Der Entstehung des Korantextes auf der Spur

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Die Reportage
Das Projekt „Corpus Coranicum“ in Potsdam
Der Entstehung des
Korantextes auf der Spur
An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geschieht
Außergewöhnliches. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie Arabisten, Ostkirchenkundler und Semitisten erforschen, wie der Text des Koran
überliefert wurde und wie sich der Koran auf Traditionen aus seiner spätantiken Umwelt bezieht. Von Nicolai Sinai und Helga Kaiser
M
it der ersten tragbaren LeicaKamera zogen der Arabist Gotthelf Bergsträßer (1886–1933)
und später sein Münchner Kollege Otto Pretzl (1893–1941) in den späten
1920er- und frühen 1930er-Jahren durch die
Bibliotheken von Madrid, Paris, Kairo,
Konstantinopel, Meknes und Rabat und fotografierten frühe Koranhandschriften, die
ältesten vom Ende des 7. Jh. Bergsträßer
wollte einen kritischen Apparat des Korantextes erstellen und die verschiedenen Lesarten der muslimischen Koranexegeten erschließen. Dieser systematische Ansatz
war neu – und fand damals auch bei muslimischen Gelehrten Anerkennung. Ein Archiv von mehr als 10.000 Fotos entstand.
Nach dem Krieg nahm man an, es sei bei
den Luftangriffen auf München zerstört
worden, doch hatte ein Mitarbeiter die
Filmrollen in seine Privatwohnung gebracht. In den 1990er-Jahren wurden die
450 Filmrollen nach Berlin überführt.
Bergsträßers akademische Erben sitzen
heute in Potsdam, sie bilden das interdisziplinäre Team des Akademievorhabens
„Corpus Coranicum“, das von der Berliner
Fotografien der ältesten Koranhandschrifen, die der Arabist Gotthelf Bergsträßer in den 1920er-Jahren u. a. in Kairo,
Istanbul und Berlin anfertigte. Für das Projekt „Corpus Coranicum“ bilden sie ein
wichtiges Fundament. Links eine Manuskriptseite aus Istanbul mit Surentrenner
(Istanbul Seray 50386).
Professorin für Arabistik Angelika Neuwirth geleitet wird. Mit drei Vollzeitstellen
und unterstützt von studentischen Hilfskräften arbeiten die Forscher weiter, wo der
Pionier Bergsträßer wegen eines tödlichen
Bergunfalls 1933 aufhören musste – und
gehen mit ihren drei Zielen über seinen Ansatz hinaus: 1. die mündliche und schriftliche Überlieferung des des Korantextes zu
beschreiben, 2. eine Datenbank „Texte aus
der Umwelt des Koran“ zu erstellen, die inhaltliche und sprachliche Überschneidungen mit Texten dokumentiert, die den spätantiken Hörern des Koran bekannt waren;
außerdem 3. einen historisch-kritischen
Kommentar zum Koran zu verfassen.
Ein Text aus dem Nichts?
Wer aber einen historisch-kritischen Korankommentar erarbeiten will, muss das
historische Umfeld des Textes – die spätantike Welt im 7. Jh. – so genau wie möglich erforschen. Der Koran gilt im Islam als
wörtliche Gottesrede und als Sammlung
der göttlichen Offenbarungen, die der Prophet Muhammad zwischen 610 und 632 nC
in den westarabischen Städten Mekka und
Medina empfangen und verkündet hat.
Nach jahrzehntelangen und äußerst kontroversen Diskussionen geht die heutige
Forschung mehrheitlich wieder davon
aus, dass dieses traditionelle islamische
Szenario der Koranverkündigung zumindest in Grundzügen den historischen Tatsachen entspricht.
