Ausgestoßen und verfolgt Die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus in Neukölln Begleitheft zur Ausstellung des Mobilen Museums Neukölln Ausgestoßen und verfolgt Die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus in Neukölln Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Ende der Demokratie. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1933: „Wir fordern Sie auf, unverzüglich mitzukommen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1934: „Sie fingen an, mich zu beschimpfen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1935: Heiraten verboten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1936: „Ihr sollt nicht beim Juden kaufen!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1937: „Wer ist denn dieser Lewy?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1938: „Bitte, geh nach Hause!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1939: „Dann kam sie endlich!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1940: „Die sitzen drüben im Judenkeller.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1941: „Mir sind die Tränen runter gelaufen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1942: „Der Großvater war weg. Für immer.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1943: „Sie wurden alle verladen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1944: „Dann wurden wir aussortiert.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1945: „Ich muss dich erschießen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Deportation von Kindern und Jugendlichen 1941 bis 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Nie wieder! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 In der Ausstellung 99 × Neukölln: Objekte zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Vorwort Die Publikation „Ausgestoßen und verfolgt. Die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus in Neukölln“ erscheint als Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung des Mobilen Museums Neukölln. Im Zentrum der Ausstellung stehen Erfahrungen und Schicksalswege von Neuköllner Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die von den Nationalsozialisten als Juden oder „Halbjuden“ diffamiert worden sind. Beginnend mit der im Alltag erfahrenen Ausgrenzung ab 1933 bis hin zur Deportation in Vernichtungslager wie Auschwitz spannt die Ausstellung einen zeitlichen Bogen von 1933 bis 1945. Parallel zu den persönlichen Erfahrungen werden ausgewählte staatliche Gesetze und Verordnungen, die der NS-Staat zur Umsetzung seiner rassistischen Politik angewendet hat, für jedes Jahr aufgelistet. Dadurch wird deutlich, wie systematisch die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durchgesetzt wurde. Für die pädagogische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern war es uns besonders wichtig, dass die einzelnen Biografien deutlich machen, wie die Zeit des Nationalsozialismus das Leben jüdischer Familien in Neukölln dramatisch verändert hat. Gerade für Kinder und Jugendliche veränderte sich der Alltag einschneidend. Sie mussten auf andere Schulen gehen. Um ihr Leben zu retten, wurden Kinder alleine ins Ausland geschickt, ständig in Sorge um ihre Angehörigen. Sie erlebten die Verhaftung ihrer Eltern und Geschwister und wurden auch selber Opfer der Deportation, was in der Regel den sicheren Tod bedeutete. Für die 63 jüdischen Kinder und Jugendliche, die zwischen 1941 und 1943 in Vernichtungslager verschleppt und ermordet worden sind, wurde eine Karte erarbeitet, die ihre Wohnorte in Neukölln zeigen. Für einige wenige von ihnen wurden bereits Stolpersteine gesetzt. Für andere werden noch Paten gesucht. Als spezielle Aufgabenstellung für Schülerinnen und Schüler in diesem Heft ist die Rubrik „Stellen Sie sich vor“ entwickelt worden. Diese Aufgabenstellung eignet sich vor allem für den Rahmenplan im Fach Geschichte (Sek I und Sek II). Dabei können die Schülerinnen und Schüler die Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten unterschiedlicher Gruppen in einer konkreten historischen Situation analysieren. Die Aufgabenstellung „Stellen Sie sich vor“ eignet sich auch für den Rahmenplan im Fach Ethik. Hierbei kann menschliches Handeln, gebunden an moralische Basisnormen, untersucht werden. Ziel ist hierbei die Erkenntnis, das Freiheit und Demokratie schützenswerte Güter sind. In einem abschließenden Kapitel der Ausstellung und in diesem Heft wird Bezug auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland genommen. Damit soll deutlich gemacht werden, auf welche Basis die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ das friedliche und konstruktive Zusammenleben in einem demokratischen Gemeinwesen nach den Erfahrungen der NS-Diktatur gestellt haben. Diese Grundrechte sind bis heute unantastbar und müssen doch immer wieder in der alltäglichen Praxis verteidigt werden. Dr. Udo Gößwald Museumsleiter Kontakt und Information zur Unterrichtsvorbereitung erhalten Sie unter: E-Mail: [email protected] Tel.: Silvia Haslauer: 627 277-718 Anja Mutert: 627 277-717 3 Aufmarsch zum 1. Mai 1933, Tempelhofer Feld Foto: Landesarchiv Berlin, Nr. II, 9 767 Am 1. Mai 1933 versammeln sich Hunderttausende auf dem Tempelhofer Feld zum „nationalen Tag der Arbeit“. Reichskanzler Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels vereinnahmen den wichtigsten Feiertag der Arbeiterbewegung erfolg­reich für ihre Ideologie der „klassenlosen Volks­gemeinschaft“. Das Ende der Demokratie Die Machtübernahme der National­ sozialisten Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 übernehmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Damit gehört die Weimarer Republik, die erste Demokratie auf deutschem Boden, der Vergangenheit an. Nach der Machtübernahme werden demokratische Strukturen aufgelöst. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 hebt die Gewaltenteilung auf. Zusammen mit der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 bildet es die rechtliche Grundlage der nationalsozialistischen Diktatur. Diese führt zur: • Zerschlagung und Verbot politischer Parteien wie SPD und KPD sowie der Gewerkschaften. • Verfolgung jeglicher Opposition durch den Polizeiapparat und Verhaftung politischer Gegner. • Aufhebung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts. • Einschränkung der Pressefreiheit. • Entlassung politischer Gegner aus Justiz-, Gesundheits- und Bildungswesen. • „Gleichschaltung“ aller Organisationen und Institutionen und Einsetzung nationalsozialistischen Führungspersonals. • Umsetzung einer Rassenpolitik, die Menschen in „hochwertige Arier“ und „minderwertige Rassen“ wie Juden, Slawen und „Zigeuner“ einteilt. 1933 leben in Berlin über 160 000 Menschen jüdischen Glaubens. Sie alle sind Entrechtung, Ausgrenzung und Gewaltexzessen ausgesetzt. Zwischen 1941 und 1944 werden 52 000 Berliner Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Über 700 von ihnen leben in Neukölln. Unter ihnen sind 63 Kinder und Jugendliche. An deren Schicksale wollen wir mit dieser Ausstellung erinnern. 4 Angehörige der Sturmabteilung (SA) der NSDAP und der Polizei besetzen das Neuköllner Rathaus, 16. März 1933 Foto: Museum Neukölln Vierzehn Jahre lang haben Sozialdemokraten im Neuköllner Rathaus regiert. Nun triumphieren die Nationalsozialisten. Auch Bezirksbürgermeister Alfred Scholz (SPD) kann nicht verhindern, dass SA-Männer auf dem Rathausturm die Hakenkreuzfahne hissen. Am 15. März wird er abgesetzt. Gefangene im KZ Oranienburg, 6. April 1933 Foto: Landesarchiv Berlin, Nr. 58 579 Das Konzentrationslager Oranienburg wird im März 1933 auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei in Oranienburg errichtet. Damit ist es eines der ersten nationalsozialistischen KZs. Hier werden bis zu seiner Schließung im Juli 1934 insgesamt 3 000 politische Gegner des NS-Regimes interniert. 5 1933 Eva Kantorowsky (3. Reihe, 5. von rechts) mit ihrer Schulklasse in der Karl-Marx-Schule, 1932 Foto: Anneliese Pietzarka / Museum Neukölln Evas Vater Dr. Georg Kantorowsky ist Rabbiner der Synagoge in der Isarstraße und erteilt bis 1933 jüdischen Religionsunterricht an der Karl-Marx-Schule. „Ich besuchte das Gymnasium, das vorübergehend den Namen ,Karl-Marx-Schule‘ trug. Im Herbst 1935 erschienen auf dem Schulhof Nazi-Propagandaschriften in Gestalt von ,Stürmer‘‘-Ausschnitten, sodass ich die Schule mit Bedauern verließ. Die Mehrzahl meiner Mitschülerinnen und Mitschüler war freundlich, bis auf einige, die plötzlich in Uniform der Hitlerjugend erschienen und mir Schimpfworte nachriefen.“ (Eva Angress, geb. Kantorowsky, 1988) „Wir fordern Sie auf, unverzüglich mitzukommen.“ An dem Tag, als Lucie Müller ihr mündliches Abitur an der Karl-MarxSchule ablegt, wird ihr Schuldirektor Fritz Karsen verhaftet. Damit endet ein erfolgreiches Schulexperiment, das die Erziehung der Schülerinnen und Schüler zu kritisch denkenden Menschen zum Ziel hatte. Zum ersten Mal werden Schulsprecher gewählt und die Eltern in die Arbeit einbezogen. Dies widerspricht den Vorstellungen der Nationalsozialisten, die sich am Führerprinzip ausrichten und Adolf Hitler verpflichtet fühlen. Nur drei Wochen nach dessen Ernennung zum Reichskanzler werden Fritz Karsen und ein Teil des Lehrerkollegiums entlassen. Die Schule erhält wieder ihren alten Namen Kaiser-Friedrich-Real­ gymna­sium. In der Aula hängt nun eine Hakenkreuzfahne. ,, Am 21. Februar 1933 war mündliches Abitur. Ich wurde in Englisch von Frau Dr. Panzer geprüft. Dr. Karsen hatte den Vorsitz. Alle Mitglieder der Prüfungskommission schienen mir sehr nervös. Frau Panzer hatte große Schwierigkeiten, die Prüfungsfragen an mich zu richten. Sie versprach sich häufig. Ich kannte sie als sehr sichere und kompetente Lehrerin und konnte mir die Nervosität zunächst nicht erklären. Doch noch ehe meine Prüfung beendet war, ging die Tür auf, zwei Herren in Zivil betraten das Prüfungszimmer und forderten Herrn Karsen auf, unverzüglich mitzukommen. (Lucie Müller, 1988) Foto: Museum Neukölln 6 ,, In der Aula des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums, der ehemaligen Karl-Marx-Schule, hängt vom Pult eine Hakenkreuzfahne, 1936 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1933 März Berliner Bezirksämter entlassen jüdische Ärzte, in Neukölln betrifft dies 15 jüdische Ärztinnen und Ärzte. April Am 1. April 1933 findet der erste reichsweite antijüdische Boykott statt. SA-Mitglieder stehen vor Geschäften, Kanzleien und Arztpraxen jüdischer Inhaber, um Besucher am Zutritt zu hindern. Alle jüdischen Lehrer an städtischen Schulen werden beurlaubt. Auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ werden neben politischen Gegnern auch jüdische Staatsbeamte, Lehrer, Juristen, Mediziner, Angestellte und Hochschuldozenten aus