Sozialen Brennpunkten

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Körperpraktiken Jugendlicher
im »Sozialen Brennpunkt«
Jugendkörper zwischen Stigmatisierung und Selbstbehauptung
Forschungsansatz
3. Der handwerklich geschickte Körper – Schrauben, Hausmeistern und
Schrotthandel
Wie wirkt sich das Aufwachsen im „sozialen Brennpunkt“ somatisch aus? Welche Körperpraktiken zeigen die jugendlichen Bewohner? Das an der Universität Marburg durchgeführte
Lehrforschungsprojekt will aus der Innensicht der Bewohner deren Körperpraktiken, also das
Handeln mit dem Körper als Medium oder als Instrument, rekonstruieren. Unter „Sozialen
Brennpunkten“ verstehen wir stigmatisierte Quartiere, in denen Faktoren gehäuft auftreten,
die die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen insb. von Jugendlichen negativ bestimmen (vgl. Deutscher Städtetag 1979).
Marginalisierte Stadtteile Marburgs – Richtsberg, Waldtal und Stadtwald
Stadtteile mit hohem Anteil an „Hartz IV-Empfängern“ (über 50 %), ausländischer Bevölkerung und einkommensschwachen Gruppen, schlechter
Infrastruktur, schlechter Wohnungsqualität und hoher Anzahl an Obdachlosen; Stigma der „schlechten Adresse“
Methode
12 problemzentrierte Interviews mit Jugendlichen (14-21 J.)
aus 3 marginalisierten Stadtteilen Marburgs (2009/10)
„Hat‘n Freund mal‘n Auto kaputt, reparier‘ ich das mal schnell. …
Ich will was machen, wo ich andern Leuten helfen kann … dass
die Leute halt nen guten Eindruck von mir haben.“ (Paul, 17 Jahre)
• Hausmeister-, Umzugsdienste und Hilfstätigkeiten für Anerkennung im
Viertel und für ein Taschengeld
• Schrauben: Teil des Selbstkonzepts und Strukturierung des Tages
• Schrotthandel: schwere Arbeit symbolisiert Stärke, Männlichkeit und
Unerschrockenheit gegenüber harter Alltagswelt
• Selbstverwirklichung, Wirksamkeitserfahrung und Männlichkeitsstilisierung
• dem destruktiven Umfeld wird etwas Konstruktives entgegengesetzt  Kompetenzerwerb
4. Der geschmückte Körper – Tattoos und Piercings
„Körperschmuck ist für mich voll wichtig. Ohrringe, Piercings, Ringe, dicke Uhr, ich muss richtig
gut aussehen.“ (Sergej, 16 Jahre)
• gut sichtbarer und auffälliger Schmuck als Zeichen von
Individualität
• zum Teil selbst gestochene Tattoos
• Körperdesign mit symbolträchtigen Tattoos: Erinnerung an
individuell erfahrene Krisenbewältigungen
Auswertung rekonstruktiv-hermeneutisch
5. Der musikalische Körper – HipHop
5 körperbezogene Selbstdeutungsmuster
sportiver
knallharter
handwerklich
geschickter geschmückter musikalischer
Körper
Körper
Körper
Körper
Körper
Ergebnisse – körperbezogene Selbstdeutungen
„Die Leute fragen mich …, wo kommst du denn eigentlich her? Doch dies zu gestehen, fällt mir
oft sehr schwer. … Verpisst euch von hier, das ist unser Revier.“ (Waldtal‘s Söhne und Töchter)
• Produktion von HipHop-Songs und -Videos im Rahmen eines Angebots der Jugendsozialarbeit
• thematisieren Stigmatisierung und den Umgang damit
• Brennpunkt-zentrierte Identitätsbildung: beschreiben in ihrer Musik den
Alltag im Viertel und dessen Bewältigung
• artikulieren Differenz zu „denen“ aus der „heilen Welt“ („wir“ /„andere“)
• beschwören die Gemeinschaft und Gefühle von Heimat
1. Der sportive Körper – Training und Wetteifer
Schlussfolgerung
„Mein Hobby ist Fußball, mindestens fünf mal die Woche