Aber es wäre falsch, anzunehmen, der
Koran sei in einem kulturellen Vakuum
entstanden und käme sozusagen aus der
Wüste. Schon ein oberflächlicher Blick auf
den Vorderen Orient seiner Zeit macht das
deutlich: Zu Beginn des 7. Jh. befand sich
die arabische Halbinsel an der Peripherie
der beiden Großreiche Byzanz und Iran
(Sassaniden), die immer wieder kriegerisch aneinandergerieten. An den Grenzen
lebten arabische Stämme wie die Ghassaniden und Lachmiden, die teilweise das
Christentum angenommen hatten (s. Karte folgende Seite). Sie wurden von den
Großmächten zur Sicherung ihrer Grenzen
zur arabischen Halbinsel und zum Ausfechten von Stellvertreterkriegen gebraucht. Auch in Südarabien machte sich
Das Team des „Corpus Coranicum“
in Potsdam (von links): Tobias J. Jocham,
Michael Marx, Veronica Roth, Yousef
Kouriyhe, Nicolai Sinai, Firas Krimsti
welt und umwelt der bibel 1/2010
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Die Reportage
In Kürze: Corpus Coranicum
Das Vorhaben umfasst drei Module:
(1) die Dokumentation des Korantextes in
seiner handschriftlichen und mündlichen
Überlieferungsgestalt,
(2) eine Datenbank, die inhaltliche und
sprachliche Überschneidungen von Koranstellen mit vorkoranischen Literaturen dokumentiert („Texte aus der Umwelt der Koran“)
(3) einen umfassenden historisch-kritischen
Kommentar zum Koran, der den Text in
seinem historischen Entstehungskontext
zu deuten versucht.
Das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie seit 2007 angesiedelte Vorhaben wird von
Angelika Neuwirth (FU Berlin) geleitet.
Wissenschaftliche Mitarbeiter sind die Islamwissenschaftler Michael Marx und Dr. Nicolai
Sinai sowie die Semitisten David Kiltz und
Yousef Kouriyhe.
ein wachsender Einfluss des byzantinischen und sassanidischen Reiches bemerkbar: Der Jemen war zu Beginn des 6.
Jh. zunächst vom christlichen und mit den
Byzantinern verbündeten Reich von Aksum erobert worden, bevor er 575 an die
Sassaniden fiel. Westarabien, wo der Koran entstand, stand im 7. Jh. deutlich im
Einzugsbereich der spätantiken Hegemonialmächte.
Außerdem existierten im Umfeld der Koranentstehung viele unterschiedliche
Sprachen und religiöse Gruppierungen.
Als sich das Konzil von Chalkedon 451 zur
Lehre von einer menschlichen und einer
göttlichen Natur Christi bekannte, bildete
sich eine eigenständige monophysitische
Kirche auf byzantinischem Gebiet. Diese
nutzte – wie die Kirche im iranischen Sassanidenreich – in ihren Schriften den aramäischen Dialekt
von Edessa, das
„Syrisch-Aramäische“, von dem
sich zahlreiche religiöse Termini
des Koran ableiten lassen (etwa
das heute noch
verwendete arabische Wort für „Gebet“, ṣalāt). Die
monophysitische
Kirche in Äthiopien besaß ihre eigene Schriftspra-
che, das Ge’ez, dem beispielsweise das koranische Wort für „Apostel“ entstammt. In
Medina schließlich, wohin sich Muhammad mit seinen Anhängern aufgrund der
Ablehnung seiner Verkündigungen in Mekka im Jahre 622 zurückziehen musste, gab
es der islamischen Tradition zufolge zahlreiche jüdische Einwohner.
