Birgitt Röttger-Rössler • Eva-Maria Engelen EINLEITUNG Vielleicht haben Sie sich, als Sie dieses Buch in die Hand nahmen, spontan gefragt, warum ausgerechnet ein leerer Stuhl das Titelbild zu einem Band über Liebe ziert? Aber möglicherweise haben Sie ja auch schon den kleinen Schriftzug „Tell me about love (from a-d)“ entziffert, der einen integrativen Bestandteil dieses Bildes von Nir Alon darstellt. Wir haben den Satz mit dem Titel unseres Buches aufgegriffen, weil er die Aufforderung enthält, über Liebe zu erzählen oder sie zu erklären. Denn im Deutschen kann dieser Satz auch mit der doppelsinnigen Aufforderung „Erklär mir Liebe“ wiedergegeben werden, die sich sowohl als Bitte lesen lässt, das Phänomen Liebe als solches erklärt zu bekommen, als auch die Liebe einer anderen Person. Beides geht nicht auf die Schnelle, im Vorübereilen. Für „Liebeserklärungen“ muss man sich Zeit nehmen, innehalten, und sich positionieren. Der leere Stuhl lässt sich als entsprechende Einladung deuten. Sobald wir uns auf einem Stuhl niederlassen, positionieren wir uns in Bezug auf etwas oder jemanden, sei es, um an einem Tisch gemeinsam mit anderen eine Mahlzeit einzunehmen, ein Gespräch zu führen, einer Tätigkeit nachzugehen wie etwa ein Buch oder einen Brief zu schreiben, sei es um jemanden oder etwas zu betrachten, eine Musik an- oder einer Person zuzuhören. Die Einladung Platz zu nehmen, sich einzulassen, zuzuhören und ein Gespräch über die Liebe zu führen, ist auch an die verschiedenen Kultur- und Naturwissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ergangen, deren Beiträge in diesem Band versammelt sind und die normalerweise durch disziplinäre Schranken daran gehindert werden, sich an einem Tisch zusammenzufinden. Sie alle folgten der Einladung zu einem Workshop (15.-16. März 2005) mit dem Titel „Facetten der Liebe“, der von der Forschungsgruppe „Emotionen als biokulturelle Prozesse“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld veranstaltet wurde, um aus ihren disziplinären Sichten „LiebesErklärungen“ von sich zu geben und diese Erklärungen dann, wenn möglich aufeinander zu beziehen. Wo der Bezug gelingt, entsteht ein vollständigeres Bild des Phänomens, wo er nicht möglich ist, bleibt die disziplinäre Perspektive des jeweils anderen Forschers als Bereicherung des eigenen Verständnisses. Während der einjährigen gemeinsamen Arbeit der Forschungsgruppe „Emotionen als bio-kulturelle Prozesse“ bildete die Liebe immer wieder ein 10 BIRGITT RÖTTGER-RÖSSLER • EVA-MARIA ENGELEN Thema, an dem sich die Diskussionen entzündeten. Dies lag vor allem daran, dass sich bei allen Versuchen Emotionen theoretisch und begrifflich zu fassen, die Liebe als ein Beispiel herausstellte, das quer zu den diskutierten Einteilungen, Definitionen und Kategorisierungen steht. Dies fängt bereits bei der für Emotionsforscher einleuchtenden Frage an, ob Liebe überhaupt eine Emotion ist? Einer gängigen, vor allem in den Naturwissenschaften weitgehend akzeptierten Definition zufolge, sind Emotionen kurzfristige Phänomene, die mit eindeutigen, wahrnehmbaren (und damit messbaren) körperlichen Erregungszuständen einhergehen (wie Herzklopfen, feuchte Hände, Zittern, Schweißausbruch etc.). Bei vielen Emotionen wie Angst, Wut, und Freude ist dies der Fall. Aber mit welchen physiologischen Erscheinungen geht die elterliche Liebe oder die Liebe eines langjährigen Ehepaares einher, wenn wir vom sexuellen Kontext in letzterem Fall einmal absehen? Allenfalls auf die Verliebtheit mit all ihren „Schmetterlingen im Bauch“ scheint das physiologische Kriterium zuzutreffen. Ist somit allein Verliebtheit eine Emotion und lang anhaltende Liebe dagegen lediglich eine affektive Disposition, vor deren