trainier‘ ich. … Ich kann alles spielen. Ich bin der Spielmacher, die 10.“ (Ahmed, 15 Jahre)
ähnliche Lebenslage
Sport
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Sport als Möglichkeit, Stärke und Leistung zu zeigen, sich durchzusetzen und miteinander in
gelungener Interaktion körperlichen Wettkampf zu organisieren
zentrale Elemente der Freizeitgestaltung: Fußball (Jungen) und Tanzen (Mädchen)
Demonstrieren der eigenen Positionierung im sozialen Feld (der/die Beste sein)
Sport als Ort der Selbsterprobung, als asketische Selbstdisziplinierung, als Arbeit an körperlicher Attraktivität
2. Der knallharte Körper – Gewalt, Schlägereien und Aggressivität
„Ich wurde von meiner Pflegemutter immer geschlagen. So und das ist für mich halt die
Abhärtung gewesen. … Es gibt viele Leute, die Angst vor mir haben.“ (Peter, 17 Jahre)
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Körper als Instrument zur Demonstration von Kraft, Macht, Stärke und Härte
körperliche Durchsetzung in gewalttätigen, nicht-sportlichen Auseinandersetzungen
wenig Sensibilität für eigene Körperempfindungen („Abhärtung“) als Resultat frühkindlicher
Gewalterfahrung  Veralltäglichung von Gewalt
Biologisierung abweichenden Verhaltens:
„Es liegt einfach in den Genen. Wenn einer zu dir kommt, der
genauso asozial ist wie du, das ist klar, dass man sich blöd
anguckt oder dass so‘n Spruch kommt. Dann kommt es zum
Streit. Und dann holt die aus und gibt dir eine. Und dann
schlägt man sich.“ (Katrin, 17 Jahre)
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Erleben und Erkennen des Stigmas („asozial“): Marginalisierung hat sich in Körper
eingeschrieben
Internalisierung von gesellschaftlichen Ordnungen, Schemata der Wahrnehmung, Bewertung
und Klassifizierung
Gewalt
heterogene Reaktionen
Handwerk
Schmuck
Musik
Körper als Darstellungsressource
1. Notwendigkeitsgeschmack (pragmatische, funktionale Ästhetik)
2. Disziplinierung und Stilisierung des Körpers (Körperarbeit)
Reproduktion der sozialen Lage: Körperpraktiken zeigen Abweichung
vom als „normal“ Bestimmten
(aber nicht nur „defizitär“, sondern Potenzial wird sichtbar)
• Jugendliche reagieren individuell und heterogen auf ähnliche Lebenslage und Stigmatisierung.
• wissen um Stigma und entwickeln vielfältige Strategien der Selbstbehauptung und Selbstpräsentation
• präsentieren sich als aktive und selbstbewusste Gestalter ihrer Freizeit und als sozial eingebunden in ihr Lebensumfeld
• Körper als Darstellungsressource, in die investiert wird (Disziplinierung, Stilisierung) oder auch
pragmatische, funktionale Ästhetik (Notwendigkeitsgeschmack)
• Investitionen in den Körper laufen aber auf Verfestigung von Randständigkeit hinaus und
reproduzieren das Stigma, weil sie mehrheitlich unterschichtskonnotiert oder als „abweichend“
etikettiert sind (Tattoos, Schlägereien).
• Marginalisierung kondensiert als Körperausdruck  Jugendliche werden als „Abweichende“
evident.
 Niekrenz, Y./Witte, M.D. (2011) (Hg.): Jugend und Körper. Leibliche Erfahrungswelten. Weinheim/München: Juventa.
Dr. Yvonne Niekrenz | Institut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock
[email protected]
Prof. Dr. Matthias D. Witte | Institut für Sportwissenschaft und Motologie, PhilippsUniversität Marburg | [email protected]
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