Hörer mit Vorwissen
Dass im vorislamischen Arabien christliche und jüdische Vorstellungen und Begriffe geläufig waren, belegt auch der Koran selbst. Eine frühe Sure etwa begründet
Gottes Allmacht mit der folgenden rhetorischen Frage (85:17f): „Ist nicht die Geschichte von den Heerscharen zu dir gekommen, von Pharao und von den Thamud?“ Hier wird offenbar für die Hörer als
bekannt vorausgesetzt, was es mit dem
Schicksal des Pharaohs und der Thamud –
einem altarabischen Stamm, der durch ein
göttliches Strafgericht ausgelöscht worden
sein soll – auf sich hat. Die Anspielung auf
die Thamud zeigt übrigens, dass sich im
Koran keineswegs allein biblische Traditionen spiegeln: Auf der arabischen Halbinsel hatte sich in den Jahrhunderten vor
der Entstehung des Islam eine eigenständige Dichtungstradition herausgebildet, in
der das heroische Kriegerideal des Beduinentums seinen Ausdruck fand und von
der sich der Koran einerseits polemisch absetzt, die er aber andererseits literarisch zu
überbieten versucht.
Der Vordere Orient im 6.–7. Jh. vor der Entstehung
des ersten islamischen Staatswesens
Rot: Reich der persischen Sassaniden und verbündeter Mächte
(Lachmiden, Avaren)
Blau: Römisch-Byzantinisches Reich
Das Hellgrün der arabischen Halbinsel kennzeichnet Stämme,
Reiche und Völker – teilweise christlichen, teilweise jüdischen,
teilweise altarabischen Glaubens –, die mit Byzanz verbündet
oder befreundet waren (Reich von Aksum, Südarabisches Reich
unter Abraha, Nubische Königreiche, Ghassaniden, Kinda)
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welt und umwelt der bibel 1/2010
Wer hat den Koran verfasst?
Eine besondere Schwierigkeit der Koraninterpretation besteht darin, dass der Koran selbst fast keine Informationen darüber enthält, wer die Einzeltexte wo und bei
welcher Gelegenheit verkündet hat. Zwar
sind viele Korantexte als Gottesrede formuliert und an vier Stellen wird sogar gesagt, dass der Verkünder „Muhammad“
heißt. Weitere Informationen über Leben
und Wirkungsumfeld des Verkünders fehlen jedoch. Ein gutes Beispiel hierfür ist der
Anfang von Sure 96, der in der klassischen
islamischen Koranexegese häufig als die
erste an Muhammad ergangene Offenbarung bezeichnet wird:
„Im Namen Gottes, des barmherzigen
Erbarmers!
1 Verlies im Namen deines Herrn, der erschafft, 2 der den Menschen aus einem
Klumpen erschafft! 3 Verlies! Dein Herr ist
der Großmütige ...“
Der Passage selbst ist nichts über die
Umstände zu entnehmen, unter denen sie
erstmals vorgetragen worden ist. Dennoch
wird in der späteren islamischen Literatur
ausführlich geschildert, wie Muhammad
sich vor Beginn der koranischen Offenbarungen zu religiösen Meditationen in eine
einsame Berghöhle zurückzuziehen pflegte. Eines Nachts sei ihm der Erzengel Gabriel erschienen, der ihm das obige Textstück übermittelt habe. Die Erzählungen
über die Offenbarung einzelner Koranpassagen sowie über Muhammads Leben und
Wirken sind also nicht Teil des Koran
selbst, sondern finden sich in islamischer
„Sekundärliteratur“. Diese Sekundärliteratur besteht aus umfangreichen Sammelwerken zur Koranexegese und zur Muhammad-Biografie, die erst im späten 8. und
frühen 9. Jh. niedergeschrieben wurden.
Zwar lassen sich mit philologischen Analyseverfahren häufig frühere mündliche
Versionen einzelner Überlieferungen he-
rausarbeiten, doch solllte man sich nicht
allzusehr auf die hagiografisch geprägten
Erzählungen verlassen.