Behörden und Institutionen entfernt. Artikel über den Mordüberfall auf Dr. Kurt Löwenstein im Vorwärts vom 27. Februar 1933 Dr. Fritz Karsen (1885–1951), der 1933 aus Deutschland flieht, in New York, um 1944 Foto: Museum Neukölln Quelle: Museum Neukölln Der Neuköllner Stadtrat für Volksbildungswesen, Dr. Kurt Löwenstein, setzt in seiner Amtszeit Reformen durch, die Neukölln über seine Grenzen hinaus bekannt machen. Dazu zählen die Vorklassen für körperlich oder geistig behinderte Kinder sowie die Einführung des Werkunterrichts und moderner Unterrichtsmaterialien. Im Februar 1933 verüben SA-Männer einen Anschlag auf die Wohnung der Familie Löwenstein in der Neuköllner Geygerstraße. Die Familie entkommt dem Anschlag und emigriert über Prag nach Paris. Hier stirbt Kurt Löwenstein im Mai 1939 mit nur 53 Jahren. Fritz Karsen ist jüdischer Herkunft. Ab 1919 ist er Mitglied der SPD, 1921 wird er Direktor des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums. Kern des Unterrichts ist die Verbindung geistiger mit praktischer Arbeit. Unter Anleitung eines Lehrers erarbeiten Schüler selbstständig Projekte, proben für Theater- und Orchesteraufführungen. Im Werkunterricht lernen Mädchen und Jungen den Umgang mit Werkzeugen, die Bearbeitung von Holz und Metall. Im Sportunterricht steht Fairness im Vordergrund. „Karsen verstand, eine be­acht­liche Zahl von begeisterten und begeisternden Pädagogen um sich zu sammeln, die zu schaffen bereit waren und denen er sehr viel Freiheit in der Arbeit einräumte. Er fesselte solche Persönlichkeiten an sich und verabschiedete schnellstens Lehrer, die in ihrem Beruf nur Broterwerb sahen.“ (Alfred Lewinnek, ehemaliger Lehrer an der Karl-Marx-Schule, 1964) Stellen Sie sich vor: Sie sind mitten im Abitur. Ihre mündliche Prüfung ist noch nicht ganz vorbei, da betreten zwei Polizisten in Zivil das Prüfungszimmer und fordern Ihren Schuldirektor auf, sofort mitzukommen. Wenig später erfahren Sie, dass der Direktor und viele Lehrer der Schule fristlos entlassen worden sind. Was würden Sie tun? Ich mache nichts, denn ich habe meinen Schulabschluss in der Tasche und gehe von der Schule ab. Ich trommle meine Klassenkameradinnen und -kameraden zusammen, um einen Protestbrief an die Berliner Schulverwaltung zu schreiben. Ich schreibe einen Brief an meine Lehrerin / meinen Lehrer, um mein Bedauern über ihre Entlassung auszudrücken. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln April / Mai Städtische Gebäude, Räume oder Grund­stücke dürfen nicht mehr an jüdische Organisationen vermietet oder verpachtet werden. 10. Mai In vielen Universitätsstädten Deutschlands werden Bücher namhafter wissenschaftlicher und künstlerischer Autoren, darunter auch jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, öffentlich verbrannt. Juni Kassenpatienten wird die freie Arztwahl nur noch bei „arischen“ Ärzten erlaubt, Rechnungen jüdischer Ärzte werden nicht mehr erstattet. Juli Jüdischen Schülern wird die Schulgeld­ ermäßigung gestrichen. September Mit dem Reichskulturkammergesetz werden Künstler, Kulturschaffende und Journalisten in Kammern organisiert. Die Mitgliedschaft ist Voraussetzung für eine Berufsausübung. Juden wird die Mitgliedschaft verwehrt. Oktober Juden dürfen keine Schriftleiter bei Zeitungen und Zeitschriften mehr sein. November „Nichtarische“ Mitglieder der Städtischen Krankenversicherungsanstalt in Berlin werden von der Liste der zur Behandlung zugelassenen Ärzte gestrichen. Unter den Ausschluss fallen auch „arische“ Ärzte mit jüdischen Ehefrauen. Dezember Der Stadtschulrat von Berlin verbietet unter Androhung der Entlassung den Lehrern, jüdische Partner zu heiraten. Alle Berliner Sportvereine haben die Einführung des „Arierparagraphen“ beschlossen. Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 7 1934 Foto: Familie Herz / Museum Neukölln Hanns-Peters Vater kann seine Familie jahrelang nur heimlich besuchen. Ein Freund von Hanns-Peter erinnert sich an eine Begegnung mit dessen Vater in der Straßenbahn 1944: „Ich steige in die Straßenbahn 47 in Britz ein und sehe in dem vollen Wagen Hans Samson Herz stehen, den Judenstern hatte er mit seiner Aktentasche verdeckt. Zu der Zeit war es Juden schon verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Ich freue mich natürlich, den Vater meines Freundes zu sehen und drängle mich zu ihm durch! Da hat er mir zugeflüstert: ,Geh weg! Geh weg!’ Die nächste Station ist er sofort ausgestiegen.“ (Eberhard Grashoff, 2012) „Sie fingen an, mich zu beschimpfen.“ Der sechsjährige Hanns-Peter Herz zieht mit seinen Eltern 1934 zur Großmutter in die Britzer Onkel-Herse-Straße. Er spürt die finanziellen Nöte der Familie, seit der Vater 1933 seine Arbeit verloren hat. HannsPeter erfährt nun, dass dieser jüdischer Herkunft und er selbst „Halb­ jude“ ist. Als Nachbarn den Vater bei der NSDAP anzeigen, muss er untertauchen. Nur noch heimlich kann er seine Familie besuchen und Hanns-Peter wird von Nachbarskindern gemieden. ,, Über die jüdische Herkunft meines Vaters habe ich erst 1933 erfahren, als uns eines Nachts ein Davidstern an die Tür gemalt und das Küchenfenster eingeworfen wurde. Ich habe Vater nach dem Sinn dieses Sterns gefragt und da hat er mir die Familiengeschichte erzählt, auch dass er evangelisch getauft worden sei. Das löste zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits fühlte ich mich zugehörig zu allem, was um mich herum war, andererseits kam ich mir ausgeschlossen vor. Nur wenige Kinder verhielten sich ,normal‘, die meisten zogen sich demonstrativ von mir zurück. Sie begannen, mich als ,Judenbengel‘ zu beschimpfen, machten mein Spielzeug kaputt und verjagten mich, wenn ich mit ihnen spielen wollte. Da griff unser Freund Paul Seele ein: Er wachte auf dem Spielplatz, und wenn keiner mit mir spielte, dann spielte er mit mir. (Hanns-Peter Herz, 1988) ,, Hanns-Peter Herz mit seinen Eltern Johanna und Hans Samson Herz, 1945 Volksabstimmung in der Gaststätte Willy Bräuning, Elbestraße 74, 19. August 1934 Foto: Landesarchiv Berlin, Nr. 58 571 Nach dem Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg im August 1934 übernimmt Adolf Hitler auch dessen Amt. In einer Volksabstimmung lässt er sich bestätigen. 89,9 Prozent der Bevölkerung stimmen für ihn. 8 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1934 März „Arische“ Kindergärtnerinnen dürfen jüdische Kinder nicht mehr betreuen. Juni Lehrer, die nach dem 1. Juli 1933 „Nichtarier“ geheiratet haben oder künftig heiraten, sind sofort zu entlassen. Juli Jüdische Sportvereine müssen sich reichsweit in einer „Arbeitsgemeinschaft“ zusammenschließen. Die Benutzung von Turnhallen, Sportplätzen, Schwimmbäder ist für sie nur noch eingeschränkt möglich. Bundestag der „Kameraden“ in Zootzen, 1927 Foto: Kibbuz Hasorea / Museum Neukölln Die jüdische Jugendorganisation „Kameraden – Deutsch-jüdischer Wanderbund“ wird bereits 1916 gegründet. Sie versucht, jüdische Traditionen mit gesellschaftlichem Engagement zu verbinden. Die Mitglieder organisieren Wanderungen und treiben gemeinsam Sport. Sie wenden sich auch gegen den in der Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus. Ab 1934 sind ihre Zusammenkünfte strikt verboten. September Den Mitgliedern jüdischer Jugendverbände wird das Tragen einheitlicher Trachten oder Kleidungsstücke, das Zeigen oder Mitführen von Symbolen und Wimpeln etc. verboten. Ebenso verboten werden Aufmärsche, wehrsportliche Übungen, geschlossenes Marschieren, Leben in Wohngemeinschaften, gemeinsames Übernachten in Zelten oder Privaträumen sowie das Herstellen von Presse- und Filmerzeugnissen. Hanns-Peter mit seiner Freundin Hannah, um 1938 Foto: Privatbesitz Hannah Shaw-Ridler Hanns-Peter muss sich 1939 von seiner Freundin Hannah verabschieden, als ihre Eltern emigrieren, denn Hannahs Mutter ist Jüdin. „Im April 1939 konnten wir dann endlich ausreisen. Ich habe mich von allen, die ich kannte, verabschiedet. Als wir abfuhren, kamen Freunde zum Bahnhof, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich erinnere mich daran, dass Hanns-Peter Herz auch dabei war und mir einen kleinen Stoffhund geschenkt hat. Den habe ich nach England mitgenommen. Warum wir weg mussten, habe ich damals nicht verstanden.“ (Hannah Shaw-Ridler, 2012) Stellen Sie sich vor: Sie erfahren, dass der sechsjährige Sohn Ihrer Freunde in Schwierigkeiten ist. Er wird von anderen Kindern gehänselt, die auch noch sein Spielzeug kaputt machen. Keiner der Nachbarskinder will mit ihm spielen, auf dem Spielplatz ist er allein. Was würden Sie tun? Ich mische mich da nicht ein, denn er ist nicht mein Sohn. Ich stelle die hänselnden Kinder zur Rede und frage sie, warum sie das tun. Ich suche die Eltern der Kinder auf und beschwere mich bei ihnen über das unfaire Verhalten ihrer Kinder. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 9 1935 Das Strandbad Wannsee mit dem Schild „Juden ist das Baden und der Zutritt verboten“, 1935 Foto: Landesarchiv Berlin Heiraten verboten! Als Frieda Manasse und Arno Adam sich kennenlernen, sind sie schnell ein Paar. 1935 ziehen sie zusammen und beschließen zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ihre Liebe wird jedoch auf eine harte Probe gestellt – es sollten zwölf Jahre vergehen, bis sie auf dem Standesamt Neukölln heiraten können. 1935 treten die „Nürnberger Gesetze“ in Kraft, die eine Ehe von Frieda und Arno verbieten. Danach gilt Frieda als „Halbjüdin“. Einen „Arier“ darf sie nicht heiraten. ,, Dass ich Halbjüdin bin, das kam durch meinen Namen Manasse heraus. Da sind sie überall drüber gestolpert. Wir wollten heiraten und sind im März 1935 zusammengezogen. Im September kamen die Nürnberger Gesetze. Erst einmal musste ich die Unterlagen bis zu den Großeltern einholen. Mein Mann war aus Posen, darum hat das natürlich alles viel länger gedauert. Als wir die Unterlagen zusammen hatten, bekam ich eine Aufforderung, mich bei der SS zu melden und musste dort angeben, dass ich die Unterlagen eingereicht habe. Vorher musste ich noch ins Rathaus Neukölln zu einer Blutabnahme, da wurde mir gesagt, ich hätte über 50 Prozent jüdisches Blut. (Frieda Adam, geb. Manasse, 1988) ,, „Rassenschande“, Plakat für die Zeitschrift Der Stürmer, nach 1935 Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin Am 15. September 1935 werden die „Nürnberger Gesetze“ erlassen. Diese sind Grundlage aller folgenden antisemitischen Gesetze. So verbietet das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ die Ehe zwischen „Ariern“ und Juden. Jüdische Männer, die Beziehungen zu nichtjüdischen Frauen eingehen, werden wegen „Rassenschande“ zu Zuchthausstrafen von zwei bis vier Jahren verurteilt. Die NS-Zeitung Der Stürmer fordert dafür sogar die Todesstrafe. 