Die Reportage Das Projekt „Corpus Coranicum“ in Potsdam Der Entstehung des Korantextes auf der Spur An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geschieht Außergewöhnliches. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie Arabisten, Ostkirchenkundler und Semitisten erforschen, wie der Text des Koran überliefert wurde und wie sich der Koran auf Traditionen aus seiner spätantiken Umwelt bezieht. Von Nicolai Sinai und Helga Kaiser M it der ersten tragbaren LeicaKamera zogen der Arabist Gotthelf Bergsträßer (1886–1933) und später sein Münchner Kollege Otto Pretzl (1893–1941) in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren durch die Bibliotheken von Madrid, Paris, Kairo, Konstantinopel, Meknes und Rabat und fotografierten frühe Koranhandschriften, die ältesten vom Ende des 7. Jh. Bergsträßer wollte einen kritischen Apparat des Korantextes erstellen und die verschiedenen Lesarten der muslimischen Koranexegeten erschließen. Dieser systematische Ansatz war neu – und fand damals auch bei muslimischen Gelehrten Anerkennung. Ein Archiv von mehr als 10.000 Fotos entstand. Nach dem Krieg nahm man an, es sei bei den Luftangriffen auf München zerstört worden, doch hatte ein Mitarbeiter die Filmrollen in seine Privatwohnung gebracht. In den 1990er-Jahren wurden die 450 Filmrollen nach Berlin überführt. Bergsträßers akademische Erben sitzen heute in Potsdam, sie bilden das interdisziplinäre Team des Akademievorhabens „Corpus Coranicum“, das von der Berliner Fotografien der ältesten Koranhandschrifen, die der Arabist Gotthelf Bergsträßer in den 1920er-Jahren u. a. in Kairo, Istanbul und Berlin anfertigte. Für das Projekt „Corpus Coranicum“ bilden sie ein wichtiges Fundament. Links eine Manuskriptseite aus Istanbul mit Surentrenner (Istanbul Seray 50386). Professorin für Arabistik Angelika Neuwirth geleitet wird. Mit drei Vollzeitstellen und unterstützt von studentischen Hilfskräften arbeiten die Forscher weiter, wo der Pionier Bergsträßer wegen eines tödlichen Bergunfalls 1933 aufhören musste – und gehen mit ihren drei Zielen über seinen Ansatz hinaus: 1. die mündliche und schriftliche Überlieferung des des Korantextes zu beschreiben, 2. eine Datenbank „Texte aus der Umwelt des Koran“ zu erstellen, die inhaltliche und sprachliche Überschneidungen mit Texten dokumentiert, die den spätantiken Hörern des Koran bekannt waren; außerdem 3. einen historisch-kritischen Kommentar zum Koran zu verfassen. Ein Text aus dem Nichts? Wer aber einen historisch-kritischen Korankommentar erarbeiten will, muss das historische Umfeld des Textes – die spätantike Welt im 7. Jh. – so genau wie möglich erforschen. Der Koran gilt im Islam als wörtliche Gottesrede und als Sammlung der göttlichen Offenbarungen, die der Prophet Muhammad zwischen 610 und 632 nC in den westarabischen Städten Mekka und Medina empfangen und verkündet hat. Nach jahrzehntelangen und äußerst kontroversen Diskussionen geht die heutige Forschung mehrheitlich wieder davon aus, dass dieses traditionelle islamische Szenario der Koranverkündigung zumindest in Grundzügen den historischen Tatsachen entspricht. Aber es wäre falsch, anzunehmen, der Koran sei in einem kulturellen Vakuum entstanden und käme sozusagen aus der Wüste. Schon ein oberflächlicher Blick auf den Vorderen Orient seiner Zeit macht das deutlich: Zu Beginn des 7. Jh. befand sich die arabische Halbinsel an der Peripherie der beiden Großreiche Byzanz und Iran (Sassaniden), die immer wieder kriegerisch aneinandergerieten. An den Grenzen lebten arabische Stämme wie die Ghassaniden und Lachmiden, die teilweise das Christentum angenommen hatten (s. Karte folgende Seite). Sie wurden von den Großmächten zur Sicherung ihrer Grenzen zur arabischen Halbinsel und zum Ausfechten von Stellvertreterkriegen gebraucht. Auch in Südarabien machte