Historisch-kritische Zugänge
zum Koran
Die historisch-kritische Koranforschung ist
deshalb auf alternative Zugangsweisen verwiesen. Sie muss die Charakteristika des
Korantextes präzise philologisch und literaturwissenschaftlich analysieren. So versuchte der deutsche Forscher Theodor Nöldeke (1836–1930), die grundlegende Frage
nach der zeitlichen Reihenfolge, in der die
einzelnen koranischen Textstücke verkündet worden sind, auf der Grundlage von
Stil, Verslänge und Terminologie zu beantworten, anstatt sich auf die häufig widersprüchlichen Angaben der späteren islamischen Literatur zu verlassen. Für eine
Rekonstruktion des religiösen Milieus des
Koran ist die Forschung vor allem auf die
Ein Beispiel für die intertextuelle Auslegung: Maria als „Schwester Aarons“ im Koran
Maria (arab. Maryam), die Mutter Jesu,
wird im Koran als „Schwester Aarons“
(Sure 19:28) oder „Tochter Imrams“, des
Vaters von Mose und Aaron (Sure 3:30ff ),
bezeichnet. Von westlichen Forschern
wurde dies häufig als Missverständnis
Muhammads aufgefasst: Er habe Maria mit
Miriam, der Schwester von Mose und Aaron
verwechselt. Wenn man frühchristliche apokryphe Texte oder syrische Liturgien heranzieht, wie es das Corpus Coranicum mit
seinem intertextuellen Ansatz unternimmt,
wird deutlich, dass sich eine eigene theologische Aussageabsicht dahinter verbirgt.
• Maria war Gegenstand der theologischen
Debatte zwischen jüdisch und christlich
geprägten Hörern der koranischen Verkündigung. Sie erhalten eine Auskunft über
die genealogische Herkunft des Propheten.
In der Bibel werden verschiedene Stammbäume für Jesus gebildet, was die jüdische
Tradition, welche die genealogische Her-
kunft der Propheten (nebi’im) ausschließlich
auf Abraham zurückführt, in gewisser Weise
konterkariert. Ein Traditionsstrang im Gefolge
von Lukasevangelium und apokryphem
Jakobusevangelium verbindet Jesus über
Maria mit dem jüdischen Tempel und dem
Priestergeschlecht des Aaron: Im Lukasevangelium ist Maria wie ihre Cousine Elisabet
„aus dem Stamm Aarons“ mit dem Tempel
verbunden. Nach dem Jakobusevangelium
wird die dreijährige Maria dem Tempel geweiht und wächst dort auf – sie wird also
als „Priesterin“ gezeigt, auch wenn sie das
Priesteramt als Frau nie hätte übernehmen
können. Maria wird noch heute in der syrischorthodoxen Liturgie allegorisch als Tempel
gedeutet, dessen Tore verschlossen sind,
bis der Messias Jesus kommt und sie öffnet.
• Damit stand Maria christlicherseits dafür,
dass die Kirche als Neuer Bund das Symbol
der jüdischen Glaubenspraxis – den jüdischen Tempel – überwindet.
• Der Koran spiegelt diese frühchristliche
Tradition, die offenbar auch in der ersten
islamischen Gemeinde bekannt war, wenn
er in Sure 19 und 3 schildert, dass Maria,
der Tempelpriester Zacharias und dessen
Sohn Johannes der Täufer das Bindeglied
zwischen jüdischem Opferkult und christlichem Neuen Bund darstellen.
• Diese große Allegorie Marias als neuem
Tempel klingt in der koranischen Bezeichnung Marias als „Schwester Aarons“ (Sure
19,28) an. Sie erscheint als Argument oder
Beispielerzählung für jüdische und christliche Adressaten: Muhammad, der Prophet,
benötigt nicht zwangsläufig einen Stammbaum, der sich auf Abraham zurückführt,
um seine Rechtmäßigkeit zu belegen. Denn
auch Jesus war „nur“ über Maria mit dem
Priestergeschlecht verbunden. Maria verliert im Koran allerdings ihre allegorische
und ekklesiologische Symbolik.