10 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1935 Mai Das Wehrgesetz schließt Juden vom Wehrdienst aus. Juni Demonstrationen von SA und Hitlerjugend vor Geschäften jüdischer Inhaber. Kunden und „arische“ Angestellte werden bedroht, Schaufensterscheiben eingeworfen. Juli Judenfeindliche Ausschreitungen in Berlin. Am Herrmannplatz randaliert eine Menge vor der Eiskonditorei Cohn. Von Juden geführte Eisdielen müssen nach 19 Uhr geschlossen werden. Juden wird der Zutritt zu allen Bädern verboten. August Das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa, später Gestapo) erstellt eine zentrale und überregionale Judenkartei. Auf dem Wochenmarkt am Maybachufer werden jüdische Händler in eine Seitenstraße abgedrängt. Frieda Manasse, 1935 Fotos: Frieda Adam / Museum Neukölln Diese Aufnahmen muss Frieda Manasse für die NS-Behörden machen lassen, als sie ihren Verlobten Arno Adam heiraten will. Mit den Fotos soll bewiesen werden, dass Frieda „Halbjüdin“ ist. Sie wird von dem Beamten gefragt, warum sie einen „Arier“ heiraten wolle, 1944 sogar aufgefordert, ihre Verlobung zu lösen, da Arno sonst als Soldat in der Deutschen Wehrmacht Schwierigkeiten bekommen würde. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft können Frieda und Arno heiraten. Stellen Sie sich vor: Sie wollen Ihren langjährigen Partner heiraten und eine Familie gründen. Als Sie das Aufgebot beim Standesamt bestellen, müssen Sie feststellen, dass ein neues Gesetz diese Heirat verbietet, weil Sie „anders“ als andere Deutsche sind. Ihnen wird von dem Beamten sogar nahegelegt, sich zu trennen. Was würden Sie tun? Ich trenne mich von meinem Liebsten, damit wir beide keine Schwierigkeiten bekommen. Ich bleibe mit meinem Liebsten weiter heimlich zusammen, auch wenn wir nicht heiraten dürfen. Ich lege Beschwerde bei den zuständigen amtlichen Stellen ein. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln September Mit den „Nürnberger Gesetzen“ wird die „rassische“ Ausgrenzung der Juden festgeschrieben. Mit dem „Reichsbürgergesetz“ sind Juden nur noch Staatsangehörige, keine Reichsbürger mehr. Damit verlieren sie ihre vollen politischen Rechte. Mit dem „Blutschutzgesetz“ werden Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen deutschen Juden und Nichtjuden verboten. November Mit der „1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ wird jüdischen Bürgern das poltische Stimmrecht aberkannt, sie werden aus allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Die Begriffe „Jude“ und „jüdischer Mischling“ werden definiert. Als „Jude“ gilt, wer mindestens drei jüdische Großeltern hat. Dezember Mit der „2. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ werden nähere Bestimmungen zur Entlassung jüdischer Beamter, Notare, Ärzte und Vertrauensärzte, Professoren und Lehrer im Staatsdienst und in öffentlichen Einrichtungen erlassen. Ende 1935 Mehrere Wohnungsbaugesellschaften kündigen Verträge mit jüdischen Mietern. Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 11 1936 Das Kaufhaus H. Joseph & Co., 1928 aus: 30 Jahre Warenhaus Joseph. Berlin 1930. „Ich wollte immer einen Malkasten haben. Eines Tages stand ich mit meiner Freundin vor einem Schreibwarengeschäft. Da lag ein wunderschöner Malkasten. Meine Freundin sagte: ,Der kostet ja 20 Pfennige, bei Joseph kostet der nur 10 Pfennige.’ Da kam plötzlich die Frau aus dem Geschäft herausgestürmt und schrie uns an: ,Ihr sollt nicht zum Juden kaufen gehen! Der Joseph ist doch Jude!‘ Da sind wir ganz schnell weggerannt.“ (Bericht einer Neuköllnerin, 1988) „Ihr sollt nicht beim Juden kaufen!“ Am 1. April 1933 wird dem 18-jährigen Klaus Kaminsky die Lehrstelle bei H. Joseph & Co. gekündigt. Drei Jahre später, 1936, hat sein ehemaliger Chef Hermann Joseph den Kampf um sein Warenhaus endgültig verloren. Das florierende Geschäft in der Berliner Straße (heute: Karl-Marx-Straße) übernimmt nun die Max Friedland GmbH und wirbt damit, ein „arisches Unternehmen“ zu sein. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist Hermann Joseph immer wieder unter Druck gesetzt worden, so auch beim„Judenboykott“ am 1. April 1933. An diesem Tag werden Kunden von SA-Männern am Betreten des Warenhauses gehindert und Schaufenster mit antisemitischen Parolen beschmiert. Auch die Angestellten sind Bedrohungen ausgesetzt. ,, Am Personaleingang standen bewaffnete SA-Männer in ihren braunen Uniformen. Die meisten der 40 bis 50 jüdischen Angestellten wurden einzeln in ein Büro beordert. Dort saßen an einem Tisch zwei SA-Männer, die Pistolen auf dem Tisch, die mir ein Papier vorlegten, das ich unterschreiben sollte. Falls ich es nicht tun würde ... sie fuchtelten mit der Pistole herum und drohten mir. So unterschrieb ich meine Entlassung und ging sofort meine Kleidung holen und verließ das Haus. Ich nehme an, dass außer mir auch die anderen der jüdischen Angestellten entlassen wurden, zum großen Bedauern von Hermann Joseph. (Klaus Kaminsky, 1988) ,, 12 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1936 Januar Juden dürfen nicht mehr der Landespolizei angehören. April Das Landeswohlfahrts- und -jugendamt verbietet die Aufnahme von „Mischlingen 1. Grades“, sofern sie jüdischen Glaubens sind, in städtische und private Tageskrippen, Kindergärten, Horte und Spielkreise. April / Mai Juden dürfen nicht Mitglied der Reichspressekammer und der Reichskammer der bildenden Künste werden, was einem Berufsverbot gleichkommt. Zeugnis von H. Joseph & Co. für Klaus Kaminsky, der von 1932 bis 1933 dort als Lehrling beschäftigt war, 4. April 1933 Werbung für das Kaufhaus Friedland, im Hintergrund ein Arm zum stilisierten Hitlergruß erhoben, 1937 Quelle: Klaus Kaminsky / Museum Neukölln Quelle: Museum Neukölln „Wir bestätigen Herrn Kaminsky gern unsere Zufriedenheit mit seinen Leistungen […]. Zu unserem Bedauern wird seine Lehrzeit infolge der heutigen Zeitverhältnisse unterbrochen und wünschen wir ihm auf seinem ferneren Lebenswege viel Glück.“ August Vom 1. bis 16. August 1936 finden die XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin statt, von denen jüdische Sportlerinnen und Sportler ausgeschlossen waren – bis auf die „Halbjüdin“ Helene Mayer, die als Fechterin eine Silber­ medaille gewann. September / Oktober Reichsweit werden über 2 000 jüdische Fleisch-, Fett- und Eierhändler zur Geschäftsaufgabe gezwungen. In Berlin müssen 50 Getreidefirmen jüdischer Inhaber ihr Geschäft aufgeben. Oktober Im Oktober beginnt das Schuljahr der Volkshochschule Groß-Berlins, es werden nur noch „Arier“ als Hörer angenommen. bis Dezember Im ersten Jahr nach Erlass der „Nürnberger Blutschutzgesetze“ werden von Berliner Gerichten insgesamt 102 Männer (überwiegend Juden) wegen „Rasseschandefällen“ angeklagt. Von 98 Verurteilungen sind 97 Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafen. Stellen Sie sich vor: Sie freuen sich sehr, als Sie endlich Ihren Lehrvertrag unterschreiben können. Doch Ihre Lehrzeit ist noch nicht zu Ende, da stehen eines Tages bewaffnete Uniformierte vor dem Perso­ naleingang Ihrer Firma. Sie werden aufgefordert, Ihre eigene Entlassung zu unter­ schreiben, weil Sie einer anderen Religion angehören. Was würden Sie tun? Ich weigere mich, meine Entlassung zu unterschreiben und gehe das Risiko ein, verhaftet zu werden. Ich unterschreibe meine Entlassung und suche mir eine neue Lehrstelle. Ich unterschreibe meine Entlassung und beschließe, so schnell wie möglich auszuwandern. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 13 1937 Sportfest des jüdischen Sportvereins JBC im Stadion Grunewald, 24. Juli 1938 Foto: Abraham Pisarek / bpk Dies ist eines der letzten jüdischen Sportfeste in Berlin. Ende 1938 werden alle jüdischen Sportvereine aufgelöst. „Wer ist denn dieser Lewy?“ Rudolf Lewy ist 17 Jahre alt und ein ausgezeichneter Weitspringer und Läufer. Deshalb darf er am 1. August 1936 als einer der Fackelläufer die Olympische Flamme ein Stück weit tragen – ein unvergessliches Erlebnis für ihn. In diesem Jahr hat Rudolf noch keine Schwierigkeiten. Doch 1937 entschließt er sich schweren Herzens, seinen Sport und seinen Verein aufzugeben. Ihm ist klar geworden, dass er bei Wettkämpfen nicht mehr siegen darf, denn der Name des Siegers wird vom Stadionsprecher laut verkündet. Rudolf trägt den jüdischen Nachnamen Lewy. ,, Ich hatte bei einem Wettbewerb im Weitsprung gewonnen und mein Name wurde als Sieger ausgerufen. Das war nicht so gut. Ich dachte, die werden fragen, wer ist denn dieser Lewy? Und dann habe ich mir gesagt, wenn du hier bleibst und kannst nicht gewinnen, weil du Angst hast, dass dein Name ausgerufen wird und jemand von den anderen Vereinen siegt, dann ist es besser, wenn du aufhörst. Die anderen waren ja schon alle in der Hitlerjugend. 1936, im Olympiajahr, habe ich noch gedacht, dieses Jahr wirst du keine Schwierigkeiten haben. Aber wir wussten auch, dass es danach schwieriger werden würde. (Rudolf Lewy, 1988) ,, Rudolf Lewy, 1938 Foto: Rudolf Lewy / Museum Neukölln 14 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats im Bereich Sport Mai 1933 Jüdischen Jugendlichen wird der Zugang zu Sportplätzen und Turnhallen erschwert oder verwehrt. Dezember 1933 Alle Berliner Sportvereine haben den „Arierparagraphen“ eingeführt, auf dessen Grundlage jüdische Mitglieder ausgeschlossen werden. Eine Entsprechung findet sich im Schulsport, wo nun ein Sieg jüdischer Schüler als Schande für die ganze Klasse gilt. Juli 1934 Jüdische Sportvereine dürfen Turnhallen, Sportplätze und Schwimmbäder nur noch eingeschränkt benutzen. Rudolf Lewy (als Schatten zu sehen) fotografiert die beiden Koffer seines Vaters Immanuel Lewy, die noch auf dem Bahnsteig stehen, bevor dieser in die Emigration nach England fährt, 1938 Foto: Rudolf Lewy / Museum Neukölln Rudolfs Vater Immanuel Lewy winkt aus dem Zugabteil seiner Familie zum Abschied zu, Charlottenburger Bahnhof, 1938 Foto: Rudolf Lewy / Museum Neukölln April 1937 Kinder „jüdischer Abstammung“ dürfen in Aufbauklassen der Volksschulen nicht mehr aufgenommen werden. Polizeidienststellen sind künftig verpflichtet, Personen anzuzeigen, wenn der Verdacht auf die Vorbereitung einer Emigra­ tion besteht. Juli 1937 Von der Verleihung des Sportabzeichens werden Schüler jüdischer Herkunft ausgeschlossen. Ende 1938 Alle jüdischen Sportvereine werden aufgelöst. Rudolfs Vater ist Sozialdemokrat und Lehrer. Von 1925 bis 1933 unterrichtet er an der Käthe-Kollwitz-Schule am Richardplatz. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird er pensioniert, drei Jahre später muss die Familie ihre Wohnung in Britz verlassen. 