Hintergrund sich Emotionen entfalten? Verliebtheit ist durch ein ganzes Bündel körperlicher Symptome wie Unruhe, Herzklopfen, Übererregtheit, Schlaf- und Appetitlosigkeit sowie feuchte Hände gekennzeichnet. Aber ist es allein auf kulturelle Konventionen zurückzuführen, dass all diese physiologischen Prozesse zum Symptomkomplex Verliebtheit zusammengefasst werden oder gibt es eine phylogenetisch begründete biologische Basis für diese Bündelung? Gehört die Fähigkeit, uns zu verlieben sozusagen zu unserem stammesgeschichtlichen Erbe? Stellt sie quasi einen „Trick“ der Natur dar, der Menschen dazu bewegt, Bindungen einzugehen? Reicht hierfür nicht bereits Sexualität aus? Ist Sexualität überhaupt im Phänomenbereich der Liebe zu verorten? Und wenn ja, in welchem Verhältnis steht sie zu Verliebtheit, Liebe, Bindung – und wie wiederum sind diese aufeinander bezogen? Welchen Einfluss nehmen soziale und kulturelle Faktoren auf die Gestalt dieses Verhältnisses? Und wie verändert sich die Beziehung zwischen Sexualität, Verliebtheit, Liebe und Bindung im Verlauf der Zeit? Beruhen langfristige Paarbindungen primär auf der Summe gemeinsam durchlebter Ereignisse und Krisen, zu denen geteilte sexuelle Intimität und erinnerte gemeinsame Verliebtheit hinzukommen? Verwandelt sich die stark körperlich geprägte Verliebtheit im Lauf einer Beziehung zu einer zunehmend „geistigen“ Bindung? Ist Bindung Liebe? Ist Liebe überhaupt ein Gefühl oder besteht sie nicht vielmehr aus einem Netz von Gefühlen, Empfindungen und Einstellungen, die wir alle unter dem Begriff Liebe bündeln? Welche Rolle kommt diesbezüglich gesellschaftlichen, durch kulturelle Traditionen geprägten Überzeugungen und Vorstellungen zu? Inwieweit konturieren diese, was die Mitglieder einer Kultur als EINLEITUNG 11 Liebe ansehen? Und in welchem Maße wird das Erleben und Leben von Liebe durch die individuellen Bindungserfahrungen geprägt, die ein Mensch in seiner Kindheit und Jugend macht? Um diese Fragen drehen sich die in diesem Band vereinten Beiträge, die in ihren Argumenten, Ansätzen und Antworten durchweg aufeinander bezogen sind. Vorgestellt wurden sie zunächst in Form von Vorträgen auf der erwähnten Tagung der Forschungsgruppe. Die sich anschließenden Diskussionen boten Gelegenheit interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten aufzudecken, gemeinsame Forschungsstrategien oder Fragestellungen zu eruieren, aber auch auf blinde Flecke in verschiedenen Untersuchungen hinzuweisen und Einwände zu erheben. Diese Diskussionen sind in die vorliegenden Ausformulierungen zu einem guten Teil eingeflossen. Selbstverständlich lässt sich jedoch nicht jeder disziplinäre Aspekt auf den einer anderen Disziplin beziehen. Wir haben daher vier thematische Schwerpunkte für die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand Liebe gewählt. Der scheinbare Antagonismus zwischen Vernunft und Gefühl, der unser Denken über Emotionen nach wie vor prägt, stellt den ersten Schwerpunkt dar. In den Beiträgen von Eva-Maria Engelen und Birgitt Röttger-Rössler wird aufgezeigt, dass Gefühle als Wissens- oder Evaluationssysteme operieren und Ratio und Emotion nur scheinbar in einem antagonistischen Verhältnis stehen. Es wird weiterhin deutlich, dass Gefühle nicht isoliert auftreten, sondern stets in einem Verweiszusammenhang zueinander stehen und Gefühlslogiken bilden (Engelen). Liebe, so die These, lässt sich ohne Emotionen und Gefühle wie Verlustangst, Hoffnung, Trauer, Sorge, Mitgefühl, Freude, Geborgenheit, Eifersucht oder Einsamkeit nicht nur nicht beschreiben, sondern auch nicht fühlen oder erleben. Liebe ist folglich mehr als ein Gefühl. Den zweiten thematischen Schwerpunkt bildet die Variabilität der