sich Das Team des „Corpus Coranicum“ in Potsdam (von links): Tobias J. Jocham, Michael Marx, Veronica Roth, Yousef Kouriyhe, Nicolai Sinai, Firas Krimsti welt und umwelt der bibel 1/2010 3 Die Reportage In Kürze: Corpus Coranicum Das Vorhaben umfasst drei Module: (1) die Dokumentation des Korantextes in seiner handschriftlichen und mündlichen Überlieferungsgestalt, (2) eine Datenbank, die inhaltliche und sprachliche Überschneidungen von Koranstellen mit vorkoranischen Literaturen dokumentiert („Texte aus der Umwelt der Koran“) (3) einen umfassenden historisch-kritischen Kommentar zum Koran, der den Text in seinem historischen Entstehungskontext zu deuten versucht. Das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie seit 2007 angesiedelte Vorhaben wird von Angelika Neuwirth (FU Berlin) geleitet. Wissenschaftliche Mitarbeiter sind die Islamwissenschaftler Michael Marx und Dr. Nicolai Sinai sowie die Semitisten David Kiltz und Yousef Kouriyhe. ein wachsender Einfluss des byzantinischen und sassanidischen Reiches bemerkbar: Der Jemen war zu Beginn des 6. Jh. zunächst vom christlichen und mit den Byzantinern verbündeten Reich von Aksum erobert worden, bevor er 575 an die Sassaniden fiel. Westarabien, wo der Koran entstand, stand im 7. Jh. deutlich im Einzugsbereich der spätantiken Hegemonialmächte. Außerdem existierten im Umfeld der Koranentstehung viele unterschiedliche Sprachen und religiöse Gruppierungen. Als sich das Konzil von Chalkedon 451 zur Lehre von einer menschlichen und einer göttlichen Natur Christi bekannte, bildete sich eine eigenständige monophysitische Kirche auf byzantinischem Gebiet. Diese nutzte – wie die Kirche im iranischen Sassanidenreich – in ihren Schriften den aramäischen Dialekt von Edessa, das „Syrisch-Aramäische“, von dem sich zahlreiche religiöse Termini des Koran ableiten lassen (etwa das heute noch verwendete arabische Wort für „Gebet“, ṣalāt). Die monophysitische Kirche in Äthiopien besaß ihre eigene Schriftspra- che, das Ge’ez, dem beispielsweise das koranische Wort für „Apostel“ entstammt. In Medina schließlich, wohin sich Muhammad mit seinen Anhängern aufgrund der Ablehnung seiner Verkündigungen in Mekka im Jahre 622 zurückziehen musste, gab es der islamischen Tradition zufolge zahlreiche jüdische Einwohner. Hörer mit Vorwissen Dass im vorislamischen Arabien christliche und jüdische Vorstellungen und Begriffe geläufig waren, belegt auch der Koran selbst. Eine frühe Sure etwa begründet Gottes Allmacht mit der folgenden rhetorischen Frage (85:17f): „Ist nicht die Geschichte von den Heerscharen zu dir gekommen, von Pharao und von den Thamud?“ Hier wird offenbar für die Hörer als bekannt vorausgesetzt, was es mit dem Schicksal des Pharaohs und der Thamud – einem altarabischen Stamm, der durch ein göttliches Strafgericht ausgelöscht worden sein soll – auf sich hat. Die Anspielung auf die Thamud zeigt übrigens, dass sich im Koran keineswegs allein biblische Traditionen spiegeln: Auf der arabischen Halbinsel hatte sich in den Jahrhunderten vor der Entstehung des Islam eine eigenständige Dichtungstradition herausgebildet, in der das heroische Kriegerideal des Beduinentums seinen Ausdruck fand und von der sich der Koran einerseits polemisch absetzt, die er aber andererseits literarisch zu überbieten versucht. Der Vordere Orient im 6.–7. Jh. vor der Entstehung des ersten islamischen Staatswesens Rot: Reich der persischen Sassaniden und verbündeter Mächte (Lachmiden, Avaren) Blau: Römisch-Byzantinisches Reich Das Hellgrün der arabischen Halbinsel kennzeichnet Stämme, Reiche und Völker – teilweise christlichen, teilweise jüdischen, teilweise altarabischen Glaubens –, die mit Byzanz verbündet oder befreundet waren (Reich von Aksum, Südarabisches Reich unter Abraha, Nubische Königreiche, Ghassaniden, Kinda) 4 welt und umwelt der bibel 1/2010 Wer hat den Koran verfasst? Eine besondere Schwierigkeit der Koraninterpretation besteht darin, dass der Koran selbst fast keine Informationen darüber enthält, wer die Einzeltexte wo und bei welcher Gelegenheit verkündet hat. Zwar sind viele Korantexte als Gottesrede formuliert und an vier Stellen wird sogar gesagt, dass der Verkünder „Muhammad“ heißt. Weitere Informationen über Leben und Wirkungsumfeld des Verkünders fehlen jedoch. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Anfang von Sure 96, der in der klassischen islamischen Koranexegese häufig als die erste an Muhammad ergangene Offenbarung bezeichnet wird: „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! 1 Verlies im Namen deines Herrn, der erschafft, 2 der den Menschen aus einem Klumpen erschafft! 3 Verlies! Dein Herr ist der Großmütige ...“ Der Passage selbst ist nichts über die Umstände zu entnehmen, unter denen sie erstmals vorgetragen worden ist. Dennoch wird in der späteren islamischen Literatur ausführlich geschildert, wie Muhammad sich vor Beginn der koranischen Offenbarungen zu religiösen Meditationen in eine einsame Berghöhle zurückzuziehen pflegte. Eines Nachts sei ihm der Erzengel Gabriel erschienen, der ihm das obige Textstück übermittelt habe. Die Erzählungen über die Offenbarung einzelner Koranpassagen sowie über Muhammads Leben und Wirken sind also nicht Teil des Koran selbst, sondern finden sich in islamischer „Sekundärliteratur“. Diese Sekundärliteratur besteht aus umfangreichen Sammelwerken zur Koranexegese und zur Muhammad-Biografie, die erst im späten 8. und frühen 9. Jh. niedergeschrieben wurden. Zwar lassen sich mit philologischen Analyseverfahren häufig frühere mündliche Versionen einzelner Überlieferungen he- rausarbeiten, doch solllte man sich nicht allzusehr auf die hagiografisch geprägten Erzählungen verlassen. Historisch-kritische Zugänge zum Koran Die historisch-kritische Koranforschung ist deshalb auf alternative Zugangsweisen verwiesen. Sie muss die Charakteristika des Korantextes präzise philologisch und literaturwissenschaftlich analysieren. So versuchte der deutsche Forscher Theodor Nöldeke (1836–1930), die grundlegende Frage nach der zeitlichen Reihenfolge, in der die einzelnen koranischen Textstücke verkündet worden sind, auf der Grundlage von Stil, Verslänge und Terminologie zu beantworten, anstatt sich auf die häufig widersprüchlichen Angaben der späteren islamischen Literatur zu verlassen. Für eine Rekonstruktion des religiösen Milieus des Koran ist die Forschung vor allem auf die Ein Beispiel für die intertextuelle Auslegung: Maria als „Schwester Aarons“ im Koran Maria (arab. Maryam), die Mutter Jesu, wird im Koran als „Schwester Aarons“ (Sure 19:28) oder „Tochter Imrams“, des Vaters von Mose und Aaron (Sure 3:30ff ), bezeichnet. Von westlichen Forschern wurde dies häufig als Missverständnis Muhammads aufgefasst: Er habe Maria mit Miriam, der Schwester von Mose und Aaron verwechselt. Wenn man frühchristliche apokryphe Texte oder syrische Liturgien heranzieht, wie es das Corpus Coranicum mit seinem intertextuellen Ansatz unternimmt, wird deutlich, dass sich eine eigene theologische Aussageabsicht dahinter verbirgt. • Maria war Gegenstand der theologischen Debatte zwischen jüdisch und christlich geprägten Hörern der koranischen Verkündigung. Sie erhalten eine Auskunft über die genealogische Herkunft des Propheten. In der Bibel werden verschiedene Stammbäume für Jesus gebildet, was die jüdische Tradition, welche die genealogische Her- kunft der Propheten (nebi’im) ausschließlich auf Abraham zurückführt, in gewisser Weise konterkariert. Ein Traditionsstrang im Gefolge von Lukasevangelium und apokryphem Jakobusevangelium verbindet Jesus über Maria mit dem jüdischen Tempel und dem Priestergeschlecht des Aaron: Im