1938 nimmt Rudolf Abschied von seinem Vater, der nach England emigriert. Ein Jahr später verlassen auch Rudolfs Mutter und sein jüngerer Bruder Berlin. Rudolf gelingt 1939 die Emigration nach New York. 1945 holt er seine Eltern und seinen Bruder nach. Stellen Sie sich vor: Sie lieben Ihren Sport und genießen es, bei Wettkämpfen für Ihren Verein zu siegen. Doch plötzlich bekommen Sie Angst, wenn der Stadionsprecher Sie als Sieger ausruft. Denn Ihr Name verrät, dass Sie „anders“ als die anderen sind. Was würden Sie tun? Ich verdränge meine Angst und mache einfach weiter. Ich höre mit dem Sport auf und trete aus meinem Verein aus. Ich betreibe weiter Sport, achte aber darauf, bei Wettkämpfen nicht mehr zu siegen. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 15 1938 Norbert mit seiner Schulklasse im Kreuzberger Viktoriapark, 1937 Foto: Privatbesitz Norbert Bikales „Bitte, geh nach Hause!“ Jede Woche besucht Norbert Bikales mit seiner Familie die Synagoge in der Isarstraße 8. Er geht auch gern zur Schule. Doch dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf: Vater und Bruder werden am 28. Oktober 1938 verhaftet. In der Nacht zum 10. November brennt auch die Synagoge in Neukölln, ihr Rabbiner Kantorowsky wird ins KZ Sachsenhausen in der Nähe Berlins verschleppt. Doch damit sind die Schrecken für den neunjährigen Norbert noch nicht vorbei. ,, Unsere Synagoge in der Isarstraße brannte nicht völlig aus, denn um die angrenzenden Wohnhäuser zu schützen, wurde das Feuer gelöscht, bevor es um sich greifen konnte. Doch dieses Ereignis signalisierte das Ende unserer Glaubensgemeinde, die ein so wichtiger Teil unseres Lebens gewesen war. Wenige Tage danach traf mich ein weiterer schwerer Schicksalsschlag. In der Schule teilte mir mein Klassenlehrer mit, dass ich ins Büro des Rektors gehen sollte. Der Rektor war sichtlich verlegen. Er teilte mir mit, dass ich sofort nach Hause gehen müsse und die Schule nicht wieder betreten dürfe. Als ich mehrmals nach dem Grund fragte, antwortete er endlich mit leiser Stimme, fast flüsternd: ,Weil du jüdisch bist.‘ Er sah mich dabei nicht an. Dann bat er mich inständig: ,Bitte, Norbert, geh nach Hause! Bitte geh!‘ (Norbert Bikales, 2012) ,, Norbert mit seinen Eltern im Hof der Oderstaße 50, Mai 1939 Foto: Privatbesitz Norbert Bikales Einen Monat nach dieser Aufnahme steht Norbert auf dem Bahnsteig eines Berliner Bahnhofs. „Als der Zug nach Polen anfuhr, rannte ich auf dem Bahnsteig hinterher. Meine Eltern lehnten sich aus dem Fenster und winkten mir zu. Sie sahen so traurig aus! Ich sah sie so zum letzten Mal. Da war ich erst zehn Jahre alt.“ (Norbert Bikales, 2012) Vor ihrer Ausweisung nach Polen war es Norberts Mutter gelungen, ihm einen Platz auf einem Kindertransport nach Frankreich zu verschaffen. Während Norbert in Sicherheit ist, werden seine Eltern im Ver­nichtungslager Belzec (Polen) ermordet. Das Schicksal seines älteren Bruders ist unbekannt. 16 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1938 Januar Die Zulassungen jüdischer Ärzte bei den Ersatzkassen erlöschen. März Österreich wird durch das Deutsche Reich annektiert. April Juden müssen ihr in- und ausländisches Vermögen registrieren lassen. Juni Jüdische Gewerbe­betriebe, Firmen oder Handelsgeschäfte werden in speziellen Verzeichnissen erfasst. Juden und „Mischlinge“ werden von der Begabtenförderung an Höheren Lehranstalten und Mittelschulen ausgeschlossen. Passanten vor einem demolierten Geschäft jüdischer Inhaber in der Potsdamer Straße, 10. November 1938 Foto: Karl Paulmann / bpk In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstören SA und SS gezielt jüdische Einrichtungen in ganz Deutschland. Vom 7. bis 13. November 1938 werden etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben, über 1 400 Sy­­ nagogen, Betstuben und andere Versammlungs­ räume sowie Tausende von Geschäften, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört. 26 000 Juden werden in Kon­zentrationslagern interniert. Treppe zur Frauen-Empore der Synagoge in der Isarstraße 8, nach 1945 Foto: Museum Neukölln Stellen Sie sich vor: Sie gehen gern zur Schule und fühlen sich in Ihrer Klasse sehr wohl. Auch Ihren Klassenlehrer können Sie gut leiden. Doch eines Tages werden Sie in das Büro des Direktors gerufen. Der erklärt Ihnen, dass Sie die Schule sofort für immer verlassen müssen, weil Sie „anders“ als die anderen sind. Was würden Sie tun? Ich protestiere gegen meinen Schulverweis. Ich suche mir eine neue Schule. Ich verabschiede mich von meinen Schulkameraden und verkrieche mich zu Hause. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Juli Jüdischen Markthändlern werden die Stand­ genehmigungen gekündigt. Die Berufszulassungen (Approbationen) jüdischer Ärzte werden gelöscht. August Kraftfahrzeuge jüdischer Eigentümer werden durch spezielle Nummern gekennzeichnet. September Für jüdische Rechtsanwälte wird ein Berufsverbot verhängt. Oktober Pässe von Juden werden mit dem Buchstaben „J“ gekennzeichnet, Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland aus­gewiesen. November Verbot jüdischer Zeitschriften und Zeitungen. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 finden deutschlandweit antijüdische Pogrome statt. In Berlin demolieren SA- und SS-Trupps Geschäfte und jüdische Einrichtungen, die Synagogen werden in Brand gesetzt. Gestapo und Polizei verhaften über 12 000 Berliner Juden und internieren sie im 1936 errichteten KZ Sachsenhausen. Jüdische Kinder müssen die öffentlichen Schulen verlassen. Dezember In Berlin wird ein „Judenbann“ verhängt. So gekennzeichnete Gebiete (zum Beispiel die Straße Unter den Linden) dürfen von Juden weder betreten noch befahren werden. Gleichzeitig ist Juden der Besuch von Theatern, Kinos, Kabaretts, Konzerten und Museen verboten. Die „Arisierung“ von Gewerbebetrieben, Grundeigentum und Wertpapieren jüdischer Besitzer wird durch den NS-Staat zentral organisiert. Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 17 1939 Betzi mit ihrer Mutter Eleonore Rosenthal im Garten der Fritz-Reuter-Allee 26, 1933 Foto: Privatbesitz Elizabeth Rosenthal Eleonore und Betzi wohnen ab 1933 eine Zeit lang in Britz. Ab 1937 wird Betzi im jüdischen Landschulheim in Caputh untergebracht. Als auch hier die jüdischen Kinder durch Nationalsozialisten bedroht werden, kehrt sie nach Berlin zurück und lebt mit ihrer Mutter versteckt in wechselnden Unterkünften. 1939 gelangt Betzi mit einem der Kindertransporte, die zwischen November 1938 und September 1939 über 10 000 jüdische Jungen und Mädchen aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei in Sicherheit bringen, nach England. Viele der Kinder sehen ihre Familien nie wieder. „Dann kam sie endlich!“ Seit Monaten lebt Betzi Rosenthal mit ihrer Mutter versteckt in einer fremden Wohnung. Ihr Zuhause in Britz haben sie verlassen müssen und als Jüdin findet die Mutter kaum noch Arbeit als Erzieherin und Pädagogin. Die antijüdische Gesetzgebung bedroht ihr Leben in Berlin immer mehr. Betzis Mutter sucht verzweifelt einen Weg, um aus Deutschland auszureisen. 1939 kann sie ihre zwölfjährige Tochter durch einen Kindertransport nach England in Sicherheit bringen. ,, Meine Mutter fand eine Möglichkeit, mich auf einen Kinder­ transport nach England zu schicken. In der Friedrichstraße hat sie mich in einen Zug gesetzt. Sie hat noch gewunken und versprochen, einen Monat später nachzukommen. Aber sie kam nicht. Ich hatte eine so schrecklich große Angst wie nie wieder in meinem Leben. Die englische Familie, bei der ich lebte, konnte das nicht verstehen. Sie hatte keine Ahnung, was in Deutschland los war. Wir alle wussten auch nicht, dass meine Mutter von einem Nazi auf der Straße niedergeschlagen worden und ins Krankenhaus gekommen war. Irgendwann kam ein Brief von ihr: ,Ich komme bald, ich komme bald.‘ Und dann kam sie – endlich ... ,, (Elizabeth, genannt Betzi, Rosenthal, 2012) Betzis Eltern: Eleonore und Henio Rosenthal, 10. Juni 1925 Foto: Privatbesitz Elizabeth Rosenthal Betzis Eltern heiraten 1926, ein Jahr später kommt sie zur Welt. 1932 nimmt ihr Vater das Angebot an, in Moskau als Ingenieur zu arbeiten. Die Familie soll nachkommen. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 werden diese Pläne vereitelt. Der Kontakt zum Vater bricht ab. Erst Jahre später erfahren sie, dass er in Moskau verhaftet und 1943 in einem sibirischen Lager ums Leben gekommen ist. 18 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1939 Betzi Rosenthal (links) und Hannah Schmeltzer, um 1936 Foto: Privatbesitz Elizabeth Rosenthal Als Betzi mit ihrer Mutter in Britz wohnt, ist sie eng mit Hannah befreundet, die mit ihren Eltern nicht weit entfernt lebt. Doch 1939 werden die Freundinnen durch die Emigration getrennt. Betzi und Hannah treffen sich erst über siebzig Jahre später wieder. Ausweis für die Zahnärztin Dr. Bronia Schmeltzer, auf dem sie auch mit dem Vornamen „Sara“ unterschreiben muss, Berlin, 12. Februar 1939 Quelle: Privatbesitz Hannah Shaw-Ridler Als Jüdin ist es der Zahnärztin Dr. Bronia Schmeltzer verboten, „Arier“ zu behandeln. Ihr Mann, der sozialdemokratische Kinderbuchautor Kurt Schmelt­zer, erhält keine Aufträge mehr. So entschließen sie sich, mit ihrer Tochter Hannah 1939 nach England zu emigrieren. Januar Menschen jüdischer Herkunft oder Religion müssen die Vornamen Sara und Israel annehmen. Juden erhalten keine Fahrpreisvergünstigungen der BVG mehr. Februar Jüdische Lehrlinge erhalten in wirtschaftlichen Notlagen keine Beihilfen mehr. Juden werden gezwungen, Edelmetall und Schmuck bei Berliner Pfandleihen abzuliefern. März Jüdische Erwachsene werden von der Benutzung der Volksbüchereien, jüdische Kinder und Jugendliche von der Benutzung der Jugendbüchereien ausgeschlossen. April Der Mieterschutz für Juden, die bei „arischen“ Vermietern wohnen, wird aufgehoben. Mai Im Rahmen der reichsweiten Volkszählung wird eine „Rassestatistik“ angelegt. September Am 1. September 1939 marschiert die Deutsche Wehrmacht in Polen ein, der Zweite Weltkrieg beginnt. Sämtliche Juden im Alter von 16 bis 55 Jahren werden statistisch erfasst. Es wird ein abendliches Ausgangs­verbot nach 20 Uhr für die jüdische Bevölkerung in Deutschland verhängt. Ende September: Juden müssen ihre Radiogeräte abgeben. Damit wird nach dem Verbot jüdischer Zeitungen und Zeitschriften der freie Informationszugang für die jüdische Bevölkerung weiter erschwert. Stellen Sie sich vor: Das Überleben in Berlin wird für Sie und Ihre Mutter immer schwieriger. Sie dürfen keine öffentliche Schule mehr besuchen und Ihrer Mutter fällt es zunehmend schwer, Arbeit zu finden. Trotzdem leben Sie gern in Berlin, denn es ist Ihre Heimat. Sie verbringen viel Zeit mit Ihrer besten Freundin. Eines Tages sagt Ihnen Ihre Mutter, dass sie beide schon bald nach England auswandern werden. Was würden Sie tun? Ich freue mich auf die Reise und das fremde Land und verabschiede mich von meiner Freundin mit dem Versprechen, ihr jede Woche zu schreiben. Ich versuche, meiner Mutter die Ausreisepläne auszureden, denn ich will nicht weg aus Berlin. Ich laufe von zu Hause weg und suche mir ein Versteck, damit ich nicht nach England muss. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 19 1940 Menschen im Luftschutzbunker, Anfang der 1940er-Jahre Foto: Landesarchiv Berlin, Nr. 172 498 In Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg werden in Berlin öffentliche Luftschutzbunker erbaut und versucht, die Keller in den Wohnhäusern zu Schutzräumen auszubauen. Während der alliierten Luftangriffe bringen sich die Menschen hier in Sicherheit, wobei sich Juden in getrennten Räumen aufhalten müssen. „Die sitzen drüben im Judenkeller.“ Am 8. Juni 1940 erleben die Berliner den ersten Luftalarm. Als ab 1943 massive Luftangriffe der Alliierten einsetzen, flüchtet sich der 22-jährige Rolf Opprower mit seinen Eltern in den Luftschutzkeller in der Anzengruberstraße 27. Doch das stößt auf heftigen Widerstand der Nachbarn. Denn bereits ein Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs tritt 1940 eine Verordnung in Kraft, nach der Juden in separaten Luftschutzräumen von „Ariern“ getrennt werden müssen. So wird die Familie Opprower während der Bombardements in einen Kohlenkeller verwiesen. ,, Wir hatten einen netten Verwalter, der wusste, was mit uns los war. Der hat uns gut behandelt. Aber es waren im Haus auch ein paar Nazis. Während eines Fliegerangriffs sagten zwei der älteren Damen: ,Wir wollen den Juden raus haben, es stinkt hier nach Juden!’ Mein Vater hat nichts dazu gesagt. Und meine Mutter fragte: ,Was sollen wir während der Angriffe machen?’ – ,In den Kohlenkeller! Sie können hier bleiben und Ihr Sohn auch. Aber er, der Jude, muss raus.‘ Dann sind Mutter und ich mit Vater in den Kohlenkeller gegangen und haben dort die ganzen Bombenangriffe verbracht. Eines Tages kam ein Freund von mir in den Keller. Als er nach mir fragte, bekam er die Antwort: ,Die sitzen drüben im Judenkeller.‘ (Rolf Opprower, 1988) ,, Rolfs Vater Heinrich Opprower als Kurier im Ersten Weltkrieg, 1914 Foto: Rolf Opprower / Museum Neukölln Für Rolfs Vater Heinrich ist es bereits der zweite Krieg, den er miterlebt. Aus dem Ersten Weltkrieg war er mit Auszeichnungen und verwundet zurückgekehrt. Ab 1940 wird er als Jude, der mit einer „Arierin“ verheiratet ist, zur Zwangsarbeit herangezogen. Wie viele andere wird auch er 1943 verhaftet. Rolf erinnert sich daran: „Eines Tages rief mich meine Mutter in der Firma an: ,Sie haben Papa abgeholt. Sie haben mir gesagt, ich soll ihm einen Mantel mitgeben. Und dann haben sie ihn zur Großen Hamburger Straße geschleppt.’“ Rolf gelingt es, seinen Vater als ehemaligen Frontkämpfer, der in einer „privilegierten Mischehe“ lebt, aus der Haft herauszuholen. Beide überleben die NS-Zeit. 20 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1940 Rolf Opprower, Foto auf seinem PrV-Ausweis, 17. Oktober 1956 Quelle: Rolf Opprower / Museum Neukölln Januar Juden erhalten keine Kleiderkarten mehr. Rolf Opprower wird 1956 nach dem Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) als Verfolgter anerkannt. April An Läden, insbesondere Lebensmittelgeschäften, finden sich vermehrt Schilder, die Juden den Zutritt erst ab 12 Uhr mittags gestatten. Bomben über Kreuzberg, rechts unten der Landwehrkanal, 1945 Juli Juden dürfen auf Wochenmärkten nur zwischen 16 und 17 Uhr einkaufen. Foto: Wasser- und Schifffahrtsamt Berlin, www.wsa-b.de Mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. Septem­ ber 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Nach anfänglichen militärischen Erfolgen für die Deutschen wendet sich das Blatt. Ab 1943 wird Deutschland bei Tag und Nacht bombardiert, ein Jahr später haben die Alliierten die uneingeschränkte Luftherrschaft über Deutschland. 600 000 Deutsche sterben bei den Luftangriffen, über drei Millionen Wohnungen werden zerstört. August In der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße dürfen keine Gottesdienste mehr ab­gehalten werden. Juden werden die privaten Telefonanschlüsse gekündigt. September Jüdischen Mietern wird nun auch in Häusern mit jüdischen Eigentümern der Mieterschutz entzogen. In den Wohnhäusern, wo „Arier“ und Juden noch gemeinsam wohnen, müssen separate Luftschutzräume für Juden eingerichtet werden. Oktober Juden werden verstärkt zur Zwangsarbeit, vornehmlich in der Rüstungsindustrie, herangezogen. November Auch jüdische Kinder unter 16 Jahren werden in der Zwangsarbeit eingesetzt. Stellen Sie sich vor: Berlin wird von den alliierten Luftstreitkräften immer wieder bombardiert. Auch Neukölln wird von den Tod bringenden Bomben getroffen. Voller Angst und Sorge flüchten Sie mit Ihren Eltern in den Luftschutzkeller Ihres Mietshauses. Doch die Nachbarn wollen den Raum nicht mit Ihrem Vater teilen. Sie vertreiben ihn in den weniger gut abgesicherten Kohlenkeller. Was würden Sie tun? Ich stelle die Nachbarn zur Rede und sorge dafür, dass mein Vater im sicheren Luftschutz­ keller bleiben kann. Ich folge meinen Eltern in den Kohlenkeller, obwohl der weniger sicher ist. Ich bleibe im sicheren Luftschutzkeller, während meine Eltern im Kohlenkeller ausharren. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 21 1941 Hildegard Heymann, Hermannstraße, um 1940 Foto: Hildegard Stern / Museum Neukölln Am 28. August 1942 schickt Hildegard dieses Foto einer Freundin als Geburtstagsgruß. Hildegard und ihr Bruder Alfred überleben die Zeit des National­sozialismus als sogenannte „Halbjuden“ in Berlin, ihre Eltern jedoch kommen im Holocaust ums Leben. Hildegard und Alfred emigrieren 1946 in die USA. „Mir sind die Tränen runter gelaufen.“ Hildegard Heymann geht leidenschaftlich gern mit ihren Freunden tanzen. Doch es ist schon drei Jahre her, dass sie mit ihrer Clique in Tanzlokalen in der Hasenheide war. Der Schrecken, den sie damals erlebt hat, sitzt ihr immer noch im Nacken. Daran erinnert sie sich, als sie 1941 gelbe Judensterne aus Stoff auf ihre Mäntel und Jacken nähen muss. Zukünftig ist sie in der Öffentlichkeit sofort als Jüdin erkennbar. ,, Meine Freundin sagte: ,Ach, komm doch mit, wir gehen tanzen, da kennt dich doch keiner.‘ Ich bin mitgegangen und ging auch mal auf den Tanzboden. Da stand plötzlich hinter mir ein Nazi-Junge aus der Nachbarschaft. Ich bin kreideweiß geworden vor Angst, ich durfte doch da gar nicht hingehen. Ich habe eine solche Angst gehabt und bin zur U-Bahn gerannt, im Winter, ohne Mantel, den hatte ich vor Schreck vergessen. Ich habe doch gedacht, der wird mich bestimmt anzeigen. Das war 1939. Ich weiß auch noch den Tag, an dem wir 1941 unsere Sterne von der Jüdischen Gemeinde abholten. Auf alle Sachen mussten die aufgenäht werden. Wir haben abends gesessen und genäht und mir sind die Tränen runter gelaufen, dass ich das tragen muss. (Hildegard Stern, geb. Heymann, 1988) ,, Hildegard Heymann (vordere Reihe links) mit Freunden in der Neuen Welt in der Hasenheide, 1938 Foto: Hildegard Stern / Museum Neukölln 22 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1941 April Die Ausbildungskurse der Jüdischen Gemeinde werden eingestellt, Praktikanten und Lehrer zur Zwangsarbeit herangezogen. 22. Juni Die Deutsche Wehrmacht überfällt die Sowjetunion. Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges sowie des Völkermordes an den dort lebenden Menschen jüdischer Herkunft. September Die öffentliche Kennzeichnung von Juden mit dem gelben Stern wird verordnet. Die freie Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wird für Juden beschränkt. Oktober Juden wird die Emigration verboten. Jüdische Familie, die den Judenstern als Kennzeichen ihrer jüdischen Abstammung in der Öffentlichkeit tragen muss, 27. September 1941 Foto: ullstein bild – Süddeutsche Zeitung, Photo / Scherl Die sichtbare Trennung der Juden von anderen Gruppen der Bevölkerung folgt in Form des Davidsterns, der seit dem Mittelalter zum weit verbreiteten Symbol des Judentums geworden war. Dieses wird nun von den Nationalsozialisten zur Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung gewählt. Außerhalb der Wohnung müssen die so Gezeich­neten den Stern sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks tragen. November Deportierte oder emigrierte Juden verlieren ihre Staatsangehörigkeit, ihr Vermögen fällt damit automatisch dem Deutschen Reich zu. Dezember Das Jugendschutzgesetz wird für jüdische Jugendliche außer Kraft gesetzt. Juden wird die Benutzung öffentlicher Fernsprecher verboten. 1941 werden 133 Neuköllnerinnen und Neuköllner jüdischer Herkunft oder Religion nach Łodź, Minsk, Kowno und Riga deportiert, unter ihnen 17 Kinder und Jugendliche. Stellen Sie sich vor: Ihre Freunde treffen sich, um tanzen zu gehen. Schon oft haben Sie mit ihnen in verschiedenen Tanzlokalen viel Spaß gehabt. Auch jetzt wollen die Freunde unbedingt, dass Sie mitkommen. Sie wissen aber, dass Sie nicht mehr in Tanzlokale gehen dürfen. Der Staat hat es Ihnen verboten ... Was würden Sie tun? Ich sehe nicht ein, warum ich nicht tanzen gehen sollte und gehe mit meinen Freunden mit. Ich bleibe zu Hause, weil ich nicht weiß, welche Strafe mich erwartet, wenn ich erwischt werde. Ich schlage meinen Freunden vor, statt tanzen zu gehen eine Fete bei uns zu Hause zu machen. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 23 1942 Arthur Samuel mit seinen Eltern Amalie und Louis vor ihrem Geschäft, 1904 Foto: Kurt Samuel / Museum Neukölln 1904 haben Kurts Großeltern gegenüber dem Rathaus Britz ein Bekleidungsgeschäft eröffnet. Ihr Sohn Arthur wird später Arzt. Die Familie wohnt in der Chausseestraße 78 a (heute: Britzer Damm). Hier wächst auch Kurt auf. „Der Großvater war weg. Für immer.“ Kurt Samuel wächst unbeschwert in Britz auf, bis sein Vater Arthur 1933 seine Stellung als Schularzt in Köpenick verliert. Als Arzt jüdischer Herkunft findet er nur noch im Jüdischen Krankenhaus Arbeit. Die Familie ist den zunehmenden Diskriminierungen durch das NS-Regime hilflos ausgeliefert. Als 1942 die Deportationen von Juden in die Vernichtungslager einsetzen, muss Kurt sich von seinem geliebten Großvater Louis verabschieden. Er ist 73 Jahre alt. ,, Die Juden erhielten eine Vorlage: ,Ihre Umsiedlung ist für den soundsovielten um soundsoviel Uhr vorgesehen. Sie dürfen zwei Stück Handgepäck und einen Rucksack mitnehmen. Die Mitnahme von zehn Mark ist gestattet und persönliche Papiere.‘ Dann kamen die hier mit einem Lastwagen vorgefahren. Das wurde alles von der Jüdischen Gemeinde organisiert, die hatten ihre eigenen Ordner mit einer Armbinde. Ich sehe das noch heute vor mir, wie der eine kleine Leiter rausstellt und Großvater die Hand gibt und auf den Wagen rauf hilft, die Leiter wieder rein, die Klappe zu und der Großvater war weg. Für immer. Das war für uns ein Trauma. (Kurt Samuel, 1988) ,, Das Ehepaar Amalie und Louis Samuel, o. J. Foto: Kurt Samuel / Museum Neukölln Kurts Großvater Louis wird am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er zwei Monate später stirbt. 