Liebeskonzepte, und zwar in kultureller, sozialer und individueller Hinsicht. Welche Emotionen als konstituierende Komponenten der Liebe gelten, ist zunächst einmal das Ergebnis verschiedener kultureller und sozialer, aber auch biografischer und individualpsychologischer Prozesse. Während die Liebeskonzepte verschiedener Kulturen oder sozialer Gruppen in einem funktionalen Zusammenhang mit den jeweils übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen stehen, ist es für die individuellen Liebesvorstellungen bedeutsam, wie der Einzelne im Verlaufe seiner Entwicklung Liebe und Bindung erfährt und in welche gesellschaftlichen Parameter dieser Prozess eingebettet ist. Der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstrukturen, Lebenslauf und Emotionsmodellierung wird jedoch keineswegs nur in den kultur- und sozialwissenschaftlichen (Röttger-Rössler, Jankowiak, Lau, Keddi), sondern auch in den eher naturwissenschaftlich orientierten Beiträgen (Scheiner, 12 BIRGITT RÖTTGER-RÖSSLER • EVA-MARIA ENGELEN Freund/Keil, Erk) thematisiert. Erstere fokussieren hauptsächlich die interund intrakulturellen Unterschiede von Liebeskonzeptionen und deren jeweilige soziale Funktionen ohne jedoch deren biologische Basis aus dem Blick zu verlieren (Röttger-Rössler, Jankowiak), letztere gehen den umgekehrten Weg, d. h. sie richten den Blick von der vermeintlich psycho-biologischen Basis aus auf sozio-kulturelle Einflussfaktoren (Scheiner, Freund/Keil, Hüther, Erk). Hierbei wird auch deutlich, dass Erkenntnisse immer unter bestimmten kulturabhängigen theoretischen Prämissen gewonnen werden, welche sowohl die Hypothesenbildung als auch die Versuchsanordnungen steuern und insofern auch die Naturwissenschaften keine objektiven, kulturfreien Erkenntnisse liefern können (siehe z. B. Scheiner, Hüther). Das dritte Thema, um welches ein Großteil der Aufsätze kreist, betrifft die evolutionäre Funktion der Liebe. Die Frage nach einer solchen Funktion wird in dem vorliegenden Band insbesondere in einigen der naturwissenschaftlichen Beiträge (Scheiner, Freund/Keil, Hüther, Erk) gestellt, zum Teil aber auch in kulturwissenschaftlichen mit bedacht (Röttger-Rössler, Jankowiak). Wenn die menschliche Liebes- und Bindungsfähigkeit als phylogenetisches Erbe fest in der Neurophysiologie des Menschen verankert ist (siehe Walter, Freund/Keil, Hüther), so muss sie einen evolutionären Sinn besitzen. Worin könnte dieser bestehen? Im Überlebensvorteil für den gemeinsam aufzuziehenden Nachwuchs? Im motivierenden Element für Paarungsverhalten? Auf diese Fragen werden in den versammelten Beiträgen facettenreiche Antworten gegeben. Den vierten Schwerpunkt bildet das Verhältnis von Medien und Liebeskonzepten, d. h., die Frage, inwieweit Film und Literatur kulturelle Gefühlsmodelle sowohl vermitteln als auch kreieren. Sowohl in Literatur als auch im Film werden kulturell geprägte Themen und Modelle aufgenommen, verarbeitet und variiert, aber auch geschaffen. Das lässt sich an klassischen Texten von Goethe (Neumann) ebenso zeigen wie am Gegenwartsroman (Kleeberg) oder am Beispiel indischer Bollywoodfilme (Lau). In den meisten, vor allem aber in den heterogenen modernen Gesellschaften stehen differente, häufig stark divergierende Liebesmodelle nebeneinander, die von unterschiedlichen sozialen, ethnischen Gruppierungen und religiösen Gemeinschaften (Jankowiak) geprägt werden oder auch durch Globalisierungsprozesse (Lau) verändert werden. Nachdem die vier Schwerpunkte dieses Bandes kurz skizziert sind und wir auf den ein oder anderen Beitrag bereits hingewiesen haben, möchten wir nun die Arbeiten vor dem Hintergrund der genannten Schwerpunkte noch kurz einzeln zur besseren Orientierung vorstellen.