Lukasevangelium ist Maria wie ihre Cousine Elisabet „aus dem Stamm Aarons“ mit dem Tempel verbunden. Nach dem Jakobusevangelium wird die dreijährige Maria dem Tempel geweiht und wächst dort auf – sie wird also als „Priesterin“ gezeigt, auch wenn sie das Priesteramt als Frau nie hätte übernehmen können. Maria wird noch heute in der syrischorthodoxen Liturgie allegorisch als Tempel gedeutet, dessen Tore verschlossen sind, bis der Messias Jesus kommt und sie öffnet. • Damit stand Maria christlicherseits dafür, dass die Kirche als Neuer Bund das Symbol der jüdischen Glaubenspraxis – den jüdischen Tempel – überwindet. • Der Koran spiegelt diese frühchristliche Tradition, die offenbar auch in der ersten islamischen Gemeinde bekannt war, wenn er in Sure 19 und 3 schildert, dass Maria, der Tempelpriester Zacharias und dessen Sohn Johannes der Täufer das Bindeglied zwischen jüdischem Opferkult und christlichem Neuen Bund darstellen. • Diese große Allegorie Marias als neuem Tempel klingt in der koranischen Bezeichnung Marias als „Schwester Aarons“ (Sure 19,28) an. Sie erscheint als Argument oder Beispielerzählung für jüdische und christliche Adressaten: Muhammad, der Prophet, benötigt nicht zwangsläufig einen Stammbaum, der sich auf Abraham zurückführt, um seine Rechtmäßigkeit zu belegen. Denn auch Jesus war „nur“ über Maria mit dem Priestergeschlecht verbunden. Maria verliert im Koran allerdings ihre allegorische und ekklesiologische Symbolik. (Helga Kaiser/Michael Marx) welt und umwelt der bibel 1/2010 5 Die Reportage „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“ erinnert frappierend an „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ Suche nach Überschneidungen einzelner Koranstellen mit Passagen aus der biblischen und nachbiblischen, aber auch der altarabischen Literatur angewiesen. Insbesondere die klassische Orientalistik des 19. und frühen 20. Jh. hat eine große Menge solcher Bezüge zusammengetragen. Allerdings beschrieb sie dieses Phänomen in der Regel als bloße „Übernahme“ oder aber als „Missverständnisse“ des als Verfasser des Koran gedachten Muhammad. In Wahrheit stellt der Koran keinesfalls eine Blaupause vorangehender Traditionen dar: Der Koran setzt diese zwar als kulturelles Hintergrundwissen der Hörer voraus, im Einzelnen gestaltet er sie aber erheblich um, deutet sie aus oder weist sie kritisch zurück. Besonders anschaulich lässt sich dieses aus Kontinuität und Innovation an der Formel „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“ illustrieren, der sogenannten Basmala, die mit einer Ausnahme vor jeder Koransure steht. Ihre Struktur mit dem einleitenden „Im Namen ...“ Ein Gespräch mit dem Leiter der Arbeitsstelle, Michael Marx Herr Marx, was ist das Neue am „Corpus Coranicum“? Hellenistisch-römisches Fresko aus Qaryat al-Faw (Zentralarabien), das den reichen Ausgrabungsfunden zufolge in der Spätantike ein kulturelles Zentrum war. und drei darauf folgenden Nomina erinnert frappierend an die christliche Formel „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, die auf den Taufbefehl aus Matthäus 28,9 zurückgeht. Bei aller Ähnlichkeit fällt jedoch ein wichtiger Unterschied in der theologischen Aussage auf: Während die christliche Formel die drei Personen der Dreifaltigkeit nennt – Vater, Sohn, Heiliger Geist –, stehen in der koranischen Basmala zwei Gottesnamen und ein Attribut, die allesamt auf ein und dieselbe göttliche Person Bezug nehmen. Offenbar fungiert also gerade die Ähnlichkeit zwischen Basmala und neutestamentlicher Taufformel als Hintergrund für eine nachdrückliche inhaltliche Absetzung: Die Ähnlichkeit lenkt den Blick erst auf die Differenz. Das bedeutet aber auch: Der Korantext kalkuliert ein, dass seine Hörer inhaltliche und begriffliche Bezüge zur jüdisch-christlichen Tradition bemerken werden. Es