patienten entwickelten kolorektale Neoplasien. Die kumulierte Karzinomrate nach 20 Jahre dauernder Colitis ulcerosa betrug 2,5 Prozent, nach 30 Jahren 7,6 Prozent und nach 40 Jahren 10,8 Prozent. Untersuchungen der Mayo-Klinik im Olsted County, Minnesota, bezweifeln die Krebsgefahr bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Die epidemiologischen Daten von 692 Patienten, die zwischen 1940 und 2001 erfasst wurden, ließen kein erhöhtes Karzinomrisiko erkennen, allenfalls in einer Untergruppe mit ausgedehntem Darmbefall. Anders stellte sich die Situation bei Patienten mit Morbus Crohn dar, bei denen das Risiko für ein Karzinom des Dünndarms um den Faktor 40 erhöht gefunden wurde. w Rutter MD, Saunders BP, Wilkinson KH et al.: Thirty-year analysis of a colonoscopic surveillance program for neoplasia in ulcerative colitis. Gastroenterology 2006; 130: 1030–8. E-Mail: [email protected] Jess T, Loftus EV, Velayos FS et al.: Risk of intestinal cancer in inflammatory bowel disease: a population-based study from Olsted county, Minnesota. Gastroenterology 2006; 130: 1039–46. E-Mail: [email protected] A 3114 ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