(Helga Kaiser/Michael Marx)
welt und umwelt der bibel 1/2010
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Die Reportage
„Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“ erinnert
frappierend an „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes“
Suche nach Überschneidungen einzelner
Koranstellen mit Passagen aus der biblischen und nachbiblischen, aber auch der
altarabischen Literatur angewiesen. Insbesondere die klassische Orientalistik des
19. und frühen 20. Jh. hat eine große Menge solcher Bezüge zusammengetragen.
Allerdings beschrieb sie dieses Phänomen
in der Regel als bloße „Übernahme“ oder
aber als „Missverständnisse“ des als Verfasser des Koran gedachten Muhammad.
In Wahrheit stellt der Koran keinesfalls eine Blaupause vorangehender Traditionen
dar: Der Koran setzt diese zwar als kulturelles Hintergrundwissen der Hörer voraus, im Einzelnen gestaltet er sie aber erheblich um, deutet sie aus oder weist sie
kritisch zurück.
Besonders anschaulich lässt sich dieses aus Kontinuität und Innovation an der
Formel „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“ illustrieren, der sogenannten Basmala, die mit einer Ausnahme vor jeder Koransure steht. Ihre Struktur mit dem einleitenden „Im Namen ...“
Ein Gespräch mit dem Leiter
der Arbeitsstelle, Michael Marx
Herr Marx, was ist das Neue
am „Corpus Coranicum“?
Hellenistisch-römisches Fresko aus
Qaryat al-Faw (Zentralarabien), das den
reichen Ausgrabungsfunden zufolge in der
Spätantike ein kulturelles Zentrum war.
und drei darauf folgenden Nomina erinnert frappierend an die christliche Formel
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes“, die auf den Taufbefehl
aus Matthäus 28,9 zurückgeht. Bei aller
Ähnlichkeit fällt jedoch ein wichtiger Unterschied in der theologischen Aussage
auf: Während die christliche Formel die
drei Personen der Dreifaltigkeit nennt –
Vater, Sohn, Heiliger Geist –, stehen in der
koranischen Basmala zwei Gottesnamen
und ein Attribut, die allesamt auf ein und
dieselbe göttliche Person Bezug nehmen.
Offenbar fungiert also gerade die Ähnlichkeit zwischen Basmala und neutestamentlicher Taufformel als Hintergrund
für eine nachdrückliche inhaltliche Absetzung: Die Ähnlichkeit lenkt den Blick
erst auf die Differenz. Das bedeutet aber
auch: Der Korantext kalkuliert ein, dass
seine Hörer inhaltliche und begriffliche
Bezüge zur jüdisch-christlichen Tradition
bemerken werden. Es ist also ganz offensichtlich nicht so, dass der Koran einfach
frühere Texte kopiert und hofft, dabei von
seinem Publikum nicht ertappt zu werden; vielmehr handelt es sich bei solchen
Intertexten in der Regel um bewusste Anspielungen, die von den Hörern als solche
identifiziert werden sollen und mit beträchtlichen Verschiebungen in der theologischen Aussage verbunden sind. ■
Omar-Moschee in Dumat al-Dschandal (Westarabien), deren Grundmauern aus der Zeit
des Kalifen Omar (634-644) stammen sollen. Die Stadt war im 6. Jh. ein wichtiges Zentrum des
mit Byzanz verbündeten Stammesverbands der Kinda.
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welt und umwelt der bibel 1/2010
„Unser Projekt
bewegt sich
zwischen den
(Lehr-)Stühlen“
Unser Projekt bewegt sich ein wenig zwischen den Stühlen, besonders zwischen
den akademischen Lehrstühlen: Judaistik,
Semitistik, Kunstgeschichte, Alte und Mittelalterliche Geschichte, Arabistik, Islamwissenschaft, Ostkirchenkunde, Kirchengeschichte, Archäologie – für alle diese Disziplinen stellt der Islam etwas ganz Neues
dar, wie ja auch für die Muslime, die mit
Muhammad eine neue Zeit beginnen lassen und die vorislamische Geschichte gar
nicht zählen. Die Epochengrenze des 7. Jh.