ist also ganz offensichtlich nicht so, dass der Koran einfach frühere Texte kopiert und hofft, dabei von seinem Publikum nicht ertappt zu werden; vielmehr handelt es sich bei solchen Intertexten in der Regel um bewusste Anspielungen, die von den Hörern als solche identifiziert werden sollen und mit beträchtlichen Verschiebungen in der theologischen Aussage verbunden sind. ■ Omar-Moschee in Dumat al-Dschandal (Westarabien), deren Grundmauern aus der Zeit des Kalifen Omar (634-644) stammen sollen. Die Stadt war im 6. Jh. ein wichtiges Zentrum des mit Byzanz verbündeten Stammesverbands der Kinda. 6 welt und umwelt der bibel 1/2010 „Unser Projekt bewegt sich zwischen den (Lehr-)Stühlen“ Unser Projekt bewegt sich ein wenig zwischen den Stühlen, besonders zwischen den akademischen Lehrstühlen: Judaistik, Semitistik, Kunstgeschichte, Alte und Mittelalterliche Geschichte, Arabistik, Islamwissenschaft, Ostkirchenkunde, Kirchengeschichte, Archäologie – für alle diese Disziplinen stellt der Islam etwas ganz Neues dar, wie ja auch für die Muslime, die mit Muhammad eine neue Zeit beginnen lassen und die vorislamische Geschichte gar nicht zählen. Die Epochengrenze des 7. Jh. zwischen Spätantike und Mittelalter wird massiv in die Geschichtsschreibung eingetragen. Man hat nur selten auf Berührungspunkte mit den jüdischen und christlichen Texten in der Umwelt hingewiesen, dem Talmud etwa oder Texten aus der syrischchristlichen Liturgie, die in der gleichen Epoche und in der gleichen Region gelesen wurden. Die Archäologie dokumentiert auf der arabischen Halbinsel arabische und jüdische Inschriften, Kirchenfunde, römische Gräber und Grabsteine – all das ist für das Studium der Umwelt des Koran ganz wichtig und wurde bislang nicht systematisch ausgewertet. Die genannten akademischen Disziplinen bieten wichtige Erkenntnisse für uns, doch sind sie vollkommen disparat verteilt. Wir möchten versuchen, diese Bereiche im Rahmen unserer Möglichkeiten zusammenzubringen. So sind wir beispielsweise froh darüber, zwei Spezialisten für Ostkirchenkunde und syrische Literatur der östlichen Christenheit im Team zu haben, die zugleich aber auch vom Koran sehr viel verstehen. Welt in Kontakt stand. Wir betrachten den Koran als einen Kommunikationstext, bei dem uns der Prophet bzw. der Verkünder weniger interessiert als die angesprochenen Zuhörer. Wie stellen wir uns aufgrund der syrischen, hebräischen, arabischen Texte die frühe Gemeinde um den Propheten vor? Diese Menschen, eingebettet in einen arabischen Kontext der Halbinsel, waren in jüdischen, christlichen, arabischen, griechisch-römischen oder persischen Traditionen zuhause oder zumindest mit diesen vertraut. Über das Studium der Texte aus der Umwelt des Koran können wir uns vorstellen, welche Streitfragen und theologischen Probleme im Korantext aufgegriffen und verhandelt werden. Wir kommen dem auf die Spur, wie der Koran eine neue Theologie in Arabien schafft, aufbauend auf dem Wissen seiner Zuhörer und vor dem Hintergrund der vorangegangenen Religionsgeschichte im Nahen Osten. Wie waren die Reaktionen bei muslimischen Korangelehrten? Haben Sie Ablehnung erlebt? Eher nicht. Mitarbeiter des Vorhabens hatten in den letzten zweieinhalb Jahren Gelegenheit, in arabischen und islamischen Ländern – z. B. in Marokko, Syrien, Türkei, Iran, Ägypten – arbeiten zu können und Themen unseres Vorhabens vorzustellen. Auf eine gewisse Skepsis und Verwunderung stößt man sicher: Die Leute finden unsere Arbeit interessant, sind aber auch reserviert. Im Frühjahr 2009 war eine Universitätsdelegation bei uns zu Besuch, deren erste Frage war: Wie kann es sein, dass sich eine nichtmuslimische Institution mit dem Koran beschäftigt? In Marokko fragte ich nach einem sehr kritischen Kommentar eines Zuhörers: Sollte ich mich als Nichtmuslim nicht mit