24 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1942 Januar Juden wird der Besuch von Schwimmbädern verboten. Juden müssen Woll- und Pelzsachen, Skier, Ski- und Bergschuhe bei den Behörden abliefern. Juden werden Pensionen, Witwen- und Waisenrenten gesperrt. Am 20. Januar 1942 findet die „Wannseekonferenz“ statt, auf der alle Maßnahmen zur Deportation und Ermordung der europäischen Juden koordiniert werden. Februar Juden erhalten kein Brennholz mehr, ihnen dürfen keine Presseerzeugnisse mehr verkauft werden. März Juden dürfen öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen und müssen an ihren Wohnungstüren einen „Judenstern aus Papier“ anbringen. Mai Juden dürfen keine Haustiere mehr halten und müssen ihre Hunde, Katzen und Vögel bei den Behörden abliefern. Juni Erste Deportationen älterer Juden in das Ghetto There­sienstadt. Juden müssen ihre optischen und elektrischen Geräte, Schreibmaschinen und Fahrräder abliefern. Alle jüdischen Schulen werden geschlossen, Schüler ab 14 Jahren werden dem Arbeitsamt zum Zwangs­einsatz gemeldet. Kurt Samuel (Ausschnitt), um 1938 Foto: Kurt Samuel / Museum Neukölln Kurt und seine Eltern überleben die Zeit des Nationalsozialismus. September Juden dürfen nur noch an Wochentagen zwischen 16 und 17 Uhr einkaufen. In Markthallen, auf Wochenmärkten und an Straßen­verkaufsständen ist künftig jeglicher Einkauf untersagt. Oktober Juden dürfen keine Bücher mehr kaufen. Stellen Sie sich vor: Sie leben mit Ihren Eltern und Großeltern zusammen und fühlen sich in Ihrer Familie geborgen. Doch eines Tages trifft ein offizielles Schreiben ein, das die „Umsiedlung“ Ihres geliebten Großvaters anordnet. Kurze Zeit später hält ein Lastwagen vor Ihrer Haustür, den Ihr Großvater über eine Leiter besteigen muss. Dann fährt der Wagen davon. Sie spüren, dass Sie den Großvater zum letzten Mal gesehen haben. Was würden Sie tun? November Beginn der regelmäßigen Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz. 1942 werden 248 Neuköllnerinnen und Neuköllner jüdischer Herkunft oder Religion nach Riga, Trawniki, Theresienstadt, Auschwitz und „nach Osten“ deportiert, unter ihnen 18 Kinder und Jugendliche. Insgeheim schwöre ich, das Verbrechen an meinem Großvater zu rächen. Ich mache mich auf die Suche nach einem Unterschlupf, in dem ich andere jüdische Menschen verstecken und damit retten kann. Ich beschließe, Deutschland für immer zu verlassen, sobald ich die Möglichkeit dazu habe. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 25 1943 Familie Chraplewski mit Freunden im Garten im Koppelweg in Britz, um 1938 Foto: Kurt Samuel / Museum Neukölln Damit Kurt (rechts unten sitzend) und seine Eltern Else und Albert Chraplewski (hintere Reihe stehend, 4. und 5. von links) auf dem Dachboden versteckt überleben können, müssen sie versorgt werden. Das kann in der ersten Zeit Kurts Großmutter (in der Mitte sitzend) übernehmen. Doch dann stirbt die Großmutter und Kurts Tante Meta Loewenthal (hintere Reihe stehend, 1. von links) übernimmt diese Aufgabe, obwohl sie selbst von den National­sozialistin als „Halbjüdin“ eingestuft wird. Die Freundin Käthe Samuel (hintere Reihe, 3. von links) ist mit dem Arzt Dr. Arthur Samuel verheiratet, der die versteckten Chraplewskis im Krankheitsfall betreut. Ihr Sohn Kurt Samuel (links neben der Großmutter sitzend) ist der beste Freund von Kurt Chraplewski. Insgesamt 1 400 Berliner Jüdinnen und Juden über­leben versteckt die Verfolgung durch das NS-Regime. „Sie wurden alle verladen.“ Am 27. Februar 1943 fährt Kurt Chraplewski mit der S-Bahn zur Nachtschicht in eine Schlosserei in Weißensee. Hier muss der 22-Jährige mit anderen Juden und Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie arbeiten. In dem verdunkelten Wagen hört er zufällig ein Gespräch von SSMännern. Sie erzählen von einer Aktion gegen Juden, die einen Tag später stattfinden soll. Kurt überlegt nicht lange. Er muss sich und seine Eltern retten. Auf dem Dachboden ihres Hauses im Koppelweg in Britz werden sie sich verstecken – über zwei Jahre lang. ,, Ich hatte Nachtschicht und fuhr im verdunkelten S-BahnZug zur Arbeit. Unterwegs hörte ich ein Gespräch von SSLeuten, dass eine Aktion geplant sei, bei der alle Juden aus den Betrieben geholt werden sollten. Ich bin nicht mehr zur Arbeit gegangen, habe den anderen noch einen Zettel zugesteckt und sie gewarnt. Doch die sind alle am nächsten Morgen zur Arbeit gegangen, dann wurden die Tore zugemacht und sie wurden alle verladen und waren weg. Wir haben uns nicht mehr draußen blicken lassen und sind auf dem Dachboden geblieben. Der Boden war nur einen halben Meter hoch, man konnte nur liegen. Hier war es halbdunkel, man konnte nichts tun, nicht einmal schlafen. Wenn wir gewusst hätten, dass das über zwei Jahre dauern wird ... Und dann kamen die ständigen Luftangriffe. Ich lag am Fenster und sah die Bomben fallen. Da hat sich die Angst eingefressen. (Kurt Chraplewski, 1988) ,, Deportation von Menschen in einem Güterwaggon hinter Stacheldraht, o. O., um 1944 Foto: ullstein bild 26 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1943 Februar Am 27. und 28. Februar 1943 werden in Berlin im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“ zwischen 8 000 und 10 000 jüdische Menschen in den Betrieben, in denen sie als Zwangsarbeiter tätig sind, von der Gestapo verhaftet und auf offenen Lastwagen abtransportiert. Weitere Juden werden in ihren Wohnungen oder auf der Straße festgenommen und in Sammellager gebracht. März Vom 1. bis 6. März 1943 werden rund 7 000 der inhaftierten Berliner Jüdinnen und Juden mit fünf Sonderzügen nach Auschwitz deportiert. April Juden wird die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Französische Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsproduktion: Spulenfertigung in den Berliner Siemenswerken, 1943 1943 werden 276 Neuköllnerinnen und Neuköllner jüdischer Herkunft oder Religion nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, unter ihnen 28 Kinder und Jugendliche. Foto: Scherl / Bundesarchiv Nachdem Berliner Juden, die zur Zwangsarbeit eingesetzt sind, im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“ verhaftet und in die Vernichtungslager deportiert worden sind, werden vermehrt Frauen und Männer aus den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern wie der Ukraine, Russland, Polen, Frankreich und den Niederlanden zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen hier leben und arbeiten. Stellen Sie sich vor: Auf dem Weg zu der Firma, in der Sie Zwangsarbeit leisten müssen, belauschen Sie zufällig das Gespräch zweier Männer. Dadurch erfahren Sie, dass am nächsten Morgen eine große Aktion stattfinden soll, bei der auch Sie und Ihre Kollegen am Arbeitsplatz verhaftet und in Lager gebracht werden sollen. Was würden Sie tun? Ich glaube dem Gerede nicht, denn wer soll in der Firma die Arbeit machen, wenn wir alle weg sind. Ich fahre in die Firma und versuche, meine Arbeitskollegen vor der bevorstehenden Aktion zu warnen. Ich steige an der nächsten Haltestelle aus und fahre nach Hause. Dort werde ich mich so lange verstecken, bis die Gefahr vorüber ist. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 27 1944 Kinder im Konzentrationslager Auschwitz nach der Befreiung durch die Rote Armee, 1945 Foto: ullstein bild „Dann wurden wir aussortiert.“ Lilly Müller ist fünfzehn Jahre alt, als sie miterleben muss, wie ihre Familie im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wird. Sie bleibt allein zurück – ohne Hoffnung, an einem Ort, an dem das Sterben alltäglich ist. Ausgerechnet hier begegnet sie der Liebe ihres Lebens. Es ist das Jahr 1944. Sie arbeitet in der Schneiderwerkstatt des Vernichtungs­ lagers Auschwitz-Birkenau. Nur heimlich und unter größter Gefahr kann Lilly ihren Liebsten treffen. ,, Dann kamen wir in Auschwitz an. Wir mussten vom Zug herunterspringen, das Gepäck hinstellen und dann wurden wir aussortiert. Vater links, ich mit meiner Schwester in die Mitte, Mutti mit der Kleinen nach rechts. Meine Mutter ist mit der Kleinen gleich vergast worden. Meine Schwester hat noch vier Wochen gelebt. Ich bin die Einzige, die überlebt hat. In Auschwitz habe ich dann einen Häftling kennengelernt, der meine große Liebe wurde. Er war Elek­ triker und hat im Lager unsere Nähmaschinen repariert. Als wir uns das erste Mal sahen, war es für uns beide Liebe auf den ersten Blick. Einmal standen wir draußen auf dem Trockenplatz. Der Mond schien so herrlich und dahinter floss die Sola ... das war wie ein Stück Freiheit. Da haben wir uns geküsst – und wurden dabei erwischt. Das bedeutete eigentlich den Tod. Doch wir hatten Glück. Wir haben überlebt. (Lilly Müller, 1988) ,, 28 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1943 Januar Am 10. Januar 1944 werden 352 Menschen jüdischer Herkunft aus Berlin in einem Großtransport nach Theresienstadt gebracht. Juli Am 1. Juli 1944 sind in Berlin nur noch 5 978 Juden offiziell registriert. 1944 werden neun Neuköllnerinnen und Neuköllner jüdischer Herkunft oder Religion nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz in Polen, 1945 Foto: Bundesarchiv, Nr. 04413 Das KZ Auschwitz besteht aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, dem Stammlager und dem KZ Auschwitz-Monowitz. Es wird ab 1940 im damals deutsch besetzten Polen nahe Krakau errichtet. In diesen drei Lagern werden bis 1945 über eine Million Menschen ermordet. Auschwitz gilt als Symbol des Holocaust. Stellen Sie sich vor: Sie haben das Schrecklichste erlebt, was einem Menschen widerfahren kann: Ihre Familie ist auf grausame Art ermordet worden. Eingesperrt in einem Lager und dem Tod geweiht, begegnen Sie ausgerechnet hier einem Menschen, in den Sie sich sofort verlieben. Ihre Liebe wird erwidert. Sie sind erst sechzehn Jahre alt. Was würden Sie tun? Ich weiß, dass unsere Liebe an diesem Ort keine Zukunft hat und werde meinen Liebsten nicht mehr sehen. Diese Liebe gibt meinem Leben einen Sinn und Kraft zum Überleben. Ich werde mich trotz großer Gefahren heimlich mit meinem Liebsten treffen. Ich möchte unser Leben nicht zusätzlich gefährden und bitte meinen Liebsten, unsere Liebe zu bewahren, bis wir eines Tages aus dem Lager gerettet sind. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 29 1945 Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz, 1949 Foto: Siegfried Pinnow / Museum Neukölln Das Kaufhaus Karstadt wird am 25. April 1945 von der SS gesprengt, damit die Vorräte nicht der Roten Armee in die Hände fallen. Viele Menschen, die im Kaufhaus nach Essbarem suchen, kommen dabei ums Leben. „Ich muss dich erschießen.