zwischen Spätantike und Mittelalter wird
massiv in die Geschichtsschreibung eingetragen. Man hat nur selten auf Berührungspunkte mit den jüdischen und christlichen
Texten in der Umwelt hingewiesen, dem
Talmud etwa oder Texten aus der syrischchristlichen Liturgie, die in der gleichen
Epoche und in der gleichen Region gelesen
wurden. Die Archäologie dokumentiert auf
der arabischen Halbinsel arabische und jüdische Inschriften, Kirchenfunde, römische Gräber und Grabsteine – all das ist für
das Studium der Umwelt des Koran ganz
wichtig und wurde bislang nicht systematisch ausgewertet. Die genannten akademischen Disziplinen bieten wichtige Erkenntnisse für uns, doch sind sie vollkommen
disparat verteilt. Wir möchten versuchen,
diese Bereiche im Rahmen unserer Möglichkeiten zusammenzubringen. So sind
wir beispielsweise froh darüber, zwei Spezialisten für Ostkirchenkunde und syrische
Literatur der östlichen Christenheit im
Team zu haben, die zugleich aber auch vom
Koran sehr viel verstehen.
Welt in Kontakt stand. Wir betrachten den
Koran als einen Kommunikationstext, bei
dem uns der Prophet bzw. der Verkünder
weniger interessiert als die angesprochenen Zuhörer. Wie stellen wir uns aufgrund
der syrischen, hebräischen, arabischen
Texte die frühe Gemeinde um den Propheten vor? Diese Menschen, eingebettet in
einen arabischen Kontext der Halbinsel,
waren in jüdischen, christlichen, arabischen, griechisch-römischen oder persischen Traditionen zuhause oder zumindest
mit diesen vertraut. Über das Studium der
Texte aus der Umwelt des Koran können wir
uns vorstellen, welche Streitfragen und
theologischen Probleme im Korantext aufgegriffen und verhandelt werden. Wir kommen dem auf die Spur, wie der Koran eine
neue Theologie in Arabien schafft, aufbauend auf dem Wissen seiner Zuhörer und vor
dem Hintergrund der vorangegangenen Religionsgeschichte im Nahen Osten.
Wie waren die Reaktionen bei
muslimischen Korangelehrten?
Haben Sie Ablehnung erlebt?
Eher nicht. Mitarbeiter des Vorhabens hatten in den letzten zweieinhalb Jahren Gelegenheit, in arabischen und islamischen
Ländern – z. B. in Marokko, Syrien, Türkei,
Iran, Ägypten – arbeiten zu können und
Themen unseres Vorhabens vorzustellen.
Auf eine gewisse Skepsis und Verwunderung stößt man sicher: Die Leute finden unsere Arbeit interessant, sind aber auch reserviert. Im Frühjahr 2009 war eine Universitätsdelegation bei uns zu Besuch, deren
erste Frage war: Wie kann es sein, dass sich
eine nichtmuslimische Institution mit dem
Koran beschäftigt? In Marokko fragte ich
nach einem sehr kritischen Kommentar
eines Zuhörers: Sollte ich mich als Nichtmuslim nicht mit dem Korantext beschäftigen? Und wenn ich nun als Katholik neugierig auf den Koran geworden bin, soll ich
diese Neugier dann lassen? Beides beantwortete mein Gesprächspartner mit Nein.
So hat der Austausch nach Vorträgen und
auf Kongressen in dem begrenzten Rahmen
unserer bisherigen Erfahrungen bisher nie
feindlich geendet, sondern er hat eine Diskussion ermöglicht – die eine interessante
Asymmetrie an den Tag gebracht hat.
Das klingt innovativ.
Der Koran kommt ja nicht in eine menschenleere Landschaft, sondern in eine
Kulturlandschaft der arabischen Halbinsel,
die mit der damals schon globalisierten
Was meinen Sie damit?