dem Korantext beschäftigen? Und wenn ich nun als Katholik neugierig auf den Koran geworden bin, soll ich diese Neugier dann lassen? Beides beantwortete mein Gesprächspartner mit Nein. So hat der Austausch nach Vorträgen und auf Kongressen in dem begrenzten Rahmen unserer bisherigen Erfahrungen bisher nie feindlich geendet, sondern er hat eine Diskussion ermöglicht – die eine interessante Asymmetrie an den Tag gebracht hat. Das klingt innovativ. Der Koran kommt ja nicht in eine menschenleere Landschaft, sondern in eine Kulturlandschaft der arabischen Halbinsel, die mit der damals schon globalisierten Was meinen Sie damit? Für Leute in Ägypten oder auch im Iran ist es schwierig zu verstehen, was das Studium der ältesten Koranhandschriften für uns be- Im Gespräch: Michael Marx (links) mit iranischen Intellektuellen, vorn im Bild Dr. Mustafawi (Iranische Kulturorganisation Teheran). deutet. Bei einem Gespräch 2007 in Qom (Iran) wurde die Frage gestellt, was es denn bringen würde, Handschriften auszuwerten, da dort doch oftmals Fehler enthalten seien. Die mündliche Überlieferung des Textes sei das Wahre! Die Skepsis den geschriebenen Texten gegenüber hat mir vor Augen geführt, dass die mündliche Überlieferung noch immer der privilegierte Überlieferungsweg ist. Was die Arbeit an den Handschriften des Koran angeht, ist die westliche Orientalistik sicherlich weiter entwickelt. Bei der mündlichen Überlieferung des Textes aber haben Muslime schon 1400 Jahre Gelehrsamkeit hinter sich und gehen durchaus kritisch mit dem Text um: Ab dem 4. muslimischen Jahrhundert, dem 10. Jh. nC, gibt es einen ersten festen Kanon unterschiedlicher Lesarten und der Koran wird in geografisch unterschiedlichen Textvarianten festgehalten. Seit tausend Jahren lebt die kritische Diskussion darüber, welche der verschiedenen kanonischen und außerkanonischen Lesarten zu einem Vers bei der Exegese verwendet werden sollen. Das erinnert uns in der Ferne eher an ein Textmodell der postmodernen Zeit als an eine protestantische, verbalinspirierte Eintext-Variante. Diese Mündlichkeit in ihrer Vielstimmigkeit ist sehr bemerkenswert. Wir als Forscher müssen mit den heutigen Traditionsträgern in Kontakt treten, besonders wenn man wie die meisten Orientalisten – auch ich – sich erst spät, nämlich im Studium, mit Sprache und Texten dieser Welt vertraut macht. Verändert sich Ihr Koranverständnis durch die integrale Arbeit? Es ist grundfalsch, anzunehmen, der Koran greife einfach etwas auf und setze alte Bestandteile zu einem neuen Mosaik zusammen. Der Koran sagt Neues in Bezugnahme auf bereits bekannte Gedanken, religiöse Überzeugungen und Traditionen, die offenbar den angesprochenen Zuhörern des Verkündigers bekannt waren. Dennoch gab es in der Forschung des 19. und 20. Jh. die Vorstellung, dass der Korantext im Grunde nichts Neues biete. Es gibt zahlreiche Studien darüber, welche Koranstelle welche Stücke aus Quelle X und Y enthält. Daran fühlen sich Muslime unangenehm erinnert, wenn wir von Intertextualität sprechen und von der Umwelt des Koran. Sie befürchten, es könnte das gleiche Ziel dahinterstehen. Dazu kommt das Problem, dass syrisch-liturgische Texte, altarabische Dichtung und jüdische Literatur in den Kreisen islamischer Gelehrter nicht so bekannt sind, so ist es schwierig, darüber zu diskutieren. In Qom jedoch, wo ich einen Vortrag über das apokryphe Vogelwunder Christi und seine Beziehung zum Koran gehalten habe, wurde mir die Frage gestellt, welche Edition des griechischen Textes wir verwendeten. Dort kannten sich die Gelehrten besser mit Kirchengeschichte aus, als wir oftmals glauben. (Interview: Helga Kaiser) Michael Marx ist Islamwissenschaftler und leitet die Arbeitsstelle „Corpus Coranicum“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. welt und umwelt der bibel 1/2010 7