“ Am 11. April 1945 wird das Haus in der Bürknerstraße 25, in dem Heinz A. mit seinen Eltern lebt, durch einen Fliegerangriff vollständig zerstört. Mit bloßen Händen versucht er, die Habseligkeiten seiner Familie aus dem Schutt auszugraben. Plötzlich steht er dem Blockwart Krause, einem überzeugten Nationalsozialis­ten, gegenüber. Der hat den Befehl, ihn zu erschießen. ,, Unser Blockwart Krause hat in unserem Haus gewohnt und hatte eine Bäckerei. Er hat unseren Nachbarn befohlen aufzuschreiben, wer zu uns kommt und wer geht. Wir hatten ja einen gelben Stern an der Tür. Die Nachbarn waren jeden Tag am Guckloch und haben ihm alles berichtet. Nach dem Krieg kamen sie alle an und wollten sich entschuldigen, sie hätten das nicht gewollt. Der Krause hat Leute erschossen und aufgehängt, noch zwei Stunden, bevor die Russen kamen. Dann kam er angerannt und sagte, er habe den Befehl bekommen, alle noch lebenden Juden zu erschießen. Er rief mich aus dem Keller raus und hatte seine Hand schon auf der Pistole. Er sagte: ,Ich muss dich erschießen.‘ – ,Bist du verrückt‘, sagte ich. ,Die Russen sind drei Blocks weg, die haben deinen Namen auf der Liste und wissen genau, was du getan hast.‘ Da fragte er: ,Was soll ich jetzt machen?‘ – ,Geh in die Backstube und fang an zu backen‘, antwortete ich. Da ist er in seiner Uniform in die Backstube gegangen. (Heinz A., 1988) ,, Der 24-jährige Heinz A. ist als Zwangsarbeiter bei der Firma Ehrich & Graetz in Treptow eingesetzt, 1940 Foto: Museum Neukölln Die Firma Ehrich & Graetz in Alt-Treptow pro­duziert ab 1925 Rundfunkgeräte. Während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt die Firma bis zu 7 000 Mitarbeiter. Ab September 1940 werden jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein­gesetzt, gefolgt von russi­ schen, französischen und niederländischen Zwangsarbeitern. Am 27. Februar 1943 werden die letzten 300 jüdischen Mitarbeiter von der SS auf Lastwagen abtransportiert und in die Vernichtungslager deportiert. Heinz entgeht als „Halbjude“ der Deportation. 30 Antijüdische MaSSnahmen des NS-Staats 1945 Januar Alle in „Mischehe“ lebenden arbeitsfähigen Juden sollen nach Theresienstadt deportiert werden. Das Kriegschaos lässt die Aktion im März 1945 scheitern. Mai Am 2. Mai 1945 kapituliert die Deutsche Wehr­ macht in Berlin vor der Sowjetischen Armee. Am 7. / 8. Mai 1945 wird die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs vor den Alliierten unterzeichnet. In Berlin leben schätzungsweise nur noch 6 000 bis 8 000 Juden. Über 4 000 von ihnen leben in „Mischehe“, 1 900 sind Überlebende aus Lagern und Ghettos, 1 400 haben im Untergrund überlebt. Das durch den Zweiten Weltkrieg zerstörte Rathaus Neukölln, Oktober 1948 Foto: Museum Neukölln Stellen Sie sich vor: Das Haus, in dem Sie mit Ihren Eltern gelebt haben, ist durch eine Bombe vollständig zerstört. Der Krieg wird nur noch wenige Stunden seinen Schrecken verbreiten. In den Trümmern Ihres ehemaligen Zuhauses suchen Sie nach Ihren Habseligkeiten. Plötzlich steht der NS-Blockwart mit einer Pistole vor Ihnen. Er hat den Befehl, Sie zu erschießen. Was würden Sie tun? Ich falle auf die Knie und flehe den Blockwart an, mich am Leben zu lassen. Ich diskutiere mit dem Blockwart, dass er keine weitere Schuld auf sich laden soll, denn der Krieg ist jetzt vorbei. Mit einem Low-Kick bringe ich den Blockwart zu Fall, sodass die Pistole in einem hohen Bogen in den Schutt fällt. Dann packe ihn am Kragen und schleife ihn zu einer russischen Einheit, die gerade um die Ecke biegt. Haben Sie einen anderen Vorschlag? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit: www.facebook.com/museumneukoelln Überprüfen Sie bitte, ob Ihre Entscheidung in der historischen Situation möglich war und welche Folgen sie gehabt hätte. 31 7 6 5 4 3 2 Quelle: Bezirksamt Neukölln von Berlin, Januar 2010. 1 32 E D C B Deportation von Kindern und Jugendlichen 1941 bis 1943 1941 Berg, Hans (21 Jahre alt) * 4. März 1920 in Köln Mahlower Str. 32 (B 4) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Cohn, Edith (18 Jahre alt) * 8. März 1923 in Zwickau Weisestr. 47 (B 4) Deportation: 27. Oktober 1941 nach Łódź Deportation: 5. Mai 1942 nach Kulmhof (Chełmno) † in Kulmhof Forsch, Bernhard (19 Jahre alt) * 17. Juni 1922 in Berlin Emser Str. 138 (D 2) Deportation: 17. November 1941 nach Kauen (Kowno) † 25. November 1941 in Kowno Guttmann, Margot (5 Jahre alt) * 7. Juli 1936 in Königsberg, Ostpreußen Sanderstr. 3 (B 7 / 6) Deportation: 17. November 1941 nach Kauen (Kowno) † 25. November 1941 in Kowno Heilfron, Ingeborg (14 Jahre alt) * 14. Mai 1927 in Berlin Friedelstr. 49 (C 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk Schicksal ungeklärt Stolperstein Heilfron, Susanne (21 Jahre alt) * 2. Juli 1920 in Bromberg, Posen Friedelstr. 49 (C 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk für tot erklärt Stolperstein Jung, Renald (13 Jahre alt) * 12. Januar 1928 in Berlin Teupitzer Str. 101 (E 4) Deportation: 17. November 1941 nach Kauen (Kowno) † 25. November 1941 in Kowno Krzepic, Laja Saja (21 Jahre alt) * 15. Mai 1920 in Lask, Russisch Polen Flughafenstr. 18 (C 4) Deportation: 27. November 1941 nach Riga † 30. November 1941 in Riga Lecker, Toni (20 Jahre alt) * 27. Juli 1921 in Berlin Hermannstr. 31 (B 4) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Lesser, Franziska (16 Jahre alt) * 21. Januar 1925 in Berlin Pflügerstr. 9 (C 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Mendelsohn, Manfred (11 Jahre alt) * 27. April 1930 in Berlin Donaustr. 18 (C 5) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Stolperstein Oppenheim, Eva (18 Jahre alt) * 29. April 1923 in Berlin Elbestr. 35 (D 5) Deportation: 27. November 1941 nach Riga † 30. November 1941 in Riga Freundlich, Wolfgang (4 Jahre alt) * 12. Mai 1938 in Berlin Nogatstr. 47 (C 2) Deportation: 26. Oktober 1942, nach Riga † 29. Oktober 1942 in Riga Samaskewitz, Marga Martha (6 Jahre alt) * 15. April 1935 in Pirmasens, Bayern Kottbusser Damm 77 (B 6) Deportation: 18. Oktober 1941 nach Litzmannstadt (Łódź) Deportation: 30. Juni 1944 nach Kulmhof (Chełmno) † 30. Juni 1944 in Kulmhof Hirsch, Bela (2 Jahre alt) * 17. Mai 1940 in Berlin Ziethenstr. 33 (heute: Werbellinstr. 68) (C 4) Deportation: 9. Dezember 1942 nach Auschwitz verschollen Samuelis, Eri (12 Jahre alt) * 17. Juni 1929 in Berlin Hasenheide 93 (B 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Samuelis, Gilda (8 Jahre alt) * 7. September 1933 in Berlin Hasenheide 93 (B 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Schilzer, Rolf (19 Jahre alt) * 29. Januar 1922 in Berlin Pflügerstr. 16 (C 6) Deportation: 14. November 1941 nach Minsk verschollen Tuch, Horst Peter (4 Jahre alt) * 12. Februar 1937 in Berlin Weichselstr. 35 (D 6) Deportation: 24. Oktober 1941 nach Litzmannstadt (Łódź) † 3. Mai 1942 in Litzmannstadt 1942 Braxmeier, Milli (16 Jahre alt) * 27. August 1926 in Berlin Schinkestr. 12 (B 7) Deportation: 29. November 1942 nach Auschwitz verschollen Bukofzer, Sally (21 Jahre alt) * 1. Januar 1921 in Flatow, Westpreußen Maybachufer 57 (C 6) Deportation: 18. August 1942 nach Auschwitz † in Auschwitz Hirsch, Rudi (10 Jahre alt) * 3. Oktober 1932 in Berlin Ziethenstr. 33 (heute: Werbellinstr. 68) (C 4) Deportation: 9. Dezember 1942 nach Auschwitz verschollen Kallmann, Manfred (18 Jahre alt) * 16. März 1924 in Berlin Fuldastr. 57 (C 5) Deportation: 9. Dezember 1942 nach Auschwitz † 9. Januar 1943 in Auschwitz Kallmann, Wolfgang (13 Jahre alt) * 4. Februar 1929 in Charlottenburg Fuldastr. 57 (C 5) Deportation: 28. März 1942 nach Piaski verschollen Klein, Denny (6 Monate alt) * 14. Juni 1942 in Berlin Prinz-Handjery-Str. 19 (heute: Briesestr. 38) (C 4) Deportation: 9. Dezember 1942 nach Auschwitz verschollen Leiser, Ellen (18 Jahre alt) * 23. August 1924 in Berlin-Neukölln Innstr. 3 (D 5) Deportation: 24. / 26. September 1942 nach Raasiku Deportation: 23. August 1944 nach Stutthof † 20. Dezember 1944 in Stutthof Salomon, Eva-Marie (17 Jahre alt) * 18. September 1924 in Berlin Schinkestr. 12 (B 7) Deportation: 11. Juli 1942 nach Auschwitz † 10. August 1942 in Auschwitz Danziger, Eva Charlotte (10 Jahre alt) * 11. Mai 1932 in Berlin Schinkestr. 9 (B 7) Deportation: 29. November 1942 nach Auschwitz verschollen Schaefer, Kurt Max (19 Jahre alt) * 24. Januar 1922 in Berlin Juliusstr. 39 (C 1) Deportation: 19. Januar 1942 nach Riga verschollen Stolperstein Dzialoszinski, Georg (20 Jahre alt) * 16. November 1921 in Berlin Schinkestr. 12 (B 7) Deportation: 13. Juni 1942 nach Sobibór † Oktober 1942 in Majdanek Seelig, Max (21 Jahre alt) * 26. April 1921 in Berlin Nansenstr. 86 (C 6) Deportation: 15. August 1942 nach Riga † 18. August 1942 in Riga Freundlich, Denny (1 Jahr alt) * 18. Juni 1941 in Berlin Nogatstr. 47 (C 2) Deportation: 26. Oktober 1942 nach Riga † 29. Oktober 1942 in Riga Tischler, Hilde (14 Jahre alt) * 23. April 1928 in Berlin Bürknerstr. 20 (B 7) Deportation: 26. Oktober 1942 nach Riga † 29. Oktober 1942 in Riga 33 Zadek, Hanna (18 Jahre alt) * 30. Dezember 1923 in Magdeburg Schierker Str. 5 (D 3) Deportation: 2. April 1942 nach Warschau (Ghetto) verschollen Stolperstein Jacobowitz, Eveline (6 Jahre alt) * 6. November 1936 in Berlin Anzengruberstr. 10 (D 4) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Zadek, Ruth (18 Jahre alt) * 30. Dezember 1923 in Magdeburg Schierker Str. 5 (D 3) Deportation: 2. April 1942 nach Warschau (Ghetto) verschollen Stolperstein Jolles, Gerhard (14 Jahre alt) * 20. September 1928 in Berlin Sanderstr. 20 (C 7) Deportation: 28. Juni 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein 1943 Cohn, Erich (19 Jahre alt) * 27. Juli 1923 in Berlin Bürknerstr. 20 (B 7) Deportation: 2. März 1943 nach Auschwitz verschollen Cohn, Margot (20 Jahre alt) * 10. Dezember 1922 in Düsseldorf Kottbusser Damm 86–87 (B 7 / 6) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Ebstein, Ilse (9 Jahre alt) * 25. September 1933 in Berlin Weichselstr. 28–29 (D 6) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Ebstein, Ruth (12 Jahre alt) * 4. September 1930 in Berlin Weichselstr. 28–29 (D 6) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Feibusch, Heinz (13 Jahre alt) * 3. März 1930 in Neukölln Schillerpromenade 31 (B 3) Deportation: 12. März 1943 nach Auschwitz verschollen Heiser, Käthe (20 Jahre alt) * 14. Juni 1922 in Berlin-Neukölln Braunauer Str. 170 (heute: Sonnenallee 170) (D 4) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Hirschweg, Lieselotte (21 Jahre alt) geb. Reichmann * 21. Januar 1922 in Magdeburg Braunauer Str. 174 (heute: Sonnenallee 174) (E 4) Deportation: 4. März 1943 nach Auschwitz verschollen Imber, Elfriede (11 Jahre alt) * 25.September 1931 in Berlin Bürknerstr. 