Für Leute in Ägypten oder auch im Iran ist
es schwierig zu verstehen, was das Studium
der ältesten Koranhandschriften für uns be-
Im Gespräch: Michael Marx (links) mit iranischen Intellektuellen, vorn im Bild Dr. Mustafawi
(Iranische Kulturorganisation Teheran).
deutet. Bei einem Gespräch 2007 in Qom
(Iran) wurde die Frage gestellt, was es denn
bringen würde, Handschriften auszuwerten, da dort doch oftmals Fehler enthalten
seien. Die mündliche Überlieferung des
Textes sei das Wahre! Die Skepsis den geschriebenen Texten gegenüber hat mir vor
Augen geführt, dass die mündliche Überlieferung noch immer der privilegierte
Überlieferungsweg ist. Was die Arbeit an
den Handschriften des Koran angeht, ist
die westliche Orientalistik sicherlich weiter
entwickelt. Bei der mündlichen Überlieferung des Textes aber haben Muslime schon
1400 Jahre Gelehrsamkeit hinter sich und
gehen durchaus kritisch mit dem Text um:
Ab dem 4. muslimischen Jahrhundert, dem
10. Jh. nC, gibt es einen ersten festen Kanon
unterschiedlicher Lesarten und der Koran
wird in geografisch unterschiedlichen Textvarianten festgehalten. Seit tausend Jahren
lebt die kritische Diskussion darüber, welche der verschiedenen kanonischen und
außerkanonischen Lesarten zu einem Vers
bei der Exegese verwendet werden sollen.
Das erinnert uns in der Ferne eher an ein
Textmodell der postmodernen Zeit als an eine protestantische, verbalinspirierte Eintext-Variante. Diese Mündlichkeit in ihrer
Vielstimmigkeit ist sehr bemerkenswert.
Wir als Forscher müssen mit den heutigen
Traditionsträgern in Kontakt treten, besonders wenn man wie die meisten Orientalisten – auch ich – sich erst spät, nämlich im
Studium, mit Sprache und Texten dieser
Welt vertraut macht.
Verändert sich Ihr Koranverständnis
durch die integrale Arbeit?
Es ist grundfalsch, anzunehmen, der Koran
greife einfach etwas auf und setze alte Bestandteile zu einem neuen Mosaik zusammen. Der Koran sagt Neues in Bezugnahme
auf bereits bekannte Gedanken, religiöse
Überzeugungen und Traditionen, die offenbar den angesprochenen Zuhörern des
Verkündigers bekannt waren. Dennoch gab
es in der Forschung des 19. und 20. Jh. die
Vorstellung, dass der Korantext im Grunde
nichts Neues biete. Es gibt zahlreiche Studien darüber, welche Koranstelle welche
Stücke aus Quelle X und Y enthält. Daran
fühlen sich Muslime unangenehm erinnert,
wenn wir von Intertextualität sprechen und
von der Umwelt des Koran. Sie befürchten,
es könnte das gleiche Ziel dahinterstehen.
Dazu kommt das Problem, dass syrisch-liturgische Texte, altarabische Dichtung und
jüdische Literatur in den Kreisen islamischer Gelehrter nicht so bekannt sind, so ist
es schwierig, darüber zu diskutieren. In
Qom jedoch, wo ich einen Vortrag über das
apokryphe Vogelwunder Christi und seine
Beziehung zum Koran gehalten habe, wurde mir die Frage gestellt, welche Edition des
griechischen Textes wir verwendeten. Dort
kannten sich die Gelehrten besser mit Kirchengeschichte aus, als wir oftmals glauben. (Interview: Helga Kaiser)
Michael Marx ist Islamwissenschaftler und leitet die Arbeitsstelle „Corpus Coranicum“ an der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
welt und umwelt der bibel 1/2010
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