15 (B 7) Deportation: 3. März 1943 nach Auschwitz verschollen 34 Leibholz, Heinz (20 Jahre alt) * 18. Juni 1922 in Berlin Lenaustr. 25 (C 6) Deportation: 4. März 1943 nach Auschwitz verschollen Leibholz, Ruth (19 Jahre alt) * 7. August 1923 in Berlin-Neukölln Lenaustr. 25 (C 6) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Lewin, Gittel (1 Jahr alt) * 3. August 1941 in Berlin Hasenheide 90 (B 6) Deportation: 2. März 1943 nach Auschwitz verschollen Lewy, Heinz A. (16 Jahre alt) * 6. Mai 1926 in Berlin Bürknerstr. 23 (B 7) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Marcus, Ralph Egon (14 Jahre alt) * 5. September 1928 in Berlin Berliner Str. 80–81 (heute: Karl-Marx-Str. 55) (C 5) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Meth, Max (13 Jahre alt) * 4. Januar 1930 in Berlin Oderstr. 52 (B 4 / 3) Deportation: 12. Januar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Meyer, Ursula (20 Jahre alt) * 21. Januar 1923 in Berlin Prinz-Handjery-Str. 51 (heute: Briesestr. 73) (C 4) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Neumann, Edith (5 Jahre alt) * 23. Februar 1938 in Berlin Bergstr. 134 (heute: Karl-Marx-Str. 169) (D 3) Deportation: 28. Juni 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Pojasdni, Lissi (19 Jahre alt) * 24. März 1923 in Berlin Fontanestr. 25 (B 4) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Riedel, Fred (12 Jahre alt) *14. April 1930 in Berlin Ziethenstr. 33 (heute: Werbellinstr. 68) (C 4) Deportation: 3. März 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Riedel, Helga (9 Jahre alt) * 12. August 1933 in Berlin Ziethenstr. 33 (heute: Werbellinstr. 68) (C 4) Deportation: 3. März 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein Rosner, Renate (5 Jahre alt) * 16. Juni 1937 in Berlin Richardstr. 2 (D 4) Deportation: 3. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Schlabowsky, Peter Edgar (6 Jahre alt) * 29. September 1936 in Berlin Maybachufer 14–15 (B 7) Deportation: 4. März 1943 nach Auschwitz verschollen Schlesinger, Denny (1 Monat alt) * 30. Januar 1943 in Berlin Donaustr. 7 (C 5) Deportation: 6. März 1943 nach Auschwitz verschollen Schlesinger, Doris (4 Jahre alt) * 18. März 1938 in Berlin Donaustr. 7 (C 5) Deportation: 6. März 1943 nach Auschwitz verschollen Simon, Hannelore (11 Jahre alt) * 13. Januar 1932 in Prenzlau, Brandenburg Braunauer Str. 60 (heute: Sonnenallee 60) (C 5) Deportation: 3. März 1943 nach Auschwitz verschollen Tischler, Julia (19 Jahre alt) * 1. März 1924 in Berlin Bürknerstr. 20 (B 7) Deportation: 1. März 1943 nach Auschwitz verschollen Wollmann, Ursel (17 Jahre alt) * 7. Januar 1926 in Berlin Laubestr. 16 (D 5) Deportation: 19. Februar 1943 nach Auschwitz verschollen Stolperstein „Gegen Nazis“, Plakate an einem Strom­kasten in der Parchimer Allee, 2012 Foto: Museum Neukölln KEIN ORT FÜR NAZIS neukölln-gegen-nazis.de „Kein Ort für Nazis“, Plakat, 2013 Quelle: neukölln-gegen-nazis.de Die Kampagne „Kein Ort für Nazis“ wurde im Dezember 2009 von Neuköllner und Kreuzberger Initiativen als Antwort auf vermehrte Nazi-Angriffe in den jeweiligen Kiezen gegründet. Im Jahr 2012 fanden in Berlin insgesamt 1 325 Straftaten politisch rechts motivierter Täter statt, davon 110 in Neukölln. Quelle: Der Polizeipräsident von Berlin (Hg.): Lagedarstellung Politisch motivierte Kriminalität in Berlin 2012, S. 62 und 64. Nie wieder! Am 23. Mai 1949 tritt das Grundgesetz der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Es basiert auf der Überzeugung, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen und es nie wieder die Möglichkeit zur Errichtung einer Diktatur geben darf. Darin sind sich 1945, als der Zweite Weltkrieg beendet ist und die Überlebenden aus den Vernichtungslagern von den Alliierten befreit werden, die politisch Verantwortlichen einig. Die Grundrechte sind unveräußerlich. Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. […] Artikel 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver­sehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. […] Artikel 3 (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. […] (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Artikel 4 (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Artikel 13 (1) Die Wohnung ist unverletzlich. 35 In der Ausstellung 99 x Neukölln: Objekte zum Thema Gedichtband Erich Mühsam In diesem Buch sind Gedichte Erich Mühsams aus den Jahren 1898 bis 1913 veröffentlicht. Es erscheint im renommierten Paul Cassirer Verlag in Berlin. Der Band „Wüste Krater Wolken“ erscheint kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ist kaum abzusetzen. Viele Buchhändler wagen es nicht, den anarchistischen Dichter anzubieten. Nach einem Leben in Lübeck und Berlin und Beteiligung an der Münchner Räterepublik von 1918 verbringt Erich Mühsam seine letzten Lebensjahre in der Britzer Hufeisensiedlung. 1933 wird er verhaftet und ein Jahr später im Konzentrationslager Oranienburg ermordet. Kopfkissenbezug Dieser Kopfkissenbezug ist Teil einer Wäsche­ garnitur für Wiege oder Kinderwagen. Er wird für einen Neuköllner Jungen angefertigt, doch nie verwendet. Joachim Löwe, im Juni 1944 im Keller der Berliner Charité auf die Welt gekommen, stirbt nach nur wenigen Tagen an Gelbsucht. Seine Eltern, Elsa und Günther Löwe, überleben den Krieg. Günther ist nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten „Mischling ersten Grades“. Er erlebt das Kriegsende in einem Versteck in der Emser Straße. Der Kopfkissenbezug und ein Baby-Lätzchen bleiben für die Eltern die einzigen Erinnerungsstücke an ihr Kind. Kiddusch-Becher Diese fünf Trinkbecher stehen für das Schicksal der jüdischen Familie Adler. Simon und Rachel Adler verlieren im Nationalsozialismus nicht nur ihr Geschäft. Der Sohn Heinrich wird 1940 in einer Euthanasieaktion ermordet. Simon und Rachel werden 1944 in Auschwitz umgebracht. Den Brüdern Erich und Bernhard gelingt die Flucht aus Deutschland. Die Familie Adler hat diese Becher für den Segensspruch Kiddusch benutzt, mit dem Wein und Brot an besonderen Tagen geweiht werden. Kurz vor ihrer Deportation übergeben sie diese der nichtjüdischen Familie Brandt, die sie jahrelang aufbewahrt. Pakettragegriff Mit diesem Tragegriff des Warenhauses H. Joseph & Co. sind Einkaufspakete nach Hause getragen worden. Die jüdischen Kaufleute Hermann Joseph und sein Schwager Sally Rehfisch gründen das Geschäft 1900 als Textilwarenhaus in der Berliner Straße, heute Karl-Marx-Straße. Nach mehreren Erweiterungen ist es 1928 das größte Warenhaus Neuköllns. Während des Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 muss Hermann Joseph auf Druck der SA seine jüdischen Angestellten entlassen. 1936 wird das Warenhaus „arisiert“ und von der Max Friedland GmbH übernommen. Hermann Joseph wird ins Exil gezwungen. Kleiderbügel Dieser Kleiderbügel stammt aus dem Geschäft „Deutsche Herren-Moden“ des jüdischen Schneidermeisters Max Rosner in der Bergstraße 30 / 31, heute Karl-Marx-Straße. Im Juli 1935 wird die Schaufensterscheibe seines Geschäfts von Unbekannten eingeschlagen. Wenig später verliert er durch Arisierung oder erzwungene Auflösung sein Ge­ schäft. Im September 1942 wird Max Rosner verhaftet und am 4. Oktober des gleichen Jahres nach Theresienstadt deportiert. Er überlebt und kehrt nach der Befreiung des Ghettos nach Berlin zurück. Zirkelkasten Dieser Zirkelkasten hat dem Neuköllner Lehrer Alfred Lewinnek gehört. Ab 1924 unterrichtet er am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium. Diese Schule ist in der Weimarer Republik eine bedeutende Wirkungsstätte aufgeschlossener Bildungsreformer. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wird der in Karl-Marx-Schule umbenannten Modellschule ein Ende gesetzt. Die jüdischen und politisch anders denkenden Lehrer werden entlassen. Viele fliehen aus Deutschland. Auch Familie Lewinnek emigriert. In Großbritannien gelingt Alfred Lewinnek eine neue berufliche Kariere. Widmungsbänder Heymann Diese Widmungsbänder erhält der Komponist Werner Richard Heymann 1930 zur Premiere der Tonfilm-Operette DIE DREI VON DER TANKSTELLE von dem Produzenten Erich Pommer. Der Film läutet die Geburtsstunde der Tonfilm-Operette ein und wird der erfolgreichste UfAFilm der frühen 1930er-Jahre. Flott verbindet er eine einfache Handlung mit Musik und Tanz. 1933 entlässt die UfA Werner Richard Heymann aufgrund seiner jüdischen Abstammung. Der Film DIE DREI VON DER TANKSTELLE wird 1937 von der Filmprüfstelle verboten, denn auch Produzent Erich Pommer, Regisseur Wilhelm Thiele, die Drehbuchautoren Franz Schulz und Paul Franck, der Liedtexter Robert Gilbert sowie der Kameramann Franz Planer sind jüdischer Herkunft oder haben jüdische Partner. Fotos: Friedhelm Hoffmann 36 Ausgewählte Literatur: Alenfeld, Irene: Warum seid Ihr nicht ausgewandert? Überleben in Berlin 1933 bis 1945. Berlin 2012. Antisemitismus in Europa : Vorurteile in Geschichte und Gegenwart; Arbeitsmaterialien. Bonn 2008. Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden: 1933–1945. München 2013. Gößwald, Udo; Hoffmann, Barbara (Hg.): Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933; [zur gleichnamigen Ausstellung 18. Mai bis 29. Dezember 2013, Museum Neukölln]. Berlin 2013. Gruner, Wolf: Judenverfolgung in Berlin 1933–1945. Eine Chronologie der Behördenmaßnahmen in der Reichshauptstadt. Berlin 2009. Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht; Band 1–3. Ravensburg 2013. Kolland, Dorothea (Hg.): „Zehn Brüder waren wir gewesen …“ Spuren jüdischen Lebens in Neukölln. Berlin 2012. Kreutzmüller, Christoph: Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945. Berlin 2012. Stern, Carola; Brodersen, Ingke (Hg.): Eine Erdbeere für Hitler. Deutschland unterm Hakenkreuz. Frankfurt am Main 2005. Video-Film: Stolperstein. Dörte Franke [Regie]; Gunter Demnig [Sonst.]. DVD-Video, ca. 76 Min., Hamburg 2010. Impressum: Ausgestoßen und verfolgt Die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus in Neukölln Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln Verantwortlich: Dr. Udo Gößwald Konzept, Recherche und Text: Barbara Hoffmann Mitarbeit: Jennifer Rasch Gestaltung: Claudia Bachmann Pädagogische Beratung: Silvia Haslauer, Anja Mutert Texte und Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung durch das Museum Neukölln nicht zulässig. © Museum Neukölln, Berlin 2013 ISBN 978-3-944141-04-6 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Telefon: (030) 627277-727 Verkehrsverbindungen: U7 bis Parchimer Allee Bus M44, M46 (bis Britzer Damm / Tempelhofer Weg) Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag: 10 –18 Uhr www.museum-neukoelln.de [email protected]